Brüder und Schwestern
Roman
Willy Werchow ist Direktor einer großen SED-eigenen Druckerei in der thüringischen Provinz. Zähneknirschend fügt er sich den Vorgaben der Partei, geht mehr und mehr Kompromisse ein. Mit seiner Frau und den drei Kindern Britta, Erik und Matti gerät er in...
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Produktinformationen zu „Brüder und Schwestern “
Klappentext zu „Brüder und Schwestern “
Willy Werchow ist Direktor einer großen SED-eigenen Druckerei in der thüringischen Provinz. Zähneknirschend fügt er sich den Vorgaben der Partei, geht mehr und mehr Kompromisse ein. Mit seiner Frau und den drei Kindern Britta, Erik und Matti gerät er in einen Strudel von Konflikten. Ob durch die Zwänge des politischen Systems der DDR, ob durch persönliche Fehltritte - die Familie droht auseinanderzubrechen. "Brüder und Schwestern" ist ein großes deutsches Gesellschaftspanorama, das bis in den letzten Winkel voller Leben steckt. Die ungleichen Ängste, Hoffnungen und Träume der Werchows kulminieren in den Ereignissen von 1989. Doch ihre Geschichte ist damit noch lange nicht zu Ende.
Mit Lesebändchen
Lese-Probe zu „Brüder und Schwestern “
Brüder und Schwestern von Birk MeinhardtDie Trauerfeier
Rudolf Werchows Beerdigung, die einigermaßen turbulent enden sollte, begann ganz so, wie es üblich ist für eine Totenfeier in unseren Breiten, in voller Übereinstimmung mit den Gesetzen der Pietät, langsam, getragen, samtig, orglig.
Die Eisenstreben des hohen Friedhofstores verloren sich im Novembernebel, daneben die braungrüne Hecke franste ins Nichts. Obwohl kein Regen fiel, war es derart feucht, daß Rudis Sohn Willy, wenn er mit einer Hand durch sein Haar fuhr, sie anschließend so schüttelte, als müsse er einen Schwall lästiger Tropfen loswerden. Er zog ein angeekeltes Gesicht dabei, aber das war ohne Zweifel eine übertriebene Geste, eine der Ungeduld, er hatte einfach Mühe mit dem Warten.
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Übrigens war das Haar, das er durchpflügte, dunkelbraun, seidig glänzend, gewellt. Willy trug es ungescheitelt nach hinten gekämmt, so daß seine breite, von zwei waagerechten Falten durchzogene Stirn um so mehr zur Geltung kam. Nach unten hin wurde sein Gesicht schmaler. Es bildete ein V, wie auch Willys muskulöser Körper eins bildete, das war selbst jetzt, da er in einem langen Mantel steckte, der ihm bis an die Knie reichte, unverkennbar. Der Mantel spannte vor der Brust, aber nicht vor dem Bauch. Im Grunde hatte dieser kräftige und bei aller Kraft doch elegant wirkende Mittvierziger nur einen Schönheitsfehler, und das war sein zu klein geratener Mund. In die Öffnung mochte eine Pflaume hineinpassen, aber nichts Größeres. Tat nun der arme Kerl sein Mündlein auf, kamen ein paar fürchterlich schiefe, an den Rändern vergilbte Zähne zum Vorschein, die sich im erbitterten Kampf um den wenigen Platz schon früh heillos ineinander verhakt und verkeilt hatten. Dieser nicht mehr behebbare Makel war Willy alles andere als einerlei: Bei jedem herzhaften Lachen mußte seine Malaise ja auch für den Rest der Welt offenbar werden. Nur dadurch, daß sie der Welt offenbar wurde, entstand sie überhaupt erst so richtig! Willy wollte sie verbergen, darum hatte er sich im Laufe der Zeit angewöhnt, so wenig wie möglich zu lachen, jedenfalls nicht selbstvergessen, nicht mit weit aufgerissenem Mund. Ersatzweise lächelte er mit vorsichtig hochgezogener Oberlippe, und das verlieh ihm einen Ausdruck von Unentschlossenheit, ja Unsicherheit, er bekam dann etwas Hasenartiges, das überhaupt nicht zu seinem kernigen Wesen zu passen schien.
An Willys Arm hing, schlank und starr, seine Frau Ruth. Sie hatte ihr langes, schon ein wenig dünnes blondes Haar zu einem Knoten gebunden und mit einem breitkrempigen Hut bedeckt. Dazu trug sie einen schwarzen Schleier, wie süditalienische Witwen es tun. Ein in Schüben wehender Wind drückte ihr die feine Gaze auf die bleichen Wangen, was sie aber wohl nicht bemerkte. Mit großen unbeweglichen Augen stand sie da, mit den Augen eines Fisches in einem feingeknüpften Netz.
Beide schwiegen, jeder auf seine Art, und jeder auch ganz für sich, während die Kinder, die neben ihnen einen Halbkreis gebildet hatten, sich zuweilen ein paar Worte zuflüsterten; so wartete man auf das Erscheinen der ersten Trauergäste, die nun bald den Berg heraufkommen mußten.
Ungewöhnlich weit oben in der Landschaft war der Friedhof angelegt worden, am Ende eines ungepflasterten, geröllbedeckten Weges, warum eigentlich? Willy fragte sich das bloß, um die Zeit herumzubringen, nicht aus ernsthaftem Interesse. Weil die Gräber somit dem Himmel ein bißchen näher waren und der Hölle ein bißchen ferner? Von Krumen bedeckt, die Toten, doch auch von Winden umspielt? Im Schacht, und trotzdem über den Köpfen der Lebenden? Oder weil schon die Gerber, die sich einst als erste unten an der Schorba niedergelassen und diese ebenso schnell nutzen wie fürchten gelernt hatten, fünf Meter breit nur, ihr Flüßchen, aber wehe, wenn es über die Ufer trat, weil sie also weise und fürsorglich einen Platz ausgesucht hatten, der niemals überschwemmt werden konnte? Brav, ihr Gerber, formulierte Willy im stillen. Aber nachdem ihm bewußt geworden war, daß in seinem Loben etwas Närrisches lag, lachte er kurz auf.
Ruth warf ihm einen mißbilligenden Blick zu, ein schon empörter Blick war das, wie Willy durch ihren Schleier erkennen konnte.
Beide schauten pikiert ins Tal, von wo das Rauschen der Kleinstadt ertönte, jenes gleichförmige Summen, zu dem sich, wenn man nur weit genug weg steht, die Tausenden einzelnen Geräusche jeder Siedlung verklumpen: unrhythmisches Kirchturmläuten, zögerndes Treppen- knarren, eine schallende Ohrfeige, ein Motorheulen, das Gepolter eines zusammenfallenden Holzstapels, Papierknüllen, das Reißen eines Strumpfbandes, Besteckklappern, Fahrradklingeln, Altfrauengemurmel.
Willy fröstelte jetzt langsam. Unter anderen Umständen wäre er vielleicht gehüpft, so aber scharrte er mit seinen Füßen auf dem drekkigen Teppich brauner Nadeln, die ein Sturm von den nahebei stehenden Lärchen geweht hatte, wie verschüttete rostige Haarklammern lagen sie herum.
Derweil drang von unten, vom Wege, das unregelmäßige Klacken und Rasseln aufspringender und rollender Steine herauf. War demnach jemand im Anmarsch, sein in Bayern lebender Bruder Bernhard vielleicht? Das wurde auch Zeit, daß der nun eintrudelte und sich neben sie stellte zur Begrüßung all ihrer Gäste, der war wirklich längst überfällig.
Es tauchten zuerst Köpfe auf, dann Oberkörper, dann Rümpfe und Beine, wie in einem kleinen Puppentheater, wo der allmächtige Spieler seine Figuren nach und nach zum Vorschein bringt. Aber kein Bernhard zeigte sich, dies waren Achim Felgentreu, seine Mutter Clara und sein Sohn Jonas.
»Waas?« entfuhr es Matti, der mit Jonas so befreundet war wie einst, und noch immer, Willy und Achim; als ob die Väter ihnen neben diesem und jenem, als honorige Zugabe, auch ihre Freundschaft vererbt hätten.
Sein Ausruf der Anerkennung galt Jonasens Großmutter. Vor ein paar Jahren schon war sie infolge einer schweren Diabetes erblindet, in letzter Zeit aber hatte sie sich, wie Matti wußte, auch kaum noch fortbewegen können. Und trotzdem hatte sie sich hier heraufgeschleppt! Vor den Werchows angelangt, reckte sie, schwer atmend, das Kinn. Ihre Pupillen irrten umher wie zwei da und dort an die Bande schlagende Billardkugeln. Willy war es dann, der sie erlöste, indem er an sie herantrat und ihr mit belegter Stimme zuflüsterte: »Das ist so großartig, ich weiß gar nicht, wie ich dir ...«
Sie hob schwerfällig den Arm und tatschte mit ihrer braunfleckigen Hand die Luft wie eine Bärin, die ein paar aufdringliche Fliegen zu verscheuchen versucht. Sie tatschte noch einmal, fand endlich Willys Wange, fuhr mit einer Zärtlichkeit, die weiß, daß nichts mehr auf sie folgt, dort entlang, bis sie mit ihren Fingerspitzen das kalte Gallert seines Ohrläppchens erreichte. Dann ließ sie die Hand wieder sinken und trippelte vorsichtig zwei, drei Schritte zurück.
Achim dagegen machte einen großen Schritt nach vorn, zu Willy hin. Einer klopfte dem anderen auf die Oberarme, und das wirkte doch recht seltsam, denn die Unterschiede in ihrem Äußeren waren nun noch stärker ausgeprägt als früher: Hier der kräftige, sportliche Willy - und da der schmächtige, windschiefe Achim, spacke Arme hatte der und ein schmales Gesicht, das von schnurgerade hängenden Haaren gerahmt war, von dünnen Gardinen, die zu flattern begannen, sobald ein Lüftchen ging.
Aber keine Zeit für Willy, sich Achim länger zu widmen, denn nun ging es Schlag auf Schlag; Marieluise Wehle und ihre Tochter Catherine kamen heran und wollten auch begrüßt werden.
Sie war Ruths beste Freundin, Marieluise, und sie hatte Ruth auch schon in den Arm genommen. So blieb sie stehen, lange, sie schien Willy gar nicht zu bemerken, da raunte er von der Seite: »Hallo Em-El.«
Sie hob kurz die Augenbrauen, und Willy fiel ein, Marieluise mochte diese Anrede nicht, sie fühlte sich durch sie immer veralbert.
