Blutkraut, Wermut, Teufelskralle
6 Kräuter-Krimis
Angelo Stassner plant einen neuen Coup: Blutkräuter-Gemälde. Doch jetzt liegt der Galerist in seinem eigenen Blut. Erstochen. Besteht ein Zusammenhang zwischen dem Mord und den Blutkräuter-Bildern? Die Polizei bittet den Kräuterexperten und Hobbydetektiv...
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Produktinformationen zu „Blutkraut, Wermut, Teufelskralle “
Klappentext zu „Blutkraut, Wermut, Teufelskralle “
Angelo Stassner plant einen neuen Coup: Blutkräuter-Gemälde. Doch jetzt liegt der Galerist in seinem eigenen Blut. Erstochen. Besteht ein Zusammenhang zwischen dem Mord und den Blutkräuter-Bildern? Die Polizei bittet den Kräuterexperten und Hobbydetektiv Pater Gwendal um Hilfe. Dieser rätselt über ein seltsames Zeichen, das der Tote hinterlassen hat. Das überlieferte Wissen um die Kraft von Pflanzen öffnet Gwendal schließlich den Weg zur verblüffenden Lösung des Falles.
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Lese-Probe zu „Blutkraut, Wermut, Teufelskralle “
Manfred Baumann - Blautkraut, Wermut, TeufelskralleB l u t k r a u t
Das Geräusch klang jämmerlich, als hocke ein kleines
Gespenst an der Kirchenmauer und wimmere vor sich
hin. Aber es waren nur die Angeln der Kirchentür, die
quietschten. Bruder Friedhelm hatte offenbar vergessen,
die Scharniere zu ölen. Ich muss ihn daran erinnern,
dachte Pater Gwendal, als er ins Freie trat. Der Gesang
der Mitbrüder, der die nächtliche Vigilfeier beendete,
hallte noch in ihm nach. Die anderen waren auf dem Weg
zu den Dormitorien, zu den Schlafräumen im Hauptgebäude.
Gwendal wollte noch ins Freie, wollte die belebende
Luft der lauen Sommernacht genießen. Sein Ziel
war der sanft zum See abfallende Mariengarten im Süden
des Klosters. Wieder drang der klägliche Laut an sein
Ohr. Er drehte sich um. Die Tür zum Gotteshaus war verschlossen.
Die konnte nicht mehr quietschen. Vielleicht
doch ein kleines Gespenst in der Dunkelheit? Nein, das
Klagen hatte einen anderen Tonfall. Es kam aus Richtung
der Baumgruppe außerhalb der Einfriedung. Vermutlich
schrie hier der kleine Sperlingskauz, den Gwendal
vor drei Tagen in der Dämmerung auf der Gartenmauer
beobachtet hatte. Der Mönch setzte seinen Weg fort.
An der obersten Stufe der Steintreppe hielt er inne. Die
warme Nachtbrise streichelte Gwendals Wangen.
... mehr
Als tränke er purpurroten Wein aus einem funkelnden Pokal,
sog der Ordensmann die warme Luft in sich ein. Und
zugleich mit dem Odem der Nacht erreichte ihn der erste
Duftschwall aus dem Kräuterreich, das sich zu seinen
Füßen erstreckte. Aus dem Bouquet stach der Geruch
der Nachtviole besonders hervor. Süß und zugleich würzig.
Schon zu Ostern hatten die schlanken Strünke die
ersten violetten Blüten zum Himmel gereckt und seitdem
die Besucher des Gartens Woche für Woche mit
ihrer Pracht erfreut. Normalerweise blüht diese Kreuzblütlerart
nur bis in den Juli. Aber die Nachtviolen von
Kloster Eulenberg zeigten ihr violettes Kleid fast jedes
Jahr bis Mitte August. Als wollten sie die Gottesmutter
an ihrem Festtag noch begrüßen. Heute war die Nacht
zum 15. August. Morgen würde man das Fest Mariä
Himmelfahrt feiern, Assumptio Beatae Mariae Virginis.
Hochfrauentag nannte man diesen Feiertag in Bayern
und Österreich, seit Jahrhunderten verbunden mit
Kräuterfest und Kräuterweihe. Gwendal war gespannt
auf den morgigen Tag. Das Marienfest mit Kräuterzeremonie
gehörte jedes Jahr zu den Höhepunkten des Veranstaltungsreigens
auf Stift Eulenberg. Aber dieses Mal
würde es zu einem besonders reichen Erlebnis werden.
Denn morgen eröffneten die Mönche den neu angelegten
Kräutergarten im östlichen Teil des Areals. Planung
und Bau hatten fast zwei Jahre gedauert. Aber nun war
es soweit. In wenigen Stunden würde das Fest über die
Bühne gehen.
Langsam stieg Gwendal die Stufen hinunter zur ersten
Terrasse. Er gönnte sich oft den Luxus eines stillen
Streifzuges durch die Kräutergärten des Klosters, bevorzugt
in lauen Sommernächten. Mit jedem Schritt änderte
sich die Komposition der Duftnoten, die ihn erreichten.
Schon schob sich der frischherbe Geschmack von Muskatellersalbei
über den süßlichen Ton der Nachtviole.
Gleich darauf mischte sich der Geruch von Lavendel
dazu, der Gwendal immer an die gestärkte Bettwäsche
im Schlafzimmer seiner Großmutter erinnerte. Beim
nächsten Beet umschmeichelte ihn der Duft von Zitronenmelisse.
Er beugte sich vor, strich mit den Fingern
über die Blätter, sog den Geruch tief ein. Weiter
ging es im Reich des nächtlichen Kräuterzaubers. Der
Pater erreichte die zweite Terrassenstufe. Ein Hauch von
Kampfer drang in seine Nase. Er lächelte. Der Mond
war vor einer Stunde untergegangen, aber das Licht der
Sterne reichte völlig aus, um das Königsblau der kleinen
staubwedelähnlichen Blütenstrünke zum Glänzen
zu bringen. Hier wuchs Ysop, dessen Geruch immer
auch ein wenig an Kampfer erinnerte. Und bisweilen
auch an Bohnenkraut. Wieder bückte sich Gwendal und
strich behutsam über die Blüten und Blätter des Ysop.
Es war zugleich ein anerkennendes Streicheln, ein Lob.
Ein Dank für einen treuen Wächter. Der Ysop wirkte
mit seinen ätherischen Ölen wie eine Waffe gegen Fressschädlinge.
Sein intensiver Geruch hielt Schnecken und
Kohlweißlinge fern. Der Ysop, an den Rändern der
Beete gepflanzt, schützte dadurch auch viele Kräuter
in seiner Umgebung. Als Gwendal die nächste Terrasse
erreichte, hörte er wieder das helle klagende Fiepen. Ein
Schatten strich über die Klostermauern, segelte nach
draußen. Der Sperlingskauz hielt offenbar auf das Ufer
des kleinen Sees zu, der sich an den Fuß des Klosterhügels
schmiegte.
Ein paar Sekunden konnten Gwendals
Augen der Schattenkontur des Vogels am Himmel folgen,
dann verschluckte ihn die Dunkelheit. Er wollte
noch eine Weile bleiben, streckte seinen fülligen Körper
auf die breite Steinbank zwischen dritter und vierter
Trasse. Er ließ seine Gedanken wandern, über das
Seeufer hinaus zu den Sternen. Er spürte die Vorfreude
auf das morgige Fest. Und zugleich badete er im Meer
der Düfte, die von den vielfältigen Geschenken Gottes
ringsum auf ihn einströmten. Rosmarin, Anis, Majoran,
Wermut, Zitronenverbene, Melisse, Thymian. Er fühlte
sich eins mit der Schöpfung. Der Duft und die Farbenpracht
seiner Kräuter waren für ihn wie ein Gebet. Wie
ein Gesang, der ein Lied anstimmte über das Vertrauen
in die Kraft des Lebens.
Doch schon nach ein paar Minuten wurde dieses Lied
gestört. Motorenlärm röhrte durch die Stille. Gleich
darauf hörte er Rufe, die immer lauter wurden. Galten
diese Rufe ihm? Er stemmte seinen Körper hoch
und stapfte nach oben, missmutig wegen der unerwarteten
Störung. Dennoch getrieben von der Neugierde,
die seinem Naturell entsprach. Die Szene, die sich ihm
im Hof des Klosters bot, hatte er nicht erwartet. Er sah
ein Polizeiauto mit blinkendem Blaulicht. Was machte
ein Einsatzfahrzeug der Exekutive mitten in der Nacht
im Stiftsareal?
Und warum fuchtelte der Prior aufgeregt
mit beiden Händen in seine Richtung. Den Uniformierten,
der neben der geöffneten Wagentür stand, kannte
er. Das war Revierinspektor Albert Thominger. Einst
gefeierter Mittelstürmer des USK Eulenberg und seit ein
paar Monaten der örtlichen Polizeidienststelle zugeteilt.
