Blutspiele
Seit Jahren quält FBI-Ermittlerin Eve Duncan das ungeklärte Verschwinde ihrer Tochter Bonnie. Wie besessen hält sie an ihrer Arbeit fest. Fürs FBI rekonstruiert sie Gesichter von Toten. Da fordert sie einer der Verdächtigen im Fall Bonnie zu einem grausamen...
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Klappentext zu „Blutspiele “
Seit Jahren quält FBI-Ermittlerin Eve Duncan das ungeklärte Verschwinde ihrer Tochter Bonnie. Wie besessen hält sie an ihrer Arbeit fest. Fürs FBI rekonstruiert sie Gesichter von Toten. Da fordert sie einer der Verdächtigen im Fall Bonnie zu einem grausamen Spiel heraus. Er richtet ein Mädchen brutal hin und hinterlässt das aufgefangene Blut in Eves Wohnung. Und er kündigt weitere Morde an. Nur mit Hilfe eines ungewöhnlichen Mediums glaubt Eve, den Serienkiller stoppen zu können. Doch wird sie dadurch etwas über den Tod ihrer Tochter erfahren?Lese-Probe zu „Blutspiele “
Blutspiele von Iris Johansen1
Die Frau hatte sich gelohnt.
Sie hatte ihm viel gegeben, und nun musste er ihr etwas zurückgeben.
Kevin Jelak drapierte den nackten Körper sorgfältig auf der Wiese. Er bürstete ihr das lange blonde Haar aus dem Gesicht und schloss die blauen Augen, die geradewegs in den Himmel starrten. Aber gegen das eingefrorene Entsetzen, das ihr Gesicht verzerrte, konnte er nichts tun. Nun, das war nicht anders zu erwarten gewesen. Mit neunzehn Jahren kannte Nancy Jo Norris die Alpträume noch nicht, denen Frauen ausgesetzt sein konnten. Alpträume, vor denen er sie gerettet hatte. Eigentlich mochte er ältere, erfahrenere Frauen lieber, aber als ihn das Fieber ergriff, musste er nehmen, was er kriegen konnte.
Das Fieber. Dir war nicht klar, was für ein Glück du hattest, Nancy Jo. Vielleicht wäre ich an dir vorbeigefahren, wenn die Not nicht so groß gewesen wäre. Und wenn ich mich nicht auf eine so kleine Ecke der Welt beschränken müsste.
Jene Ecke, in der sich Eve Duncan befindet. Die wunderbare, starke, gequälte Eve Duncan. Eve kannte die Alpträume. Sie hatte sie durchgestanden. Auch wenn sie so tat, als liebte sie das Leben, in der Tiefe ihres Herzens wünschte sie sich die Erlösung, die er ihr geben konnte. Die er ihr geben musste. Sie würde sein letzter Zug in diesem Spiel sein, das hatte er immer schon gewusst. Doch nachdem sie seine wichtigste Quelle zerstört hatte, war es seine Pflicht, ihr sofort ungeteilte Aufmerksamkeit zu widmen.
... mehr
Er blickte nach oben auf den zunehmenden Mond, der scharf wie eine Sichel am Nachthimmel stand. »Eve, hörst du mich?«, flüsterte er. »Spürst du mich?« Dann schloss er die Augen und versuchte, in seinem Inneren ein Bild von Eve heraufzubeschwören. Kurze rotbraune Haare, schlanker kraftvoller Körper, intelligentes ausdrucksstarkes Gesicht. »Du wirst keine leichte Aufgabe sein. Aber ich verspreche dir, ich werde durchhalten.«
Aber erst musste er dieser unbedeutenderen Frau, dieser Nancy Jo Norris, noch die letzte Ehre erweisen.
Er nahm den goldenen Kelch, den er ihr zwischen die gefalteten Hände auf die Brust gestellt hatte. »Du bist erlöst, Nancy Jo. Flieg davon.« Er bückte sich und küsste sie zögernd auf die Lippen. Sie wurde bereits kalt, als ihre Seele entwich. »Hast du mir schon vergeben? Hast du erkannt, welches Geschenk ich dir gemacht habe?«
Jedes Mal stellte er diese Fragen, aber stets vergeblich. Er musste Geduld haben. Eines Tages würde ihm eine von ihnen diese Bestätigung geben.
Vielleicht Eve Duncan ...
Noch eine letzte Pflicht, die stets das reine Vergnügen war.
»Nancy Jo Norris.« Er hob den Kelch an die Lippen und sah noch einmal in den Nachthimmel und auf den kalten, scharfen Splitter des Mondes. »Geschenk zu Geschenk.«
Er leerte den Becher.