Er dagegen, der das Em-El vor einer halben Ewigkeit in bierseliger Stimmung erfunden hatte, war stolz auf die dreifache Bedeutung, die darin steckte, und nicht minder auf die Ironie, die, wie er meinte, daraus quoll. »Em und El«, hatte er Marieluise damals mit schon schwerer Zunge erläutert, »das sinn erstnnss die Anfanggssbuchstaam deinner eigntlch zwei Vornaaamm. Zweihtnnss«, er kicherte, »issess die Abkürzunng vn Marxsmuhs-Leniensmuhs. Uun drittnns«, er schaute sie so schelmisch an, wie es ihm in diesem Moment noch möglich war, »klinktss irgnntwieh ähgyyptsch, finssduu nich?«
Nein wirklich, hatte Marieluise gestöhnt, das sei so primitiv, daß sie gar nicht darauf antworten werde. Alkohol hin oder her, sie fand, Willy mache ihre Liebe zu Aziz, ihrem ägyptischen Mann, lächerlich, und das wollte sie nicht zulassen, denn diese Liebe, die war doch eine große Geschichte! Und hatte diese große Geschichte nicht sogar bei Willy begonnen?
Zu Hause bei den Werchows, da saß nämlich auf einmal dieser Aziz, der von seinen Leuten nach Gerberstedt geschickt worden war, damit er im großen Druckbetrieb »Aufbruch« ein halbes Jahr mit dem Produktionsdirektor mitlief, auf allen Wegen begleiten sollte er Willy, und danach sollte er die moderne Druckerei leiten, die von der DDR am Nil hochgezogen wurde.
Sie verliebte sich im Nu, denn Aziz war sicher und sanft zugleich, nicht nur eines von beiden wie all die anderen, die ihr, der jungen Ärztin, bis dahin den Hof gemacht hatten, und außerdem hatten die auch nicht solche Haut gehabt wie Aziz, so was schimmernd Dunkles, über das Marieluise, ganz entgegen ihrer zurückhaltenden und kritischen Natur, bei der erstbesten Gelegenheit mit Fingern und Zunge fuhr, wohltuend warme und glatte Bronze war das, die sie schon am ersten Abend, wahrlich am allerersten, wer hätte das gedacht von dieser Marieluise, verzückt in sich hineinfließen ließ, durch die Mitte nach überallhin.
Sie heirateten und gingen nach Kairo. Wo das Märchen endete? Einerseits ja. Marieluise, die praktizieren wollte, wartete endlos auf behördliche Genehmigungen, so lange, bis sie an Absicht glaubte, an stumme Verweigerung einer entgegen den offiziellen Verlautbarungen noch patriarchalischen Gesellschaft, und sie nach Gerberstedt zurückkehrte. Andererseits endete das Märchen aber auch nicht, denn die beiden ließen sich keineswegs scheiden, und Aziz blieb auch genau so, wie er gewesen war, sicher, sanft und bronzefarben. Zweimal im Jahr, im Sommer und zu Weihnachten, besuchte er Marieluise, und stets führte er wertvolle Geschenke mit sich, als da waren Gold, Südfrüchte, bemaltes Papyrus, aber das größte Geschenk, das allergrößte, das er ihr jemals gemacht hatte, war natürlich das Kind, von dunklem Schimmer wie er selber, nach Marieluises Berechnungen gezeugt am Ufer der leise rauschenden Schorba, auf deren Grund sie seitdem, wenn die Sonne im richtigen Winkel stand, statt Steinen, rostigen Henkeln und Fahrrad- klingeln fürwahr goldene Helme, Löffel, Schalen, Armreifen und Colliers aus dem Tal der Könige blinken sah; Ramses, Thutmosis und Aziz höchstselbst wachten über sie, die also gar nicht so allein war, wie Willy in seiner Einfalt glaubte, in der grauenhaften Selbstsicherheit desjenigen, der nicht weiß und nie wissen wird.
Sie drückte ihm distanziert die Hand und sprach ihm in förmlichen Worten ihr Beileid aus. Währenddessen kamen von unten weitere Gäste herauf, langsam und gebeugt die meisten, mit Baumrindengesichtern, es waren die Nachbarn aus der kleinen Siedlung, in der das Haus der Werchows stand, Willy kannte sie alle. Ihnen folgte ein Trupp ebenso alter, doch sich gerade haltender Männer und Frauen, denen er noch nicht begegnet war. Es konnte sich aber nur um Rudis Wanderfreunde handeln, das sah er an den Stöcken in ihrer Hand, die über und über mit bunten Stocknägeln bepflastert waren.
Es wimmelte nun schon vor schwarzgekleideten Gestalten; bloß ein abseits stehender Mann sorgte für einen Farbtupfer, Heiner Jagielka, Rudis letzter Nachbar. Er trug eine blau-rot karierte Baumwolljacke und eine blaue Cordhose, die an den Knien glattgescheuert war wie polierter Speckstein. Arbeitsklamotten waren das, eindeutig, da wollte er bestimmt was zeigen damit, da wollte er garantiert ausdrücken, er sei schwer beschäftigt und müsse gleich weiterrackern nach der Zeremonie. Willy erschien das seltsam, denn Heiner Jagielka, Gärtner in Diensten der Stadt, hatte zwar die Blumenrabatten Gerberstedts zu pflegen, aber das waren ja wohl nicht viele. Wenn man's genau bedachte, waren das jetzt im November gar keine Rabatten, nur lumpige, klumpige Erde war's.
Aber dort steht doch ...! Hinter dem etwas dubiosen Jagielka meinte Willy plötzlich jemanden entdeckt zu haben, den er niemals hier erwartet hatte. Täuschte er sich auch nicht? Er trat einen Schritt zur Seite, um sich zu vergewissern. Und tatsächlich, vielleicht zehn Meter entfernt ließ Herbert Rabe sein Eulengesicht blicken, rund und schwer, mit Augen, die von großen dunklen Kreisen umschlossen waren, minutenlang konnten diese Augen stillstehen - um dann mit einem Ruck jemanden gnadenlos zu fixieren. Willy stürzte zu Ruth, vergessend, daß sie ganz versunken war in ihrer Trauer: »Rabe ist hier, stell dir vor! Daß er es wagt ...!«
Ruth machte eine langsame, grazile Bewegung, bei deren Anblick jeder, der es nicht sowieso wußte, eine Ahnung davon bekam, wie anmutig sie sein konnte. Sie drehte sich, bis sie Rabe im Blick hatte. Ihr schmaler Körper erbebte und drängte nach vorn. Aber gleich erstarrte sie wieder. Kein mühsames Ansichhalten war das, vielmehr ein sofortiges Verpuffen der Bewegung wie bei einem dilettantisch in Schwung gebrachten Kreisel. Rabe indes nutzte die Sekunde des Blickkontakts, um Willy und Ruth verschwörerisch zuzublinzeln. Nun sogar auf sie zuzugehen. Förmlich verneigte er sich vor ihnen. »Genossin Werchow«, er drehte den Kopf zu Ruth, »Genosse Werchow«, Kopf zu Willy, »ich möchte euch mein tief empfundenes Beileid aussprechen, persönlich, als Betroffener sozusagen, denn mich hat, wie ihr sicher wißt, einiges mit eurem Vater verbunden.«
Ruth sagte leise, aber doch entschieden: »Ich bin keine Genossin, Herr Rabe.«
Ein breites Lächeln zauberte Rabe da auf sein Gesicht. Man hätte es herzlich nennen können, wenn seine Augen Ruth nicht so starr ins Visier genommen hätten: »O ja, Verzeihung, ich vergaß das. Aber«, er machte eine kleine Pause, »Sie nehmen mir meinen Fehler doch nicht übel, Frau Werchow?«
Ruth senkte den Blick.
Willy nickte Rabe fast beflissen zu, jawohl, das tat er. Ruth sah es nicht direkt, mußte es aber dem verräterischen Schwingen seines Oberkörpers entnehmen, in dem sich das Nicken fortsetzte. Sie schloß die Augen; und eine Sekunde später war Willy selber peinlich berührt. Wie kannst du nur? Wie kannst du dich nur mit Rabe einverstanden erklären? Eine weitere Sekunde darauf beruhigte er sich mit dem Gedanken, das sei schon recht so, denn was nützte es, wenn er hier Krawall schlug, man mußte die Situation berücksichtigen, und die Situation war nun einmal die, daß eine Trauerfeier bevorstand und Ärger zu vermeiden war, im Sinne Rudis, der ein schönes und harmonisches Begräbnis unbedingt verdient hatte.
Und nun erschien auch die Friedhofsmitarbeiterin, eine dickliche Frau in einem langen glockenförmigen Rock. Die Gäste nahmen langsam ihre Kränze auf und formierten sich wortlos zu einem Zug, vorn Willy und Ruth, dann die Kinder, dann die Felgentreus und die Wehles, dahinter die properen sowie die wackligen Alten, und am Schluß Jagielka und Rabe, dieses ausgesprochen ungleiche Paar; ein gerader, von löchrigen Laublappen bedeckter Weg tat sich vor ihnen auf, schwarze, dampfende Baumgerippe, wie verkohlt und abgelöscht, standen Spalier. Die dickliche Frau schritt so starr und gemessen zwischen denen hindurch, daß unter ihrem Glockenrock keinerlei Bewegung erkennbar war, kein Fußsetzen, wie eine Halmafigur schob sie sich voran, der Kapelle entgegen.
Willy wandte sich, bevor er die Kapelle betrat, noch einmal um, reckte den Hals und überblickte die vielleicht 30 Gäste und den Weg bin zum Friedhofseingang hin. Aber nichts, sein Bruder Bernhard kam ihnen auch nicht in letzter Minute nachgelaufen.
*
Der Trauerredner war ein mittelgroßer, mittelschwerer Mann mit mittelblonden Haaren, dessen Konturen den Anwesenden nicht erst Stunden oder Tage später, in der Erinnerung, verschwammen, sondern jetzt schon, noch während sie ihn ansahen. Einzig ein rubinroter Siegelring, den der Nichtgesichtige am kleinen Finger seiner linken Hand trug, ließ aufmerken: Barg also selbst dieser Mensch irgendein Geheimnis, oder zumindest eine Sehnsucht.
»Liebe Söhne Willy und Bernhard«, hob er an, nicht wissend, daß Bernhard fehlte, »liebe Schwiegertochter Ruth, liebe Enkel Erik, Matti und Britta, verehrte Trauergäste, Rudolf Werchow ist tot. Wir sind fassungslos in unserem Schmerz. Und einige von uns, jene, die Rudolf, oder Rudi, wie sie ihn liebevoll nannten, besonders nahestanden, werden den Schmerz vielleicht noch lange spüren. Doch wie schon ein Sprichwort sagt: Der Tod ist nicht schlimm zu achten, dem ein gutes Leben vorangegangen. Und Rudolf Werchow, das kann man mit Fug und Recht behaupten, hat ein gutes, ein erfülltes Leben geführt. Hineingeboren in finstere Zeiten, hat er der Finsternis in seiner Nähe keinen Raum geboten ...«
Hat er doch, widersprach Willy bei sich, sogar in regelmäßigen Abständen, ich hab's doch erfahren. Feste hat er mich verwamst, wie ein Kotelett hat er mich geklopft, und ohne erkennbaren Anlaß, reineweg nach dem Kalender, alle drei bis vier Wochen; denn mag er noch so fortschrittlich gewesen sein in seinem ganzen Denken und Handeln, was ein festes Kotelett ist, das muß bearbeitet werden, so hatte er's einst gelernt. Willy sah sich noch einmal als Junge in der Küche stehen, sah vor sich den beigefarbenen Tisch mit der eingelassenen dunklen Linoleumplatte. Mit entblößtem Hintern hatte er an den heranzutreten, ganz nahe, so daß sein Glied an den runden Holzgriff der Besteckschublade schlug, eine angenehme Berührung eigentlich, die ihn dennoch ekelte, wegen der Spuren von Margarine, Kartoffelschalen, faulem Obst, wegen all der Rückstände, die seine Mutter mit ihren klebrigen Hausfrauenhänden an dem Knauf schon hinterlassen hatte.