»Was ist los, Albert?« Er war ein wenig außer Atem,
als er die beiden Männer erreichte. Der plötzliche Lärm
hatte ihn die Terrassenstufen um einiges schneller hinaufeilen
lassen, als ihm gut tat. »Was soll dieser Aufruhr?«
Der junge Beamte verzog das Gesicht zu einem schiefen
Grinsen.
»Das soll sie Ihnen selber sagen.« Sie? Gwendal
verstand nicht. Der Polizist drückte eine Taste seines
Handys und reichte es dem Mönch. Verwundert nahm
Gwendal das Telefon entgegen und hielt es ans Ohr. Er
erkannte die Stimme auf Anhieb, obwohl er die Frau seit
vielen Monaten nicht mehr gesehen hatte.
»Verflucht, warum haben Sie Ihr Handy nicht eingeschaltet?
« Sie hielt sich nicht lange mit Einleitungen auf.
»Ich wünsche Ihnen auch einen guten Abend, Frau
Chefinspektorin. Schön, dass Sie unsere klösterliche
Ruhe zur nächtlichen Stunde durch das imposante
Erscheinen eines Streifenwagens bereichern.«
»Was soll ich machen, wenn Ihr Handy tot ist und am
Telefon der Klosterpforte kein Schwanz abhebt?« Hier
leben keine Schwänze, sondern körperlich komplett ausgestattete
Mönche, war er versucht zu sagen, unterließ es aber.
Er erinnerte sich an ihre erste Begegnung vor
knapp einem Jahr. Damals war ein Toter unter einem
Salbeistrauch des Klostergartens gelegen.* Und Chefinspektorin
Sybille Knaus hatte ihm zur Begrüßung nicht
einmal die Hand gereicht.
»Ich brauche Sie.«
Wie bitte? Hatte er sich verhört?
»Wie meinen Sie das?«
»Verdammt, so wie ich es sage: Ich brauche Sie!«
Er blickte sich verwundert um. Nein, er träumte
nicht. Er stand mitten auf dem Klosterhof. Über ihm
blinkten die Sterne. Aus dem Mariengarten wehte
immer noch ein Hauch von Nachtviole, Muskatellersalbei
und Lavendel zu ihnen herüber. Neben sich
erblickte er einen verschlafenen, verdattert blickenden
Prior und einen hilflos grinsenden Streifenbeamten, der
vor vielen Jahren sein Ministrant gewesen war.
Er schluckte, räusperte sich, um seiner Stimme mehr
Halt zu verleihen.
»Morgen ist Marienfeiertag. Wir weihen unseren
neuen Kräutergarten ein. Das wird ein großes Fest. Wir
erwarten viele Besucher. Selbst wenn Sie herkommen,
werde ich mich leider keine Minute für Sie freimachen
können. Übermorgen habe ich den ganzen Tag über Therapiedienst
im Ottilienzentrum, aber vielleicht könnte
ich in der nächsten Woche ...«
»Auf der Stelle!« Ihre Stimme war lauter geworden.
Er hielt inne. Auf der Stelle? War das ein Scherz? Er
hatte diese stets übel gelaunte Frau seit einem Jahr nicht
mehr gesehen. Sie war ihm nicht abgegangen.
Und plötzlich tauchte sie wieder auf, als Stimme am Telefon, die
ihm mitten in der Nacht einen Polizeiwagen samt Beamten
vor die Nase knallte.
»Ich habe einen Toten.«
»Wie bitte?«
»Es ist Angelo Stassner.« Sie sagte das in einem Tonfall,
als müsste er den Namen kennen. Er blickte irritiert auf
Thominger. Der junge Beamte zog die Schultern hoch,
schüttelte den Kopf. Keine Ahnung.
»Ich bedaure sehr, dass Sie mit einem Toten konfrontiert
sind, Frau Chefinspektor. Aber warum brauchen
Sie dazu mich?«
»Das erkläre ich Ihnen, wenn Sie da sind.«
Ein heller Ton war zu hören. Gleich darauf noch einer.
Die Kirchturmglocke schickte ihre Botschaft durch die
Dunkelheit. Es war Mitternacht. Es galt, einen neuen Tag
anzukündigen. Den Hochfrauentag. Das Fest Mariae
Himmelfahrt. Gwendal lauschte dem Klang der Glocke.
Bald würden sie die Pforten öffnen für die vielen Gäste
der Kräuterweihe. Er holte tief Luft, atmete bewusst
den Duft der Nachtviolen ein.
»Bitte.« Die Stimme am anderen Ende der Verbindung
klang leise.
Er reagierte nicht. Schwieg. Aber seine Finger aktivierten
den Außenlautsprecher am Handy. Ein paar
Sekunden war nichts zu hören außer einem schwachen
Rauschen aus dem Lautsprecher.
»He, Pater Gwendal, sind Sie noch da?« Nun hörte sie
sich wieder an wie die forsche Polizistin, die er kannte.
»Ja.«
Sie schnaubte. »Wie ich an der Akustik erkenne, haben
Sie das Handy auf ›laut‹ geschaltet.« Das Fauchen, das
sie folgen ließ, erinnerte ihn an den Marder, der ihm im
Frühjahr im Geräteschuppen untergekommen war.
»Also von mir aus, dann sollen es alle hören. BITTE!«
Sie brüllte. Dann wurde ihre Stimme mit einem Mal sanft.
»Reicht das jetzt? Kniefall genug?«
»Ja.«
»Dann beeilen Sie sich.«
Die Turmuhr hatte aufgehört zu schlagen. Im Hof
von Kloster Eulenberg standen drei Männer zwischen
der Kirche und einem Polizeiwagen mit drehendem
Blaulicht. Ein Ordensprior, ein Streifenbeamter und
ein schlichter Mönch und Kräuterfreund.
Alle drei grinsten.
»Albert, was weißt du?« Gwendal hatte im Fond des
Autos Platz genommen. Draußen huschten Bäume vorbei,
ein alter Heustadl, eine Kapelle. Albert Thominger
war ein rasanter Chauffeur.
»Leider gar nichts, Pater. Sie hat vor 20 Minuten auf
der Dienststelle angerufen und mich zum Kloster beordert,
um Sie zu holen. Gründe hat die Chefinspektorin
dem kleinen Revierinspektor keine genannt.«
»Aber du weißt wenigstens, wohin wir fahren.«
»Ja, zumindest weiß es mein Navi. Dillenberg. Erlenweg
19.«
Die Adresse sagte ihm gar nichts. Aber den Ort kannte
er, flüchtig. Sie würden etwa eine Dreiviertelstunde brauchen.
So, wie der junge Beamte über die zu dieser nächtlichen
Stunde schwach befahrenen Landstraße raste, vielleicht
auch nur eine halbe.
Sie schafften es schneller. 21 Minuten nachdem sie
das Kloster verlassen hatten, bog Thominger von der
Landstraße ab. Das Navi lenkte sie zu einem breiten,
gut ausgebauten Feldweg. Gleich darauf schälten die
Scheinwerfer des Wagens eine Toreinfahrt aus der Dunkelheit.
Vor einem großen Gebäude standen drei Polizeifahrzeuge.
Der Revierinspektor bremste, sprang aus
dem Auto und öffnete die Hintertür des Wagens. Ächzend
stieg Gwendal aus. Er trug immer noch den hellen
Umhang, mit dem er auch die Vigilfeier zelebriert hatte.
Einer der Beamten vor dem Haus steuerte auf sie zu.
»Guten Abend, Pater. Ich darf Sie ins Haus begleiten.«
Dem Mann lugten graue Haarsträhnen unter der Dienstkappe
hervor. Das Gesicht wirkte freundlich, offen. Der
Polizist, den er auf Anfang 50 schätzte, erinnerte Gwendal
eher an einen Schafhirten auf der Alm als an einen
Gesetzeshüter im Einsatz. Sein Händedruck war fest.
Gwendal folgte dem Beamten. Sie bewegten sich mit
raschen Schritten auf das Haus zu. Plötzlich hemmte
etwas Gwendals Schritt. Ihn überkam das Gefühl einer
Erscheinung. Aber es war kein übernatürliches Phänomen,
das ihn faszinierte, es war das Gesicht einer jungen
Frau. Sie stand im Hof, ein paar Schritte von der Haustür
entfernt, neben zwei Polizistinnen. Der Lichtstreifen
aus einem der Fenster fiel exakt auf ihr Gesicht. Sie
blickte zu ihm herüber. Es waren vor allem die Augen,
die ihn beeindruckten, der sanfte, melancholische Blick,
dazu die hellen Haare, die ihr in langen welligen Locken
über die Schulter fielen. Die rechte Hand hatte sie auf
die Brust gelegt, als fühle sie dem eigenen Herzschlag
nach. Er wusste sofort, woran ihn dieser Anblick erinnerte.
An die Venus auf einem Gemälde von Botticelli.
Ein berühmtes Bild, das er vor Jahren in Florenz gesehen
hatte. Die Göttin auf diesem Bild hat ähnliches Haar,
einen ähnlichen Blick. Sie steht auf einer Muschel und ist
nackt. Die Frau im Hof war mit einer grünlich schimmernden
Bluse bekleidet und trug dunkle Jeans. Unter
ihren Füßen breitete sich keine Muschelschale aus.
