Brennende Wellen
Es kann jeden Tag passieren
Tief unter dem Meeresgrund löst eine Atombombe einen ungeheuren Vulkanausbruch aus. Bald wird klar, dass die scheinbare Katastrophe ein Segen für die Menschheit sein könnte: Ein unbekanntes...
Tief unter dem Meeresgrund löst eine Atombombe einen ungeheuren Vulkanausbruch aus. Bald wird klar, dass die scheinbare Katastrophe ein Segen für die Menschheit sein könnte: Ein unbekanntes...
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Produktinformationen zu „Brennende Wellen “
Es kann jeden Tag passieren
Tief unter dem Meeresgrund löst eine Atombombe einen ungeheuren Vulkanausbruch aus. Bald wird klar, dass die scheinbare Katastrophe ein Segen für die Menschheit sein könnte: Ein unbekanntes Mineral ist aufgetaucht, und mit ihm das Versprechen einer sauberen, unbegrenzten Energiequelle. Doch der neue Rohstoff weckt auch alte Großmachtgelüste überall auf der Welt. Mitten zwischen den Fronten: Philip Mercer, Geologe und Ex-Elitesoldat mit geheimen Verbindungen. Als er erfährt, dass die Tochter eines alten Freundes unter rätselhaften Umständen gefangen gehalten wird, verspricht er, sie zu retten. Er hat keine Ahnung, dass er in eine tödliche Falle gelockt werden soll.
Spannung vom Feinsten für Fans von Clive Cussler & Co.
Tief unter dem Meeresgrund löst eine Atombombe einen ungeheuren Vulkanausbruch aus. Bald wird klar, dass die scheinbare Katastrophe ein Segen für die Menschheit sein könnte: Ein unbekanntes Mineral ist aufgetaucht, und mit ihm das Versprechen einer sauberen, unbegrenzten Energiequelle. Doch der neue Rohstoff weckt auch alte Großmachtgelüste überall auf der Welt. Mitten zwischen den Fronten: Philip Mercer, Geologe und Ex-Elitesoldat mit geheimen Verbindungen. Als er erfährt, dass die Tochter eines alten Freundes unter rätselhaften Umständen gefangen gehalten wird, verspricht er, sie zu retten. Er hat keine Ahnung, dass er in eine tödliche Falle gelockt werden soll.
Spannung vom Feinsten für Fans von Clive Cussler & Co.
Lese-Probe zu „Brennende Wellen “
Brennende Wellen von Jack Du Brul Aus dem Amerikanischen von Bernhard Liesen
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23. Mai 1954 Die dünne Mondsichel am Nachthimmel erinnerte an einen zu einem ironischen Lächeln verzogenen Mund. Eine sanfte Brise von Osten vertrieb die Rauchfäden, die aus dem einzigen Schornstein des Erzfrachters Grandam Phoenix aufstiegen. Die Gewässer des Pazifiks waren ruhig und der Wind so sanft, als wollte er nur eine Hängematte an einem Sommernachmittag schaukeln. Das Schiff war zweihundert Meilen nördlich der Hawaii-Inseln unterwegs. Die nächtliche Stille sollte nur zu bald zerrissen werden. Die Grandam Phoenix war auf ihrer Jungfernfahrt. Sie war vor zwei Monaten im japanischen Kobe vom Stapel gelaufen. Die Ausrüstungsphase war unter extremem Zeitdruck durchgeführt worden, damit das Schiff möglichst schnell Geld einbrachte, denn die Reederei hatte sich während des Baus stark verschuldet. Das Schiff entsprach den aktuellsten Sicherheitsstandards, war schnell und exemplarisch für die neuen, spezialisierten Frachtschiffe. Der Zweite Weltkrieg hatte die Ingenieure gelehrt, dass ein für seine Aufgaben exakt konstruiertes Schiff die höheren Baukosten schnell wieder hereinholte. Die Eigentümer der Grandam Phoenix wollten beweisen, dass dies auch für die zivile Schifffahrt galt. Der einhundertvierzig Meter lange Erzfrachter sollte das Flaggschiff der Reederei werden in einer Zeit, als es galt, die boomenden pazifischen Märkte zu erobern. Kurz nachdem er das Kommando über die Grandam Phoenix übernommen hatte, erfuhr Kapitän Ralph Linc, dass die Eigentümer des Schiffes ganz andere Pläne hatten als jene, die sie der Versicherungsgesellschaft gegenüber angegeben hatten. Seit man Handelsschiffe versichern konnte, hatten skrupellose Reeder und Besatzungen schon bald damit begonnen, Schiffe zu versenken, um beträchtliche Summen einzustreichen. Den Versicherungen blieb nicht anderes übrig, als zu zahlen, solange nicht irgendjemand ein schlechtes Gewissen bekam und mit der Wahrheit herausrückte. Aber die Besatzung des Erzfrachters Grandam Phoenix würde für das Versenken des Schiffes so viel bekommen, dass alle den Mund halten würden. Wenn der Betrug funktionierte, und es gab keinen Grund für die Annahme, dass es nicht so sein sollte, würden die Eigentümer mit der Versicherung nach einer Einigung suchen - nicht nur für das zwanzig Millionen Dollar teure Schiff, sondern auch für die Ladung, bei der es sich offiziell um Bauxit aus Malaysia, tatsächlich aber um wertlosen gelben Kies handelte. Linc entsprach ganz dem Klischeebild eines Kapitäns. Er war ein harter Mann mit einer rauen Stimme, der man seinen Alkohol- und Zigarettenkonsum anhörte. Er stand breitbeinig auf der Brücke des Schiffes und trat gerade die Kippe seiner Lucky Strike aus. Um sich sofort anschließend die nächste anzuzünden. Während des gesamten Zweiten Weltkrieges hatte Linc bei der nordamerikanischen Handelsmarine gedient, deren Verluste an Menschenleben nur noch von denen des Marine Corps übertroffen wurden. Die Handelsmarine schien nur etwas für Verrückte oder Lebensmüde zu sein, doch Linc hatte nicht nur überlebt, sondern auch Karriere gemacht. Seit 1943 war er Kapitän und hatte Truppen und Material zu den pazifischen Kriegsschauplätzen befördert. Im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen hatte er nie ein Schiff an den Feind verloren. Nach Kriegsende fand er wie viele andere heraus, dass es zu viele Kapitäne und zu wenige Schiffe gab. Während der späten Vierziger- und frühen Fünfzigerjahre nahm er im Fernen Osten nahezu jede Kapitänsstelle an, die man ihm offerierte. Er beförderte zweifelhafte Frachten für dubiose Reedereien und lernte, den Mund zu halten. Als die Eigentümer der Grandam Phoenix an ihn herantraten, glaubte er, ein Lebenstraum ginge in Erfüllung. Er würde sich nicht mehr um jeden Job schlagen und seine Ehrenhaftigkeit aufgeben müssen, um weiter zur See fahren zu können. Man bot ihm die Chance, wieder ein stolzer Kapitän zu sein. Erst als die Verträge unterzeichnet waren, erfuhr Linc, was für Pläne die Reederei tatsächlich mit dem Schiff hatte. Zwei Tage zögerte er, doch nachdem die Reederei mit einer beträchtlichen Summe nachgeholfen hatte, schluckte er seine Verbitterung herunter und sagte zu. Jetzt stand er auf der Brücke. Der Kaffee in seinem Becher war nur noch lauwarm, und er starrte fluchend auf das dunkle Meer. Er hasste diese Geschäftsleute, die willkürlich beschließen konnten, dass ein so wundervolles Schiff versenkt werden sollte. Sie hatten keine Ahnung von der Verbindung zwischen einem Kapitän und seinem Schiff. Für sie gab es nur den Profit, ein Schiff zählte da nicht. Bei der bloßen Vorstellung wurde ihm übel. Er verfluchte sich dafür, dass er dem Plan zugestimmt hatte, dass er selbst in dieses abscheuliche Vorhaben verstrickt war. »Position?«, bellte er. Bevor die Position durchgegeben werden konnte, ertönte aus dem Lautsprecher die Stimme des Mannes am Radargerät. »Kontakt, zwölf Meilen direkt vor uns.« Linc blickte auf das Chronometer an dem Schott zu seiner Linken. Der Kontakt musste das Schiff sein, das ihn und die Mannschaft an Bord nehmen würde, wenn die Grandam Phoenix versenkt war. Alles lief plangemäß. »Gute Arbeit, Männer.« Er hatte äußerst genaue und etwas merkwürdige Anweisungen erhalten, wo und wann das Schiff versenkt werden sollte. Vermutlich war die Wahl auf den Nordpazifik gefallen, weil hier das Wetter oft völlig unvorhersehbar war und von einer Minute auf die andere umschlagen konnte. Die Wellen waren dann plötzlich so hoch, dass selbst ein Schlachtschiff volllaufen, kentern und sinken konnte. Wenn die Versicherung ihre Ermittlungen aufnahm, würde die Mannschaft des entgegenkommenden Schiffes jede Story bestätigen, die sie sich ausgedacht hatten. Linc zündete sich am Stummel seiner Zigarette die nächste an. »Ihr wisst, was läuft, Gentlemen«, knurrte er in sein Mikrofon. »Alle Maschinen stopp. Kurs auf 97,5 Grad, Steuermann.« Die Position des Schiffes würde genau Lincs letzten Anweisungen entsprechen. Begründet worden war die Entscheidung nicht, und Linc war klug genug, nicht weiter nachzufragen. Das Schiff verlor an Fahrt, und das rhythmische Pochen der Maschine wurde leiser, bis es praktisch nicht mehr zu hören war. Der junge Steuermann riss das Ruder herum. »Wir nähern uns dem Kurs von 97 Grad, Sir, wie angeordnet.