Er mußte sich auf die Platte stützen und die mit hornhautüberzogener Hand geführten Hiebe Rudis empfangen und außerdem, wie zur Garnierung, noch kurze Schmitzer mit den Kuppen von Zeige- und Mittelfinger. Doch was heißt außerdem - da die Kuppen stahlhart waren, schmerzten ihn gerade diese Wischer am meisten, nicht nur am Körper, auch in der Seele, denn gemein waren sie, gemein gerade wegen ihrer scheinbaren Flüchtigkeit.
»... wenn wir heute zurückblicken«, fuhr der Redner fort, mit der Hand vage nach hinten weisend, wo nichts war außer einer dunkelgelben Wand, »so sehen wir aber nicht nur einen Mann, der unbeirrt seinen Weg ging. Vielmehr trat er auch für andere ein. Besonders für die Schwachen, die Mutlosen. Auch für ihre bessere Zukunft kämpfte er. Nein, Rudolf Werchow gehörte wahrlich nicht zu denen, die jene früheren Zustände hinzunehmen gewillt waren. Und genausowenig gehörte er zu denen, die nicht erkannten, daß man Bündnisse schmieden muß, um diese Zustände zu ändern. Vorbildhaft sprang er über seinen Schatten. Ungeachtet früherer Meinungsverschiedenheiten, die durchaus auch einmal handgreiflicher Natur sein konnten, setzte er hier bei uns in Gerberstedt die Einheit der Arbeiterbewegung in die Tat um. Und dies in einer unheilvollen Zeit, in der Zeit des Hitlerfaschismus ...«
Handgreiflichkeiten? wiederholte im stillen Clara Felgentreu, man höre nur, Handgreiflichkeiten, na, jetzt konnte sie schmunzeln über diese Beschönigung, die das doch war; aber damals hatte sie nicht selten aufschreien müssen, damals war sie zum grashüpfergrünen Apothekerschrank gerannt, wenn ihr Mann Franz und Rudi ins Gerberhaus gewankt kamen, blutüberstömt, manchmal einer den anderen schleifend wie einen großen Kartoffelsack, und zwar ins Gerberhaus, immer ins Gerberhaus, weil das nahe beim Sportplatz stand, wo sich, es hatte was Rituelles, ihrer beider Trupp, der sozialdemokratische, traf, dem zwei weitere Trupps gegenüberstanden, der kommunistische und der nationalsozialistische, freilich nie gemeinsam, immer nur einzeln, denn auch diese beiden Bataillone hieben kräftig aufeinander ein, in dem einen war Herbert Rabe die bestimmende Figur, und in dem anderen? versuchte Clara sich zu erinnern, welchen Namen hatten Franz und Willy denn immer genannt oder gestöhnt, gestöhnt? Auf jeden Fall der Metzger war's, der massigste Mann im großen weiten Gau, bloß wie hieß er denn nun gleich, Gebauer? Krakauer? Schildhauer? Schildhauer!
»... wir Heutigen aber, wir können uns wohl gar nicht mehr vorstellen, wie gefährlich das war. Wieviel Mut es erforderte, den Schlächtern die Stirn zu bieten. Über drei Jahre war der Sozialdemokrat Werchow einer derjenigen, die den von der Gestapo gesuchten Kommunisten Markus Roser, jenen Roser, nach dem heute unsere Erweiterte Oberschule benannt ist, versteckten. Er richtete dazu eine kleine Kammer unter der Dachschräge seines Hauses her. Selbst seine Söhne«, der Redner hob den Blick und tat, als suchte er Willy und Bernhard, »haben dazumal nicht davon gewußt. Und nichts beschreibt Rudolf Werchow besser als die Tatsache, daß er danach kein Aufhebens um seine Heldentat machte. Ja, liebe Trauergemeinde, nennen wir das Kind ruhig beim Namen, es war eine Heldentat. Aber Rudolf Werchow brüstete sich ihrer nicht. Denn seine herausragendste Eigenschaft neben Mut und Tatkraft war seine unbedingte Bescheidenheit. Nie wäre ein großes Wort über seine Lippen gekommen, nie eine Phrase ...«
Herbert Rabe, langgedienter Erster Gebietssekretär der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, horchte auf: Phrase? Hatte das Bürschchen da vorn eben Phrase gesagt? Und wenn er es gesagt hatte, dann doch wohl, weil er durch die Blume zum Ausdruck bringen wollte, daß andere diese Phrasen dreschen, wir, uns meint er, das mittlerweile übliche, hinterhältige, widerwärtige Zwischen-den-Zeilen-Getue. Und was soll das überhaupt mit Rudis Bescheidenheit? Was weiß denn dieser Redner? Nichts weiß er, unbedingte Bescheidenheit, daß ich nicht lache, die hat Rudi doch nur herausgekehrt, als er nicht mehr hat mitmachen wollen, geradezu kultiviert hat er seine Bescheidenheit, weil sie nämlich perfekt zu seinem Rückzug gepaßt hat. So ist das heute - es muß sich einer nur zurückziehen wie ein verstocktes Kind, schon gilt er als Märtyrer. Dieser Rudi kriegt doch seine letzten Taschen derart mit Lob gefüllt, daß er gleich durch den Sargboden bricht!
»... Mensch sein, menschlich sein: Jeder der hier und heute Versammelten hat das an Rudolf Werchow erfahren. Jeder hat seine unvergeßlichen, zu Herzen gehenden Erlebnisse mit ihm gehabt. Und doch möchte ich an dieser Stelle seine Schwiegertochter hervorheben. Sie, Ruth«, der Redner warf ihr einen mitleidigen Blick zu, »sind mit dem nun Verstorbenen besonders eng verbunden gewesen. Und er mit Ihnen, das darf ich wohl sagen, da bin ich mir der Zustimmung der anderen Angehörigen gewiß. Denn Ihnen, Ruth, hat er, ohne dazu verpflichtet gewesen zu sein, ein Heim gegeben. Eine Zukunft. Ein Leben in Würde. Ich merke«, der Vortragende schluckte zwei-, dreimal gekonnt, »daß ich an dieser Stelle ins Stocken gerate, denn ich stelle mir vor, wie es Ihnen damals ergangen sein muß. Sie waren mutterseelenallein. Sie hatten Ihre Liebsten verloren ...«
Ruth vernahm dies mit wächsernem Gesicht, verknoteten Händen und zusammengepreßten Knien. Rudi hatte vor ihr, der abseits des Trecks Sitzenden, verharrt, und sie hatte völlig stumpf durch ihn hindurchgeblickt; das wußte sie, aber sie wußte es nur von ihm. Viel später nämlich hatte er ihr berichtet, er sei im Heimgehen von seiner kriegswichtigen Arbeit einzig und allein deshalb stehengeblieben, um diesen Blick zu durchbrechen, um in ihren Augen irgendeine Reaktion hervorzurufen; und als aber keine erfolgte, habe er sie angesprochen, denn sie mußte sich doch zu einer Bewegung verleiten lassen, zu einem Zukken der Lider wenigstens, zu irgendwas.
Sie hatte später auch nicht mehr gewußt, was er gesagt hatte, also gab er es ihr wieder, das ganze Gespräch, das keines gewesen war: »Wie heißt du denn?« - Nicht eine Regung. - »Wo bist du her?« - Nichts. - »Bist du allein hier?« - Wieder nichts. - »Wenn du allein bist, kannst du mit mir kommen, hörst du.«
»Das ist mir eigentlich nur so herausgerutscht«, erklärte er ihr, »ich habe einfach noch etwas sagen wollen, denn wenn ich nichts mehr gesagt hätte, wärst du doch weiter wie erstarrt sitzen geblieben.« - »Und danach bin ich tatsächlich mit dir gegangen?« - »Nein, aber du hast mich endlich angesehen.« - »Wie habe ich dich angesehen?« - »Müde. Und gleichzeitig so fragend, was das soll und wie ich das meine, daß ich zu stammeln begonnen habe, meine Frau, die könnte dir was zu essen machen, und wir haben auch zwei Söhne, aber einer, also der Ältere wurde eingezogen, da ist gerade ein Zimmer frei.« - »Und das hat mich überzeugt?« - »Was heißt überzeugt. Meiner Meinung nach hat den Ausschlag gegeben, daß ich linkisch geredet habe. Das war in deinen Augen vielleicht der Ausweis guten Willens. Alles echt, alles sauber, hat dein Instinkt gesagt. Du hast dich dann von mir sogar am Handgelenk fassen und fortziehen lassen, ja, so hat es begonnen mit uns beiden.«
»... Rudolf Werchow«, der Redner schaute noch einmal zu Ruth, diesmal aber ein wenig verschmitzt, »hat Sie auch später niemals enttäuscht. Er hat Sie sogar mehr als einmal zum Lächeln gebracht, denn er besaß einen untergründigen Humor, mit dem er das Schwere leichter erscheinen lassen konnte. Wie gern - ich darf einmal aus dem Nähkästchen plaudern - hat er zum Beispiel gestöhnt, ach Mädel, wo hammer dich bloß aufgegabelt ...«
Ruth kam das steinerne, unter der Regenrinne stehende Bassin in den Sinn. Er habe es mit Quark gemauert, hatte Rudi ihr beiläufig erklärt, und sie hatte gefragt: »Mit Quark?« Einen Moment glaubte sie ihm. - »Nu, 's gab kein Mörtel zur damalchen Zeit, aber Quark, da mußtmer den nehm.« - Wie er das so sagte, glaubte sie ihm noch ein bißchen mehr, sie fragte: »Und das hat so lange gehalten?« - Da schüttelte er endlich den Kopf und sagte seinen Spruch auf: »Ach Mädel, wo hammer dich ...«
Jetzt, da sie sich an jene Episode erinnerte, begann ihr Atem unstet und hechelnd zu gehen, sie klang, als stecke sie unter einer Sauerstoffmaske; für die um sie Sitzenden, und vor allem für Willy, war das nicht zu überhören. Und er verstand ihren Gram, wenigstens in gewisser Weise, er dachte, das ist alles wahr, was hier gerade gesagt wurde, ohne jeden Eigennutz hat Rudi sich Ruths angenommen, auch später noch, immer hat er sie verteidigt, und immer war er äußerst nachsichtig, wenn sie sich zurückzog und nicht reden mochte. Willy erinnerte sich nun, wie er selber sich abgemüht hatte, Ruth, mit der er zusammengewesen war und doch auch wieder nicht, das erste Mal ins Bett zu kriegen, wie lange hatte es gedauert, zweieinhalb Jahre, drei? Viel zu lange auf jeden Fall, bei anderen Weibern, die er davor oder dazwischen gehabt hatte, ging es doch auch im Handumdrehen, nur Ruth hat sich immer entzogen, und er argwöhnte, das wäre in Kleinmädchenhaftigkeit, Schüchternheit, Schreckhaftigkeit gekleidete Berechnung, huch und ach und bitte nicht jetzt und bitte nicht so schnell, das kennt man doch, ein Köder der Weiber, damit man erst recht nach ihnen schnappt. Irgendwann wurde er ärgerlich, sehr ärgerlich, aber Rudi, der sonst nicht so viel gemerkt hat bei ihm, hat es ihm angesehen und hat ihn besänftigt, nur ruhig, Geduld, das wird schon noch bei der Ruth, weißt doch, was sie alles durchgemacht hat, sei geduldig mit ihr, Junge.