Der zunehmende Mond war hell und kalt, eisig glitzerte sein Licht auf den schlafenden Feldern entlang der Autobahn zum Flughafen von Atlanta. Kalt? Warum fiel ihr plötzlich dieses Wort ein? Eve war unterwegs, um ihre Adoptivtochter Jane abzuholen, die aus Paris ankam, und bis vor wenigen Minuten war sie von Wärme und aufgeregter Vorfreude erfüllt gewesen.
Wie albern. Liebe und Aufregung empfand sie noch immer. Sie fröstelte nur, weil es mitten in der Nacht war. Vielleicht war das auch eine Nachwirkung der letzten Tage, die Joe und sie in den Sümpfen verbracht hatten, um das Monster Henry Kistle aufzuspüren. Es war ein einziger Alptraum gewesen. Um Eve auf seine Spur zu locken, hatte der Serienkiller ein kleines Mädchen als Geisel genommen und ihr vorgelogen, er sei derjenige, der vor vielen Jahren ihre kleine Tochter getötet hätte. So war ihr nichts anderes übriggeblieben, als sich auf die Jagd nach ihm zu machen. Und als sie die Insel entdeckten, auf der Dutzende ermordeter Kinder begraben waren, hatte der Alptraum riesige Ausmaße angenommen. Ja, das reichte, dass einem bis auf die Knochen eiskalt werden konnte.
Gleichzeitig bemerkte sie, dass Joe Quinn sich immer weiter von ihr entfernte, je länger sie nach dem Leichnam ihrer ermordeten Tochter Bonnie suchte. So lange waren sie schon zusammen, und nun gerieten ihre Liebe und ihr gemeinsames Leben in Gefahr, weil Eve nicht damit aufhören konnte, sich um die Heimholung ihrer Bonnie zu bemühen. Ihr Kind war vor vielen Jahren entführt und vermutlich ermordet worden. Nachdem sich herausstellte, dass Ralph Fraser, der zahlreiche Morde gestanden hatte und dafür hingerichtet worden war, gar nicht Bonnies Mörder war, hatte Eve sich auf die Suche nach dem wirklichen Täter gemacht.
All das hatte Joe gemeinsam mit ihr durchgestanden, er hatte sie stets unterstützt und geliebt. Erst als FBI-Agent, dann bei der Polizei von Atlanta, aber immer ganz nah an ihrer Seite. Er hatte sie aus den Tiefen der Depression gezogen, hatte sie ermutigt, als sie beschloss, eine Ausbildung zur forensischen Gesichtsrekonstrukteurin zu machen. Sie wollte bei der Lösung der Fälle anderer verschwundener Kinder helfen, um den Eltern einen inneren Abschluss zu ermöglichen. Immer war er ihr Geliebter, ihr Freund, ihr Beschützer gewesen.
Bis er im letzten Jahr der ständigen Bedrohungen gegen Eve allmählich überdrüssig wurde. Der Angriff von Henry Kistle war vielleicht der letzte Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Nicht darüber nachgrübeln. Lieber an das bevorstehende Wiedersehen mit Jane denken und daran, dass Joe sie noch nicht verlassen hatte. Als sie heute Morgen aufbrach, war er guter Dinge gewesen. Vielleicht konnte sie eine Lösung finden für -
Ihr Handy klingelte. Jane.
»Ich bin schon unterwegs«, sagte Eve. »Ist dein Flieger früher gelandet? Ich dachte, ich hätte noch eine halbe Stunde.«
»Du hast möglicherweise noch viel länger Zeit«, antwortete Jane. »Ich rufe aus Charlotte, North Carolina, an. Mein Flugzeug hatte ein technisches Problem und musste hier landen. Sie versuchen uns auf einem anderen Flug unterzubringen. Es sieht so aus, als würden wir uns um zwei oder drei Stunden verspäten.«
»Mist. Na ja, ich werde trotzdem hinfahren und auf dich warten.«
»Das wirst du nicht tun. Fahr nach Hause. Ich ruf dich an, sobald ich ins Flugzeug steige.«
Eve überlegte. »Du hast wahrscheinlich recht. Dann komme ich immer noch früh genug, um dich am Gepäck- band zu treffen.«
»Tut mir leid, ich wollte dir keine Mühe machen. Ich kann mir vorstellen, wie erschöpft du sein musst. Mein Besuch fängt nicht besonders gut an.«
»Es ist immer gut, wenn du kommst.«
»Ist Joe bei dir?«
»Nein, ich habe ihn schlafen lassen. Er war noch müder als ich. Letzte Nacht war er auf der Dienststelle, um die Namen der Kinder herauszufinden, die wir im Sumpf entdeckt haben.«
Jane schwieg einen Augenblick. »Aber deine Bonnie war nicht dabei?«
»Nein.« Bei dieser schmerzhaften Erkenntnis versagte Eve die Stimme. »Mein Gott, Jane, ich habe so darum gebetet, sie endlich zu finden.«
»Ich weiß. Darum bin ich ja auch gleich in den Flieger gesprungen, um nach Hause zu kommen. Natürlich hast du Joe, aber ich wollte bei dir sein.«
»Ja, ich habe Joe.« Sie musste das Telefongespräch beenden, um sich wieder in den Griff zu bekommen. Jane konnte ihre Gedanken lesen. »Und ich bin überglücklich, dass du kommst. Ruf mich an.« Sie legte auf.