« »Entfernung?« »Elf Meilen.« Linc griff nach dem Mikrofon des Funkgeräts und stellte den für die Besatzung bestimmten Kanal ein. »Hört gut zu. Wir haben unsere Position gleich erreicht. Alle Männer, die nicht im Dienst sind, begeben sich zu den Rettungsbooten. Maschinenraum, Notabschaltung der Dampfkessel. Auf meinen Befehl werden die Bordventile geöffnet. Bereitet euch darauf vor, das Schiff zu verlassen.« Linc blickte sich auf der Brücke um, prägte sich jedes Detail ein. »Es tut mir leid, meine Süße«, murmelte er. »Noch zehn Meilen«, gab der Mann am Radargerät durch. »Bordventile öffnen, Schiff verlassen.« Linc klemmte das Mikrofon in seine Halterung und drückte auf einen Knopf auf dem Funkgerät. Eine Sirene begann zu heulen. Der Schrei einer sterbenden Frau, dachte er. Während die Crew sich an Deck versammelte, blieb Linc noch auf der Brücke, um sich von seinem Schiff zu verabschieden. Das Steuerrad aus Eichenholz zeigte noch keine Abnutzungsspuren und würde doch schon bald auf dem Meeresboden verrotten. »Verdammter Mist«, sagte er laut, bevor er die Brücke verließ. Heutzutage rettete sich eine Crew nicht mehr über Netze in auf dem Meer treibende Ruderboote. Die Reederei Ocean Freight and Cargo hatte keine Kosten gescheut, um ihr Flaggschiff technisch auf den neuesten Stand zu bringen. Eines der Rettungsboote war bereits voll besetzt und hing an einem schwenkbaren Kranbalken. Als Linc dem Mann an der Winde zunickte, ließ der das Rettungsboot zu Wasser. Die warme nächtliche Brise blies Linc den Rauch seiner Zigarette in die Augen, als er in das zweite Rettungsboot kletterte. Die Männer, die ihn dort erwarteten, redeten nicht und blickten sich nicht an. Wieder nickte Linc dem Mann an der Winde zu. Der legte einen Kippschalter um, und die Taljen begannen zu quietschen. Als das Rettungsboot auf dem ruhigen Meer trieb, lösten zwei Männer die Drahtseile, die es noch mit dem sinkenden Erzfrachter verbanden. Kapitän Linc griff nach der Ruderpinne und schaltete den im Leerlauf tuckernden Motor hoch. Die Grandam Phoenix blieb hinter ihnen zurück, und die Besatzungsmitglieder reckten die Köpfe, um das sinkende Schiff zu beobachten. Das Heulen der Sirene hallte unheimlich übers Meer. Es dauerte eine Viertelstunde, bis die Krängung des Schiffs erkennbar war, doch dann sank es schnell. Das Heck hob sich aus dem Wasser, die beiden Schiffsschrauben glänzten im schwachen Mondlicht. Die Männer in den Rettungsbooten hörten, wie die Dampfkessel aus ihren Halterungen gerissen wurden und durch die Schotten des Maschinenraums brachen. Kurz darauf ergossen sich mit einem lauten Geräusch Tausende von Tonnen Kies ins Meer. Linc konnte nicht hinsehen. Er blickte nach vorn, wo jetzt schwach die Lichter des entgegenkommenden Schiffes zu sehen waren. Wenn hinter ihm die Geräusche des Todeskampfes der Grandam Phoenix zu hören waren, zuckte er jedes Mal zusammen. Das Schiff, das sie an Bord nehmen würde, war ein nur dreißig Meter langer Frachter mit einem Wald von Kränen an Deck. Der kastenförmige Aufbau mit dem Schornstein darauf befand sich in der Mitte des Schiffes. Als die beiden Rettungsboote sich ihm näherten, erblickte Linc an der Reling ein Dutzend Männer. »Kapitän Linc, nehme ich an?«, rief jemand gut gelaunt. »Der bin ich.« Die Antwort war ein Kugelhagel aus zehn PPSH-Maschinenpistolen sowjetischer Bauart. Es war ein ohrenbetäubender Lärm, die Menschen in den Rettungsbooten schrien. Auf den Bodenplanken standen Blutlachen, deren süßlicher Geruch sich mit dem beißenden Gestank des Schießpulvers mischte. Linc blickte benommen und blutverschmiert zu dem Schiff hoch, erstaunt, dass er noch lebte. Seine Gefühle waren ein Durcheinander von Wut, Angst und Schmerz, doch dann versank alles in Finsternis. Als die Magazine leer waren, ließen die Schützen ihre Waffen sinken. Die Böden der Rettungsboote waren durchlöchert, das hereinströmende Wasser vermischte sich mit dem Blut der Verwundeten und Toten. Innerhalb weniger Minuten sanken die beiden Boote, Leichen trieben auf dem Meer, wo schon die Haie auf sie warteten. Der einzige unbewaffnete Mann auf dem Deck hatte das Massaker teilnahmslos beobachtet. Obwohl nicht einmal dreißig, umgab ihn eine Aura von Autorität, über die nur wenige Männer verfügten, die doppelt so alt waren wie er. Als die Rettungsboote untergegangen waren, nickte er den Schützen zu und trat in den Aufbau des Frachters. Einige Minuten später betrat er den Laderaum. Das Licht der Rechenmaschinen und Sonargeräte verlieh seinem Gesicht eine unheimliche Blässe. »Tiefe des versenkten Schiffes?«, fragte er einen der Techniker an seinem Sonargerät. Damit meinte er natürlich keines der Rettungsboote, sondern die Grandam Phoenix. »Zweitausend Meter. Sie sinkt weiter mit einer Geschwindigkeit von etwa dreihundert Metern in sieben Minuten.« Der Mann blickte auf die Uhr und schrieb ein paar Zahlen auf einen Notizblock. »Eine zweiminütige Abweichung von meiner Schätzung.« In dem Laderaum war es laut. Die Geräusche der Dieselgeneratoren vermischten sich mit denen der Ventilatoren, mit denen die Rechenmaschinen gekühlt wurden und die so laut wie Flugzeugpropeller waren. Und doch kam es den sieben Männern während dieser zwei Minuten so vor, als herrschte Totenstille. Sie waren zu sehr auf ihre Aufgabe konzentriert, um sich durch irgendetwas ablenken zu lassen. »Jetzt«, sagte der junge Mann mit einer Lässigkeit, die nicht gezwungen wirkte. Ein anderes Besatzungsmitglied legte mehrere Kippschalter um. Nichts geschah. Der Zivilist begann mit dem Countdown. »Vier ... drei ... zwei ... eins.« Die Druckwelle wurde gut zweitausend Meter unter der Wasseroberfläche ausgelöst; sie musste zehn Meilen zurücklegen, um das Schiff zu erreichen, und doch dauerte es nach der Detonation nur fünf Sekunden. Milliarden von Litern Wasser verdunsteten in einem Feuerball mit einer Temperatur von fast sechzigtausend Grad. Die erste Druckwelle stieg mit einer Geschwindigkeit von über zweihundert Stundenkilometern zur Oberfläche auf und schleuderte eine Wasserkuppel von achthundert Metern Durchmesser hoch. Sie hing für zehn Sekunden in der Luft, während die Schwerkraft mit der Trägheit kämpfte, und brach dann in sich zusammen. Das Wasser krachte in das tausendachthundert Meter tiefe Loch im Pazifik. Der Frachter wurde wie bei einem Hurrikan hin und her geschleudert. In einem Moment ragte der Rumpf aus dem Wasser auf, dann war er wieder fast überschwemmt. Der junge Mann, der Architekt dieser Zerstörung, befürchtete für einen Augenblick, sich verschätzt zu haben, glaubte, dass sein Schiff dem Epizentrum zu nah war. Doch dann begann sich das Meer zu beruhigen. Der junge Mann brauchte ein paar Minuten, bis er wieder an Deck war, denn das Schiff schlingerte immer noch gefährlich. Am Horizont hing Rauch in der Luft, der in dem schwachen Mondlicht unheimlich wirkte. »Ich habe soeben das Fundament des Projekts Vulkanfeuer gelegt.« Washington, D.C. 1998 Eigentlich mochte der neue Präsident der Vereinigten Staaten nur seinen Stuhl im Oval Office. Er hatte eine hohe Rückenlehne und eine Sitzfläche, die mit einem unglaublich weichen Leder bespannt war. Häufig saß er auf diesem Stuhl, wenn die Berater und Angestellten nach Hause gegangen waren, und dachte an seine unbeschwerten Jugendjahre. Er hatte den wichtigsten Job auf diesem Erdball, glaubte aber manchmal, einen zu hohen Preis dafür bezahlt zu haben. Seine Jugendliebe vom College, die er geheiratet hatte, war durch den Aufstieg ihres Mannes zu einer gefühllosen, automatisch lächelnden Puppe geworden. Und seine Freunde all dieser Jahre waren bloß noch Speichellecker, die Gefallen von ihm einforderten. Seine einst unverwüstliche Gesundheit ließ mittlerweile zu wünschen übrig. Er war zweiundsechzig, fühlte sich aber zehn Jahre älter. In manchen Nächten saß er bei ausgeschaltetem Licht im Oval Office, damit die Personenschützer auf der anderen Straßenseite nicht glaubten, er würde bis spät in die Nacht hinein arbeiten, und dann dachte er an seine unbeschwerte Jugend in den Vororten von Cincinnati, als er mit seinen Freunden Bier getrunken und Poolbillard gespielt hatte, um aufgetakelten pummeligen Frauen zu imponieren. Damals konnte man noch ganz undiplomatisch seine Meinung sagen, wenn einen jemand nervte. Und gerade deshalb sehnte er sich jetzt nach dieser jugendlichen Freiheit, weil ihm gegenüber ein Afrikaner in einem Gewand saß, mit Stirnband und Sandalen. Er war der Botschafter eines der neuen zentralafrikanischen Länder. Ein großer Mann, der sarkastisch und selbstzufrieden über alles zu denken schien, was sie erörtert hatten. Jetzt gab der Botschafter mit einer wegwerfenden Handbewegung zu verstehen, dass es mit den Ermittlungen des Roten Kreuzes, der Vereinten Nationen und der CIA nichts auf sich habe. Seine Regierung habe nichts zu tun mit Völkermord, weil man die Leute verhungern lasse oder der Verbreitung von Krankheiten tatenlos zusehe. Seine Regierung fühle sich allen Stämmen des Landes verpflichtet. Alle würden leiden, nicht nur die Angehörigen der politisch weniger einflussreichen kleineren Stämme. Was für ein Unsinn, hätte der Präsident beinahe geantwortet. Am liebsten hätte er dem selbstgefälligen Botschafter eine Ohrfeige verpasst, aber die Etikette hielt ihn davon ab. Stattdessen musste er eine Plattitüde absondern, etwa diese: »Wir sehen die Situation nicht ganz so, werden uns aber weiter darum kümmern.