»... und ist nach dem grauenvollen Krieg konsequent auf seinem Weg weitergegangen. Rudolf Werchow hat gemeinsam mit seinem alten Kampfgefährten Herbert Rabe die Vereinigung der beiden Arbeiterparteien vollzogen. Ein Jahr war er paritätischer Erster Sekretär der SED-Gebietsleitung. Dann, als er gewiß sein konnte, daß sein Werk in guten Händen lag, kehrte er in seinen alten Beruf des Feinmechanikers zurück ...«
Willys Kieferknochen begannen zu mahlen. Jeder weiß doch, es ist ganz anders gewesen. Von Rabe gnadenlos beiseite gedrängt worden ist Rudi, einen Arschtritt hat er verpaßt bekommen von dem und von dessen Hintermännern, und warum? Weil er dieses eher lustige Geschichtchen über Ulbricht und die Eier herausgefunden hatte? Nur der billige Anlaß war das doch, ihn abzusetzen, bloß auf so was gewartet wurde doch damals. Hat also Rabe dem Redner hier, dieser armselige Redner muß informationshalber auch bei Rabe gewesen sein, seine Version erzählt, seine Verdrehung, seine Lüge.
»... und wie gern übte er diesen Beruf aus. Rudolf Werchow, und das, liebe Trauergemeinde, ist beileibe keine Floskel, liebte es, ein Werkstück unter seinen Augen wachsen zu sehen. So nimmt es nicht wunder, daß er dreimal als Aktivist der sozialistischen Arbeit ausgezeichnet wurde. Daß er, obwohl wahrlich nicht begütert, ein Haus baute, welches, wie wir alle wissen, noch heute Wind und Wetter trotzt. Daß er einen Garten anlegte und daraus im Laufe der Zeit ein Kleinod machte. Mancher in Gerberstedt blieb stehen, um es zu betrachten und zu bestaunen ...«
Marieluise blickte ein bißchen verträumt, denn sie sah Catherine, ihre damals noch winzige Catherine an einem Frühsommertag mit angewinkelten Ärmchen und Beinchen auf einer Baumwolldecke im Schatten des großen Kirschbaums schlafen. Zuweilen fiel eine Blüte auf das Baby, ohne daß es irgendwie reagierte, nein, nichtmal das leiseste Zucken ging über sein Gesichtchen. Und sie, Marieluise, unterließ es, etwas zu tun. Sie konnte schon darauf warten, daß ein warmer, vom Fluß wehender Wind die Blüte irgendwann vom Kind auf die Decke oder weiter weg pusten würde, und geschah das, dann nickte sie, ihr war, als verfolge sie die vorsichtige, zufriedenstellende Arbeit eines Freundes. Und waren das nicht überhaupt schöne und außergewöhnliche Stunden gewesen? Ruth hatte Geburtstag gehabt und einen kugelrunden Bauch, im Laufe des Tages würden die Wehen einsetzen, hatte sie prophezeit, nach den Geburten der Jungs kenne sie doch schon die Regungen in ihrem Leib, ja, ganz achtsam ließ sie sich neben Catherine auf der Decke nieder. Da erschien Rudi im Garten, mit einem weißen Leinenbeutel, in dem sich die Konturen eines rechteckigen Gegenstandes abzeichneten, seines Geschenkes wahrscheinlich. Nur holte er es nicht heraus. Ein paar Sekunden schaute er sich im Garten um, als sehe er den zum ersten Mal, als habe der bis vor kurzem nicht ihm selber gehört. Rudis Blick huschte über den Gehweg, den er mit unregelmäßig geschnittenen Granitplatten ausgelegt und zu beiden Seiten mit Blumenrabatten gesäumt hatte. Er blinzelte in Richtung der breiten, von ihm gepflanzten Haselstrauchhecke, deren Blätter in der Maisonne silbrig glänzten. Wollte er sehen, ob noch alles in Ordnung war, oder wollte er ein bißchen Spannung erzeugen bei Ruth? Er wischte sich über seine leicht tränenden Augen und wandte sich dem beruhigend dunklen Bassin im Schatten des Hauses zu. Er tunkte seine Hände hinein und befeuchtete mit ihnen seine Augen. Dann nahm er endlich den Gegenstand aus seinem Beutel. Es war eine Geldbörse aus dem Lederwarengeschäft gegenüber seiner kleinen Wohnung, in der er lebte, seitdem er das Haus am Fluß Willy, Ruth und den Jungs überlassen hatte. Ruth öffnete die Börse und fand einen Glückspfennig darin, sie war aufgestanden anläßlich der Geschenkübergabe, und Marieluise sah noch einmal ganz plastisch, wie sie sich erst vorsichtig zu Rudi beugte, um ihm einen Kuß auf die stoppelige Wange zu drücken, und ihn dann doch mit beiden Armen umschlang und ihn mit ihrem Bauch rückwärts ins Stolpern brachte.
»... und welche Freude«, ein seliges Lächeln umspielte die Lippen des Redners, »war es dann für ihn, daß seine Schwiegertochter drei gesunden Enkeln das Leben schenkte. Ihnen, Erik, Matti und Britta, brachte er seine besondere Zuneigung und Fürsorge entgegen. Besonders für Sie fand er immer Zeit. Wie gern nahm er Sie zum Beispiel mit auf seine Wanderungen. Damals mag es Ihnen, liebe Enkel, nicht immer Freude bereitet haben, von Ihrem Großvater in aller Herrgottsfrühe aus den Federn gescheucht zu werden, ja, man berichtet, Sie hätten nicht selten hinter seinem Rücken geflucht. Aber heute«, er blickte zu ihnen, »und ich darf Ihr Schmunzeln als Bestätigung nehmen, heute schon denken Sie bestimmt mit Wärme und Dankbarkeit an diese Momente zurück. Und wie viel mehr haben Sie ihm noch zu verdanken.
Wie viel mehr hat er Ihnen beigebracht. Wir alle blicken zurück und sehen ihn, wie er Erik, Matti und Britta die verschiedenen Apfelsorten in seinem Garten erklärt. Wie er mit ihnen Blumenzwiebeln in den Boden einbringt. Wie er, der Unermüdliche, mit ihnen einen Zaun setzt. Oder auch, wie er mit ihnen hinunter zum Fluß geht und dort ...«
... einen Staudamm baut, setzte Matti in Gedanken fort, erst Pfähle, senkrecht und dicht bei dicht wie Milchflaschen im Konsumregal, da darf nichts durchpfeifen, Kinder, da darf nichts zwischenpassen, dann an jeder Seite ineinandergebogenes Reisigzeug vorlegen, mit Draht, mit dem hier, so, so wird das gemacht, befestigen, und schon, da seht ihr, fängt unser Wasser an, sich zu stauen und sich einen Weg aus seinem Bett herauszusuchen, ganz Gerberstedt würde nasse Füße kriegen, wenn wir das jetzt so lassen würden, wollen wir's so lassen? Wollen wir Gerberstedt mal richtig überschwemmen? Ja! ja! ja! schrien sie, und für ein paar Minuten schien es ihnen, als wolle ihr Großvater tatsächlich das Städtchen fluten. Immer weiter schwappte die Schorba auf die Wiesen, Silbergrau legte sich über Grün, mit dem Wasser nach oben getriebene Schlammklümpchen rochen wie rostiges Metall, und Rudi, Rudi schnüffelte und schaute diebisch vergnügt. Seine Enkel indes begannen langsam, sich zu wundern. Zunehmend stiller betrachteten sie einmal den Fluß, einmal den Großvater, das Wasser stieg, er schwieg. Die Ahnung einer Katastrophe überkam sie, aber ihr Respekt vor dem Alten war groß, so warteten sie ab. Er würde schon etwas tun, würde ihnen, wenn es wirklich not tat, ein Signal geben. Und jetzt, da das Wasser die Wiesen und Wege links und rechts der Schorba regelrecht zu überfluten drohte, gab er es: Na los, rief er ohne eine Spur Hektik, ran an den Bau, reißen wir ihn ein. Er knüpfte, mit nicht mehr als zwei, drei Handgriffen, die Drähte auf und sprang aus dem Wasser, das nun wild zu schäumen und zu strudeln begann und erst den Reisig und bald die Pfähle mit sich riß, das komplette Gitter seines Gefängnisses.
»... wir alle sind ärmer geworden, seitdem Rudolf Werchow nicht mehr ist«, der Redner nahm seine Hände vom Pult, führte sie vor seinem Gemächt zusammen, streifte mit seinem Blick die Scheitel der Sitzenden, mit einem Wort, zeigte jedem das nahe Ende seines Vortrags an, »doch um es mit Karl Marx zu sagen: Mag das Leben sterben, der Tod darf nicht leben. Und so wollen wir zutiefst dankbar sein, daß es Rudolf Werchow gegeben hat. Wir tragen ja mit uns, was er uns durch sein Wesen und durch seine Taten geschenkt hat. Er wird weiterleben, in unseren Herzen und unseren Erinnerungen ...«
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Übrigens war das Haar, das er durchpflügte, dunkelbraun, seidig glänzend, gewellt. Willy trug es ungescheitelt nach hinten gekämmt, so daß seine breite, von zwei waagerechten Falten durchzogene Stirn um so mehr zur Geltung kam. Nach unten hin wurde sein Gesicht schmaler. Es bildete ein V, wie auch Willys muskulöser Körper eins bildete, das war selbst jetzt, da er in einem langen Mantel steckte, der ihm bis an die Knie reichte, unverkennbar. Der Mantel spannte vor der Brust, aber nicht vor dem Bauch. Im Grunde hatte dieser kräftige und bei aller Kraft doch elegant wirkende Mittvierziger nur einen Schönheitsfehler, und das war sein zu klein geratener Mund. In die Öffnung mochte eine Pflaume hineinpassen, aber nichts Größeres. Tat nun der arme Kerl sein Mündlein auf, kamen ein paar fürchterlich schiefe, an den Rändern vergilbte Zähne zum Vorschein, die sich im erbitterten Kampf um den wenigen Platz schon früh heillos ineinander verhakt und verkeilt hatten. Dieser nicht mehr behebbare Makel war Willy alles andere als einerlei: Bei jedem herzhaften Lachen mußte seine Malaise ja auch für den Rest der Welt offenbar werden. Nur dadurch, daß sie der Welt offenbar wurde, entstand sie überhaupt erst so richtig! Willy wollte sie verbergen, darum hatte er sich im Laufe der Zeit angewöhnt, so wenig wie möglich zu lachen, jedenfalls nicht selbstvergessen, nicht mit weit aufgerissenem Mund. Ersatzweise lächelte er mit vorsichtig hochgezogener Oberlippe, und das verlieh ihm einen Ausdruck von Unentschlossenheit, ja Unsicherheit, er bekam dann etwas Hasenartiges, das überhaupt nicht zu seinem kernigen Wesen zu passen schien.
