Jenseits von Feuerland / Chile-Saga Bd.2
Roman. Originalausgabe
Der neue Chile-Roman.
Bewegend und spannend.
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Produktinformationen zu „Jenseits von Feuerland / Chile-Saga Bd.2 “
Der neue Chile-Roman.
Bewegend und spannend.
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Klappentext zu „Jenseits von Feuerland / Chile-Saga Bd.2 “
Punta Arenas, die südlichste Stadt der Welt. Hier kämpfen zwei Frauen, die unterschiedlicher nicht sein können, um ihre Zukunft und ihre Freiheit -und um die Liebe: Emilia ist die Tochter von deutschen Auswanderern und flieht von zu Hause, nachdem sie ein dunkles, beschämendes Familiengeheimnis enthüllt hat. Die zurückhaltende Rita dagegen hat nur einen Wunsch: Sie will von den Chilenen als Weiße anerkannt werden, denn sie ist die Tochter einer Weißen und eines Mapuche und wird als Mischling brutal verfolgt. Im sturmgepeitschten Patagonien entscheidet sich das Schicksal der beiden Frauen ...
Lese-Probe zu „Jenseits von Feuerland / Chile-Saga Bd.2 “
Jenseits von Feuerland von Carla FedericoProlog
MAGELLANSTRASSE, Dezember 1892
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Sprühender Nebel und Dunstschwaden erwarteten sie, nachdem sie den Atlantik verlassen hatten und in die Magellanstraße eingefahren waren. Zunächst
glitt das Schiff lautlos auf dem dunklen Wasser, doch plötzlich wurde das Grau vor ihren Augen so dicht, dass der Kapitän befahl, den Anker werfen zu lassen. Erst Stunden später, der Abend nahte schon, erwuchsen aus einem Lufthauch heftige Windböen. Der Nebel riss wie ein Schleier, und das Meer war nicht länger abgründig schwarz, sondern leuchtete in vielen Farben: Es funkelte grün und türkis, wo Sonnenstrahlen darauf fielen, dunkelviolett, wo die schroffen Küsten Schatten warfen.
Das Schiff nahm wieder an Fahrt auf, kam nun an steil aufragenden Basaltfelswänden vorbei, an zerklüfteten Klippen und an öden Heiden, die oft von den ebenso wilden wie kalten Südwinden der Antarktis gepeitscht wurden. Keine fruchtbaren Wiesen bedeckten sie, sondern dürre Algen, über denen Seevögel kreisten - Albatrosse mit schwanenweißem Gesicht und mächtigen Flügeln, Regentaucher, die der Algen bald überdrüssig waren und hungrig nach Fischen auf das Wasser herabschossen, Meerlerchen mit ihrem gebogenen Schnabel und Raubmöwen, deren Kreischen zu ohrenbetäubendem Lärm anwuchs. Auf die Heidelandschaft folgten sanfte Hügel mit Eichenwäldern und Brombeerhecken und später Wiesen, die von graubraunen, kniehohen Grasbüscheln, weißen Flecken - Schafen oder Staubflächen - und dann und wann von den winzigen Farbtupfern violetter und gelber Blumen übersät waren.
In der Ferne ragten die ersten Berggipfel auf, und Emilia, die an der Reling stand, starrte fasziniert darauf. Bei Tageslicht von kaltem Blau erglühten sie nun im Abendrot in sanftem Rosa. Bei ihrem Anblick musste Emilia unwillkürlich an die Worte des Walfängers Pedro denken, die er einst, als sie vor vielen Jahren zum ersten Mal die Magellanstraße durchkreuzt hatte, an sie gerichtet hatte. Auf der einen Seite, so hatte er ihr erklärt, wäre das chilenische Festland, auf der anderen Seite wären die vielen kleinen, bergigen Inseln von Feuerland.
»Und was kommt jenseits von Feuerland?«, hatte sie gefragt, und seine Antwort hatte gelautet: »Nichts ... nur ewiges Eis. Jenseits von Feuerland liegt das Ende der Welt.«
Die Vorstellung von einer menschenleeren Ödnis, von einer erschreckenden, weil nahezu grenzenlosen Weite hatte ihr damals keine Angst gemacht. Sie hatte schrecklichen Kummer gelitten und war sich sicher: Auf jedem Fleckchen Erde - ob besiedelt oder unbewohnt, ob farbenprächtig oder grau, ob voller Sonnenschein oder kaltem Eis - würde sie von diesem Kummer verfolgt sein. Nun aber, da dieser Kummer längst vergangen war, nur Narben zurückgeblieben waren, die nicht mehr schmerzten, erschauerte sie voller Ehrfurcht und kam sich im Angesicht der gewaltigen Natur winzig klein vor.
Plötzlich nahm sie einen Schatten hinter sich wahr. Eine Gestalt trat zu ihr und umschlang ihre Schultern.
»Woran denkst du?«, fragte der Mann.
»Dass jenseits von Feuerland nichts mehr kommt ...«, murmelte sie nachdenklich.