« Unter der Platte seines Schreibtisches leuchtete das rote Lämpchen, ein Signal seines Stabschefs. Er war erst seit sechs Monaten im Amt, und bisher hatte das Lämpchen nur während der wöchentlichen routinemäßigen Tests geleuchtet. Der letzte Ernstfall war der sowjetische Putsch im August des Jahres 1991 gewesen. Mit einem aufgesetzten Lächeln stand er schnell auf, streckte die rechte Hand aus und entließ den afrikanischen Botschafter. »Wie gesagt, wir sehen die Situation nicht ganz so, werden uns aber weiter darum kümmern. Vielen Dank, Herr Botschafter. « »Danke Mr President, dass Sie mir Ihre Zeit geschenkt haben«, antwortete der Botschafter verschnupft. Man hatte ihm eine weitere halbe Stunde mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten zugesagt. Sie gaben sich kurz die Hand, und der Botschafter verließ das Oval Office. Der Präsident setzte sich wieder und rieb sich die Schläfen. Dann öffnete sich die andere Tür. Er rechnete mit seiner Stabschefin Catherine Smith, sah zu seiner Überraschung aber Richard Henna. Dick Henna war der neue Direktor des FBI, einer der wenigen von ihm bestimmten Kandidaten für wichtige Ämter, die der Kongress bis jetzt bestätigt hatte. Wie immer hielten die Intrigen im Kongress die Arbeit der Bundesregierung auf, und das kostete den Steuerzahler Millionen. Henna war ein erfahrener Mann, der es während dreißig Jahren beim FBI geschafft hatte, nie in ein Fettnäpfchen zu treten. Es war ihm nie um Publicity gegangen, doch er wurde allgemein respektiert. Er war ein vorbildlicher Familienmensch, wohnte in einem Vorstadthaus und hatte absolut keine Leichen im Keller. Da die Opposition im Kongress seinen guten Ruf kannte, hatte sie sich keine ernsthafte Mühe gegeben, sich mit seiner Vergangenheit zu befassen. Der Präsident schätzte Henna wegen seiner Integrität und lächelte, als der FBI-Direktor sein Büro betrat. Aber sein Lächeln erstarb, denn Henna sah fürchterlich aus. Seine Augen waren geschwollen und blutunterlaufen. Er hatte sich mehrere Tage nicht rasiert, und sein Anzug war zerknittert. Sein Hemd sah so aus, als hätte er darin geschlafen, und seine Krawatte saß schief und war fleckig. »Sie sehen aus, als könnten Sie einen Kaffee gebrauchen, Dick«, sagte der Präsident möglichst lässig, aber es war vergeblich. »Ich denke, etwas Stärkeres wäre besser, Sir.« Der Präsident wies mit einer Kopfbewegung zur Hausbar, und Henna schenkte sich einen dreifachen Scotch ein. Dann ließ er sich auf den Stuhl vor dem Präsidentenschreibtisch fallen, auf dem eben noch der afrikanische Botschafter gesessen hatte. Er öffnete seinen Aktenkoffer und nahm einen dünnen violetten Schnellhefter heraus. Der Stempel verriet, dass er nur vom Präsidenten der Vereinigten Staaten eingesehen werden durfte. »Was ist los, Dick?« Der Präsident hatte Henna noch nie so niedergeschlagen gesehen. »In der letzten Nacht, Sir, direkt nach Mitternacht«, sagte Henna mit bebender Stimme, »hat die National Ocean and Atmospheric Administration ihr Schiff Ocean Seeker zweihundert Meilen nördlich von Hawaii als vermisst gemeldet. Sie haben Suchflugzeuge entsandt, aber es wurden nur Trümmer auf dem Wasser entdeckt. Ein in der Nähe fahrender Frachter hilft bei der Suche, aber es sieht nicht vielversprechend aus.« Der Präsident war etwas blass geworden und verschränkte krampfhaft die Finger. Er war nicht übertrieben emotional und hatte einen kühlen und scharfen Verstand. »Das ist eine entsetzliche Tragödie, Dick, aber ich sehe nicht, was das mit Ihnen oder dem FBI zu tun haben sollte.« Henna wäre überrascht gewesen, wenn der Präsident diese Frage nicht gestellt hätte. Er reichte ihm die Akte und trank einen Schluck Scotch. »Bitte lesen Sie die erste Seite.« Der Präsident öffnete den Schnellhefter und begann zu lesen. Einige Augenblicke später wurde er bleich und starrte angespannt auf das Papier. Bevor er mit der Lektüre fertig war, redete Henna weiter. »Ich habe davon vor zwei Tagen erfahren, nachdem sicher war, dass es Ohnishis Handschrift ist und dass er es nicht unter Zwang geschrieben hat. Als ich die Papiere bekam, habe ich mit der Küstenwache und der Navy Kontakt aufgenommen. Die wussten nichts von Schiffen, die von Hawaii auslaufen oder dorthin fahren, und deshalb dachte ich, wir hätten eine kleine Verschnaufpause.« Seine Stimme brach. »Aber ich habe nicht mit der National Ocean and Atmospheric Administration gesprochen, habe das völlig vergessen. Man hatte mich gewarnt, dass jedes unserer von Hawaii auslaufenden Schiffe zerstört werden würde. Verdammt, es gab diese Warnung. Diese Menschen hätten nicht sterben müssen.« Der Präsident blickte sein Gegenüber an. In Hennas Miene spiegelten sich Schmerz und Schuldgefühle, weil er versagt hatte. »Nehmen Sie es nicht so schwer, Dick. Wie viele Leute wissen davon?« »Außer uns beiden drei - ein Angestellter der Poststelle, meine Stellvertreterin Marge Doyle und ein Grafologe.« Der Präsident blickte auf die Uhr. »Zum Mittagessen bin ich mit dem Präsidenten des Kongresses verabredet, und wenn ich das absage ... Ich darf gar nicht daran denken, was das für Konsequenzen hätte. Auch sonst bin ich heute den ganzen Tag ausgebucht. Wir lassen hier in Washington alles seinen gewohnten Gang gehen, aber ich werde den Schiffsverkehr unserer Marine um Hawaii herum einstellen lassen, ganz so, wie es in diesem Brief gefordert wird. Ich habe nicht vor, Ohnishi gegenüber nachzugeben, aber wir brauchen die Zeit. Außerdem werde ich für den Flottenstützpunkt Pearl Harbor die höchste Alarmstufe ausrufen lassen. Sie sind schon in Alarmbereitschaft, seit vor zwei Wochen die Gewalt aufflammte, doch jetzt ist die Lage noch ernster. Wir sollten uns heute Abend im Situation Room treffen, um über die Lage und denkbare Reaktionen zu diskutieren. Nehmen Sie den Tunnel vom Treasury Building aus, damit Sie keine Aufmerksamkeit erregen.« »Ja, Sir.« Allmählich gewann Henna die Fassung zurück. »Kann ich in der Zwischenzeit etwas tun, das Sie für wichtig halten?« »Ich nehme an, Sie haben bereits damit begonnen, alles über Takahiro Ohnishi herauszufinden.« Henna nickte. »Wir müssen genau wissen, wie er tickt. Wir alle kennen seine rassistische Einstellung, aber diese Aktion ist empörend. Ich will wissen, warum er überhaupt in der Lage ist, eines unserer Schiffe zu versenken. Irgendjemand versorgt ihn mit Waffen, und ich will, dass das aufhört.« »Ja, Sir.« Henna verabschiedete sich und verließ das Oval Office. Der Präsident drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage und hörte umgehend die Stimme von Joy Craig, seiner persönlichen Sekretärin. »Setzen Sie für heute Abend um neun ein Treffen im Situation Room an. Benachrichtigen Sie den Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs, die Direktoren der CIA, NSA und NOAA sowie den Außen- und Verteidigungsminister. « Die Nominierung der meisten dieser Männer war noch nicht vom Kongress bestätigt worden, doch in dieser Krise musste er ihnen trauen, als hätten sie ihren Amtseid schon geleistet. Der Präsident lehnte sich zurück und starrte auf die amerikanische Flagge neben der Tür. Seine Hände zitterten.