An Willys Arm hing, schlank und starr, seine Frau Ruth. Sie hatte ihr langes, schon ein wenig dünnes blondes Haar zu einem Knoten gebunden und mit einem breitkrempigen Hut bedeckt. Dazu trug sie einen schwarzen Schleier, wie süditalienische Witwen es tun. Ein in Schüben wehender Wind drückte ihr die feine Gaze auf die bleichen Wangen, was sie aber wohl nicht bemerkte. Mit großen unbeweglichen Augen stand sie da, mit den Augen eines Fisches in einem feingeknüpften Netz.
Beide schwiegen, jeder auf seine Art, und jeder auch ganz für sich, während die Kinder, die neben ihnen einen Halbkreis gebildet hatten, sich zuweilen ein paar Worte zuflüsterten; so wartete man auf das Erscheinen der ersten Trauergäste, die nun bald den Berg heraufkommen mußten.
Ungewöhnlich weit oben in der Landschaft war der Friedhof angelegt worden, am Ende eines ungepflasterten, geröllbedeckten Weges, warum eigentlich? Willy fragte sich das bloß, um die Zeit herumzubringen, nicht aus ernsthaftem Interesse. Weil die Gräber somit dem Himmel ein bißchen näher waren und der Hölle ein bißchen ferner? Von Krumen bedeckt, die Toten, doch auch von Winden umspielt? Im Schacht, und trotzdem über den Köpfen der Lebenden? Oder weil schon die Gerber, die sich einst als erste unten an der Schorba niedergelassen und diese ebenso schnell nutzen wie fürchten gelernt hatten, fünf Meter breit nur, ihr Flüßchen, aber wehe, wenn es über die Ufer trat, weil sie also weise und fürsorglich einen Platz ausgesucht hatten, der niemals überschwemmt werden konnte? Brav, ihr Gerber, formulierte Willy im stillen. Aber nachdem ihm bewußt geworden war, daß in seinem Loben etwas Närrisches lag, lachte er kurz auf.
Ruth warf ihm einen mißbilligenden Blick zu, ein schon empörter Blick war das, wie Willy durch ihren Schleier erkennen konnte.
Beide schauten pikiert ins Tal, von wo das Rauschen der Kleinstadt ertönte, jenes gleichförmige Summen, zu dem sich, wenn man nur weit genug weg steht, die Tausenden einzelnen Geräusche jeder Siedlung verklumpen: unrhythmisches Kirchturmläuten, zögerndes Treppen- knarren, eine schallende Ohrfeige, ein Motorheulen, das Gepolter eines zusammenfallenden Holzstapels, Papierknüllen, das Reißen eines Strumpfbandes, Besteckklappern, Fahrradklingeln, Altfrauengemurmel.
Willy fröstelte jetzt langsam. Unter anderen Umständen wäre er vielleicht gehüpft, so aber scharrte er mit seinen Füßen auf dem drekkigen Teppich brauner Nadeln, die ein Sturm von den nahebei stehenden Lärchen geweht hatte, wie verschüttete rostige Haarklammern lagen sie herum.
Derweil drang von unten, vom Wege, das unregelmäßige Klacken und Rasseln aufspringender und rollender Steine herauf. War demnach jemand im Anmarsch, sein in Bayern lebender Bruder Bernhard vielleicht? Das wurde auch Zeit, daß der nun eintrudelte und sich neben sie stellte zur Begrüßung all ihrer Gäste, der war wirklich längst überfällig.
Es tauchten zuerst Köpfe auf, dann Oberkörper, dann Rümpfe und Beine, wie in einem kleinen Puppentheater, wo der allmächtige Spieler seine Figuren nach und nach zum Vorschein bringt. Aber kein Bernhard zeigte sich, dies waren Achim Felgentreu, seine Mutter Clara und sein Sohn Jonas.
»Waas?« entfuhr es Matti, der mit Jonas so befreundet war wie einst, und noch immer, Willy und Achim; als ob die Väter ihnen neben diesem und jenem, als honorige Zugabe, auch ihre Freundschaft vererbt hätten.
Sein Ausruf der Anerkennung galt Jonasens Großmutter. Vor ein paar Jahren schon war sie infolge einer schweren Diabetes erblindet, in letzter Zeit aber hatte sie sich, wie Matti wußte, auch kaum noch fortbewegen können. Und trotzdem hatte sie sich hier heraufgeschleppt! Vor den Werchows angelangt, reckte sie, schwer atmend, das Kinn. Ihre Pupillen irrten umher wie zwei da und dort an die Bande schlagende Billardkugeln. Willy war es dann, der sie erlöste, indem er an sie herantrat und ihr mit belegter Stimme zuflüsterte: »Das ist so großartig, ich weiß gar nicht, wie ich dir ...«
Sie hob schwerfällig den Arm und tatschte mit ihrer braunfleckigen Hand die Luft wie eine Bärin, die ein paar aufdringliche Fliegen zu verscheuchen versucht. Sie tatschte noch einmal, fand endlich Willys Wange, fuhr mit einer Zärtlichkeit, die weiß, daß nichts mehr auf sie folgt, dort entlang, bis sie mit ihren Fingerspitzen das kalte Gallert seines Ohrläppchens erreichte. Dann ließ sie die Hand wieder sinken und trippelte vorsichtig zwei, drei Schritte zurück.
Achim dagegen machte einen großen Schritt nach vorn, zu Willy hin. Einer klopfte dem anderen auf die Oberarme, und das wirkte doch recht seltsam, denn die Unterschiede in ihrem Äußeren waren nun noch stärker ausgeprägt als früher: Hier der kräftige, sportliche Willy - und da der schmächtige, windschiefe Achim, spacke Arme hatte der und ein schmales Gesicht, das von schnurgerade hängenden Haaren gerahmt war, von dünnen Gardinen, die zu flattern begannen, sobald ein Lüftchen ging.
Aber keine Zeit für Willy, sich Achim länger zu widmen, denn nun ging es Schlag auf Schlag; Marieluise Wehle und ihre Tochter Catherine kamen heran und wollten auch begrüßt werden.
Sie war Ruths beste Freundin, Marieluise, und sie hatte Ruth auch schon in den Arm genommen. So blieb sie stehen, lange, sie schien Willy gar nicht zu bemerken, da raunte er von der Seite: »Hallo Em-El.«
Sie hob kurz die Augenbrauen, und Willy fiel ein, Marieluise mochte diese Anrede nicht, sie fühlte sich durch sie immer veralbert.
Er dagegen, der das Em-El vor einer halben Ewigkeit in bierseliger Stimmung erfunden hatte, war stolz auf die dreifache Bedeutung, die darin steckte, und nicht minder auf die Ironie, die, wie er meinte, daraus quoll. »Em und El«, hatte er Marieluise damals mit schon schwerer Zunge erläutert, »das sinn erstnnss die Anfanggssbuchstaam deinner eigntlch zwei Vornaaamm. Zweihtnnss«, er kicherte, »issess die Abkürzunng vn Marxsmuhs-Leniensmuhs. Uun drittnns«, er schaute sie so schelmisch an, wie es ihm in diesem Moment noch möglich war, »klinktss irgnntwieh ähgyyptsch, finssduu nich?«
Nein wirklich, hatte Marieluise gestöhnt, das sei so primitiv, daß sie gar nicht darauf antworten werde. Alkohol hin oder her, sie fand, Willy mache ihre Liebe zu Aziz, ihrem ägyptischen Mann, lächerlich, und das wollte sie nicht zulassen, denn diese Liebe, die war doch eine große Geschichte! Und hatte diese große Geschichte nicht sogar bei Willy begonnen?
Zu Hause bei den Werchows, da saß nämlich auf einmal dieser Aziz, der von seinen Leuten nach Gerberstedt geschickt worden war, damit er im großen Druckbetrieb »Aufbruch« ein halbes Jahr mit dem Produktionsdirektor mitlief, auf allen Wegen begleiten sollte er Willy, und danach sollte er die moderne Druckerei leiten, die von der DDR am Nil hochgezogen wurde.
Sie verliebte sich im Nu, denn Aziz war sicher und sanft zugleich, nicht nur eines von beiden wie all die anderen, die ihr, der jungen Ärztin, bis dahin den Hof gemacht hatten, und außerdem hatten die auch nicht solche Haut gehabt wie Aziz, so was schimmernd Dunkles, über das Marieluise, ganz entgegen ihrer zurückhaltenden und kritischen Natur, bei der erstbesten Gelegenheit mit Fingern und Zunge fuhr, wohltuend warme und glatte Bronze war das, die sie schon am ersten Abend, wahrlich am allerersten, wer hätte das gedacht von dieser Marieluise, verzückt in sich hineinfließen ließ, durch die Mitte nach überallhin.
Sie heirateten und gingen nach Kairo. Wo das Märchen endete? Einerseits ja. Marieluise, die praktizieren wollte, wartete endlos auf behördliche Genehmigungen, so lange, bis sie an Absicht glaubte, an stumme Verweigerung einer entgegen den offiziellen Verlautbarungen noch patriarchalischen Gesellschaft, und sie nach Gerberstedt zurückkehrte. Andererseits endete das Märchen aber auch nicht, denn die beiden ließen sich keineswegs scheiden, und Aziz blieb auch genau so, wie er gewesen war, sicher, sanft und bronzefarben. Zweimal im Jahr, im Sommer und zu Weihnachten, besuchte er Marieluise, und stets führte er wertvolle Geschenke mit sich, als da waren Gold, Südfrüchte, bemaltes Papyrus, aber das größte Geschenk, das allergrößte, das er ihr jemals gemacht hatte, war natürlich das Kind, von dunklem Schimmer wie er selber, nach Marieluises Berechnungen gezeugt am Ufer der leise rauschenden Schorba, auf deren Grund sie seitdem, wenn die Sonne im richtigen Winkel stand, statt Steinen, rostigen Henkeln und Fahrrad- klingeln fürwahr goldene Helme, Löffel, Schalen, Armreifen und Colliers aus dem Tal der Könige blinken sah; Ramses, Thutmosis und Aziz höchstselbst wachten über sie, die also gar nicht so allein war, wie Willy in seiner Einfalt glaubte, in der grauenhaften Selbstsicherheit desjenigen, der nicht weiß und nie wissen wird.