Immer wieder hatte sie es gehört: Feuerland war noch karger, einsamer und unerforschter als die patagonische Steppe, ein Land der ewigen Stille, die nur manchmal vom Seufzen der Gletscher unterbrochen wurde.
Der Mann streichelte ihr Gesicht, und sie presste sich enger an ihn, während das Sonnenlicht verblasste und der Wind zunehmend schärfer wehte.
Das Schiff glitt an urwüchsigen Wäldern vorbei, und zum Geschrei der Möwen gesellte sich das Rufen der Chucaos, scheue Vögel, deren Echo wie Gelächter klang. Dann wieder schlug Steppe breite Schneisen in den Urwald. Die Schafe, die sich wegen der nahenden Nacht zusammendrängten, sahen aus wie Wolken.
»Es wird kühl«, murmelte er, »lass uns hineingehen.« Anstatt ihm zu folgen, machte Emilia sich von ihm los und umklammerte erneut die Reling. Ihr Blick suchte das Ende des Horizonts, doch Himmel und Meer trafen sich nicht mit einem klaren Schnitt, sondern wurden durch ein weißes Band vereint, vielleicht weitere Berge, vielleicht nur Wolken.
»Ich muss mit dir reden«, murmelte sie. »Es ... es geht um das Geheimnis, das ich dir anvertraut habe. Mein Geheimnis.« Im Wind flatterte sein Mantel so heftig wie ihr Kleid. »Nun ist es kein Geheimnis mehr«, stellte er fest.
»Ja«, sagte sie leise. »Ja, nun weißt du es ... Nun weißt du alles. Doch ich frage mich ... «
Sie brach ab.
Am Ufer wirbelte der Wind Staub und Sand auf und trug beides Richtung Schiff. Hinter dem Staub ballte sich die Sonne, eben noch von Dunst zerfranst, zu einer glühenden Faust. Kurz schien der graue Himmel zu brennen; das Meer leuchtete ein letztes Mal golden auf, dann sog die Nacht alle Farben aus dem Land. Das Wasser wurde pechschwarz, und bleich trat am Abendhimmel die Mondsichel hervor.
Emilia seufzte.
»Ja, nun weißt du alles«, wiederholte sie. »Doch ich frage mich, ob du mit diesem Wissen leben kannst.«
ERSTES BUCH
Das Ende der Welt
1881-1882
1. Kapitel
Die junge Frau rannte um ihr Leben. Trotz allem, was geschehen war, fand sie die Kraft,
zu fliehen und ihre Schmerzen zu ignorieren - es waren schreckliche Schmerzen. Ihr Körper war über und über von Kratzern, Schrammen und blauen Flecken übersät. Ihre Füße brannten, als hätte sich ihre Haut aufgelöst und als würde sie auf rohem Fleisch laufen. Ihr Kopf dröhnte, ihre Kehle schien zu zerbersten. Und dennoch hielt sie nicht inne, legte vielmehr an Tempo zu und wurde erst dann langsamer, als der Durst übermächtig wurde. Als sie ein Rauschen hörte, blieb sie erstmals stehen und hob den Kopf.
Das Rauschen stammte von einem kleinen Fluss, dessen Wasser in der Sonne türkis funkelte. Sie wankte darauf zu, doch ehe sie ihn erreichte, verfingen sich ihre Füße im Gestrüpp; sie stolperte, verlor die Balance, fiel auf trockene Erde. Ächzend und mit geschlossenen Augen robbte sie weiter, zerkratzte sich die Hände noch mehr, schürfte sich die ohnehin blutigen Knie weiter auf. Unbarmherzig brannte die Sonne auf sie herab.
Durst, sie hatte so schrecklichen Durst, und das Wasser, es war doch so nah!
Aber sie konnte es nicht erreichen - noch nicht. Immer wieder wurde sie von ihrem ausgelaugten Körper gezwungen, liegen zu bleiben, und jedes Mal fürchtete sie, von alles vernichtender Schwärze überwältigt zu werden. Doch sie gab nicht auf, robbte weiter, und endlich tauchten ihre Finger in das kühle Nass. Die Spitzen ihres langen schwarzen Haars fielen hinein, die Strömung spielte mit ihnen, und schließlich versenkte sie ihren ganzen Kopf im Fluss, öffnete den Mund und ließ das kalte Wasser einfach hineinfließen. Während sie mit Mühsal schluckte, fühlte es sich an, als würden kleine Messer in ihre Brust schneiden, aber zugleich kehrten neue Lebenskräfte in ihren geschundenen Körper zurück.
Prustend tauchte sie nach einer Weile wieder auf. Das nasse Haar hing über ihr Gesicht. Sie strich es zurück, starrte auf den Fluss, der verschwommen ihr Spiegelbild reflektierte - und erkannte sich nicht wieder. War das ihr Gesicht, ihr Körper, ihre Hände, die sie nun ausstreckte, um sich zu waschen, um ihre blutigen Füße zu betasten und Dornen und Stacheln herauszuziehen?