Die hellen Turnschuhe standen auf kiesigem Boden.
»Herr Pater, bitte hier entlang.« Die Stimme des
Beamten riss ihn aus seiner kurzen Versunkenheit. »Ich
komme schon.« Er wandte noch einmal den Kopf, versuchte,
wieder den Blick der faszinierenden Erscheinung
zu erhaschen. Aber die Frau hatte sich schon wieder
abgewandt, hörte konzentriert zu, was eine der beiden
Polizistinnen zu ihr sagte.
Die Chefinspektorin kam ihm verändert vor. Ihre Augen
wirkten müde, aber der Blick schien ihm nicht mehr so
verhärmt wie noch vor einem Jahr. Auch die beiden Furchen,
die sich links und rechts der kantigen Nase nach
unten zogen, wirkten weicher, glichen mehr der Bahn
von sanften Regentropfen auf einem Rosenblatt als dem
rauen Schnitt einer Harke auf vereistem Ackerboden. Sie
streckte ihm die Hand hin, raffte sich zu einem Anflug
von Lächeln auf.
»Danke, Pater, dass Sie gekommen sind.«
Sie befanden sich in einem großen Raum mit hellen
Holzwänden und hoher Holzdecke, gestützt von Pfeilern
und mächtigen Querbalken. Ein ehemaliger, großzügig
umgebauter Heustadl, vermutete Gwendal. Was im Raum
sofort auffiel, waren die vielen Bilder. Drei der Gemälde
waren aufgehängt, die anderen lehnten aneinander gestapelt
an den Wänden. Gwendal bemerkte Bilder in unterschiedlichen
Größen und Farbschattierungen.
Die linke Seite des Raumes beherrschte ein wuchtiger Holztisch,
auf dem allerlei Flaschen standen, auch Dosen und Gläser.
Die Wandfront an der rechten Seite wies zwei hohe
Fenster auf, die bis zum Boden reichten. Auf dem Holzboden
neben dem hinteren Fenster entdeckte Gwendal
den Körper eines Mannes. Er lag mit dem Gesicht nach
unten. Dunkle Flecken hatten das helle Holz zu beiden
Seiten des Mannes verfärbt.
»Angelo Stassner.« Die Stimme der Polizistin war leise.
Nun kam ihm der Name doch bekannt vor. Die vielen
Bilder im Raum brachten ihn darauf. Noch ehe er in seiner
Erinnerung weiterkramte, bestätigte die Chefinspektorin
seine Vermutung.
»Angelo Stassner. 37 Jahre. Bekannter Galerist und
Societypromi.« Irgendwo war ihm dieser Mann schon
einmal begegnet. Auf einer Gartenausstellung? Wohl
kaum.
»Wenn die Medien von diesem Verbrechen Wind
bekommen und hier die ersten TV-Satellitenwagen aufkreuzen,
werden meine Vorgesetzten zu rotieren beginnen.
Und dann werden Sie mir gehörig Druck machen,
vom Polizeidirektor bis zum Innenminister.« Die Polizistin
blickte etwas unsicher auf den Pater, als erwarte
sie von ihm augenblicklich Hilfe gegen die heraufdräuenden
Schwierigkeiten.
Statt einer Erwiderung fragte Gwendal: »Darf ich?«
Er deutete zur Leiche.
Sie nickte. Gwendal bewegte sich langsam auf den
Toten zu, blieb zwei Schritte vor ihm stehen, um nicht in
das Blut steigen. Er verschränkte die Finger und blickte
lange auf den Toten. Dann begann er zu beten. Seine Lippen
bewegten sich leise. Es war still im Raum. Die anwesenden
Polizisten hatten ihre Tätigkeiten eingestellt und
schauten auf den Benediktinerpater. Eine junge Beamtin
hatte sogar die Kappe abgenommen. Auch ihre Lippen
bewegten sich leise.
Nach etwa drei Minuten beendete Gwendal das Gebet.
Seine Hand deutete das Kreuzzeichen an. Dann ließ er
sich langsam in die Hocke nieder. Er wollte den Toten
wenigstens kurz berühren. Als stille Anerkennung, dass
dieser Leib vor Kurzem noch Leben in sich getragen
hatte.
»Er ist etwa seit sechs bis acht Stunden tot, schätzt der
Gerichtsmediziner.« Die Chefinspektorin stand neben
ihm. Gwendal richtete sich auf.
»Die Attacke folgte dort drüben.« Die Kriminalbeamtin
wies mit der Hand in die Mitte des Raumes. Eine
dunkel schimmernde Blutlache war auf dem Boden
zu erkennen.
»Drei Stiche mit einem Messer. Zwei in
den Bauch, einer in die Brust. Er ist zusammengebrochen
und über den Boden gekrochen, versuchte wohl
seinem Mörder zu entkommen.« Ihr Finger zeigte die
verwischte Blutspur, die sich über den Boden zog. Sie
endete unter dem toten Körper, der vor ihnen lag. Eines
der Bilder, die an der Wand neben dem Fenster lehnten,
war offenbar durch die Berührung des Sterbenden auf
den Boden gerutscht. Der Rahmen steckte unter dem
Kopf des Toten. Der ausgestreckte Arm des Sterbenden
hatte noch die Bildmitte erreicht. Gwendal durchfuhr
ein leichter Schauder, als er erkannte, worauf die Hand
des Toten lag. Auf einem Schädel. Einem abgetrennten
Kopf. Der prangte auf einem Tablett, das eine junge
Frau vor ihrer Brust hielt. Der Ausdruck im Gesicht der
Frau schwankte zwischen Triumph und tiefem Schmerz.
Das musste die biblische Salome sein, die den abgeschlagenen
Kopf von Johannes dem Täufer hielt.
»Gefunden wurde Stassner gegen acht Uhr. Eine
halbe Stunde später sind unsere Beamten eingetroffen.«
Gwendal riss sich vom Anblick der gruseligen Szene
auf dem Gemälde los.
»Wer hat ihn gefunden?«
»Eine Nachbarin. Sie ist noch draußen im Hof.«
»Die Botticelli-Venus?«, rief Gwendal erstaunt.
»Wie?«
Er winkte ab. »Nichts. Ich glaube, ich habe die junge
Frau vorhin bei unserer Ankunft gesehen.«
»Ja, sie wohnt mit ihrer Familie gleich in der Nähe.
Ihr Mann und sie kümmerten sich um das Haus, wenn
Stassner auf Reisen war, und erledigten auch sonst kleinere
Aufträge. Die Frau brachte heute die Wäsche vorbei,
die sie für ihn gebügelt hatte.«
Gwendal wandte sich vom Toten ab, zeigte mit müder
Geste durch den Raum.
»Eine Galerie. Ein toter Mann. Offensichtlich der
Besitzer.«
Er entfernte sich von der Leiche, stellte sich neben
den Eingang. »Ich kannte weder den Toten noch dessen
Geschäfte. Was, um Himmels willen, wollen Sie von
mir?«
Er breitete hilflos die Arme aus, versuchte, nicht allzu
theatralisch zu wirken.
»Wir zeigen es Ihnen.« Sie gab den Beamten im Raum
ein Zeichen. Gleich darauf sah sich Gwendal von sechs
Polizisten umringt. Sie hielten ihm Gemälde entgegen,
die sie von den Stapeln genommen hatten. Gwendal
schaute verunsichert auf die Kunstwerke. Kein Bild glich
dem anderen. Sie unterschieden sich im Stil, in der Farbgebung,
in Größe und Gestaltung. Zwei wirkten sehr
realistisch, üppig und plastisch gemalt, andere bestanden
nur aus Strichen, Andeutungen von Geschehnissen, hingeworfenen
Figuren.
So unterschiedlich die Bilder auch aussahen,
sie schienen sich dennoch in einem zu ähneln:
Sie zeigten alle Szenen von Gewalt. Auf dem kleinsten
der Gemälde, einer Rötelzeichnung mit unruhigen Strichen,
die dramatische Hast vermittelten, beugte sich eine
Gestalt über eine zweite, die sich auf der Erde krümmte.
Der hochgereckte Arm der ersten Figur hielt eine Waffe,
bereit zuzuschlagen. Eine Art Keule.
»Das ist Kain, der seinen Bruder Abel erschlägt. Der
erste biblische Mord, wenn ich mich richtig an meinen
Religionsunterricht erinnere.« Gwendal wandte sich verblüfft
der Chefinspektorin zu. Das hätte er jetzt nicht auf
den ersten Blick erkannt. Sie lächelte. Und dieses Mal
wirkte ihre Miene tatsächlich freundlich. Oder zumindest
nachsichtig.
»Es steht hinten drauf.«
Der Beamte, der das Werk hielt, drehte ihm die Rückseite
des Bildes zu. Kain.Abel.Brudermord war auf den
oberen Rahmen gekritzelt. Die Chefinspektorin wies in
die Runde der Darstellungen.
»Das ist Judith, die gerade Holofernes enthauptet.