Sie drückte ihm distanziert die Hand und sprach ihm in förmlichen Worten ihr Beileid aus. Währenddessen kamen von unten weitere Gäste herauf, langsam und gebeugt die meisten, mit Baumrindengesichtern, es waren die Nachbarn aus der kleinen Siedlung, in der das Haus der Werchows stand, Willy kannte sie alle. Ihnen folgte ein Trupp ebenso alter, doch sich gerade haltender Männer und Frauen, denen er noch nicht begegnet war. Es konnte sich aber nur um Rudis Wanderfreunde handeln, das sah er an den Stöcken in ihrer Hand, die über und über mit bunten Stocknägeln bepflastert waren.
Es wimmelte nun schon vor schwarzgekleideten Gestalten; bloß ein abseits stehender Mann sorgte für einen Farbtupfer, Heiner Jagielka, Rudis letzter Nachbar. Er trug eine blau-rot karierte Baumwolljacke und eine blaue Cordhose, die an den Knien glattgescheuert war wie polierter Speckstein. Arbeitsklamotten waren das, eindeutig, da wollte er bestimmt was zeigen damit, da wollte er garantiert ausdrücken, er sei schwer beschäftigt und müsse gleich weiterrackern nach der Zeremonie. Willy erschien das seltsam, denn Heiner Jagielka, Gärtner in Diensten der Stadt, hatte zwar die Blumenrabatten Gerberstedts zu pflegen, aber das waren ja wohl nicht viele. Wenn man's genau bedachte, waren das jetzt im November gar keine Rabatten, nur lumpige, klumpige Erde war's.
Aber dort steht doch ...! Hinter dem etwas dubiosen Jagielka meinte Willy plötzlich jemanden entdeckt zu haben, den er niemals hier erwartet hatte. Täuschte er sich auch nicht? Er trat einen Schritt zur Seite, um sich zu vergewissern. Und tatsächlich, vielleicht zehn Meter entfernt ließ Herbert Rabe sein Eulengesicht blicken, rund und schwer, mit Augen, die von großen dunklen Kreisen umschlossen waren, minutenlang konnten diese Augen stillstehen - um dann mit einem Ruck jemanden gnadenlos zu fixieren. Willy stürzte zu Ruth, vergessend, daß sie ganz versunken war in ihrer Trauer: »Rabe ist hier, stell dir vor! Daß er es wagt ...!«
Ruth machte eine langsame, grazile Bewegung, bei deren Anblick jeder, der es nicht sowieso wußte, eine Ahnung davon bekam, wie anmutig sie sein konnte. Sie drehte sich, bis sie Rabe im Blick hatte. Ihr schmaler Körper erbebte und drängte nach vorn. Aber gleich erstarrte sie wieder. Kein mühsames Ansichhalten war das, vielmehr ein sofortiges Verpuffen der Bewegung wie bei einem dilettantisch in Schwung gebrachten Kreisel. Rabe indes nutzte die Sekunde des Blickkontakts, um Willy und Ruth verschwörerisch zuzublinzeln. Nun sogar auf sie zuzugehen. Förmlich verneigte er sich vor ihnen. »Genossin Werchow«, er drehte den Kopf zu Ruth, »Genosse Werchow«, Kopf zu Willy, »ich möchte euch mein tief empfundenes Beileid aussprechen, persönlich, als Betroffener sozusagen, denn mich hat, wie ihr sicher wißt, einiges mit eurem Vater verbunden.«
Ruth sagte leise, aber doch entschieden: »Ich bin keine Genossin, Herr Rabe.«
Ein breites Lächeln zauberte Rabe da auf sein Gesicht. Man hätte es herzlich nennen können, wenn seine Augen Ruth nicht so starr ins Visier genommen hätten: »O ja, Verzeihung, ich vergaß das. Aber«, er machte eine kleine Pause, »Sie nehmen mir meinen Fehler doch nicht übel, Frau Werchow?«
Ruth senkte den Blick.
Willy nickte Rabe fast beflissen zu, jawohl, das tat er. Ruth sah es nicht direkt, mußte es aber dem verräterischen Schwingen seines Oberkörpers entnehmen, in dem sich das Nicken fortsetzte. Sie schloß die Augen; und eine Sekunde später war Willy selber peinlich berührt. Wie kannst du nur? Wie kannst du dich nur mit Rabe einverstanden erklären? Eine weitere Sekunde darauf beruhigte er sich mit dem Gedanken, das sei schon recht so, denn was nützte es, wenn er hier Krawall schlug, man mußte die Situation berücksichtigen, und die Situation war nun einmal die, daß eine Trauerfeier bevorstand und Ärger zu vermeiden war, im Sinne Rudis, der ein schönes und harmonisches Begräbnis unbedingt verdient hatte.
Und nun erschien auch die Friedhofsmitarbeiterin, eine dickliche Frau in einem langen glockenförmigen Rock. Die Gäste nahmen langsam ihre Kränze auf und formierten sich wortlos zu einem Zug, vorn Willy und Ruth, dann die Kinder, dann die Felgentreus und die Wehles, dahinter die properen sowie die wackligen Alten, und am Schluß Jagielka und Rabe, dieses ausgesprochen ungleiche Paar; ein gerader, von löchrigen Laublappen bedeckter Weg tat sich vor ihnen auf, schwarze, dampfende Baumgerippe, wie verkohlt und abgelöscht, standen Spalier. Die dickliche Frau schritt so starr und gemessen zwischen denen hindurch, daß unter ihrem Glockenrock keinerlei Bewegung erkennbar war, kein Fußsetzen, wie eine Halmafigur schob sie sich voran, der Kapelle entgegen.
Willy wandte sich, bevor er die Kapelle betrat, noch einmal um, reckte den Hals und überblickte die vielleicht 30 Gäste und den Weg bin zum Friedhofseingang hin. Aber nichts, sein Bruder Bernhard kam ihnen auch nicht in letzter Minute nachgelaufen.
*
Der Trauerredner war ein mittelgroßer, mittelschwerer Mann mit mittelblonden Haaren, dessen Konturen den Anwesenden nicht erst Stunden oder Tage später, in der Erinnerung, verschwammen, sondern jetzt schon, noch während sie ihn ansahen. Einzig ein rubinroter Siegelring, den der Nichtgesichtige am kleinen Finger seiner linken Hand trug, ließ aufmerken: Barg also selbst dieser Mensch irgendein Geheimnis, oder zumindest eine Sehnsucht.
»Liebe Söhne Willy und Bernhard«, hob er an, nicht wissend, daß Bernhard fehlte, »liebe Schwiegertochter Ruth, liebe Enkel Erik, Matti und Britta, verehrte Trauergäste, Rudolf Werchow ist tot. Wir sind fassungslos in unserem Schmerz. Und einige von uns, jene, die Rudolf, oder Rudi, wie sie ihn liebevoll nannten, besonders nahestanden, werden den Schmerz vielleicht noch lange spüren. Doch wie schon ein Sprichwort sagt: Der Tod ist nicht schlimm zu achten, dem ein gutes Leben vorangegangen. Und Rudolf Werchow, das kann man mit Fug und Recht behaupten, hat ein gutes, ein erfülltes Leben geführt. Hineingeboren in finstere Zeiten, hat er der Finsternis in seiner Nähe keinen Raum geboten ...«
Hat er doch, widersprach Willy bei sich, sogar in regelmäßigen Abständen, ich hab's doch erfahren. Feste hat er mich verwamst, wie ein Kotelett hat er mich geklopft, und ohne erkennbaren Anlaß, reineweg nach dem Kalender, alle drei bis vier Wochen; denn mag er noch so fortschrittlich gewesen sein in seinem ganzen Denken und Handeln, was ein festes Kotelett ist, das muß bearbeitet werden, so hatte er's einst gelernt. Willy sah sich noch einmal als Junge in der Küche stehen, sah vor sich den beigefarbenen Tisch mit der eingelassenen dunklen Linoleumplatte. Mit entblößtem Hintern hatte er an den heranzutreten, ganz nahe, so daß sein Glied an den runden Holzgriff der Besteckschublade schlug, eine angenehme Berührung eigentlich, die ihn dennoch ekelte, wegen der Spuren von Margarine, Kartoffelschalen, faulem Obst, wegen all der Rückstände, die seine Mutter mit ihren klebrigen Hausfrauenhänden an dem Knauf schon hinterlassen hatte.
Er mußte sich auf die Platte stützen und die mit hornhautüberzogener Hand geführten Hiebe Rudis empfangen und außerdem, wie zur Garnierung, noch kurze Schmitzer mit den Kuppen von Zeige- und Mittelfinger. Doch was heißt außerdem - da die Kuppen stahlhart waren, schmerzten ihn gerade diese Wischer am meisten, nicht nur am Körper, auch in der Seele, denn gemein waren sie, gemein gerade wegen ihrer scheinbaren Flüchtigkeit.
»... wenn wir heute zurückblicken«, fuhr der Redner fort, mit der Hand vage nach hinten weisend, wo nichts war außer einer dunkelgelben Wand, »so sehen wir aber nicht nur einen Mann, der unbeirrt seinen Weg ging. Vielmehr trat er auch für andere ein. Besonders für die Schwachen, die Mutlosen. Auch für ihre bessere Zukunft kämpfte er. Nein, Rudolf Werchow gehörte wahrlich nicht zu denen, die jene früheren Zustände hinzunehmen gewillt waren. Und genausowenig gehörte er zu denen, die nicht erkannten, daß man Bündnisse schmieden muß, um diese Zustände zu ändern. Vorbildhaft sprang er über seinen Schatten. Ungeachtet früherer Meinungsverschiedenheiten, die durchaus auch einmal handgreiflicher Natur sein konnten, setzte er hier bei uns in Gerberstedt die Einheit der Arbeiterbewegung in die Tat um. Und dies in einer unheilvollen Zeit, in der Zeit des Hitlerfaschismus ...«
Handgreiflichkeiten? wiederholte im stillen Clara Felgentreu, man höre nur, Handgreiflichkeiten, na, jetzt konnte sie schmunzeln über diese Beschönigung, die das doch war; aber damals hatte sie nicht selten aufschreien müssen, damals war sie zum grashüpfergrünen Apothekerschrank gerannt, wenn ihr Mann Franz und Rudi ins Gerberhaus gewankt kamen, blutüberstömt, manchmal einer den anderen schleifend wie einen großen Kartoffelsack, und zwar ins Gerberhaus, immer ins Gerberhaus, weil das nahe beim Sportplatz stand, wo sich, es hatte was Rituelles, ihrer beider Trupp, der sozialdemokratische, traf, dem zwei weitere Trupps gegenüberstanden, der kommunistische und der nationalsozialistische, freilich nie gemeinsam, immer nur einzeln, denn auch diese beiden Bataillone hieben kräftig aufeinander ein, in dem einen war Herbert Rabe die bestimmende Figur, und in dem anderen? versuchte Clara sich zu erinnern, welchen Namen hatten Franz und Willy denn immer genannt oder gestöhnt, gestöhnt? Auf jeden Fall der Metzger war's, der massigste Mann im großen weiten Gau, bloß wie hieß er denn nun gleich, Gebauer? Krakauer? Schildhauer? Schildhauer!