Als das Taxi in Arlington, Virginia, vor einem Reihenhaus aus rötlich-braunem Sandstein hielt, wirkten die Regenfäden im Licht der Scheinwerfer wie Lametta. Der Fahrgast gab dem Chauffeur einen druckfrischen Fünfziger und sagte, er könne das Wechselgeld behalten. Die Hintertür öffnete sich, die Innenbeleuchtung ging an, und der Mann griff nach zwei ledernen Reisetaschen und stieg aus. Philip Mercer hatte internationale Flughäfen immer als eine Art exterritoriales Gebiet gesehen, die wenig mit dem Land zu tun hatten, in dem sie sich befanden. Seine Maschine war vor anderthalb Stunden auf dem Flughafen Dulles International gelandet, doch erst jetzt hatte er das Gefühl, wieder in den Vereinigten Staaten zu sein. Er stöhnte genervt, als er wieder mal versuchte, die Haustür mit dem falschen Schlüssel aufzuschließen. Mittlerweile fragte er sich schon gar nicht mehr, warum das immer so war, wenn er Gepäck dabeihatte. Endlich wieder daheim, dachte er, als er in die Diele trat. Er musste lächeln. Seit fünf Jahren wohnte er hier, doch gerade hatte er das Haus zum ersten Mal wirklich als sein Zuhause gesehen. »Du musst mehr zur Ruhe kommen«, ermahnte er sich. Von außen war das aus den Vierzigerjahren stammende Reihenhaus so unauffällig wie die anderen fünfzehn Gebäude auf dieser Straßenseite, doch mit der Ähnlichkeit war es vorbei, sobald man über die Schwelle trat. Er hatte das zweistöckige Gbäude entkernen und komplett umgestalten lassen. Aus der hohen Diele sah man die im ersten Stock untergebrachte Bibliothek, weiter oben sein Schlafzimmer. Die Wendeltreppe stammte aus einem Pfarrhaus aus dem neunzehnten Jahrhundert. Obwohl komplett möbliert, fehlten noch viele persönliche Dinge, durch die ein Haus zu einem wirklichen Zuhause wird. Auf Tischen und Regalbrettern standen keine Erinnerungsstücke, an den Wänden hingen keine Bilder. Die Innenarchitektur des Hauses verriet einiges über den Charakter seines Bewohners, doch viele persönliche Gegenstände schlummerten noch in nicht ausgepackten Pappkartons. Mercer stellte seine Reisetaschen neben der Eingangstür ab und ging durch das wenig genutzte große Wohnzimmer. Er kam an einem mit Eiche getäfelten Billardzimmer und der Küche vorbei, bevor er in sein Büro trat, wo er seine Aktentasche auf den mit Leder bespannten Schreibtisch legte. Er stieg über die hintere Treppe in den ersten Stock hinauf, als er den leise gestellten Ton des Fernsehers hörte. Das Licht an der Bar aus Mahagoni war gedämpft. Auf dem Sofa lag ein schnarchender Mann unter einer Decke. Mercer trat hinter die Bar und schob eine CD von Eric Clapton in den CD-Spieler. Dann drückte er grinsend auf »Play« und drehte die Lautstärke der Hi-Fi-Anlage voll auf. Flaschen und Gläser klirrten auf den Regalbrettern hinter der Bar. Harry White wurde abrupt aus dem Schlaf gerissen. Mercer schaltete die Anlage aus und lachte. »Ich habe nicht gesagt, dass du gleich hier einziehen sollst.« Harry blickte Mercer verschlafen an. Auf dem Couchtisch standen ein überquellender Aschenbecher, Teller mit Essensresten und zwei leere Flaschen Jack Daniel's. »Willkommen daheim, Mercer«, sagte Harry mit tiefer Reibeisenstimme. »Ich hatte dich erst morgen erwartet.« »So kann man sich irren.« Mercer grinste. »War's 'ne nette Party?« Harry fuhr sich mit den Fingern durch sein kurz geschnittenes graues Haar. »Ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern.« Mercer lachte erneut, und trotz seines üblen Katers lächelte auch Harry. Mercer nahm zwei Flaschen Heinekens aus dem aus den Fünfzigerjahren stammenden Kühlschrank, öffnete sie und trank die erste Flasche mit vier großen Schlucken aus. Dann setzte er die zweite an den Mund. Harry steckte sich eine Zigarette an. »Wie war die Reise?« »Schön, aber anstrengend. Ich habe in sechs Tagen in ganz Südafrika sieben Vorträge gehalten. Dazu kam noch ein Treffen mit Ingenieuren von einer der Rand-Minen.« Der Regen schlug an die Fensterscheiben. Philip Mercer war Bergbauingenieur und Unternehmensberater, der kompetenteste weltweit, wie einige aus der Branche meinten. Seine Ideen und Ratschläge waren überall gefragt. Er strich astronomische Honorare ein, doch die Firmen beschwerten sich nie, weil sich die Investition immer auszahlte. Im Laufe der Jahre hatten Dutzende von Unternehmen versucht, Mercer fest einzustellen, doch der hatte die Offerten stets höflich abgelehnt. Er schätzte die Freiheit, Nein sagen zu können, wenn ihm danach war. Durch seine Unabhängigkeit hatte er den nötigen Spielraum, um nach seinen eigenen exzentrischen Vorstellungen leben zu können. Wenn ihm etwas nicht passte, konnte er jedem Firmenchef sagen, er könne ihn mal. Natürlich hatte er sich diese Freiheit hart erkämpfen müssen. Direkt nach seiner Promotion hatte er eine Stellung bei der United States Geological Survey angenommen. Zwei Jahre lang hatte er größtenteils Routineinspektionen in Minen durchgeführt, die wegen seismischer Analysen mit der USGS zusammenarbeiteten. Die Arbeit war langweilig, monoton und sinnlos, und Mercer hatte Angst, dass sein scharfer Intellekt in einer bürokratischen staatlichen Institution abstumpfen würde. Er kündigte. Der für seine Persönlichkeit charakteristische Unabhängigkeitsdrang ließ es nicht mehr zu, eine längerfristige feste Stellung anzutreten, und so beschloss er, sich selbstständig zu machen. Er selbst sah sich als Troubleshooter, der in schwierigen Situationen aushalf, doch für viele aus der Branche war er ein unerwünschter Eindringling. Sieben Monate lang führte er zahllose Telefonate mit ehemaligen Lehrern von der Pennsylvania State University und der Colorado School of Mines, und schließlich bekam er seinen ersten Beratervertrag. Für ein Schweizer Investorenkonsortium beurteilte er Berichte über eine Goldader in Alaska, und er verdiente in drei Monaten doppelt so viel wie bei der USGS in einem Jahr. Von da an stand seine Entscheidung endgültig fest. Der nächste Auftrag führte ihn zu einer Uranmine in Namibia. Innerhalb weniger Jahre gelang es ihm, sich einen Ruf aufzubauen, von dem er jetzt profitierte und der es ihm gestattete, jene hohen Honorare zu berechnen, an die er sich mittlerweile gewöhnt hatte. Ironischerweise hatte er nun aber doch wieder eine zeitlich befristete Stelle bei der USGS angenommen. Sein Beratervertrag sah die Zusammenarbeit und Abstimmung mit großen amerikanischen Minenunternehmen vor, damit die neuen Umweltgesetze des Präsidenten reibungslos umgesetzt werden konnten. Vielleicht würden sich auch einige ausländische Firmen an diese Richtlinien halten. In gewisser Hinsicht schloss sich damit der Kreis, doch nach zwei Monaten war er wieder ein freier Mann. »Du siehst ganz schön beschissen aus«, bemerkte Harry. Mercer blickte an seinem zerknitterten Hugo-Boss-Anzug hinab. Sein Hemd war verschwitzt, sein Kinn stoppelig. Er hatte sich zwei Tage nicht rasiert. »Wenn du zwanzig Stunden im Flugzeug gesessen hättest, würdest du kein bisschen besser aussehen. « Harry setzte sich auf den Rand des Sofas, griff nach einer fleischfarbenen Beinprothese und legte sie unterhalb des Knies mit einer Geschicklichkeit an, die man bei einem fast Achtzigjährigen nicht erwartet hätte. Dann zog er seine Hose über die Prothese und schlenderte lässig zur Bar, ohne auch nur ein bisschen zu humpeln. Mercer schenkte ihm einen Whisky ein. »Ich habe dir hundertmal dabei zugesehen, und es läuft mir immer noch kalt den Rücken hinunter.« »Dir fehlt der Respekt für ›Mitmenschen mit körperlichen Handicaps‹. Die Political Correctness schreibt heute vor, Behinderte so zu nennen.« »Wahrscheinlich hat dir ein eifersüchtiger Ehemann das Bein weggeschossen, weil er dich mit seiner Frau im Bett erwischt hat.« Die beiden Männer hatten sich am Abend jenes Tages kennengelernt, als Mercer in sein Haus eingezogen war. Bei Tiny's, der Bar an der Ecke, gehörte Harry zum Mobiliar. Mercer war dorthin gegangen, weil er keine Lust mehr hatte, Kartons mit dem Krempel auszupacken, der sich in zehn Jahren überall auf der Welt angesammelt hatte. Seit diesem Abend waren die beiden Männer gute Freunde. Das war jetzt fünf Jahre her, aber so betrunken Harry auch sein mochte, er hatte Mercer nie erzählt, auf welche Weise er sein Bein verloren hatte. Mercer respektierte es und fragte nicht weiter nach. »Du bist nur neidisch, dass dein Körper im Bett kein so gutes Gesprächsthema abgibt.« »Mir würde Behindertensex keinen Spaß machen.« Harry bat Mercer, sein Glas nachzufüllen. Hätte jemand dem Gespräch der nächsten Stunde zugehört, hätte er die beiden für erbitterte Feinde halten können. Es hagelte sarkastische Bemerkungen und bissige Kommentare. Die beiden Männer genossen diesen verbalen Schlagabtausch, oft sehr zur Erheiterung der anderen Gäste bei Tiny's. Kurz nach Mitternacht zwangen der Whisky und sein Alter Harry, sich wieder hinzulegen, und er schlief sofort ein. Trotz des Jetlags und des Biers wusste Mercer, dass er noch keinen Schlaf finden würde, und er begab sich in sein Büro. Das Büro war der einzige fertig eingerichtete Raum in dem Haus. Mit den Ledermöbeln und dem polierten Holz und Messing entsprach es vielleicht einem Klischee, doch er mochte es so. Die Drucke an den Wänden zeigten schwere Maschinen in Minen, Schleppleinen, riesige Dumper und hohe Bohrtürme. Jeder Druck enthielt den schriftlichen Dank eines Industriellen, dessen Unternehmen Mercer geholfen hatte. Auf einem Sideboard lag, diskret von unten beleuchtet, ein großer blauer Stein. Mercer strich liebevoll mit dem Finger darüber, als er zu seinem Schreibtisch ging. Vom Jan Smuts Airport in Johannesburg aus hatte er seine Sekretärin bei der USGS angerufen und sie gebeten, ihm all seine Memos und Briefe nach Hause zu faxen, weil er wusste, dass er nach einem Langstreckenflug nie Schlaf fand. Im Papierfach des Faxgeräts lagen mindestens fünfzig Seiten. Die meisten davon konnten ein paar Tage liegen bleiben, wirklich wichtig waren nur wenige. Er blätterte den Stapel schnell durch und hätte fast eine Nachricht des stellvertretenden Direktors der National Oceanographic and Atmospheric Administration übersehen. Es war eine vor sechs Tagen eingegangene Einladung, an Bord des NOAA-Schiffes Ocean Seeker an der Erforschung eines unbekannten geologischen Phänomens vor der Küste von Hawaii mitzuwirken. Der stellvertretende Direktor hatte sich an ihn gewandt, weil er vor zwei Jahren einen Aufsatz über die Nutzung der Geothermie als einer künftigen Energiequelle publiziert hatte. Er hatte von dem tragischen Untergang des Schiffes gehört. Es hatte keine Überlebenden gegeben. Diese Nachricht hatte es sogar in Südafrika in die Zeitungen geschafft. Doch nicht die Einladung war der Grund dafür, dass sein Herz plötzlich schneller schlug. Darunter stand eine Namensliste von Spezialisten, die ihre Teilnahme bereits zugesagt hatten. Der erste Name war jener der Meeresbiologin Dr. Tish Talbot. Er war ihr persönlich nie begegnet, doch ihr Vater war ein guter Freund, der ihm nach einem Flugzeugabsturz in Alaska das Leben gerettet hatte. Der Pilot war ums Leben gekommen, während er sich nur ein Bein, eine Hand und ein paar Rippen gebrochen hatte. Aber er hatte allein auf einem Geröllfeld gelegen. Jack Talbot, der auf den Ölfeldern in der Nähe von Prudhoe Bay arbeitete, hatte eine Woche Urlaub gehabt und in der Nähe der Absturzstelle gezeltet. Innerhalb von zehn Minuten war er bei Mercer gewesen und hatte sich um ihn gekümmert, bis es ihm gelungen war, mittels Leuchtspurmunition aus dem Flugzeugwrack einen Rettungshubschrauber zu alarmieren. In den Jahren danach hatten sich die beiden Männer eher selten gesehen, aber ihre Freundschaft hatte Bestand. Und nun war Jacks einzige Tochter gestorben, als Opfer eines entsetzlichen Unfalls. Mercer wusste, welchen Schmerz Jack empfinden musste. Er kannte diesen Schmerz, denn er hatte als Junge seine Eltern verloren. Aber Eltern gehen nicht davon aus, länger als ihre Kinder zu leben. Oft heißt es, das sei der größte Schmerz. Mercer schaltete die Schreibtischlampe aus und ließ Harry auf dem Sofa schlafen. Er wollte seinen Freund nicht um zwei Uhr morgens vor die Tür setzen. Er hatte immer noch keine Lust, ins Bett zu gehen, tat es aber trotzdem. Sein Schlaf war unruhig. Hawaii Jill Tzu trat auf die Bremse ihres Honda Prelude und hielt zwanzig Meter vor dem Tor von Takahiro Ohnishis Landsitz. Sie klappte den Rückspiegel herunter und trug eine dünne Schicht Lippenstift auf. Dann setzte sie ein professionelles Lächeln auf. Ihr Make-up war perfekt. Als Journalistin wusste sie, wie wichtig gutes Aussehen war. Sie verabscheute diesen Sexismus, war aber pragmatisch genug, um zu wissen, dass sie allein an den Gegebenheiten nichts ändern konnte.