Hoffentlich hatte sie Joe wirklich noch. Mein Gott, wie leer wäre das Leben ohne ihn. Es hätte keine Struktur und keine Substanz, es wäre so kalt wie dieser Mond, der auf sie herabschien.
Schon wieder diese Kälte. Sie konnte ihr nicht entkommen.
An der Ausfahrt verließ sie die Autobahn und kehrte um. Nach Hause, zum Cottage und zu Joe. Sie würde ihn umarmen und seine Kraft in sie strömen lassen. Dann würde die Kälte vielleicht allmählich verschwinden.
Als sie sich dem Haus näherte, sah sie, dass Licht in der Küche brannte. Offenbar hatte Joe doch nicht mehr einschlafen können. Vielleicht trank er Kaffee und wartete auf sie und Jane.
Aber in der Küche war er nicht, obwohl die Kaffeemaschine angeschaltet war. Tassen, Untertassen und Milchkännchen standen bereits auf dem Tisch. Er war auch nicht im Schlafzimmer.
Was um Himmels willen war passiert?
Da hörte sie ihn auf den Stufen der Veranda.
Im nächsten Moment betrat er das Haus. Er trug seinen braunen Bademantel und Hausschuhe, und sein Haar war zerzaust. Den Bademantel hatte sie ihm letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt, weil sie Braun so an ihm mochte. Es ließ sein dunkles Haar fast karamellfarben erscheinen und seine Augen schimmern wie schwarzer Tee. Die meisten Menschen bemerkten nur, welche Härte er ausstrahlte, und die war auch jetzt deutlich spürbar. Aber die kräftige Farbe ließ ihn sanfter wirken.
Eve lächelte. »Wo warst du? Ich habe mir schon Sorgen gemacht, dir könnte etwas zugestoßen sein. Nachdem ich gesehen habe, dass der Kaffee -« Sie unterbrach sich und sah ihn mit großen Augen an. »Was ist passiert?«
»Nichts«, erwiderte er kurz angebunden. »Ich war im Wald spazieren.«
»Um diese Uhrzeit? Und in diesem Aufzug?«
»Warum nicht? Ich konnte nicht schlafen.« Er ging zur Kaffeemaschine und goss sich eine Tasse ein. »Das ist nicht verboten. Garantiert. Wer wüsste das besser als ein Polizist?«
Sein Tonfall war beinahe unfreundlich, und er vermied es, sie anzuschauen. Aber es war zu spät, sie hatte sein Gesicht gesehen, als er hereinkam. Joe war selten blass, doch jetzt hatte er eine ungesunde Hautfarbe. Die Haut schien sich über die Wangenknochen zu spannen, und in seinen Augen glitzerte etwas Unbeherrschtes. Unbeherrscht? Das war Joe nie. Er konnte gewalttätig und rücksichtslos sein, aber er hatte sich immer unter Kontrolle.