»... wir Heutigen aber, wir können uns wohl gar nicht mehr vorstellen, wie gefährlich das war. Wieviel Mut es erforderte, den Schlächtern die Stirn zu bieten. Über drei Jahre war der Sozialdemokrat Werchow einer derjenigen, die den von der Gestapo gesuchten Kommunisten Markus Roser, jenen Roser, nach dem heute unsere Erweiterte Oberschule benannt ist, versteckten. Er richtete dazu eine kleine Kammer unter der Dachschräge seines Hauses her. Selbst seine Söhne«, der Redner hob den Blick und tat, als suchte er Willy und Bernhard, »haben dazumal nicht davon gewußt. Und nichts beschreibt Rudolf Werchow besser als die Tatsache, daß er danach kein Aufhebens um seine Heldentat machte. Ja, liebe Trauergemeinde, nennen wir das Kind ruhig beim Namen, es war eine Heldentat. Aber Rudolf Werchow brüstete sich ihrer nicht. Denn seine herausragendste Eigenschaft neben Mut und Tatkraft war seine unbedingte Bescheidenheit. Nie wäre ein großes Wort über seine Lippen gekommen, nie eine Phrase ...«
Herbert Rabe, langgedienter Erster Gebietssekretär der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, horchte auf: Phrase? Hatte das Bürschchen da vorn eben Phrase gesagt? Und wenn er es gesagt hatte, dann doch wohl, weil er durch die Blume zum Ausdruck bringen wollte, daß andere diese Phrasen dreschen, wir, uns meint er, das mittlerweile übliche, hinterhältige, widerwärtige Zwischen-den-Zeilen-Getue. Und was soll das überhaupt mit Rudis Bescheidenheit? Was weiß denn dieser Redner? Nichts weiß er, unbedingte Bescheidenheit, daß ich nicht lache, die hat Rudi doch nur herausgekehrt, als er nicht mehr hat mitmachen wollen, geradezu kultiviert hat er seine Bescheidenheit, weil sie nämlich perfekt zu seinem Rückzug gepaßt hat. So ist das heute - es muß sich einer nur zurückziehen wie ein verstocktes Kind, schon gilt er als Märtyrer. Dieser Rudi kriegt doch seine letzten Taschen derart mit Lob gefüllt, daß er gleich durch den Sargboden bricht!
»... Mensch sein, menschlich sein: Jeder der hier und heute Versammelten hat das an Rudolf Werchow erfahren. Jeder hat seine unvergeßlichen, zu Herzen gehenden Erlebnisse mit ihm gehabt. Und doch möchte ich an dieser Stelle seine Schwiegertochter hervorheben. Sie, Ruth«, der Redner warf ihr einen mitleidigen Blick zu, »sind mit dem nun Verstorbenen besonders eng verbunden gewesen. Und er mit Ihnen, das darf ich wohl sagen, da bin ich mir der Zustimmung der anderen Angehörigen gewiß. Denn Ihnen, Ruth, hat er, ohne dazu verpflichtet gewesen zu sein, ein Heim gegeben. Eine Zukunft. Ein Leben in Würde. Ich merke«, der Vortragende schluckte zwei-, dreimal gekonnt, »daß ich an dieser Stelle ins Stocken gerate, denn ich stelle mir vor, wie es Ihnen damals ergangen sein muß. Sie waren mutterseelenallein. Sie hatten Ihre Liebsten verloren ...«
Ruth vernahm dies mit wächsernem Gesicht, verknoteten Händen und zusammengepreßten Knien. Rudi hatte vor ihr, der abseits des Trecks Sitzenden, verharrt, und sie hatte völlig stumpf durch ihn hindurchgeblickt; das wußte sie, aber sie wußte es nur von ihm. Viel später nämlich hatte er ihr berichtet, er sei im Heimgehen von seiner kriegswichtigen Arbeit einzig und allein deshalb stehengeblieben, um diesen Blick zu durchbrechen, um in ihren Augen irgendeine Reaktion hervorzurufen; und als aber keine erfolgte, habe er sie angesprochen, denn sie mußte sich doch zu einer Bewegung verleiten lassen, zu einem Zukken der Lider wenigstens, zu irgendwas.
Sie hatte später auch nicht mehr gewußt, was er gesagt hatte, also gab er es ihr wieder, das ganze Gespräch, das keines gewesen war: »Wie heißt du denn?« - Nicht eine Regung. - »Wo bist du her?« - Nichts. - »Bist du allein hier?« - Wieder nichts. - »Wenn du allein bist, kannst du mit mir kommen, hörst du.«
»Das ist mir eigentlich nur so herausgerutscht«, erklärte er ihr, »ich habe einfach noch etwas sagen wollen, denn wenn ich nichts mehr gesagt hätte, wärst du doch weiter wie erstarrt sitzen geblieben.« - »Und danach bin ich tatsächlich mit dir gegangen?« - »Nein, aber du hast mich endlich angesehen.« - »Wie habe ich dich angesehen?« - »Müde. Und gleichzeitig so fragend, was das soll und wie ich das meine, daß ich zu stammeln begonnen habe, meine Frau, die könnte dir was zu essen machen, und wir haben auch zwei Söhne, aber einer, also der Ältere wurde eingezogen, da ist gerade ein Zimmer frei.« - »Und das hat mich überzeugt?« - »Was heißt überzeugt. Meiner Meinung nach hat den Ausschlag gegeben, daß ich linkisch geredet habe. Das war in deinen Augen vielleicht der Ausweis guten Willens. Alles echt, alles sauber, hat dein Instinkt gesagt. Du hast dich dann von mir sogar am Handgelenk fassen und fortziehen lassen, ja, so hat es begonnen mit uns beiden.«
»... Rudolf Werchow«, der Redner schaute noch einmal zu Ruth, diesmal aber ein wenig verschmitzt, »hat Sie auch später niemals enttäuscht. Er hat Sie sogar mehr als einmal zum Lächeln gebracht, denn er besaß einen untergründigen Humor, mit dem er das Schwere leichter erscheinen lassen konnte. Wie gern - ich darf einmal aus dem Nähkästchen plaudern - hat er zum Beispiel gestöhnt, ach Mädel, wo hammer dich bloß aufgegabelt ...«
Ruth kam das steinerne, unter der Regenrinne stehende Bassin in den Sinn. Er habe es mit Quark gemauert, hatte Rudi ihr beiläufig erklärt, und sie hatte gefragt: »Mit Quark?« Einen Moment glaubte sie ihm. - »Nu, 's gab kein Mörtel zur damalchen Zeit, aber Quark, da mußtmer den nehm.« - Wie er das so sagte, glaubte sie ihm noch ein bißchen mehr, sie fragte: »Und das hat so lange gehalten?« - Da schüttelte er endlich den Kopf und sagte seinen Spruch auf: »Ach Mädel, wo hammer dich ...«
Jetzt, da sie sich an jene Episode erinnerte, begann ihr Atem unstet und hechelnd zu gehen, sie klang, als stecke sie unter einer Sauerstoffmaske; für die um sie Sitzenden, und vor allem für Willy, war das nicht zu überhören. Und er verstand ihren Gram, wenigstens in gewisser Weise, er dachte, das ist alles wahr, was hier gerade gesagt wurde, ohne jeden Eigennutz hat Rudi sich Ruths angenommen, auch später noch, immer hat er sie verteidigt, und immer war er äußerst nachsichtig, wenn sie sich zurückzog und nicht reden mochte. Willy erinnerte sich nun, wie er selber sich abgemüht hatte, Ruth, mit der er zusammengewesen war und doch auch wieder nicht, das erste Mal ins Bett zu kriegen, wie lange hatte es gedauert, zweieinhalb Jahre, drei? Viel zu lange auf jeden Fall, bei anderen Weibern, die er davor oder dazwischen gehabt hatte, ging es doch auch im Handumdrehen, nur Ruth hat sich immer entzogen, und er argwöhnte, das wäre in Kleinmädchenhaftigkeit, Schüchternheit, Schreckhaftigkeit gekleidete Berechnung, huch und ach und bitte nicht jetzt und bitte nicht so schnell, das kennt man doch, ein Köder der Weiber, damit man erst recht nach ihnen schnappt. Irgendwann wurde er ärgerlich, sehr ärgerlich, aber Rudi, der sonst nicht so viel gemerkt hat bei ihm, hat es ihm angesehen und hat ihn besänftigt, nur ruhig, Geduld, das wird schon noch bei der Ruth, weißt doch, was sie alles durchgemacht hat, sei geduldig mit ihr, Junge.
»... und ist nach dem grauenvollen Krieg konsequent auf seinem Weg weitergegangen. Rudolf Werchow hat gemeinsam mit seinem alten Kampfgefährten Herbert Rabe die Vereinigung der beiden Arbeiterparteien vollzogen. Ein Jahr war er paritätischer Erster Sekretär der SED-Gebietsleitung. Dann, als er gewiß sein konnte, daß sein Werk in guten Händen lag, kehrte er in seinen alten Beruf des Feinmechanikers zurück ...«
Willys Kieferknochen begannen zu mahlen. Jeder weiß doch, es ist ganz anders gewesen. Von Rabe gnadenlos beiseite gedrängt worden ist Rudi, einen Arschtritt hat er verpaßt bekommen von dem und von dessen Hintermännern, und warum? Weil er dieses eher lustige Geschichtchen über Ulbricht und die Eier herausgefunden hatte? Nur der billige Anlaß war das doch, ihn abzusetzen, bloß auf so was gewartet wurde doch damals. Hat also Rabe dem Redner hier, dieser armselige Redner muß informationshalber auch bei Rabe gewesen sein, seine Version erzählt, seine Verdrehung, seine Lüge.