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23. Mai 1954 Die dünne Mondsichel am Nachthimmel erinnerte an einen zu einem ironischen Lächeln verzogenen Mund. Eine sanfte Brise von Osten vertrieb die Rauchfäden, die aus dem einzigen Schornstein des Erzfrachters Grandam Phoenix aufstiegen. Die Gewässer des Pazifiks waren ruhig und der Wind so sanft, als wollte er nur eine Hängematte an einem Sommernachmittag schaukeln. Das Schiff war zweihundert Meilen nördlich der Hawaii-Inseln unterwegs. Die nächtliche Stille sollte nur zu bald zerrissen werden. Die Grandam Phoenix war auf ihrer Jungfernfahrt. Sie war vor zwei Monaten im japanischen Kobe vom Stapel gelaufen. Die Ausrüstungsphase war unter extremem Zeitdruck durchgeführt worden, damit das Schiff möglichst schnell Geld einbrachte, denn die Reederei hatte sich während des Baus stark verschuldet. Das Schiff entsprach den aktuellsten Sicherheitsstandards, war schnell und exemplarisch für die neuen, spezialisierten Frachtschiffe. Der Zweite Weltkrieg hatte die Ingenieure gelehrt, dass ein für seine Aufgaben exakt konstruiertes Schiff die höheren Baukosten schnell wieder hereinholte. Die Eigentümer der Grandam Phoenix wollten beweisen, dass dies auch für die zivile Schifffahrt galt. Der einhundertvierzig Meter lange Erzfrachter sollte das Flaggschiff der Reederei werden in einer Zeit, als es galt, die boomenden pazifischen Märkte zu erobern. Kurz nachdem er das Kommando über die Grandam Phoenix übernommen hatte, erfuhr Kapitän Ralph Linc, dass die Eigentümer des Schiffes ganz andere Pläne hatten als jene, die sie der Versicherungsgesellschaft gegenüber angegeben hatten. Seit man Handelsschiffe versichern konnte, hatten skrupellose Reeder und Besatzungen schon bald damit begonnen, Schiffe zu versenken, um beträchtliche Summen einzustreichen. Den Versicherungen blieb nicht anderes übrig, als zu zahlen, solange nicht irgendjemand ein schlechtes Gewissen bekam und mit der Wahrheit herausrückte. Aber die Besatzung des Erzfrachters Grandam Phoenix würde für das Versenken des Schiffes so viel bekommen, dass alle den Mund halten würden. Wenn der Betrug funktionierte, und es gab keinen Grund für die Annahme, dass es nicht so sein sollte, würden die Eigentümer mit der Versicherung nach einer Einigung suchen - nicht nur für das zwanzig Millionen Dollar teure Schiff, sondern auch für die Ladung, bei der es sich offiziell um Bauxit aus Malaysia, tatsächlich aber um wertlosen gelben Kies handelte. Linc entsprach ganz dem Klischeebild eines Kapitäns. Er war ein harter Mann mit einer rauen Stimme, der man seinen Alkohol- und Zigarettenkonsum anhörte. Er stand breitbeinig auf der Brücke des Schiffes und trat gerade die Kippe seiner Lucky Strike aus. Um sich sofort anschließend die nächste anzuzünden. Während des gesamten Zweiten Weltkrieges hatte Linc bei der nordamerikanischen Handelsmarine gedient, deren Verluste an Menschenleben nur noch von denen des Marine Corps übertroffen wurden. Die Handelsmarine schien nur etwas für Verrückte oder Lebensmüde zu sein, doch Linc hatte nicht nur überlebt, sondern auch Karriere gemacht. Seit 1943 war er Kapitän und hatte Truppen und Material zu den pazifischen Kriegsschauplätzen befördert. Im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen hatte er nie ein Schiff an den Feind verloren. Nach Kriegsende fand er wie viele andere heraus, dass es zu viele Kapitäne und zu wenige Schiffe gab. Während der späten Vierziger- und frühen Fünfzigerjahre nahm er im Fernen Osten nahezu jede Kapitänsstelle an, die man ihm offerierte. Er beförderte zweifelhafte Frachten für dubiose Reedereien und lernte, den Mund zu halten. Als die Eigentümer der Grandam Phoenix an ihn herantraten, glaubte er, ein Lebenstraum ginge in Erfüllung. Er würde sich nicht mehr um jeden Job schlagen und seine Ehrenhaftigkeit aufgeben müssen, um weiter zur See fahren zu können. Man bot ihm die Chance, wieder ein stolzer Kapitän zu sein. Erst als die Verträge unterzeichnet waren, erfuhr Linc, was für Pläne die Reederei tatsächlich mit dem Schiff hatte. Zwei Tage zögerte er, doch nachdem die Reederei mit einer beträchtlichen Summe nachgeholfen hatte, schluckte er seine Verbitterung herunter und sagte zu. Jetzt stand er auf der Brücke. Der Kaffee in seinem Becher war nur noch lauwarm, und er starrte fluchend auf das dunkle Meer. Er hasste diese Geschäftsleute, die willkürlich beschließen konnten, dass ein so wundervolles Schiff versenkt werden sollte. Sie hatten keine Ahnung von der Verbindung zwischen einem Kapitän und seinem Schiff. Für sie gab es nur den Profit, ein Schiff zählte da nicht. Bei der bloßen Vorstellung wurde ihm übel. Er verfluchte sich dafür, dass er dem Plan zugestimmt hatte, dass er selbst in dieses abscheuliche Vorhaben verstrickt war. »Position?«, bellte er. Bevor die Position durchgegeben werden konnte, ertönte aus dem Lautsprecher die Stimme des Mannes am Radargerät. »Kontakt, zwölf Meilen direkt vor uns.« Linc blickte auf das Chronometer an dem Schott zu seiner Linken. Der Kontakt musste das Schiff sein, das ihn und die Mannschaft an Bord nehmen würde, wenn die Grandam Phoenix versenkt war. Alles lief plangemäß. »Gute Arbeit, Männer.« Er hatte äußerst genaue und etwas merkwürdige Anweisungen erhalten, wo und wann das Schiff versenkt werden sollte. Vermutlich war die Wahl auf den Nordpazifik gefallen, weil hier das Wetter oft völlig unvorhersehbar war und von einer Minute auf die andere umschlagen konnte. Die Wellen waren dann plötzlich so hoch, dass selbst ein Schlachtschiff volllaufen, kentern und sinken konnte. Wenn die Versicherung ihre Ermittlungen aufnahm, würde die Mannschaft des entgegenkommenden Schiffes jede Story bestätigen, die sie sich ausgedacht hatten. Linc zündete sich am Stummel seiner Zigarette die nächste an. »Ihr wisst, was läuft, Gentlemen«, knurrte er in sein Mikrofon. »Alle Maschinen stopp. Kurs auf 97,5 Grad, Steuermann.« Die Position des Schiffes würde genau Lincs letzten Anweisungen entsprechen. Begründet worden war die Entscheidung nicht, und Linc war klug genug, nicht weiter nachzufragen. Das Schiff verlor an Fahrt, und das rhythmische Pochen der Maschine wurde leiser, bis es praktisch nicht mehr zu hören war. Der junge Steuermann riss das Ruder herum. »Wir nähern uns dem Kurs von 97 Grad, Sir, wie angeordnet.« »Entfernung?« »Elf Meilen.« Linc griff nach dem Mikrofon des Funkgeräts und stellte den für die Besatzung bestimmten Kanal ein. »Hört gut zu. Wir haben unsere Position gleich erreicht. Alle Männer, die nicht im Dienst sind, begeben sich zu den Rettungsbooten. Maschinenraum, Notabschaltung der Dampfkessel. Auf meinen Befehl werden die Bordventile geöffnet. Bereitet euch darauf vor, das Schiff zu verlassen.« Linc blickte sich auf der Brücke um, prägte sich jedes Detail ein. »Es tut mir leid, meine Süße«, murmelte er. »Noch zehn Meilen«, gab der Mann am Radargerät durch. »Bordventile öffnen, Schiff verlassen.« Linc klemmte das Mikrofon in seine Halterung und drückte auf einen Knopf auf dem Funkgerät. Eine Sirene begann zu heulen. Der Schrei einer sterbenden Frau, dachte er. Während die Crew sich an Deck versammelte, blieb Linc noch auf der Brücke, um sich von seinem Schiff zu verabschieden. Das Steuerrad aus Eichenholz zeigte noch keine Abnutzungsspuren und würde doch schon bald auf dem Meeresboden verrotten. »Verdammter Mist«, sagte er laut, bevor er die Brücke verließ. Heutzutage rettete sich eine Crew nicht mehr über Netze in auf dem Meer treibende Ruderboote. Die Reederei Ocean Freight and Cargo hatte keine Kosten gescheut, um ihr Flaggschiff technisch auf den neuesten Stand zu bringen. Eines der Rettungsboote war bereits voll besetzt und hing an einem schwenkbaren Kranbalken. Als Linc dem Mann an der Winde zunickte, ließ der das Rettungsboot zu Wasser. Die warme nächtliche Brise blies Linc den Rauch seiner Zigarette in die Augen, als er in das zweite Rettungsboot kletterte. Die Männer, die ihn dort erwarteten, redeten nicht und blickten sich nicht an. Wieder nickte Linc dem Mann an der Winde zu. Der legte einen Kippschalter um, und die Taljen begannen zu quietschen. Als das Rettungsboot auf dem ruhigen Meer trieb, lösten zwei Männer die Drahtseile, die es noch mit dem sinkenden Erzfrachter verbanden. Kapitän Linc griff nach der Ruderpinne und schaltete den im Leerlauf tuckernden Motor hoch. Die Grandam Phoenix blieb hinter ihnen zurück, und die Besatzungsmitglieder reckten die Köpfe, um das sinkende Schiff zu beobachten. Das Heulen der Sirene hallte unheimlich übers Meer. Es dauerte eine Viertelstunde, bis die Krängung des Schiffs erkennbar war, doch dann sank es schnell. Das Heck hob sich aus dem Wasser, die beiden Schiffsschrauben glänzten im schwachen Mondlicht. Die Männer in den Rettungsbooten hörten, wie die Dampfkessel aus ihren Halterungen gerissen wurden und durch die Schotten des Maschinenraums brachen. Kurz darauf ergossen sich mit einem lauten Geräusch Tausende von Tonnen Kies ins Meer. Linc konnte nicht hinsehen. Er blickte nach vorn, wo jetzt schwach die Lichter des entgegenkommenden Schiffes zu sehen waren. Wenn hinter ihm die Geräusche des Todeskampfes der Grandam Phoenix zu hören waren, zuckte er jedes Mal zusammen. Das Schiff, das sie an Bord nehmen würde, war ein nur dreißig Meter langer Frachter mit einem Wald von Kränen an Deck. Der kastenförmige Aufbau mit dem Schornstein darauf befand sich in der Mitte des Schiffes. Als die beiden Rettungsboote sich ihm näherten, erblickte Linc an der Reling ein Dutzend Männer. »Kapitän Linc, nehme ich an?