»Warum konntest du nicht schlafen?«
»Woher zum Teufel soll ich das wissen? Vielleicht habe ich von diesen ermordeten Kindern auf der Sumpfinsel geträumt. Darum dreht sich mein Leben schließlich, oder? Um ermordete Kinder.« Er trank einen Schluck Kaffee. »Oder vielleicht nur um ein ermordetes Kind. Dein Kind. Seit ich dich kenne, geht es immer nur um Bonnie. Das reicht schon, um einen wahnsinnig zu machen.«
Der Schock ließ sie erstarren. Es stimmte, ihr beider Leben hatte sich all die Jahre stets um Bonnies Tod und Verschwinden gedreht, aber seine Schroffheit kam unerwartet und schmerzte. Obwohl sie gewusst hatte, dass Joe allmählich die Geduld verlor. Er hatte seine ganze Kraft, sein ganzes Wissen eingesetzt, um ihr zu geben, was sie brauchte. Was ihn zerriss, war die ständige Gefahr, in der sie schwebte. »Du hast natürlich recht. Niemand weiß besser als ich, was ich dir zumute. Es ist nur allzu verständlich, wenn du vor mir und dieser Situation fliehen willst.«
Er fuhr herum und sah sie an. »Ich will nicht vor dir fliehen «, sagte er eindringlich. »Du bist die einzige Frau, die ich jemals geliebt habe. Vom ersten Augenblick an wusste ich, dass ich bei dir bleiben will. Als mich das FBI nach Atlanta geschickt hat, um das Verschwinden und den möglichen Tod deiner Bonnie zu untersuchen, hätte doch niemand gedacht, dass ich nicht mehr in der Lage sein würde, dich zu verlassen. Du hattest ein süßes siebenjähriges Mädchen verloren, das alles für dich bedeutete. Du warst so zerbrechlich und voller Tragik und gleichzeitig so verdammt stark, dass mir einfach die Luft wegblieb. Ich wollte deine sämtlichen Drachen besiegen und dir geben, was immer du wolltest.«
»Das hast du getan«, sagte sie bewegt. »Nur war es so einseitig. Ich habe für dich nie einen Drachen bekämpft. Du verdienst jemanden, der das für dich tut.«
»Vergiss es. Als wir zusammenkamen, wusste ich, worauf ich mich einließ.« Die Augen in seinem angespannten Gesicht blitzten. »Aber es ist mir nicht gelungen, deinen Drachen zu töten, und heute Nacht habe ich mich gefragt, ob er mich nicht allmählich auffrisst.«
»Heute Nacht?« Als sie zum Flughafen fuhr, war er nicht in dieser Stimmung gewesen. Sie hatte eine gewisse Zurückhaltung bemerkt, aber jetzt war er aggressiv und voll explosiver Spannung. Sie konnte die Unruhe, die ihn umwirbelte, fast körperlich spüren. »Ist etwas passiert, während ich weg war?«
»Natürlich nicht. Ich hab dir doch gesagt, ich war spazieren. « Er stellte seine Tasse ab und wandte sich ab. »Und ich habe keine Lust auf ein Kreuzverhör. Mir geht es gut. Hör auf damit, Eve.«
»So gut, dass du gar nicht wissen willst, warum Jane nicht bei mir ist.«
Er sah sie wieder an. »Ist alles in Ordnung mit ihr?«
»Ja, ihr Flugzeug hatte lediglich ein technisches Problem und musste in Charlotte landen. Sie ruft mich an, wenn sie wieder an Bord geht.«
»Das ist gut. Ich gehe unter die Dusche, dann tätige ich ein paar Telefonanrufe und fahre früh zur Arbeit. Ich habe noch eine Menge Papierkram zu erledigen.«
»Wage bloß nicht, diesen Raum zu verlassen«, fuhr Eve ihn an. »Da stimmt doch etwas nicht. Das weiß ich, verdammt noch mal! Sag's mir.«
»Wenn etwas nicht stimmt, dann werde ich selbst damit fertig. Meine Drachen kann ich allein besiegen.« Joes Worte kamen knapp und scharf. Er ging zur Tür. »Ich brauche keine Hilfe.«
»Joe, um Himmels willen, sprich mit mir.«
Er antwortete nicht. Sie sah die Schlafzimmertür hinter ihm zufallen. Er schloss sie aus, geistig wie körperlich.
Der Schmerz brannte in ihr. Sie hatte diese Schwierigkeiten vorausgeahnt, aber sie hatte geglaubt, es wäre noch genug Zeit, sich darum zu kümmern. Wie hatte die Situation bloß derart eskalieren können?
Ihr Handy klingelte. Jane.
Sie wartete ein paar Sekunden, bis sie sich wieder gefasst hatte, dann ging sie an den Apparat. »Ich habe nicht damit gerechnet, schon so bald von dir zu hören.«
»Sie haben es geschafft, das andere Flugzeug zu reparieren. Jetzt steige ich gerade ein. Soll ich mir einen Mietwagen nehmen?«
»Sei nicht albern. Ich bin schon unterwegs. Wir treffen uns an der Gepäckabholung.«
Jane schwieg einen Augenblick. »Du hörst dich seltsam an. Ist alles okay?«
»Natürlich. Und wenn ich dich sehe, wird's mir noch besser gehen. Bis gleich.«
Selbstverständlich konnte Jane ihre Stimmung auch aus der Ferne einschätzen. Eve zögerte und warf einen Blick auf die geschlossene Schlafzimmertür. Nein, sie würde nicht hineingehen und Joe sagen, dass sie jetzt zum Flughafen fuhr. Er hatte diese Tür fest und endgültig hinter sich zugemacht. Sie würde ihm Zeit geben, in der Hoffnung, dass die Drachen, von denen er gesprochen hatte, in der Dunkelheit wieder davonschlichen.