Hier stirbt Cäsar unter den Dolchstichen der Senatoren.
Auf diesem Bild wird John Lennon erschossen. Und
hier rammen die gedungenen Mörder eine Lanze in den
Körper des Feldherrn Wallenstein.«
Die Stimme der Chefinspektorin klang sachlich, als
erkläre sie einer Gruppe von Besuchern die Menüauswahl
in der Museumskantine.
»Auf allen Bildern in dieser Galerie sind Szenen zu
erkennen, die die Ermordung von Persönlichkeiten aus
der Mythologie oder aus der historischen Wirklichkeit
zeigen. Wir haben das Attentat auf Abraham Lincoln,
den Tod von John F. Kennedy, den von Achilleus abgeschlachteten
Hektor, den ermordeten Dumbledore aus
der Harry Potter Geschichte und vieles mehr. Und wir
haben noch etwas. Auf allen Bildern. Sehen Sie bitte
genau hin, Pater Gwendal.«
Er brauchte ein paar Sekunden, bis er erkannte, was
die Polizistin meinte. Er wandte sich um, machte rasch
ein paar Schritte auf die Leiche zu, umkurvte den leblosen
Körper und starrte erneut auf das halb verdeckte
Gemälde. Tatsächlich. Auch auf diesem Bild war es zu
erkennen. Er hatte es vorhin nicht beachtet. Es erschien
ihm auch nicht wichtig. Eine Nebensächlichkeit. Er
kehrte zur Gruppe zurück, fixierte wieder die Darstellung
des biblischen Brudermordes. Neben Abels Beinen
waren etliche zarte, geschwungene Linien zu erkennen.
Andeutung einer Pflanze, die dünn und schüchtern ihre
kargen Blätter in die Höhe reckte. Ein zerbrechlich wirkender,
sanfter Moment, der völlig im Kontrast zur brutalen
Tat stand, die eben passierte.
»Das ist Hirtentäschel. Oder soll es zumindest sein.«
Dieses Mal kam die Erklärung nicht von der Chefinspektorin,
sondern vom Polizisten, der das Bild hielt. Auch
er begegnete dem skeptischen Blick des Paters mit einer
Andeutung von Lächeln.
»Steht ebenfalls hinten.« Er drehte das Bild um, hielt
es hoch, damit Gwendal den winzigen Schriftzug am
unteren Teil des Rahmens lesen konnte. Hirtentäschel.
Capsella bursa-pastoris.
Sybille Knaus wies auf den Beamten. »Bezirksinspektor
Adalbert Rindenborst, stellvertretender Postenkommandant
von Dillenberg. Er ist nicht nur ein fähiger Poli27
zist, sondern auch ein begeisterter Hobbygärtner. Ihm
sind die Strünke auf den Bildern als Erstem aufgefallen.«
Sie blickte auf die Uhr. Es wurde Zeit, dass sie einen
Schritt weiterkamen. Ihr Arm deutete in den Raum.
»Wir haben ein Mordopfer. Ein bekannter Promi-Galerist.
Erstochen. Eine brutale Tat. Auf allen Bildern in
der Galerie befinden sich Szenen, die ebenfalls auf eine
Gewaltaktion verweisen. Jede Tat wird von einer Pflanze
begleitet. Und all diese Pflanzen, sagt unser kundiger
Hobbygärtner und Polizeikollege, sind den Kräutern
zuzurechnen. Deshalb brauchen wir einen Kräuterexperten.
Und der einzige, den ich kenne, sind Sie, Pater
Gwendal. Deshalb sind Sie hier.«
Der Benediktinermönch brauchte ein paar Momente,
um das Gehörte zu verarbeiten. Er starrte auf ein weiteres
der Gemälde, die ihm immer noch entgegengehalten
wurden. Es zeigte offenbar den Mord an Wallenstein.
Nicht nur die Lanze war deutlich auszumachen, auch
die gezackten Blätter mit den violetten Blüten konnte
man erkennen. Die Beamtin, die das Bild hielt, las vor,
was auf der Rückseite stand. »Ruprechtskraut. Geranium
robertianum.«
Bezirksinspektor Rindenborst setzte das Kain und
Abel Bild ab und holte einen Zettel aus der Brusttasche.
»Ich habe Ihnen hier alle Pflanzennamen notiert, die
wir auf den Rückseiten der Bilder gefunden haben.«
Er schaute auf die Liste. Nicht alle Namen waren ihm
auf Anhieb geläufig, die meisten schon.
»Haben Sie eine Idee, Pater Gwendal, warum diese
Kräuter ausgerechnet auf Gewaltbilder gemalt wurden?
Und was das vielleicht mit dem gewaltsamen Tod des
Galeristen zu tun haben könnte?« Die Chefinspektorin
drängte, blickte erneut auf die Uhr.
Gwendal schüttelte den Kopf. Er war ein einfacher,
unscheinbarer Benediktinermönch. Ja, er liebte Pflanzen,
diese wunderbaren Geschöpfe Gottes. Er wusste auch
manches über Kräuter, über Wachstum und Wirksamkeit.
Aber er war kein Hellseher. Der Bezirksinspektor
deutete auf den Zettel in Gwendals Hand.
»Mir sagen viele dieser Pflanzennamen gar nichts,
Pater. Sehen wenigstens Sie irgendeine Verbindung zwischen
den Kräutern, eine mögliche gemeinsame Auffälligkeit?«
Er sah auch keine, ließ das Blatt langsam sinken. Was
machte er hier? Er sollte zu Hause in seinem Kloster sein,
sich ausruhen. In wenigen Stunden brauchte er seine
volle Kraft und Konzentration für das aufwendige Fest,
für Kräutergartenweihe und Mariengottesdienst. Er war
müde, fühlte sich ausgelaugt und zu etwas gedrängt, das
er nicht leisten konnte.
Der Mensch sieht, was vor Augen ist. Aber Gott sieht
das Herz an.
Warum kam ihm dieser Spruch aus dem Alten Testament
ausgerechnet jetzt in den Sinn? Er sah nicht einmal,
was vor Augen ist. Er erkannte keinen Sinn darin. Was
erblickte er denn? Ein paar kräftige Striche auf einem
Gemälde. Einen Mann, der aus Zorn darüber, dass ihn
Gott offenbar weniger beachtete als seinen Bruder, sich
zu einem blutigen Tag hinreißen lässt. Gleich würde die
Keule den Schädel des Bruders zerschmettern. Und in
diese grausame Szene war mit zarten Linien ein Kraut
hineingewoben. Ein Hirtentäschel sollte es sein.
Hirtentäschel? Plötzlich flammte ein Bild in seinem
Innern auf. Er sah dieselbe Pflanze im Kräutergarten
des Klosters und zugleich als Abbildung in einem der
Kräuterbücher in seiner Bibliothek. Eine ganze Reihe
von Namensbezeichnungen tauchte vor ihm auf. Bestand
darin der Zusammenhang?
Er drehte den Kopf in Richtung Leiche.
Erneut eilte er hinüber, stieg behutsam über
den Körper und betrachtete noch einmal aufmerksam
das Gemälde. Auch wenn Kopf und Arm des Toten einen
Teil des Bildes verdeckten, waren die stilisierten gelben
Blüten dennoch klar zu erkennen. Sie sprossen aus den
Ritzen der eingebrochenen Mauer, vor der Salome mit
ihrer schrecklichen Last stand. Gwendal wollte nichts
an diesem Tatort berühren. Er konnte das Bild nicht
unter dem Kopf des Toten herausziehen, um eine mögliche
Bezeichnung auf der Rückseite lesen zu können.
Er glaubte auch so zu wissen, welches Kraut hier abgebildet
war. Johanniskraut. Er hatte das Gefühl, nun auch
mit dem Herzen zu sehen, nicht nur mit den Augen. Er
kam rasch zurück, deutete nach hinten. »Auf dem Bild
von Salome mit dem Haupt des Johannes blüht Johanniskraut.
« Dann verwies er auf die anderen Bilder im Raum.
»Wir finden hier Hirtentäschel, Ruprechtskraut, das
auch stinkender Storchschnabel genannt wird. Außerdem
Schafgarbe, Schöllkraut, Vogelknöterich und einige
andere, die auf dieser Liste stehen.« Er hob den Zettel
in die Höhe. »Sie wissen, dass Kräuter meist nicht nur
unter einem einzigen Namen bekannt und verbreitet
sind, sondern unter vielen. Thymian heißt auch welscher
Quendel, Immenkraut oder Zinis. Majoran wird auch
Kuttelkraut genannt, Maigramme oder Wurstkräutel.
Melisse kennt man als Bienenfang, Eibisch als Schleimwurzel.
Aber diese Kräuter hier ...«, er wedelte mit dem
Blatt, »... die haben alle eine ganz bestimmte gemeinsame
Bezeichnung, unter der sie auch in den Büchern
aufscheinen. Blutkraut!«
Er schaute erwartungsvoll in die Runde. Verblüffte
Gesichter blickten ihm entgegen. Einige der Personen
im Raum zuckten mit den Schultern.