«, rief jemand gut gelaunt. »Der bin ich.« Die Antwort war ein Kugelhagel aus zehn PPSH-Maschinenpistolen sowjetischer Bauart. Es war ein ohrenbetäubender Lärm, die Menschen in den Rettungsbooten schrien. Auf den Bodenplanken standen Blutlachen, deren süßlicher Geruch sich mit dem beißenden Gestank des Schießpulvers mischte. Linc blickte benommen und blutverschmiert zu dem Schiff hoch, erstaunt, dass er noch lebte. Seine Gefühle waren ein Durcheinander von Wut, Angst und Schmerz, doch dann versank alles in Finsternis. Als die Magazine leer waren, ließen die Schützen ihre Waffen sinken. Die Böden der Rettungsboote waren durchlöchert, das hereinströmende Wasser vermischte sich mit dem Blut der Verwundeten und Toten. Innerhalb weniger Minuten sanken die beiden Boote, Leichen trieben auf dem Meer, wo schon die Haie auf sie warteten. Der einzige unbewaffnete Mann auf dem Deck hatte das Massaker teilnahmslos beobachtet. Obwohl nicht einmal dreißig, umgab ihn eine Aura von Autorität, über die nur wenige Männer verfügten, die doppelt so alt waren wie er. Als die Rettungsboote untergegangen waren, nickte er den Schützen zu und trat in den Aufbau des Frachters. Einige Minuten später betrat er den Laderaum. Das Licht der Rechenmaschinen und Sonargeräte verlieh seinem Gesicht eine unheimliche Blässe. »Tiefe des versenkten Schiffes?«, fragte er einen der Techniker an seinem Sonargerät. Damit meinte er natürlich keines der Rettungsboote, sondern die Grandam Phoenix. »Zweitausend Meter. Sie sinkt weiter mit einer Geschwindigkeit von etwa dreihundert Metern in sieben Minuten.« Der Mann blickte auf die Uhr und schrieb ein paar Zahlen auf einen Notizblock. »Eine zweiminütige Abweichung von meiner Schätzung.« In dem Laderaum war es laut. Die Geräusche der Dieselgeneratoren vermischten sich mit denen der Ventilatoren, mit denen die Rechenmaschinen gekühlt wurden und die so laut wie Flugzeugpropeller waren. Und doch kam es den sieben Männern während dieser zwei Minuten so vor, als herrschte Totenstille. Sie waren zu sehr auf ihre Aufgabe konzentriert, um sich durch irgendetwas ablenken zu lassen. »Jetzt«, sagte der junge Mann mit einer Lässigkeit, die nicht gezwungen wirkte. Ein anderes Besatzungsmitglied legte mehrere Kippschalter um. Nichts geschah. Der Zivilist begann mit dem Countdown. »Vier ... drei ... zwei ... eins.« Die Druckwelle wurde gut zweitausend Meter unter der Wasseroberfläche ausgelöst; sie musste zehn Meilen zurücklegen, um das Schiff zu erreichen, und doch dauerte es nach der Detonation nur fünf Sekunden. Milliarden von Litern Wasser verdunsteten in einem Feuerball mit einer Temperatur von fast sechzigtausend Grad. Die erste Druckwelle stieg mit einer Geschwindigkeit von über zweihundert Stundenkilometern zur Oberfläche auf und schleuderte eine Wasserkuppel von achthundert Metern Durchmesser hoch. Sie hing für zehn Sekunden in der Luft, während die Schwerkraft mit der Trägheit kämpfte, und brach dann in sich zusammen. Das Wasser krachte in das tausendachthundert Meter tiefe Loch im Pazifik. Der Frachter wurde wie bei einem Hurrikan hin und her geschleudert. In einem Moment ragte der Rumpf aus dem Wasser auf, dann war er wieder fast überschwemmt. Der junge Mann, der Architekt dieser Zerstörung, befürchtete für einen Augenblick, sich verschätzt zu haben, glaubte, dass sein Schiff dem Epizentrum zu nah war. Doch dann begann sich das Meer zu beruhigen. Der junge Mann brauchte ein paar Minuten, bis er wieder an Deck war, denn das Schiff schlingerte immer noch gefährlich. Am Horizont hing Rauch in der Luft, der in dem schwachen Mondlicht unheimlich wirkte. »Ich habe soeben das Fundament des Projekts Vulkanfeuer gelegt.« Washington, D.C. 1998 Eigentlich mochte der neue Präsident der Vereinigten Staaten nur seinen Stuhl im Oval Office. Er hatte eine hohe Rückenlehne und eine Sitzfläche, die mit einem unglaublich weichen Leder bespannt war. Häufig saß er auf diesem Stuhl, wenn die Berater und Angestellten nach Hause gegangen waren, und dachte an seine unbeschwerten Jugendjahre. Er hatte den wichtigsten Job auf diesem Erdball, glaubte aber manchmal, einen zu hohen Preis dafür bezahlt zu haben. Seine Jugendliebe vom College, die er geheiratet hatte, war durch den Aufstieg ihres Mannes zu einer gefühllosen, automatisch lächelnden Puppe geworden. Und seine Freunde all dieser Jahre waren bloß noch Speichellecker, die Gefallen von ihm einforderten. Seine einst unverwüstliche Gesundheit ließ mittlerweile zu wünschen übrig. Er war zweiundsechzig, fühlte sich aber zehn Jahre älter. In manchen Nächten saß er bei ausgeschaltetem Licht im Oval Office, damit die Personenschützer auf der anderen Straßenseite nicht glaubten, er würde bis spät in die Nacht hinein arbeiten, und dann dachte er an seine unbeschwerte Jugend in den Vororten von Cincinnati, als er mit seinen Freunden Bier getrunken und Poolbillard gespielt hatte, um aufgetakelten pummeligen Frauen zu imponieren. Damals konnte man noch ganz undiplomatisch seine Meinung sagen, wenn einen jemand nervte. Und gerade deshalb sehnte er sich jetzt nach dieser jugendlichen Freiheit, weil ihm gegenüber ein Afrikaner in einem Gewand saß, mit Stirnband und Sandalen. Er war der Botschafter eines der neuen zentralafrikanischen Länder. Ein großer Mann, der sarkastisch und selbstzufrieden über alles zu denken schien, was sie erörtert hatten. Jetzt gab der Botschafter mit einer wegwerfenden Handbewegung zu verstehen, dass es mit den Ermittlungen des Roten Kreuzes, der Vereinten Nationen und der CIA nichts auf sich habe. Seine Regierung habe nichts zu tun mit Völkermord, weil man die Leute verhungern lasse oder der Verbreitung von Krankheiten tatenlos zusehe. Seine Regierung fühle sich allen Stämmen des Landes verpflichtet. Alle würden leiden, nicht nur die Angehörigen der politisch weniger einflussreichen kleineren Stämme. Was für ein Unsinn, hätte der Präsident beinahe geantwortet. Am liebsten hätte er dem selbstgefälligen Botschafter eine Ohrfeige verpasst, aber die Etikette hielt ihn davon ab. Stattdessen musste er eine Plattitüde absondern, etwa diese: »Wir sehen die Situation nicht ganz so, werden uns aber weiter darum kümmern.« Unter der Platte seines Schreibtisches leuchtete das rote Lämpchen, ein Signal seines Stabschefs. Er war erst seit sechs Monaten im Amt, und bisher hatte das Lämpchen nur während der wöchentlichen routinemäßigen Tests geleuchtet. Der letzte Ernstfall war der sowjetische Putsch im August des Jahres 1991 gewesen. Mit einem aufgesetzten Lächeln stand er schnell auf, streckte die rechte Hand aus und entließ den afrikanischen Botschafter. »Wie gesagt, wir sehen die Situation nicht ganz so, werden uns aber weiter darum kümmern. Vielen Dank, Herr Botschafter. « »Danke Mr President, dass Sie mir Ihre Zeit geschenkt haben«, antwortete der Botschafter verschnupft. Man hatte ihm eine weitere halbe Stunde mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten zugesagt. Sie gaben sich kurz die Hand, und der Botschafter verließ das Oval Office. Der Präsident setzte sich wieder und rieb sich die Schläfen. Dann öffnete sich die andere Tür. Er rechnete mit seiner Stabschefin Catherine Smith, sah zu seiner Überraschung aber Richard Henna. Dick Henna war der neue Direktor des FBI, einer der wenigen von ihm bestimmten Kandidaten für wichtige Ämter, die der Kongress bis jetzt bestätigt hatte. Wie immer hielten die Intrigen im Kongress die Arbeit der Bundesregierung auf, und das kostete den Steuerzahler Millionen. Henna war ein erfahrener Mann, der es während dreißig Jahren beim FBI geschafft hatte, nie in ein Fettnäpfchen zu treten. Es war ihm nie um Publicity gegangen, doch er wurde allgemein respektiert. Er war ein vorbildlicher Familienmensch, wohnte in einem Vorstadthaus und hatte absolut keine Leichen im Keller. Da die Opposition im Kongress seinen guten Ruf kannte, hatte sie sich keine ernsthafte Mühe gegeben, sich mit seiner Vergangenheit zu befassen. Der Präsident schätzte Henna wegen seiner Integrität und lächelte, als der FBI-Direktor sein Büro betrat. Aber sein Lächeln erstarb, denn Henna sah fürchterlich aus. Seine Augen waren geschwollen und blutunterlaufen. Er hatte sich mehrere Tage nicht rasiert, und sein Anzug war zerknittert. Sein Hemd sah so aus, als hätte er darin geschlafen, und seine Krawatte saß schief und war fleckig. »Sie sehen aus, als könnten Sie einen Kaffee gebrauchen, Dick«, sagte der Präsident möglichst lässig, aber es war vergeblich. »Ich denke, etwas Stärkeres wäre besser, Sir.