Sie verließ das Haus und rannte die Verandatreppe hinab zum Auto. Aber in ihren Augen brannten Tränen, und sie brauchte einen Moment, ehe sie losfahren konnte. Sie umklammerte das Lenkrad und starrte blindlings in die Dunkelheit.
Die Ursache von Joes Schmerz war Eves Besessenheit, den Mörder ihrer Tochter zu finden. So viele Jahre ging diese Jagd nun schon, und sie quälte ihn. Eve durfte nicht erwarten, dass er ihre Gefühle wirklich begreifen konnte. Er hatte nie ein Kind gehabt. Als Jane nach einer Reihe von Pflegefamilien zu ihnen kam, war sie bereits zehn Jahre alt und viel lebensklüger, als ihr Alter vermuten ließ. Sie war ihnen eine Freundin geworden, nicht ihr gemeinsames Kind. Die wundervolle Erfahrung, ein kleines Mädchen aufzuziehen, hatte Joe im Gegensatz zu Eve nie machen dürfen. Deshalb würde er nie verstehen, warum Eve nicht aufhören konnte.
Weil die Erinnerung an Bonnie nie aufhörte. Der Abend, bevor Bonnie entführt wurde, war in Eves Gedächtnis so frisch, als wäre es erst gestern geschehen.
Copyright © by Ullstein TB (Verlag)
Er blickte nach oben auf den zunehmenden Mond, der scharf wie eine Sichel am Nachthimmel stand. »Eve, hörst du mich?«, flüsterte er. »Spürst du mich?« Dann schloss er die Augen und versuchte, in seinem Inneren ein Bild von Eve heraufzubeschwören. Kurze rotbraune Haare, schlanker kraftvoller Körper, intelligentes ausdrucksstarkes Gesicht. »Du wirst keine leichte Aufgabe sein. Aber ich verspreche dir, ich werde durchhalten.«
Aber erst musste er dieser unbedeutenderen Frau, dieser Nancy Jo Norris, noch die letzte Ehre erweisen.
Er nahm den goldenen Kelch, den er ihr zwischen die gefalteten Hände auf die Brust gestellt hatte. »Du bist erlöst, Nancy Jo. Flieg davon.« Er bückte sich und küsste sie zögernd auf die Lippen. Sie wurde bereits kalt, als ihre Seele entwich. »Hast du mir schon vergeben? Hast du erkannt, welches Geschenk ich dir gemacht habe?«
Jedes Mal stellte er diese Fragen, aber stets vergeblich. Er musste Geduld haben. Eines Tages würde ihm eine von ihnen diese Bestätigung geben.
Vielleicht Eve Duncan ...
Noch eine letzte Pflicht, die stets das reine Vergnügen war.
»Nancy Jo Norris.« Er hob den Kelch an die Lippen und sah noch einmal in den Nachthimmel und auf den kalten, scharfen Splitter des Mondes. »Geschenk zu Geschenk.«
Er leerte den Becher.
Der zunehmende Mond war hell und kalt, eisig glitzerte sein Licht auf den schlafenden Feldern entlang der Autobahn zum Flughafen von Atlanta. Kalt? Warum fiel ihr plötzlich dieses Wort ein? Eve war unterwegs, um ihre Adoptivtochter Jane abzuholen, die aus Paris ankam, und bis vor wenigen Minuten war sie von Wärme und aufgeregter Vorfreude erfüllt gewesen.
Wie albern. Liebe und Aufregung empfand sie noch immer. Sie fröstelte nur, weil es mitten in der Nacht war. Vielleicht war das auch eine Nachwirkung der letzten Tage, die Joe und sie in den Sümpfen verbracht hatten, um das Monster Henry Kistle aufzuspüren. Es war ein einziger Alptraum gewesen. Um Eve auf seine Spur zu locken, hatte der Serienkiller ein kleines Mädchen als Geisel genommen und ihr vorgelogen, er sei derjenige, der vor vielen Jahren ihre kleine Tochter getötet hätte. So war ihr nichts anderes übriggeblieben, als sich auf die Jagd nach ihm zu machen. Und als sie die Insel entdeckten, auf der Dutzende ermordeter Kinder begraben waren, hatte der Alptraum riesige Ausmaße angenommen. Ja, das reichte, dass einem bis auf die Knochen eiskalt werden konnte.
Gleichzeitig bemerkte sie, dass Joe Quinn sich immer weiter von ihr entfernte, je länger sie nach dem Leichnam ihrer ermordeten Tochter Bonnie suchte. So lange waren sie schon zusammen, und nun gerieten ihre Liebe und ihr gemeinsames Leben in Gefahr, weil Eve nicht damit aufhören konnte, sich um die Heimholung ihrer Bonnie zu bemühen. Ihr Kind war vor vielen Jahren entführt und vermutlich ermordet worden. Nachdem sich herausstellte, dass Ralph Fraser, der zahlreiche Morde gestanden hatte und dafür hingerichtet worden war, gar nicht Bonnies Mörder war, hatte Eve sich auf die Suche nach dem wirklichen Täter gemacht.