»Blutkraut? Noch nie gehört.« Die Chefinspektorin
schüttelte ihre blonden Strähnen.
Gwendal nahm dem Bezirksinspektor das Bild von
Kain und Abel aus der Hand. Er deutete mit dem Finger
auf die zarte Pflanzenzeichnung.
»Die bekannteste heilsame Eigenschaft des Hirtentäschels
ist seine blutstillende Wirkung. Früher tranken
Frauen nach einer Geburt Hirtentäscheltee, um Nachblutungen
zu minimieren. Deshalb wird Hirtentäschel
in vielen Kräuterbüchern auch Blutkraut genannt. Auch
die Leber- und Gallenpflanze Schöllkraut heißt in Schlesien
›Blutkraut‹, weil sie auch bei Ekzemen und starken
Menstruationsbeschwerden hilft. Sogar der Gemütsaufheller
par excellence, das sonnige Johanniskraut, trägt
manchmal diese Bezeichnung.
©Gmeiner
Als tränke er purpurroten Wein aus einem funkelnden Pokal,
sog der Ordensmann die warme Luft in sich ein. Und
zugleich mit dem Odem der Nacht erreichte ihn der erste
Duftschwall aus dem Kräuterreich, das sich zu seinen
Füßen erstreckte. Aus dem Bouquet stach der Geruch
der Nachtviole besonders hervor. Süß und zugleich würzig.
Schon zu Ostern hatten die schlanken Strünke die
ersten violetten Blüten zum Himmel gereckt und seitdem
die Besucher des Gartens Woche für Woche mit
ihrer Pracht erfreut. Normalerweise blüht diese Kreuzblütlerart
nur bis in den Juli. Aber die Nachtviolen von
Kloster Eulenberg zeigten ihr violettes Kleid fast jedes
Jahr bis Mitte August. Als wollten sie die Gottesmutter
an ihrem Festtag noch begrüßen. Heute war die Nacht
zum 15. August. Morgen würde man das Fest Mariä
Himmelfahrt feiern, Assumptio Beatae Mariae Virginis.
Hochfrauentag nannte man diesen Feiertag in Bayern
und Österreich, seit Jahrhunderten verbunden mit
Kräuterfest und Kräuterweihe. Gwendal war gespannt
auf den morgigen Tag. Das Marienfest mit Kräuterzeremonie
gehörte jedes Jahr zu den Höhepunkten des Veranstaltungsreigens
auf Stift Eulenberg. Aber dieses Mal
würde es zu einem besonders reichen Erlebnis werden.
Denn morgen eröffneten die Mönche den neu angelegten
Kräutergarten im östlichen Teil des Areals. Planung
und Bau hatten fast zwei Jahre gedauert. Aber nun war
es soweit. In wenigen Stunden würde das Fest über die
Bühne gehen.
Langsam stieg Gwendal die Stufen hinunter zur ersten
Terrasse. Er gönnte sich oft den Luxus eines stillen
Streifzuges durch die Kräutergärten des Klosters, bevorzugt
in lauen Sommernächten. Mit jedem Schritt änderte
sich die Komposition der Duftnoten, die ihn erreichten.
Schon schob sich der frischherbe Geschmack von Muskatellersalbei
über den süßlichen Ton der Nachtviole.
Gleich darauf mischte sich der Geruch von Lavendel
dazu, der Gwendal immer an die gestärkte Bettwäsche
im Schlafzimmer seiner Großmutter erinnerte. Beim
nächsten Beet umschmeichelte ihn der Duft von Zitronenmelisse.
Er beugte sich vor, strich mit den Fingern
über die Blätter, sog den Geruch tief ein. Weiter
ging es im Reich des nächtlichen Kräuterzaubers. Der
Pater erreichte die zweite Terrassenstufe. Ein Hauch von
Kampfer drang in seine Nase. Er lächelte. Der Mond
war vor einer Stunde untergegangen, aber das Licht der
Sterne reichte völlig aus, um das Königsblau der kleinen
staubwedelähnlichen Blütenstrünke zum Glänzen
zu bringen. Hier wuchs Ysop, dessen Geruch immer
auch ein wenig an Kampfer erinnerte. Und bisweilen
auch an Bohnenkraut. Wieder bückte sich Gwendal und
strich behutsam über die Blüten und Blätter des Ysop.
Es war zugleich ein anerkennendes Streicheln, ein Lob.
Ein Dank für einen treuen Wächter. Der Ysop wirkte
mit seinen ätherischen Ölen wie eine Waffe gegen Fressschädlinge.
Sein intensiver Geruch hielt Schnecken und
Kohlweißlinge fern. Der Ysop, an den Rändern der
Beete gepflanzt, schützte dadurch auch viele Kräuter
in seiner Umgebung. Als Gwendal die nächste Terrasse
erreichte, hörte er wieder das helle klagende Fiepen. Ein
Schatten strich über die Klostermauern, segelte nach
draußen. Der Sperlingskauz hielt offenbar auf das Ufer
des kleinen Sees zu, der sich an den Fuß des Klosterhügels
schmiegte.
Ein paar Sekunden konnten Gwendals
Augen der Schattenkontur des Vogels am Himmel folgen,
dann verschluckte ihn die Dunkelheit. Er wollte
noch eine Weile bleiben, streckte seinen fülligen Körper
auf die breite Steinbank zwischen dritter und vierter
Trasse. Er ließ seine Gedanken wandern, über das
Seeufer hinaus zu den Sternen. Er spürte die Vorfreude
auf das morgige Fest. Und zugleich badete er im Meer
der Düfte, die von den vielfältigen Geschenken Gottes
ringsum auf ihn einströmten. Rosmarin, Anis, Majoran,
Wermut, Zitronenverbene, Melisse, Thymian. Er fühlte
sich eins mit der Schöpfung. Der Duft und die Farbenpracht
seiner Kräuter waren für ihn wie ein Gebet. Wie
ein Gesang, der ein Lied anstimmte über das Vertrauen
in die Kraft des Lebens.
Doch schon nach ein paar Minuten wurde dieses Lied
gestört. Motorenlärm röhrte durch die Stille. Gleich
darauf hörte er Rufe, die immer lauter wurden. Galten
diese Rufe ihm? Er stemmte seinen Körper hoch
und stapfte nach oben, missmutig wegen der unerwarteten
Störung. Dennoch getrieben von der Neugierde,
die seinem Naturell entsprach. Die Szene, die sich ihm
im Hof des Klosters bot, hatte er nicht erwartet. Er sah
ein Polizeiauto mit blinkendem Blaulicht. Was machte
ein Einsatzfahrzeug der Exekutive mitten in der Nacht
im Stiftsareal?
Und warum fuchtelte der Prior aufgeregt
mit beiden Händen in seine Richtung. Den Uniformierten,
der neben der geöffneten Wagentür stand, kannte
er. Das war Revierinspektor Albert Thominger. Einst
gefeierter Mittelstürmer des USK Eulenberg und seit ein
paar Monaten der örtlichen Polizeidienststelle zugeteilt.
»Was ist los, Albert?« Er war ein wenig außer Atem,
als er die beiden Männer erreichte. Der plötzliche Lärm
hatte ihn die Terrassenstufen um einiges schneller hinaufeilen
lassen, als ihm gut tat. »Was soll dieser Aufruhr?«
Der junge Beamte verzog das Gesicht zu einem schiefen
Grinsen.
»Das soll sie Ihnen selber sagen.« Sie? Gwendal
verstand nicht. Der Polizist drückte eine Taste seines
Handys und reichte es dem Mönch. Verwundert nahm
Gwendal das Telefon entgegen und hielt es ans Ohr. Er
erkannte die Stimme auf Anhieb, obwohl er die Frau seit
vielen Monaten nicht mehr gesehen hatte.
»Verflucht, warum haben Sie Ihr Handy nicht eingeschaltet?
« Sie hielt sich nicht lange mit Einleitungen auf.
»Ich wünsche Ihnen auch einen guten Abend, Frau
Chefinspektorin. Schön, dass Sie unsere klösterliche
Ruhe zur nächtlichen Stunde durch das imposante
Erscheinen eines Streifenwagens bereichern.«
»Was soll ich machen, wenn Ihr Handy tot ist und am
Telefon der Klosterpforte kein Schwanz abhebt?« Hier
leben keine Schwänze, sondern körperlich komplett ausgestattete
Mönche, war er versucht zu sagen, unterließ es aber.
Er erinnerte sich an ihre erste Begegnung vor
knapp einem Jahr. Damals war ein Toter unter einem
Salbeistrauch des Klostergartens gelegen.* Und Chefinspektorin
Sybille Knaus hatte ihm zur Begrüßung nicht
einmal die Hand gereicht.
»Ich brauche Sie.«
Wie bitte? Hatte er sich verhört?