« Der Präsident wies mit einer Kopfbewegung zur Hausbar, und Henna schenkte sich einen dreifachen Scotch ein. Dann ließ er sich auf den Stuhl vor dem Präsidentenschreibtisch fallen, auf dem eben noch der afrikanische Botschafter gesessen hatte. Er öffnete seinen Aktenkoffer und nahm einen dünnen violetten Schnellhefter heraus. Der Stempel verriet, dass er nur vom Präsidenten der Vereinigten Staaten eingesehen werden durfte. »Was ist los, Dick?« Der Präsident hatte Henna noch nie so niedergeschlagen gesehen. »In der letzten Nacht, Sir, direkt nach Mitternacht«, sagte Henna mit bebender Stimme, »hat die National Ocean and Atmospheric Administration ihr Schiff Ocean Seeker zweihundert Meilen nördlich von Hawaii als vermisst gemeldet. Sie haben Suchflugzeuge entsandt, aber es wurden nur Trümmer auf dem Wasser entdeckt. Ein in der Nähe fahrender Frachter hilft bei der Suche, aber es sieht nicht vielversprechend aus.« Der Präsident war etwas blass geworden und verschränkte krampfhaft die Finger. Er war nicht übertrieben emotional und hatte einen kühlen und scharfen Verstand. »Das ist eine entsetzliche Tragödie, Dick, aber ich sehe nicht, was das mit Ihnen oder dem FBI zu tun haben sollte.« Henna wäre überrascht gewesen, wenn der Präsident diese Frage nicht gestellt hätte. Er reichte ihm die Akte und trank einen Schluck Scotch. »Bitte lesen Sie die erste Seite.« Der Präsident öffnete den Schnellhefter und begann zu lesen. Einige Augenblicke später wurde er bleich und starrte angespannt auf das Papier. Bevor er mit der Lektüre fertig war, redete Henna weiter. »Ich habe davon vor zwei Tagen erfahren, nachdem sicher war, dass es Ohnishis Handschrift ist und dass er es nicht unter Zwang geschrieben hat. Als ich die Papiere bekam, habe ich mit der Küstenwache und der Navy Kontakt aufgenommen. Die wussten nichts von Schiffen, die von Hawaii auslaufen oder dorthin fahren, und deshalb dachte ich, wir hätten eine kleine Verschnaufpause.« Seine Stimme brach. »Aber ich habe nicht mit der National Ocean and Atmospheric Administration gesprochen, habe das völlig vergessen. Man hatte mich gewarnt, dass jedes unserer von Hawaii auslaufenden Schiffe zerstört werden würde. Verdammt, es gab diese Warnung. Diese Menschen hätten nicht sterben müssen.« Der Präsident blickte sein Gegenüber an. In Hennas Miene spiegelten sich Schmerz und Schuldgefühle, weil er versagt hatte. »Nehmen Sie es nicht so schwer, Dick. Wie viele Leute wissen davon?« »Außer uns beiden drei - ein Angestellter der Poststelle, meine Stellvertreterin Marge Doyle und ein Grafologe.« Der Präsident blickte auf die Uhr. »Zum Mittagessen bin ich mit dem Präsidenten des Kongresses verabredet, und wenn ich das absage ... Ich darf gar nicht daran denken, was das für Konsequenzen hätte. Auch sonst bin ich heute den ganzen Tag ausgebucht. Wir lassen hier in Washington alles seinen gewohnten Gang gehen, aber ich werde den Schiffsverkehr unserer Marine um Hawaii herum einstellen lassen, ganz so, wie es in diesem Brief gefordert wird. Ich habe nicht vor, Ohnishi gegenüber nachzugeben, aber wir brauchen die Zeit. Außerdem werde ich für den Flottenstützpunkt Pearl Harbor die höchste Alarmstufe ausrufen lassen. Sie sind schon in Alarmbereitschaft, seit vor zwei Wochen die Gewalt aufflammte, doch jetzt ist die Lage noch ernster. Wir sollten uns heute Abend im Situation Room treffen, um über die Lage und denkbare Reaktionen zu diskutieren. Nehmen Sie den Tunnel vom Treasury Building aus, damit Sie keine Aufmerksamkeit erregen.« »Ja, Sir.« Allmählich gewann Henna die Fassung zurück. »Kann ich in der Zwischenzeit etwas tun, das Sie für wichtig halten?« »Ich nehme an, Sie haben bereits damit begonnen, alles über Takahiro Ohnishi herauszufinden.« Henna nickte. »Wir müssen genau wissen, wie er tickt. Wir alle kennen seine rassistische Einstellung, aber diese Aktion ist empörend. Ich will wissen, warum er überhaupt in der Lage ist, eines unserer Schiffe zu versenken. Irgendjemand versorgt ihn mit Waffen, und ich will, dass das aufhört.« »Ja, Sir.« Henna verabschiedete sich und verließ das Oval Office. Der Präsident drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage und hörte umgehend die Stimme von Joy Craig, seiner persönlichen Sekretärin. »Setzen Sie für heute Abend um neun ein Treffen im Situation Room an. Benachrichtigen Sie den Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs, die Direktoren der CIA, NSA und NOAA sowie den Außen- und Verteidigungsminister. « Die Nominierung der meisten dieser Männer war noch nicht vom Kongress bestätigt worden, doch in dieser Krise musste er ihnen trauen, als hätten sie ihren Amtseid schon geleistet. Der Präsident lehnte sich zurück und starrte auf die amerikanische Flagge neben der Tür. Seine Hände zitterten.
Als das Taxi in Arlington, Virginia, vor einem Reihenhaus aus rötlich-braunem Sandstein hielt, wirkten die Regenfäden im Licht der Scheinwerfer wie Lametta. Der Fahrgast gab dem Chauffeur einen druckfrischen Fünfziger und sagte, er könne das Wechselgeld behalten. Die Hintertür öffnete sich, die Innenbeleuchtung ging an, und der Mann griff nach zwei ledernen Reisetaschen und stieg aus. Philip Mercer hatte internationale Flughäfen immer als eine Art exterritoriales Gebiet gesehen, die wenig mit dem Land zu tun hatten, in dem sie sich befanden. Seine Maschine war vor anderthalb Stunden auf dem Flughafen Dulles International gelandet, doch erst jetzt hatte er das Gefühl, wieder in den Vereinigten Staaten zu sein. Er stöhnte genervt, als er wieder mal versuchte, die Haustür mit dem falschen Schlüssel aufzuschließen. Mittlerweile fragte er sich schon gar nicht mehr, warum das immer so war, wenn er Gepäck dabeihatte. Endlich wieder daheim, dachte er, als er in die Diele trat. Er musste lächeln. Seit fünf Jahren wohnte er hier, doch gerade hatte er das Haus zum ersten Mal wirklich als sein Zuhause gesehen. »Du musst mehr zur Ruhe kommen«, ermahnte er sich. Von außen war das aus den Vierzigerjahren stammende Reihenhaus so unauffällig wie die anderen fünfzehn Gebäude auf dieser Straßenseite, doch mit der Ähnlichkeit war es vorbei, sobald man über die Schwelle trat. Er hatte das zweistöckige Gbäude entkernen und komplett umgestalten lassen. Aus der hohen Diele sah man die im ersten Stock untergebrachte Bibliothek, weiter oben sein Schlafzimmer. Die Wendeltreppe stammte aus einem Pfarrhaus aus dem neunzehnten Jahrhundert. Obwohl komplett möbliert, fehlten noch viele persönliche Dinge, durch die ein Haus zu einem wirklichen Zuhause wird. Auf Tischen und Regalbrettern standen keine Erinnerungsstücke, an den Wänden hingen keine Bilder. Die Innenarchitektur des Hauses verriet einiges über den Charakter seines Bewohners, doch viele persönliche Gegenstände schlummerten noch in nicht ausgepackten Pappkartons. Mercer stellte seine Reisetaschen neben der Eingangstür ab und ging durch das wenig genutzte große Wohnzimmer. Er kam an einem mit Eiche getäfelten Billardzimmer und der Küche vorbei, bevor er in sein Büro trat, wo er seine Aktentasche auf den mit Leder bespannten Schreibtisch legte. Er stieg über die hintere Treppe in den ersten Stock hinauf, als er den leise gestellten Ton des Fernsehers hörte. Das Licht an der Bar aus Mahagoni war gedämpft. Auf dem Sofa lag ein schnarchender Mann unter einer Decke. Mercer trat hinter die Bar und schob eine CD von Eric Clapton in den CD-Spieler. Dann drückte er grinsend auf »Play« und drehte die Lautstärke der Hi-Fi-Anlage voll auf. Flaschen und Gläser klirrten auf den Regalbrettern hinter der Bar. Harry White wurde abrupt aus dem Schlaf gerissen. Mercer schaltete die Anlage aus und lachte. »Ich habe nicht gesagt, dass du gleich hier einziehen sollst.« Harry blickte Mercer verschlafen an. Auf dem Couchtisch standen ein überquellender Aschenbecher, Teller mit Essensresten und zwei leere Flaschen Jack Daniel's. »Willkommen daheim, Mercer«, sagte Harry mit tiefer Reibeisenstimme. »Ich hatte dich erst morgen erwartet.« »So kann man sich irren.« Mercer grinste. »War's 'ne nette Party?« Harry fuhr sich mit den Fingern durch sein kurz geschnittenes graues Haar. »Ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern.« Mercer lachte erneut, und trotz seines üblen Katers lächelte auch Harry. Mercer nahm zwei Flaschen Heinekens aus dem aus den Fünfzigerjahren stammenden Kühlschrank, öffnete sie und trank die erste Flasche mit vier großen Schlucken aus. Dann setzte er die zweite an den Mund. Harry steckte sich eine Zigarette an. »Wie war die Reise?« »Schön, aber anstrengend. Ich habe in sechs Tagen in ganz Südafrika sieben Vorträge gehalten. Dazu kam noch ein Treffen mit Ingenieuren von einer der Rand-Minen.