All das hatte Joe gemeinsam mit ihr durchgestanden, er hatte sie stets unterstützt und geliebt. Erst als FBI-Agent, dann bei der Polizei von Atlanta, aber immer ganz nah an ihrer Seite. Er hatte sie aus den Tiefen der Depression gezogen, hatte sie ermutigt, als sie beschloss, eine Ausbildung zur forensischen Gesichtsrekonstrukteurin zu machen. Sie wollte bei der Lösung der Fälle anderer verschwundener Kinder helfen, um den Eltern einen inneren Abschluss zu ermöglichen. Immer war er ihr Geliebter, ihr Freund, ihr Beschützer gewesen.
Bis er im letzten Jahr der ständigen Bedrohungen gegen Eve allmählich überdrüssig wurde. Der Angriff von Henry Kistle war vielleicht der letzte Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Nicht darüber nachgrübeln. Lieber an das bevorstehende Wiedersehen mit Jane denken und daran, dass Joe sie noch nicht verlassen hatte. Als sie heute Morgen aufbrach, war er guter Dinge gewesen. Vielleicht konnte sie eine Lösung finden für -
Ihr Handy klingelte. Jane.
»Ich bin schon unterwegs«, sagte Eve. »Ist dein Flieger früher gelandet? Ich dachte, ich hätte noch eine halbe Stunde.«
»Du hast möglicherweise noch viel länger Zeit«, antwortete Jane. »Ich rufe aus Charlotte, North Carolina, an. Mein Flugzeug hatte ein technisches Problem und musste hier landen. Sie versuchen uns auf einem anderen Flug unterzubringen. Es sieht so aus, als würden wir uns um zwei oder drei Stunden verspäten.«
»Mist. Na ja, ich werde trotzdem hinfahren und auf dich warten.«
»Das wirst du nicht tun. Fahr nach Hause. Ich ruf dich an, sobald ich ins Flugzeug steige.«
Eve überlegte. »Du hast wahrscheinlich recht. Dann komme ich immer noch früh genug, um dich am Gepäck- band zu treffen.«
»Tut mir leid, ich wollte dir keine Mühe machen. Ich kann mir vorstellen, wie erschöpft du sein musst. Mein Besuch fängt nicht besonders gut an.«
»Es ist immer gut, wenn du kommst.«
»Ist Joe bei dir?«
»Nein, ich habe ihn schlafen lassen. Er war noch müder als ich. Letzte Nacht war er auf der Dienststelle, um die Namen der Kinder herauszufinden, die wir im Sumpf entdeckt haben.«
Jane schwieg einen Augenblick. »Aber deine Bonnie war nicht dabei?«
»Nein.« Bei dieser schmerzhaften Erkenntnis versagte Eve die Stimme. »Mein Gott, Jane, ich habe so darum gebetet, sie endlich zu finden.«
»Ich weiß. Darum bin ich ja auch gleich in den Flieger gesprungen, um nach Hause zu kommen. Natürlich hast du Joe, aber ich wollte bei dir sein.«
»Ja, ich habe Joe.« Sie musste das Telefongespräch beenden, um sich wieder in den Griff zu bekommen. Jane konnte ihre Gedanken lesen. »Und ich bin überglücklich, dass du kommst. Ruf mich an.« Sie legte auf.
Hoffentlich hatte sie Joe wirklich noch. Mein Gott, wie leer wäre das Leben ohne ihn. Es hätte keine Struktur und keine Substanz, es wäre so kalt wie dieser Mond, der auf sie herabschien.
Schon wieder diese Kälte. Sie konnte ihr nicht entkommen.
An der Ausfahrt verließ sie die Autobahn und kehrte um. Nach Hause, zum Cottage und zu Joe. Sie würde ihn umarmen und seine Kraft in sie strömen lassen. Dann würde die Kälte vielleicht allmählich verschwinden.
Als sie sich dem Haus näherte, sah sie, dass Licht in der Küche brannte. Offenbar hatte Joe doch nicht mehr einschlafen können. Vielleicht trank er Kaffee und wartete auf sie und Jane.
Aber in der Küche war er nicht, obwohl die Kaffeemaschine angeschaltet war. Tassen, Untertassen und Milchkännchen standen bereits auf dem Tisch. Er war auch nicht im Schlafzimmer.
Was um Himmels willen war passiert?
Da hörte sie ihn auf den Stufen der Veranda.