»... und wie gern übte er diesen Beruf aus. Rudolf Werchow, und das, liebe Trauergemeinde, ist beileibe keine Floskel, liebte es, ein Werkstück unter seinen Augen wachsen zu sehen. So nimmt es nicht wunder, daß er dreimal als Aktivist der sozialistischen Arbeit ausgezeichnet wurde. Daß er, obwohl wahrlich nicht begütert, ein Haus baute, welches, wie wir alle wissen, noch heute Wind und Wetter trotzt. Daß er einen Garten anlegte und daraus im Laufe der Zeit ein Kleinod machte. Mancher in Gerberstedt blieb stehen, um es zu betrachten und zu bestaunen ...«
Marieluise blickte ein bißchen verträumt, denn sie sah Catherine, ihre damals noch winzige Catherine an einem Frühsommertag mit angewinkelten Ärmchen und Beinchen auf einer Baumwolldecke im Schatten des großen Kirschbaums schlafen. Zuweilen fiel eine Blüte auf das Baby, ohne daß es irgendwie reagierte, nein, nichtmal das leiseste Zucken ging über sein Gesichtchen. Und sie, Marieluise, unterließ es, etwas zu tun. Sie konnte schon darauf warten, daß ein warmer, vom Fluß wehender Wind die Blüte irgendwann vom Kind auf die Decke oder weiter weg pusten würde, und geschah das, dann nickte sie, ihr war, als verfolge sie die vorsichtige, zufriedenstellende Arbeit eines Freundes. Und waren das nicht überhaupt schöne und außergewöhnliche Stunden gewesen? Ruth hatte Geburtstag gehabt und einen kugelrunden Bauch, im Laufe des Tages würden die Wehen einsetzen, hatte sie prophezeit, nach den Geburten der Jungs kenne sie doch schon die Regungen in ihrem Leib, ja, ganz achtsam ließ sie sich neben Catherine auf der Decke nieder. Da erschien Rudi im Garten, mit einem weißen Leinenbeutel, in dem sich die Konturen eines rechteckigen Gegenstandes abzeichneten, seines Geschenkes wahrscheinlich. Nur holte er es nicht heraus. Ein paar Sekunden schaute er sich im Garten um, als sehe er den zum ersten Mal, als habe der bis vor kurzem nicht ihm selber gehört. Rudis Blick huschte über den Gehweg, den er mit unregelmäßig geschnittenen Granitplatten ausgelegt und zu beiden Seiten mit Blumenrabatten gesäumt hatte. Er blinzelte in Richtung der breiten, von ihm gepflanzten Haselstrauchhecke, deren Blätter in der Maisonne silbrig glänzten. Wollte er sehen, ob noch alles in Ordnung war, oder wollte er ein bißchen Spannung erzeugen bei Ruth? Er wischte sich über seine leicht tränenden Augen und wandte sich dem beruhigend dunklen Bassin im Schatten des Hauses zu. Er tunkte seine Hände hinein und befeuchtete mit ihnen seine Augen. Dann nahm er endlich den Gegenstand aus seinem Beutel. Es war eine Geldbörse aus dem Lederwarengeschäft gegenüber seiner kleinen Wohnung, in der er lebte, seitdem er das Haus am Fluß Willy, Ruth und den Jungs überlassen hatte. Ruth öffnete die Börse und fand einen Glückspfennig darin, sie war aufgestanden anläßlich der Geschenkübergabe, und Marieluise sah noch einmal ganz plastisch, wie sie sich erst vorsichtig zu Rudi beugte, um ihm einen Kuß auf die stoppelige Wange zu drücken, und ihn dann doch mit beiden Armen umschlang und ihn mit ihrem Bauch rückwärts ins Stolpern brachte.
»... und welche Freude«, ein seliges Lächeln umspielte die Lippen des Redners, »war es dann für ihn, daß seine Schwiegertochter drei gesunden Enkeln das Leben schenkte. Ihnen, Erik, Matti und Britta, brachte er seine besondere Zuneigung und Fürsorge entgegen. Besonders für Sie fand er immer Zeit. Wie gern nahm er Sie zum Beispiel mit auf seine Wanderungen. Damals mag es Ihnen, liebe Enkel, nicht immer Freude bereitet haben, von Ihrem Großvater in aller Herrgottsfrühe aus den Federn gescheucht zu werden, ja, man berichtet, Sie hätten nicht selten hinter seinem Rücken geflucht. Aber heute«, er blickte zu ihnen, »und ich darf Ihr Schmunzeln als Bestätigung nehmen, heute schon denken Sie bestimmt mit Wärme und Dankbarkeit an diese Momente zurück. Und wie viel mehr haben Sie ihm noch zu verdanken.
Wie viel mehr hat er Ihnen beigebracht. Wir alle blicken zurück und sehen ihn, wie er Erik, Matti und Britta die verschiedenen Apfelsorten in seinem Garten erklärt. Wie er mit ihnen Blumenzwiebeln in den Boden einbringt. Wie er, der Unermüdliche, mit ihnen einen Zaun setzt. Oder auch, wie er mit ihnen hinunter zum Fluß geht und dort ...«
... einen Staudamm baut, setzte Matti in Gedanken fort, erst Pfähle, senkrecht und dicht bei dicht wie Milchflaschen im Konsumregal, da darf nichts durchpfeifen, Kinder, da darf nichts zwischenpassen, dann an jeder Seite ineinandergebogenes Reisigzeug vorlegen, mit Draht, mit dem hier, so, so wird das gemacht, befestigen, und schon, da seht ihr, fängt unser Wasser an, sich zu stauen und sich einen Weg aus seinem Bett herauszusuchen, ganz Gerberstedt würde nasse Füße kriegen, wenn wir das jetzt so lassen würden, wollen wir's so lassen? Wollen wir Gerberstedt mal richtig überschwemmen? Ja! ja! ja! schrien sie, und für ein paar Minuten schien es ihnen, als wolle ihr Großvater tatsächlich das Städtchen fluten. Immer weiter schwappte die Schorba auf die Wiesen, Silbergrau legte sich über Grün, mit dem Wasser nach oben getriebene Schlammklümpchen rochen wie rostiges Metall, und Rudi, Rudi schnüffelte und schaute diebisch vergnügt. Seine Enkel indes begannen langsam, sich zu wundern. Zunehmend stiller betrachteten sie einmal den Fluß, einmal den Großvater, das Wasser stieg, er schwieg. Die Ahnung einer Katastrophe überkam sie, aber ihr Respekt vor dem Alten war groß, so warteten sie ab. Er würde schon etwas tun, würde ihnen, wenn es wirklich not tat, ein Signal geben. Und jetzt, da das Wasser die Wiesen und Wege links und rechts der Schorba regelrecht zu überfluten drohte, gab er es: Na los, rief er ohne eine Spur Hektik, ran an den Bau, reißen wir ihn ein. Er knüpfte, mit nicht mehr als zwei, drei Handgriffen, die Drähte auf und sprang aus dem Wasser, das nun wild zu schäumen und zu strudeln begann und erst den Reisig und bald die Pfähle mit sich riß, das komplette Gitter seines Gefängnisses.
»... wir alle sind ärmer geworden, seitdem Rudolf Werchow nicht mehr ist«, der Redner nahm seine Hände vom Pult, führte sie vor seinem Gemächt zusammen, streifte mit seinem Blick die Scheitel der Sitzenden, mit einem Wort, zeigte jedem das nahe Ende seines Vortrags an, »doch um es mit Karl Marx zu sagen: Mag das Leben sterben, der Tod darf nicht leben. Und so wollen wir zutiefst dankbar sein, daß es Rudolf Werchow gegeben hat. Wir tragen ja mit uns, was er uns durch sein Wesen und durch seine Taten geschenkt hat. Er wird weiterleben, in unseren Herzen und unseren Erinnerungen ...«
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... weniger
Autoren-Porträt von Birk Meinhardt
Birk Meinhardt, 1959 in Berlin geboren, war Sportjournalist bei verschiedenen Zeitungen und Reporter bei der Süddeutschen Zeitung. Er erhielt zweimal den Egon-Erwin-Kisch-Preis. Er lebt als Schriftsteller bei Berlin. Bei Hanser erschien 2013 der Roman Brüder und Schwestern (Die Jahre 1973-1989), es folgte 2017 der Roman Brüder und Schwestern (Die Jahre 1989-2001).
Bibliographische Angaben
- Autor: Birk Meinhardt
- 2013, 3. Aufl., 704 Seiten, Maße: 15 x 21,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: HANSER
- ISBN-10: 3446241191
- ISBN-13: 9783446241190
- Erscheinungsdatum: 24.01.2013
Rezension zu „Brüder und Schwestern “
"Als Reporter hat Meinhardt einen untrüglichen Blick fürs sprechende Detail. Als Romancier vermag er eine große, ergreifende Geschichte über 'Brüder und Schwestern' und ihr untergegangenes Land zu erzählen." Knut Cordsen, Deutschlandradio Kultur, 25.01.2013"Ein geradezu unverschämt gut lesbares Buch, das in mancherlei Hinsicht Tellkamps 'Turm' Konkurrenz macht ... So lebensprall, mit so viel Liebe fürs sprechende Detail, mit so einem ausgeprägten Gespür für Sprache ist bisher noch nicht über die 'mächtige Dreieinigkeit aus Heuchelei, Phrasendrescherei und Schurigelei' in der DDR geschrieben worden." Knut Cordsen, BR.de, 30.01.2013
"Da gibt es keine losen Enden, da werden unzählige Geschichten geschickt miteinander verbunden und episch ausgefaltet. Wie keinem anderen Autor bisher geht es Meinhardt dezidiert um die Darstellung der politischen und ökonomischen Wirklichkeit der DDR in ihrem Endstadium." Claus-Ulrich Bielefeld, Die Welt, 09.02.13
"Manchmal ist das so: Wenn das Schreiben Spaß macht, macht das Lesen Spaß. Er sei uns gegönnt."
Ulrich Seidler, Frankfurter Rundschau, 09./10.03.13
"Meinhardt gelingt ein gut gemachter Unterhaltungsschmöker." Alexander Cammann, Die Zeit, 28.02.2013
"Ihm glücken Passagen von eindrucksvoller Präzision, mit glänzendem, plaudernd-leichtem, ironischem Tonfall, der doch sehr kunstvoll ist." Mark-Christian von Busse, Hessische/Niedersächsische Allgemeine, 12.04.2013
"So schreibt man Literatur!" Thomas Neumann, literaturkritik.de, 28.03.13
Pressezitat
"Als Reporter hat Meinhardt einen untrüglichen Blick fürs sprechende Detail. Als Romancier vermag er eine große, ergreifende Geschichte über 'Brüder und Schwestern' und ihr untergegangenes Land zu erzählen." Knut Cordsen, Deutschlandradio Kultur, 25.01.2013"Ein geradezu unverschämt gut lesbares Buch, das in mancherlei Hinsicht Tellkamps 'Turm' Konkurrenz macht ... So lebensprall, mit so viel Liebe fürs sprechende Detail, mit so einem ausgeprägten Gespür für Sprache ist bisher noch nicht über die 'mächtige Dreieinigkeit aus Heuchelei, Phrasendrescherei und Schurigelei' in der DDR geschrieben worden." Knut Cordsen, BR.de, 30.01.2013
"Da gibt es keine losen Enden, da werden unzählige Geschichten geschickt miteinander verbunden und episch ausgefaltet. Wie keinem anderen Autor bisher geht es Meinhardt dezidiert um die Darstellung der politischen und ökonomischen Wirklichkeit der DDR in ihrem Endstadium." Claus-Ulrich Bielefeld, Die Welt, 09.02.13
"Manchmal ist das so: Wenn das Schreiben Spaß macht, macht das Lesen Spaß. Er sei uns gegönnt."
Ulrich Seidler, Frankfurter Rundschau, 09./10.03.13
"Meinhardt gelingt ein gut gemachter Unterhaltungsschmöker." Alexander Cammann, Die Zeit, 28.02.2013
"Ihm glücken Passagen von eindrucksvoller Präzision, mit glänzendem, plaudernd-leichtem, ironischem Tonfall, der doch sehr kunstvoll ist." Mark-Christian von Busse, Hessische/Niedersächsische Allgemeine, 12.04.2013
"So schreibt man Literatur!" Thomas Neumann, literaturkritik.de, 28.03.13
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