« Der Regen schlug an die Fensterscheiben. Philip Mercer war Bergbauingenieur und Unternehmensberater, der kompetenteste weltweit, wie einige aus der Branche meinten. Seine Ideen und Ratschläge waren überall gefragt. Er strich astronomische Honorare ein, doch die Firmen beschwerten sich nie, weil sich die Investition immer auszahlte. Im Laufe der Jahre hatten Dutzende von Unternehmen versucht, Mercer fest einzustellen, doch der hatte die Offerten stets höflich abgelehnt. Er schätzte die Freiheit, Nein sagen zu können, wenn ihm danach war. Durch seine Unabhängigkeit hatte er den nötigen Spielraum, um nach seinen eigenen exzentrischen Vorstellungen leben zu können. Wenn ihm etwas nicht passte, konnte er jedem Firmenchef sagen, er könne ihn mal. Natürlich hatte er sich diese Freiheit hart erkämpfen müssen. Direkt nach seiner Promotion hatte er eine Stellung bei der United States Geological Survey angenommen. Zwei Jahre lang hatte er größtenteils Routineinspektionen in Minen durchgeführt, die wegen seismischer Analysen mit der USGS zusammenarbeiteten. Die Arbeit war langweilig, monoton und sinnlos, und Mercer hatte Angst, dass sein scharfer Intellekt in einer bürokratischen staatlichen Institution abstumpfen würde. Er kündigte. Der für seine Persönlichkeit charakteristische Unabhängigkeitsdrang ließ es nicht mehr zu, eine längerfristige feste Stellung anzutreten, und so beschloss er, sich selbstständig zu machen. Er selbst sah sich als Troubleshooter, der in schwierigen Situationen aushalf, doch für viele aus der Branche war er ein unerwünschter Eindringling. Sieben Monate lang führte er zahllose Telefonate mit ehemaligen Lehrern von der Pennsylvania State University und der Colorado School of Mines, und schließlich bekam er seinen ersten Beratervertrag. Für ein Schweizer Investorenkonsortium beurteilte er Berichte über eine Goldader in Alaska, und er verdiente in drei Monaten doppelt so viel wie bei der USGS in einem Jahr. Von da an stand seine Entscheidung endgültig fest. Der nächste Auftrag führte ihn zu einer Uranmine in Namibia. Innerhalb weniger Jahre gelang es ihm, sich einen Ruf aufzubauen, von dem er jetzt profitierte und der es ihm gestattete, jene hohen Honorare zu berechnen, an die er sich mittlerweile gewöhnt hatte. Ironischerweise hatte er nun aber doch wieder eine zeitlich befristete Stelle bei der USGS angenommen. Sein Beratervertrag sah die Zusammenarbeit und Abstimmung mit großen amerikanischen Minenunternehmen vor, damit die neuen Umweltgesetze des Präsidenten reibungslos umgesetzt werden konnten. Vielleicht würden sich auch einige ausländische Firmen an diese Richtlinien halten. In gewisser Hinsicht schloss sich damit der Kreis, doch nach zwei Monaten war er wieder ein freier Mann. »Du siehst ganz schön beschissen aus«, bemerkte Harry. Mercer blickte an seinem zerknitterten Hugo-Boss-Anzug hinab. Sein Hemd war verschwitzt, sein Kinn stoppelig. Er hatte sich zwei Tage nicht rasiert. »Wenn du zwanzig Stunden im Flugzeug gesessen hättest, würdest du kein bisschen besser aussehen. « Harry setzte sich auf den Rand des Sofas, griff nach einer fleischfarbenen Beinprothese und legte sie unterhalb des Knies mit einer Geschicklichkeit an, die man bei einem fast Achtzigjährigen nicht erwartet hätte. Dann zog er seine Hose über die Prothese und schlenderte lässig zur Bar, ohne auch nur ein bisschen zu humpeln. Mercer schenkte ihm einen Whisky ein. »Ich habe dir hundertmal dabei zugesehen, und es läuft mir immer noch kalt den Rücken hinunter.« »Dir fehlt der Respekt für ›Mitmenschen mit körperlichen Handicaps‹. Die Political Correctness schreibt heute vor, Behinderte so zu nennen.« »Wahrscheinlich hat dir ein eifersüchtiger Ehemann das Bein weggeschossen, weil er dich mit seiner Frau im Bett erwischt hat.« Die beiden Männer hatten sich am Abend jenes Tages kennengelernt, als Mercer in sein Haus eingezogen war. Bei Tiny's, der Bar an der Ecke, gehörte Harry zum Mobiliar. Mercer war dorthin gegangen, weil er keine Lust mehr hatte, Kartons mit dem Krempel auszupacken, der sich in zehn Jahren überall auf der Welt angesammelt hatte. Seit diesem Abend waren die beiden Männer gute Freunde. Das war jetzt fünf Jahre her, aber so betrunken Harry auch sein mochte, er hatte Mercer nie erzählt, auf welche Weise er sein Bein verloren hatte. Mercer respektierte es und fragte nicht weiter nach. »Du bist nur neidisch, dass dein Körper im Bett kein so gutes Gesprächsthema abgibt.« »Mir würde Behindertensex keinen Spaß machen.« Harry bat Mercer, sein Glas nachzufüllen. Hätte jemand dem Gespräch der nächsten Stunde zugehört, hätte er die beiden für erbitterte Feinde halten können. Es hagelte sarkastische Bemerkungen und bissige Kommentare. Die beiden Männer genossen diesen verbalen Schlagabtausch, oft sehr zur Erheiterung der anderen Gäste bei Tiny's. Kurz nach Mitternacht zwangen der Whisky und sein Alter Harry, sich wieder hinzulegen, und er schlief sofort ein. Trotz des Jetlags und des Biers wusste Mercer, dass er noch keinen Schlaf finden würde, und er begab sich in sein Büro. Das Büro war der einzige fertig eingerichtete Raum in dem Haus. Mit den Ledermöbeln und dem polierten Holz und Messing entsprach es vielleicht einem Klischee, doch er mochte es so. Die Drucke an den Wänden zeigten schwere Maschinen in Minen, Schleppleinen, riesige Dumper und hohe Bohrtürme. Jeder Druck enthielt den schriftlichen Dank eines Industriellen, dessen Unternehmen Mercer geholfen hatte. Auf einem Sideboard lag, diskret von unten beleuchtet, ein großer blauer Stein. Mercer strich liebevoll mit dem Finger darüber, als er zu seinem Schreibtisch ging. Vom Jan Smuts Airport in Johannesburg aus hatte er seine Sekretärin bei der USGS angerufen und sie gebeten, ihm all seine Memos und Briefe nach Hause zu faxen, weil er wusste, dass er nach einem Langstreckenflug nie Schlaf fand. Im Papierfach des Faxgeräts lagen mindestens fünfzig Seiten. Die meisten davon konnten ein paar Tage liegen bleiben, wirklich wichtig waren nur wenige. Er blätterte den Stapel schnell durch und hätte fast eine Nachricht des stellvertretenden Direktors der National Oceanographic and Atmospheric Administration übersehen. Es war eine vor sechs Tagen eingegangene Einladung, an Bord des NOAA-Schiffes Ocean Seeker an der Erforschung eines unbekannten geologischen Phänomens vor der Küste von Hawaii mitzuwirken. Der stellvertretende Direktor hatte sich an ihn gewandt, weil er vor zwei Jahren einen Aufsatz über die Nutzung der Geothermie als einer künftigen Energiequelle publiziert hatte. Er hatte von dem tragischen Untergang des Schiffes gehört. Es hatte keine Überlebenden gegeben. Diese Nachricht hatte es sogar in Südafrika in die Zeitungen geschafft. Doch nicht die Einladung war der Grund dafür, dass sein Herz plötzlich schneller schlug. Darunter stand eine Namensliste von Spezialisten, die ihre Teilnahme bereits zugesagt hatten. Der erste Name war jener der Meeresbiologin Dr. Tish Talbot. Er war ihr persönlich nie begegnet, doch ihr Vater war ein guter Freund, der ihm nach einem Flugzeugabsturz in Alaska das Leben gerettet hatte. Der Pilot war ums Leben gekommen, während er sich nur ein Bein, eine Hand und ein paar Rippen gebrochen hatte. Aber er hatte allein auf einem Geröllfeld gelegen. Jack Talbot, der auf den Ölfeldern in der Nähe von Prudhoe Bay arbeitete, hatte eine Woche Urlaub gehabt und in der Nähe der Absturzstelle gezeltet. Innerhalb von zehn Minuten war er bei Mercer gewesen und hatte sich um ihn gekümmert, bis es ihm gelungen war, mittels Leuchtspurmunition aus dem Flugzeugwrack einen Rettungshubschrauber zu alarmieren. In den Jahren danach hatten sich die beiden Männer eher selten gesehen, aber ihre Freundschaft hatte Bestand. Und nun war Jacks einzige Tochter gestorben, als Opfer eines entsetzlichen Unfalls. Mercer wusste, welchen Schmerz Jack empfinden musste. Er kannte diesen Schmerz, denn er hatte als Junge seine Eltern verloren. Aber Eltern gehen nicht davon aus, länger als ihre Kinder zu leben. Oft heißt es, das sei der größte Schmerz. Mercer schaltete die Schreibtischlampe aus und ließ Harry auf dem Sofa schlafen. Er wollte seinen Freund nicht um zwei Uhr morgens vor die Tür setzen. Er hatte immer noch keine Lust, ins Bett zu gehen, tat es aber trotzdem. Sein Schlaf war unruhig. Hawaii Jill Tzu trat auf die Bremse ihres Honda Prelude und hielt zwanzig Meter vor dem Tor von Takahiro Ohnishis Landsitz. Sie klappte den Rückspiegel herunter und trug eine dünne Schicht Lippenstift auf. Dann setzte sie ein professionelles Lächeln auf. Ihr Make-up war perfekt. Als Journalistin wusste sie, wie wichtig gutes Aussehen war. Sie verabscheute diesen Sexismus, war aber pragmatisch genug, um zu wissen, dass sie allein an den Gegebenheiten nichts ändern konnte.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167
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Autoren-Porträt von Jack Du Brul
Jack Du Brul hat bereits mehrere erfolgreiche Thriller veröffentlicht, teilweise in Zusammenarbeit mit Clive Cussler. "Brennende Wellen" ist der erste Band einer Reihe um den Geologen und Abendteurer Philipp Mercer. Jack Du Brul hat Internationale Politik an der George Washington University in Washington D. C. studiert und lebt heute mit seiner Frau in Vermont. Mehr über den Autor erfahren Sie unter www.jackdubrulbooks.com.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jack Du Brul
- 2013, 1, 368 Seiten, Taschenbuch
- ISBN-10: 3863653092
- ISBN-13: 9783863653095
- Erscheinungsdatum: 05.05.2017
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