Im nächsten Moment betrat er das Haus. Er trug seinen braunen Bademantel und Hausschuhe, und sein Haar war zerzaust. Den Bademantel hatte sie ihm letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt, weil sie Braun so an ihm mochte. Es ließ sein dunkles Haar fast karamellfarben erscheinen und seine Augen schimmern wie schwarzer Tee. Die meisten Menschen bemerkten nur, welche Härte er ausstrahlte, und die war auch jetzt deutlich spürbar. Aber die kräftige Farbe ließ ihn sanfter wirken.
Eve lächelte. »Wo warst du? Ich habe mir schon Sorgen gemacht, dir könnte etwas zugestoßen sein. Nachdem ich gesehen habe, dass der Kaffee -« Sie unterbrach sich und sah ihn mit großen Augen an. »Was ist passiert?«
»Nichts«, erwiderte er kurz angebunden. »Ich war im Wald spazieren.«
»Um diese Uhrzeit? Und in diesem Aufzug?«
»Warum nicht? Ich konnte nicht schlafen.« Er ging zur Kaffeemaschine und goss sich eine Tasse ein. »Das ist nicht verboten. Garantiert. Wer wüsste das besser als ein Polizist?«
Sein Tonfall war beinahe unfreundlich, und er vermied es, sie anzuschauen. Aber es war zu spät, sie hatte sein Gesicht gesehen, als er hereinkam. Joe war selten blass, doch jetzt hatte er eine ungesunde Hautfarbe. Die Haut schien sich über die Wangenknochen zu spannen, und in seinen Augen glitzerte etwas Unbeherrschtes. Unbeherrscht? Das war Joe nie. Er konnte gewalttätig und rücksichtslos sein, aber er hatte sich immer unter Kontrolle.
»Warum konntest du nicht schlafen?«
»Woher zum Teufel soll ich das wissen? Vielleicht habe ich von diesen ermordeten Kindern auf der Sumpfinsel geträumt. Darum dreht sich mein Leben schließlich, oder? Um ermordete Kinder.« Er trank einen Schluck Kaffee. »Oder vielleicht nur um ein ermordetes Kind. Dein Kind. Seit ich dich kenne, geht es immer nur um Bonnie. Das reicht schon, um einen wahnsinnig zu machen.«
Der Schock ließ sie erstarren. Es stimmte, ihr beider Leben hatte sich all die Jahre stets um Bonnies Tod und Verschwinden gedreht, aber seine Schroffheit kam unerwartet und schmerzte. Obwohl sie gewusst hatte, dass Joe allmählich die Geduld verlor. Er hatte seine ganze Kraft, sein ganzes Wissen eingesetzt, um ihr zu geben, was sie brauchte. Was ihn zerriss, war die ständige Gefahr, in der sie schwebte. »Du hast natürlich recht. Niemand weiß besser als ich, was ich dir zumute. Es ist nur allzu verständlich, wenn du vor mir und dieser Situation fliehen willst.«
Er fuhr herum und sah sie an. »Ich will nicht vor dir fliehen «, sagte er eindringlich. »Du bist die einzige Frau, die ich jemals geliebt habe. Vom ersten Augenblick an wusste ich, dass ich bei dir bleiben will. Als mich das FBI nach Atlanta geschickt hat, um das Verschwinden und den möglichen Tod deiner Bonnie zu untersuchen, hätte doch niemand gedacht, dass ich nicht mehr in der Lage sein würde, dich zu verlassen. Du hattest ein süßes siebenjähriges Mädchen verloren, das alles für dich bedeutete. Du warst so zerbrechlich und voller Tragik und gleichzeitig so verdammt stark, dass mir einfach die Luft wegblieb. Ich wollte deine sämtlichen Drachen besiegen und dir geben, was immer du wolltest.«
»Das hast du getan«, sagte sie bewegt. »Nur war es so einseitig. Ich habe für dich nie einen Drachen bekämpft. Du verdienst jemanden, der das für dich tut.«
»Vergiss es. Als wir zusammenkamen, wusste ich, worauf ich mich einließ.« Die Augen in seinem angespannten Gesicht blitzten. »Aber es ist mir nicht gelungen, deinen Drachen zu töten, und heute Nacht habe ich mich gefragt, ob er mich nicht allmählich auffrisst.«
»Heute Nacht?« Als sie zum Flughafen fuhr, war er nicht in dieser Stimmung gewesen. Sie hatte eine gewisse Zurückhaltung bemerkt, aber jetzt war er aggressiv und voll explosiver Spannung. Sie konnte die Unruhe, die ihn umwirbelte, fast körperlich spüren. »Ist etwas passiert, während ich weg war?«
»Natürlich nicht. Ich hab dir doch gesagt, ich war spazieren. « Er stellte seine Tasse ab und wandte sich ab. »Und ich habe keine Lust auf ein Kreuzverhör. Mir geht es gut. Hör auf damit, Eve.«
»So gut, dass du gar nicht wissen willst, warum Jane nicht bei mir ist.«
Er sah sie wieder an. »Ist alles in Ordnung mit ihr?«
»Ja, ihr Flugzeug hatte lediglich ein technisches Problem und musste in Charlotte landen. Sie ruft mich an, wenn sie wieder an Bord geht.«
»Das ist gut. Ich gehe unter die Dusche, dann tätige ich ein paar Telefonanrufe und fahre früh zur Arbeit. Ich habe noch eine Menge Papierkram zu erledigen.«
»Wage bloß nicht, diesen Raum zu verlassen«, fuhr Eve ihn an. »Da stimmt doch etwas nicht. Das weiß ich, verdammt noch mal! Sag's mir.«
»Wenn etwas nicht stimmt, dann werde ich selbst damit fertig. Meine Drachen kann ich allein besiegen.« Joes Worte kamen knapp und scharf. Er ging zur Tür. »Ich brauche keine Hilfe.«
»Joe, um Himmels willen, sprich mit mir.«
Er antwortete nicht. Sie sah die Schlafzimmertür hinter ihm zufallen. Er schloss sie aus, geistig wie körperlich.