»Wie meinen Sie das?«
»Verdammt, so wie ich es sage: Ich brauche Sie!«
Er blickte sich verwundert um. Nein, er träumte
nicht. Er stand mitten auf dem Klosterhof. Über ihm
blinkten die Sterne. Aus dem Mariengarten wehte
immer noch ein Hauch von Nachtviole, Muskatellersalbei
und Lavendel zu ihnen herüber. Neben sich
erblickte er einen verschlafenen, verdattert blickenden
Prior und einen hilflos grinsenden Streifenbeamten, der
vor vielen Jahren sein Ministrant gewesen war.
Er schluckte, räusperte sich, um seiner Stimme mehr
Halt zu verleihen.
»Morgen ist Marienfeiertag. Wir weihen unseren
neuen Kräutergarten ein. Das wird ein großes Fest. Wir
erwarten viele Besucher. Selbst wenn Sie herkommen,
werde ich mich leider keine Minute für Sie freimachen
können. Übermorgen habe ich den ganzen Tag über Therapiedienst
im Ottilienzentrum, aber vielleicht könnte
ich in der nächsten Woche ...«
»Auf der Stelle!« Ihre Stimme war lauter geworden.
Er hielt inne. Auf der Stelle? War das ein Scherz? Er
hatte diese stets übel gelaunte Frau seit einem Jahr nicht
mehr gesehen. Sie war ihm nicht abgegangen.
Und plötzlich tauchte sie wieder auf, als Stimme am Telefon, die
ihm mitten in der Nacht einen Polizeiwagen samt Beamten
vor die Nase knallte.
»Ich habe einen Toten.«
»Wie bitte?«
»Es ist Angelo Stassner.« Sie sagte das in einem Tonfall,
als müsste er den Namen kennen. Er blickte irritiert auf
Thominger. Der junge Beamte zog die Schultern hoch,
schüttelte den Kopf. Keine Ahnung.
»Ich bedaure sehr, dass Sie mit einem Toten konfrontiert
sind, Frau Chefinspektor. Aber warum brauchen
Sie dazu mich?«
»Das erkläre ich Ihnen, wenn Sie da sind.«
Ein heller Ton war zu hören. Gleich darauf noch einer.
Die Kirchturmglocke schickte ihre Botschaft durch die
Dunkelheit. Es war Mitternacht. Es galt, einen neuen Tag
anzukündigen. Den Hochfrauentag. Das Fest Mariae
Himmelfahrt. Gwendal lauschte dem Klang der Glocke.
Bald würden sie die Pforten öffnen für die vielen Gäste
der Kräuterweihe. Er holte tief Luft, atmete bewusst
den Duft der Nachtviolen ein.
»Bitte.« Die Stimme am anderen Ende der Verbindung
klang leise.
Er reagierte nicht. Schwieg. Aber seine Finger aktivierten
den Außenlautsprecher am Handy. Ein paar
Sekunden war nichts zu hören außer einem schwachen
Rauschen aus dem Lautsprecher.
»He, Pater Gwendal, sind Sie noch da?« Nun hörte sie
sich wieder an wie die forsche Polizistin, die er kannte.
»Ja.«
Sie schnaubte. »Wie ich an der Akustik erkenne, haben
Sie das Handy auf ›laut‹ geschaltet.« Das Fauchen, das
sie folgen ließ, erinnerte ihn an den Marder, der ihm im
Frühjahr im Geräteschuppen untergekommen war.
»Also von mir aus, dann sollen es alle hören. BITTE!«
Sie brüllte. Dann wurde ihre Stimme mit einem Mal sanft.
»Reicht das jetzt? Kniefall genug?«
»Ja.«
»Dann beeilen Sie sich.«
Die Turmuhr hatte aufgehört zu schlagen. Im Hof
von Kloster Eulenberg standen drei Männer zwischen
der Kirche und einem Polizeiwagen mit drehendem
Blaulicht. Ein Ordensprior, ein Streifenbeamter und
ein schlichter Mönch und Kräuterfreund.
Alle drei grinsten.
»Albert, was weißt du?« Gwendal hatte im Fond des
Autos Platz genommen. Draußen huschten Bäume vorbei,
ein alter Heustadl, eine Kapelle. Albert Thominger
war ein rasanter Chauffeur.
»Leider gar nichts, Pater. Sie hat vor 20 Minuten auf
der Dienststelle angerufen und mich zum Kloster beordert,
um Sie zu holen. Gründe hat die Chefinspektorin
dem kleinen Revierinspektor keine genannt.«
»Aber du weißt wenigstens, wohin wir fahren.«
»Ja, zumindest weiß es mein Navi. Dillenberg. Erlenweg
19.«
Die Adresse sagte ihm gar nichts. Aber den Ort kannte
er, flüchtig. Sie würden etwa eine Dreiviertelstunde brauchen.
So, wie der junge Beamte über die zu dieser nächtlichen
Stunde schwach befahrenen Landstraße raste, vielleicht
auch nur eine halbe.
Sie schafften es schneller. 21 Minuten nachdem sie
das Kloster verlassen hatten, bog Thominger von der
Landstraße ab. Das Navi lenkte sie zu einem breiten,
gut ausgebauten Feldweg. Gleich darauf schälten die
Scheinwerfer des Wagens eine Toreinfahrt aus der Dunkelheit.
Vor einem großen Gebäude standen drei Polizeifahrzeuge.
Der Revierinspektor bremste, sprang aus
dem Auto und öffnete die Hintertür des Wagens. Ächzend
stieg Gwendal aus. Er trug immer noch den hellen
Umhang, mit dem er auch die Vigilfeier zelebriert hatte.
Einer der Beamten vor dem Haus steuerte auf sie zu.
»Guten Abend, Pater. Ich darf Sie ins Haus begleiten.«
Dem Mann lugten graue Haarsträhnen unter der Dienstkappe
hervor. Das Gesicht wirkte freundlich, offen. Der
Polizist, den er auf Anfang 50 schätzte, erinnerte Gwendal
eher an einen Schafhirten auf der Alm als an einen
Gesetzeshüter im Einsatz. Sein Händedruck war fest.
Gwendal folgte dem Beamten. Sie bewegten sich mit
raschen Schritten auf das Haus zu. Plötzlich hemmte
etwas Gwendals Schritt. Ihn überkam das Gefühl einer
Erscheinung. Aber es war kein übernatürliches Phänomen,
das ihn faszinierte, es war das Gesicht einer jungen
Frau. Sie stand im Hof, ein paar Schritte von der Haustür
entfernt, neben zwei Polizistinnen. Der Lichtstreifen
aus einem der Fenster fiel exakt auf ihr Gesicht. Sie
blickte zu ihm herüber. Es waren vor allem die Augen,
die ihn beeindruckten, der sanfte, melancholische Blick,
dazu die hellen Haare, die ihr in langen welligen Locken
über die Schulter fielen. Die rechte Hand hatte sie auf
die Brust gelegt, als fühle sie dem eigenen Herzschlag
nach. Er wusste sofort, woran ihn dieser Anblick erinnerte.
An die Venus auf einem Gemälde von Botticelli.
Ein berühmtes Bild, das er vor Jahren in Florenz gesehen
hatte. Die Göttin auf diesem Bild hat ähnliches Haar,
einen ähnlichen Blick. Sie steht auf einer Muschel und ist
nackt. Die Frau im Hof war mit einer grünlich schimmernden
Bluse bekleidet und trug dunkle Jeans. Unter
ihren Füßen breitete sich keine Muschelschale aus.
Die hellen Turnschuhe standen auf kiesigem Boden.
»Herr Pater, bitte hier entlang.« Die Stimme des
Beamten riss ihn aus seiner kurzen Versunkenheit. »Ich
komme schon.« Er wandte noch einmal den Kopf, versuchte,
wieder den Blick der faszinierenden Erscheinung
zu erhaschen. Aber die Frau hatte sich schon wieder
abgewandt, hörte konzentriert zu, was eine der beiden
Polizistinnen zu ihr sagte.
Die Chefinspektorin kam ihm verändert vor. Ihre Augen
wirkten müde, aber der Blick schien ihm nicht mehr so
verhärmt wie noch vor einem Jahr. Auch die beiden Furchen,
die sich links und rechts der kantigen Nase nach
unten zogen, wirkten weicher, glichen mehr der Bahn
von sanften Regentropfen auf einem Rosenblatt als dem
rauen Schnitt einer Harke auf vereistem Ackerboden. Sie
streckte ihm die Hand hin, raffte sich zu einem Anflug
von Lächeln auf.
»Danke, Pater, dass Sie gekommen sind.«
Sie befanden sich in einem großen Raum mit hellen
Holzwänden und hoher Holzdecke, gestützt von Pfeilern
und mächtigen Querbalken. Ein ehemaliger, großzügig
umgebauter Heustadl, vermutete Gwendal. Was im Raum
sofort auffiel, waren die vielen Bilder. Drei der Gemälde
waren aufgehängt, die anderen lehnten aneinander gestapelt
an den Wänden. Gwendal bemerkte Bilder in unterschiedlichen
Größen und Farbschattierungen.
Die linke Seite des Raumes beherrschte ein wuchtiger Holztisch,
auf dem allerlei Flaschen standen, auch Dosen und Gläser.