Der Schmerz brannte in ihr. Sie hatte diese Schwierigkeiten vorausgeahnt, aber sie hatte geglaubt, es wäre noch genug Zeit, sich darum zu kümmern. Wie hatte die Situation bloß derart eskalieren können?
Ihr Handy klingelte. Jane.
Sie wartete ein paar Sekunden, bis sie sich wieder gefasst hatte, dann ging sie an den Apparat. »Ich habe nicht damit gerechnet, schon so bald von dir zu hören.«
»Sie haben es geschafft, das andere Flugzeug zu reparieren. Jetzt steige ich gerade ein. Soll ich mir einen Mietwagen nehmen?«
»Sei nicht albern. Ich bin schon unterwegs. Wir treffen uns an der Gepäckabholung.«
Jane schwieg einen Augenblick. »Du hörst dich seltsam an. Ist alles okay?«
»Natürlich. Und wenn ich dich sehe, wird's mir noch besser gehen. Bis gleich.«
Selbstverständlich konnte Jane ihre Stimmung auch aus der Ferne einschätzen. Eve zögerte und warf einen Blick auf die geschlossene Schlafzimmertür. Nein, sie würde nicht hineingehen und Joe sagen, dass sie jetzt zum Flughafen fuhr. Er hatte diese Tür fest und endgültig hinter sich zugemacht. Sie würde ihm Zeit geben, in der Hoffnung, dass die Drachen, von denen er gesprochen hatte, in der Dunkelheit wieder davonschlichen.
Sie verließ das Haus und rannte die Verandatreppe hinab zum Auto. Aber in ihren Augen brannten Tränen, und sie brauchte einen Moment, ehe sie losfahren konnte. Sie umklammerte das Lenkrad und starrte blindlings in die Dunkelheit.
Die Ursache von Joes Schmerz war Eves Besessenheit, den Mörder ihrer Tochter zu finden. So viele Jahre ging diese Jagd nun schon, und sie quälte ihn. Eve durfte nicht erwarten, dass er ihre Gefühle wirklich begreifen konnte. Er hatte nie ein Kind gehabt. Als Jane nach einer Reihe von Pflegefamilien zu ihnen kam, war sie bereits zehn Jahre alt und viel lebensklüger, als ihr Alter vermuten ließ. Sie war ihnen eine Freundin geworden, nicht ihr gemeinsames Kind. Die wundervolle Erfahrung, ein kleines Mädchen aufzuziehen, hatte Joe im Gegensatz zu Eve nie machen dürfen. Deshalb würde er nie verstehen, warum Eve nicht aufhören konnte.
Weil die Erinnerung an Bonnie nie aufhörte. Der Abend, bevor Bonnie entführt wurde, war in Eves Gedächtnis so frisch, als wäre es erst gestern geschehen.
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Autoren-Porträt von Iris Johansen
Johansen, IrisIris Johansen ist eine international erfolgreiche Bestsellerautorin, deren Romane eine Millionenauflage erreichen und die in viele Sprachen übersetzt wurden. Sie lebt mit ihrer Familie und mehreren Hunden bei Atlanta, Georgia.
Bibliographische Angaben
- Autor: Iris Johansen
- 2012, 1. Auflage., 336 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung:Rupprecht, Uta
- Übersetzer: Uta Rupprecht
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548284604
- ISBN-13: 9783548284606
- Erscheinungsdatum: 14.09.2012
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