Die Wandfront an der rechten Seite wies zwei hohe
Fenster auf, die bis zum Boden reichten. Auf dem Holzboden
neben dem hinteren Fenster entdeckte Gwendal
den Körper eines Mannes. Er lag mit dem Gesicht nach
unten. Dunkle Flecken hatten das helle Holz zu beiden
Seiten des Mannes verfärbt.
»Angelo Stassner.« Die Stimme der Polizistin war leise.
Nun kam ihm der Name doch bekannt vor. Die vielen
Bilder im Raum brachten ihn darauf. Noch ehe er in seiner
Erinnerung weiterkramte, bestätigte die Chefinspektorin
seine Vermutung.
»Angelo Stassner. 37 Jahre. Bekannter Galerist und
Societypromi.« Irgendwo war ihm dieser Mann schon
einmal begegnet. Auf einer Gartenausstellung? Wohl
kaum.
»Wenn die Medien von diesem Verbrechen Wind
bekommen und hier die ersten TV-Satellitenwagen aufkreuzen,
werden meine Vorgesetzten zu rotieren beginnen.
Und dann werden Sie mir gehörig Druck machen,
vom Polizeidirektor bis zum Innenminister.« Die Polizistin
blickte etwas unsicher auf den Pater, als erwarte
sie von ihm augenblicklich Hilfe gegen die heraufdräuenden
Schwierigkeiten.
Statt einer Erwiderung fragte Gwendal: »Darf ich?«
Er deutete zur Leiche.
Sie nickte. Gwendal bewegte sich langsam auf den
Toten zu, blieb zwei Schritte vor ihm stehen, um nicht in
das Blut steigen. Er verschränkte die Finger und blickte
lange auf den Toten. Dann begann er zu beten. Seine Lippen
bewegten sich leise. Es war still im Raum. Die anwesenden
Polizisten hatten ihre Tätigkeiten eingestellt und
schauten auf den Benediktinerpater. Eine junge Beamtin
hatte sogar die Kappe abgenommen. Auch ihre Lippen
bewegten sich leise.
Nach etwa drei Minuten beendete Gwendal das Gebet.
Seine Hand deutete das Kreuzzeichen an. Dann ließ er
sich langsam in die Hocke nieder. Er wollte den Toten
wenigstens kurz berühren. Als stille Anerkennung, dass
dieser Leib vor Kurzem noch Leben in sich getragen
hatte.
»Er ist etwa seit sechs bis acht Stunden tot, schätzt der
Gerichtsmediziner.« Die Chefinspektorin stand neben
ihm. Gwendal richtete sich auf.
»Die Attacke folgte dort drüben.« Die Kriminalbeamtin
wies mit der Hand in die Mitte des Raumes. Eine
dunkel schimmernde Blutlache war auf dem Boden
zu erkennen.
»Drei Stiche mit einem Messer. Zwei in
den Bauch, einer in die Brust. Er ist zusammengebrochen
und über den Boden gekrochen, versuchte wohl
seinem Mörder zu entkommen.« Ihr Finger zeigte die
verwischte Blutspur, die sich über den Boden zog. Sie
endete unter dem toten Körper, der vor ihnen lag. Eines
der Bilder, die an der Wand neben dem Fenster lehnten,
war offenbar durch die Berührung des Sterbenden auf
den Boden gerutscht. Der Rahmen steckte unter dem
Kopf des Toten. Der ausgestreckte Arm des Sterbenden
hatte noch die Bildmitte erreicht. Gwendal durchfuhr
ein leichter Schauder, als er erkannte, worauf die Hand
des Toten lag. Auf einem Schädel. Einem abgetrennten
Kopf. Der prangte auf einem Tablett, das eine junge
Frau vor ihrer Brust hielt. Der Ausdruck im Gesicht der
Frau schwankte zwischen Triumph und tiefem Schmerz.
Das musste die biblische Salome sein, die den abgeschlagenen
Kopf von Johannes dem Täufer hielt.
»Gefunden wurde Stassner gegen acht Uhr. Eine
halbe Stunde später sind unsere Beamten eingetroffen.«
Gwendal riss sich vom Anblick der gruseligen Szene
auf dem Gemälde los.
»Wer hat ihn gefunden?«
»Eine Nachbarin. Sie ist noch draußen im Hof.«
»Die Botticelli-Venus?«, rief Gwendal erstaunt.
»Wie?«
Er winkte ab. »Nichts. Ich glaube, ich habe die junge
Frau vorhin bei unserer Ankunft gesehen.«
»Ja, sie wohnt mit ihrer Familie gleich in der Nähe.
Ihr Mann und sie kümmerten sich um das Haus, wenn
Stassner auf Reisen war, und erledigten auch sonst kleinere
Aufträge. Die Frau brachte heute die Wäsche vorbei,
die sie für ihn gebügelt hatte.«
Gwendal wandte sich vom Toten ab, zeigte mit müder
Geste durch den Raum.
»Eine Galerie. Ein toter Mann. Offensichtlich der
Besitzer.«
Er entfernte sich von der Leiche, stellte sich neben
den Eingang. »Ich kannte weder den Toten noch dessen
Geschäfte. Was, um Himmels willen, wollen Sie von
mir?«
Er breitete hilflos die Arme aus, versuchte, nicht allzu
theatralisch zu wirken.
»Wir zeigen es Ihnen.« Sie gab den Beamten im Raum
ein Zeichen. Gleich darauf sah sich Gwendal von sechs
Polizisten umringt. Sie hielten ihm Gemälde entgegen,
die sie von den Stapeln genommen hatten. Gwendal
schaute verunsichert auf die Kunstwerke. Kein Bild glich
dem anderen. Sie unterschieden sich im Stil, in der Farbgebung,
in Größe und Gestaltung. Zwei wirkten sehr
realistisch, üppig und plastisch gemalt, andere bestanden
nur aus Strichen, Andeutungen von Geschehnissen, hingeworfenen
Figuren.
So unterschiedlich die Bilder auch aussahen,
sie schienen sich dennoch in einem zu ähneln:
Sie zeigten alle Szenen von Gewalt. Auf dem kleinsten
der Gemälde, einer Rötelzeichnung mit unruhigen Strichen,
die dramatische Hast vermittelten, beugte sich eine
Gestalt über eine zweite, die sich auf der Erde krümmte.
Der hochgereckte Arm der ersten Figur hielt eine Waffe,
bereit zuzuschlagen. Eine Art Keule.
»Das ist Kain, der seinen Bruder Abel erschlägt. Der
erste biblische Mord, wenn ich mich richtig an meinen
Religionsunterricht erinnere.« Gwendal wandte sich verblüfft
der Chefinspektorin zu. Das hätte er jetzt nicht auf
den ersten Blick erkannt. Sie lächelte. Und dieses Mal
wirkte ihre Miene tatsächlich freundlich. Oder zumindest
nachsichtig.
»Es steht hinten drauf.«
Der Beamte, der das Werk hielt, drehte ihm die Rückseite
des Bildes zu. Kain.Abel.Brudermord war auf den
oberen Rahmen gekritzelt. Die Chefinspektorin wies in
die Runde der Darstellungen.
»Das ist Judith, die gerade Holofernes enthauptet.
Hier stirbt Cäsar unter den Dolchstichen der Senatoren.
Auf diesem Bild wird John Lennon erschossen. Und
hier rammen die gedungenen Mörder eine Lanze in den
Körper des Feldherrn Wallenstein.«
Die Stimme der Chefinspektorin klang sachlich, als
erkläre sie einer Gruppe von Besuchern die Menüauswahl
in der Museumskantine.
»Auf allen Bildern in dieser Galerie sind Szenen zu
erkennen, die die Ermordung von Persönlichkeiten aus
der Mythologie oder aus der historischen Wirklichkeit
zeigen. Wir haben das Attentat auf Abraham Lincoln,
den Tod von John F. Kennedy, den von Achilleus abgeschlachteten
Hektor, den ermordeten Dumbledore aus
der Harry Potter Geschichte und vieles mehr. Und wir
haben noch etwas. Auf allen Bildern. Sehen Sie bitte
genau hin, Pater Gwendal.«
Er brauchte ein paar Sekunden, bis er erkannte, was
die Polizistin meinte. Er wandte sich um, machte rasch
ein paar Schritte auf die Leiche zu, umkurvte den leblosen
Körper und starrte erneut auf das halb verdeckte
Gemälde. Tatsächlich. Auch auf diesem Bild war es zu
erkennen. Er hatte es vorhin nicht beachtet. Es erschien
ihm auch nicht wichtig. Eine Nebensächlichkeit. Er
kehrte zur Gruppe zurück, fixierte wieder die Darstellung
des biblischen Brudermordes. Neben Abels Beinen
waren etliche zarte, geschwungene Linien zu erkennen.
Andeutung einer Pflanze, die dünn und schüchtern ihre
kargen Blätter in die Höhe reckte. Ein zerbrechlich wirkender,
sanfter Moment, der völlig im Kontrast zur brutalen
Tat stand, die eben passierte.
»Das ist Hirtentäschel. Oder soll es zumindest sein.«
Dieses Mal kam die Erklärung nicht von der Chefinspektorin,
sondern vom Polizisten, der das Bild hielt. Auch
er begegnete dem skeptischen Blick des Paters mit einer
Andeutung von Lächeln.
»Steht ebenfalls hinten.« Er drehte das Bild um, hielt
es hoch, damit Gwendal den winzigen Schriftzug am
unteren Teil des Rahmens lesen konnte. Hirtentäschel.
Capsella bursa-pastoris.
Sybille Knaus wies auf den Beamten. »Bezirksinspektor
Adalbert Rindenborst, stellvertretender Postenkommandant
von Dillenberg. Er ist nicht nur ein fähiger Poli27
zist, sondern auch ein begeisterter Hobbygärtner. Ihm
sind die Strünke auf den Bildern als Erstem aufgefallen.«
Sie blickte auf die Uhr. Es wurde Zeit, dass sie einen
Schritt weiterkamen. Ihr Arm deutete in den Raum.
»Wir haben ein Mordopfer. Ein bekannter Promi-Galerist.
Erstochen. Eine brutale Tat. Auf allen Bildern in
der Galerie befinden sich Szenen, die ebenfalls auf eine
Gewaltaktion verweisen. Jede Tat wird von einer Pflanze
begleitet. Und all diese Pflanzen, sagt unser kundiger
Hobbygärtner und Polizeikollege, sind den Kräutern
zuzurechnen. Deshalb brauchen wir einen Kräuterexperten.
Und der einzige, den ich kenne, sind Sie, Pater
Gwendal. Deshalb sind Sie hier.«
Der Benediktinermönch brauchte ein paar Momente,
um das Gehörte zu verarbeiten. Er starrte auf ein weiteres
der Gemälde, die ihm immer noch entgegengehalten
wurden. Es zeigte offenbar den Mord an Wallenstein.
Nicht nur die Lanze war deutlich auszumachen, auch
die gezackten Blätter mit den violetten Blüten konnte
man erkennen. Die Beamtin, die das Bild hielt, las vor,
was auf der Rückseite stand. »Ruprechtskraut. Geranium
robertianum.«
Bezirksinspektor Rindenborst setzte das Kain und
Abel Bild ab und holte einen Zettel aus der Brusttasche.
»Ich habe Ihnen hier alle Pflanzennamen notiert, die
wir auf den Rückseiten der Bilder gefunden haben.«
Er schaute auf die Liste. Nicht alle Namen waren ihm
auf Anhieb geläufig, die meisten schon.
»Haben Sie eine Idee, Pater Gwendal, warum diese
Kräuter ausgerechnet auf Gewaltbilder gemalt wurden?
Und was das vielleicht mit dem gewaltsamen Tod des
Galeristen zu tun haben könnte?« Die Chefinspektorin
drängte, blickte erneut auf die Uhr.
Gwendal schüttelte den Kopf. Er war ein einfacher,
unscheinbarer Benediktinermönch. Ja, er liebte Pflanzen,
diese wunderbaren Geschöpfe Gottes. Er wusste auch
manches über Kräuter, über Wachstum und Wirksamkeit.
Aber er war kein Hellseher. Der Bezirksinspektor
deutete auf den Zettel in Gwendals Hand.
»Mir sagen viele dieser Pflanzennamen gar nichts,
Pater. Sehen wenigstens Sie irgendeine Verbindung zwischen
den Kräutern, eine mögliche gemeinsame Auffälligkeit?«
Er sah auch keine, ließ das Blatt langsam sinken. Was
machte er hier? Er sollte zu Hause in seinem Kloster sein,
sich ausruhen. In wenigen Stunden brauchte er seine
volle Kraft und Konzentration für das aufwendige Fest,
für Kräutergartenweihe und Mariengottesdienst. Er war
müde, fühlte sich ausgelaugt und zu etwas gedrängt, das
er nicht leisten konnte.
Der Mensch sieht, was vor Augen ist. Aber Gott sieht
das Herz an.
Warum kam ihm dieser Spruch aus dem Alten Testament
ausgerechnet jetzt in den Sinn? Er sah nicht einmal,
was vor Augen ist. Er erkannte keinen Sinn darin. Was
erblickte er denn? Ein paar kräftige Striche auf einem
Gemälde. Einen Mann, der aus Zorn darüber, dass ihn
Gott offenbar weniger beachtete als seinen Bruder, sich
zu einem blutigen Tag hinreißen lässt. Gleich würde die
Keule den Schädel des Bruders zerschmettern. Und in
diese grausame Szene war mit zarten Linien ein Kraut
hineingewoben. Ein Hirtentäschel sollte es sein.
Hirtentäschel? Plötzlich flammte ein Bild in seinem
Innern auf. Er sah dieselbe Pflanze im Kräutergarten
des Klosters und zugleich als Abbildung in einem der
Kräuterbücher in seiner Bibliothek. Eine ganze Reihe
von Namensbezeichnungen tauchte vor ihm auf. Bestand
darin der Zusammenhang?
Er drehte den Kopf in Richtung Leiche.
Erneut eilte er hinüber, stieg behutsam über
den Körper und betrachtete noch einmal aufmerksam
das Gemälde. Auch wenn Kopf und Arm des Toten einen
Teil des Bildes verdeckten, waren die stilisierten gelben
Blüten dennoch klar zu erkennen. Sie sprossen aus den
Ritzen der eingebrochenen Mauer, vor der Salome mit
ihrer schrecklichen Last stand. Gwendal wollte nichts
an diesem Tatort berühren. Er konnte das Bild nicht
unter dem Kopf des Toten herausziehen, um eine mögliche
Bezeichnung auf der Rückseite lesen zu können.
Er glaubte auch so zu wissen, welches Kraut hier abgebildet
war. Johanniskraut. Er hatte das Gefühl, nun auch
mit dem Herzen zu sehen, nicht nur mit den Augen. Er
kam rasch zurück, deutete nach hinten. »Auf dem Bild
von Salome mit dem Haupt des Johannes blüht Johanniskraut.
« Dann verwies er auf die anderen Bilder im Raum.
»Wir finden hier Hirtentäschel, Ruprechtskraut, das
auch stinkender Storchschnabel genannt wird. Außerdem
Schafgarbe, Schöllkraut, Vogelknöterich und einige
andere, die auf dieser Liste stehen.« Er hob den Zettel
in die Höhe. »Sie wissen, dass Kräuter meist nicht nur
unter einem einzigen Namen bekannt und verbreitet
sind, sondern unter vielen. Thymian heißt auch welscher
Quendel, Immenkraut oder Zinis. Majoran wird auch
Kuttelkraut genannt, Maigramme oder Wurstkräutel.
Melisse kennt man als Bienenfang, Eibisch als Schleimwurzel.
Aber diese Kräuter hier ...«, er wedelte mit dem
Blatt, »... die haben alle eine ganz bestimmte gemeinsame
Bezeichnung, unter der sie auch in den Büchern
aufscheinen. Blutkraut!«
Er schaute erwartungsvoll in die Runde. Verblüffte
Gesichter blickten ihm entgegen. Einige der Personen
im Raum zuckten mit den Schultern.
»Blutkraut? Noch nie gehört.« Die Chefinspektorin
schüttelte ihre blonden Strähnen.
Gwendal nahm dem Bezirksinspektor das Bild von
Kain und Abel aus der Hand. Er deutete mit dem Finger
auf die zarte Pflanzenzeichnung.
»Die bekannteste heilsame Eigenschaft des Hirtentäschels
ist seine blutstillende Wirkung. Früher tranken
Frauen nach einer Geburt Hirtentäscheltee, um Nachblutungen
zu minimieren. Deshalb wird Hirtentäschel
in vielen Kräuterbüchern auch Blutkraut genannt. Auch
die Leber- und Gallenpflanze Schöllkraut heißt in Schlesien
›Blutkraut‹, weil sie auch bei Ekzemen und starken
Menstruationsbeschwerden hilft. Sogar der Gemütsaufheller
par excellence, das sonnige Johanniskraut, trägt
manchmal diese Bezeichnung.
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Autoren-Porträt von Manfred Baumann
Manfred Baumann, geboren 1956 in Hallein/Salzburg, war 35 Jahre lang Autor, Redakteur und Abteilungsleiter beim ORF (Österreichischer Rundfunk). Heute lebt er als freier Schriftsteller, Kabarettist, Regisseur und Moderator in der Nähe von Salzburg. Der Krimi »Drachenjungfrau« wurde vom ORF für die Reihe »Landkrimi« verfilmt. Manfred Baumann ist auch bei facebook. www.m-baumann.at
Bibliographische Angaben
- Autor: Manfred Baumann
- 2017, 2. Aufl., 342 Seiten, Maße: 13,6 x 21,1 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Gmeiner-Verlag
- ISBN-10: 3839220998
- ISBN-13: 9783839220993
- Erscheinungsdatum: 30.06.2017
Kommentar zu "Blutkraut, Wermut, Teufelskralle"
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