Sie war sich fremd geworden, wusste nicht mehr, wie sie aussah, wer sie war, und sie wusste auch nicht mehr, wie sie hieß.
»Mein Name«, fragte sie laut in die Stille, »wo ist mein Name geblieben?«
Nachdem sie sich notdürftig gereinigt hatte, blieb sie steif sitzen. Die Luft wurde kühler, das Haar trocknete im Wind. Plötzlich zuckte sie zusammen und blickte sich ängstlich um. Ein Geräusch war erklungen, ganz nah an ihrem Ohr - Hufgetrampel, Gelächter, Stimmen, ein Schuss, das Klirren von Säbeln. Sie duckte sich unwillkürlich, sah sich schnell nach einem Versteck um.
Sollte sie versuchen, zu den kümmerlichen, verdorrten Bäumen dort hinten zu laufen? Oder sich einfach ganz flach auf den Boden legen und hoffen, dass die Farbe ihres Wollkleides mit der der Erde verschmolz und die Reiter nicht auf sie achten würden? Allerdings - wenn diese das glitzernde Wasser sahen, würden sie gewiss rasten und trinken. Sie würden sie sofort entdecken, und dann würden sie sie töten. Daran bestand nicht auch nur der geringste Zweifel.
Sie lauschte wieder, hob schließlich vorsichtig den Kopf; das Hufgetrampel klang zwar näher, aber noch war niemand zu sehen. Rasch sprang sie auf, unterdrückte einen Schmerzenslaut, als sich Steinchen in die blutigen Fußsohlen gruben, und wankte zu den Bäumen. Die Äste reichten bis zur Hüfte, sie konnte mühelos auf die niedrigen klettern und sich von dort aus weiter hinaufziehen. Doch der Baum war kahl und bot nicht sonderlich viel Schutz vor Blicken. Wenn nur einer der Soldaten zufällig den Kopf hob, war es um sie geschehen. Er würde sie erschießen, wenn sie viel Glück hatte, mit seinem Säbel aufspießen, wenn sie ein wenig Glück hatte, oder ihr Kleid zerfetzen, ihr ins Gesicht schlagen und sie schänden, wenn sie gar kein Glück hatte.
Das Geäst knirschte, sie war sich nicht sicher, ob es nicht zu morsch war, um ihrem Gewicht standzuhalten. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Die Soldaten kamen um die Ecke, deuteten auf das Wasser, ritten darauf zu. Ein Kondor zog am blauen Himmel seine Kreise, warf seinen Schatten auf sie.
Die Soldaten sprangen von den Pferden, stürzten auf das Wasser zu, johlten lustvoll, als es ihre trockenen Kehlen nässte. Wahrscheinlich wuschen sie sich ihre blutigen Hände darin. Es musste viel Blut sein. Sie hatten so viele getötet.
Die Soldaten waren am helllichten Tag in der Mission eingefallen, als die junge Frau und ihre Familie gerade beim Essen zusammengesessen waren. Ihre Mahlzeit war wie immer einfach, aber reichlich ausgefallen: Es hatte gekochte Bohnen und Kichererbsen gegeben, flache, noch heiße und krosse Fladen sowie Nüsse der Pinienbäume, die die Größe von Datteln hatten.
Sie leckte sich über die trockenen Lippen und schluchzte auf, als sie daran dachte, dass es für alle, mit denen sie gegessen hatte, die letzte Mahlzeit gewesen war.
Ihre Großmutter war tot.
Ihr Vater auch.
Die Soldaten, die wie aus dem Nichts gekommen waren, hatten die ganze Mission ausgerottet. Sie hatte als Einzige überlebt.
Die Soldaten stapften knietief ins Wasser, spritzten sich lachend nass.
Sie hielt den Atem an, während sie sie beobachtete, und umkrampfte den Ast so fest, dass sich die Rinde in ihre Handinnenfläche bohrte. Doch der Schmerz war so nichtig - gemessen an ihrer Todesangst. Ja, sie hatte Todesangst. Sie wusste nicht mehr, wie sie hieß, sie wusste nicht, wie sie ohne ihre Familie in einer grausamen Welt bestehen sollte, in der Soldaten wahllos mordeten. Aber sie wusste, dass sie leben wollte.
Copyright © 2011 by Knaur Taschenbuch.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Sprühender Nebel und Dunstschwaden erwarteten sie, nachdem sie den Atlantik verlassen hatten und in die Magellanstraße eingefahren waren. Zunächst
glitt das Schiff lautlos auf dem dunklen Wasser, doch plötzlich wurde das Grau vor ihren Augen so dicht, dass der Kapitän befahl, den Anker werfen zu lassen. Erst Stunden später, der Abend nahte schon, erwuchsen aus einem Lufthauch heftige Windböen. Der Nebel riss wie ein Schleier, und das Meer war nicht länger abgründig schwarz, sondern leuchtete in vielen Farben: Es funkelte grün und türkis, wo Sonnenstrahlen darauf fielen, dunkelviolett, wo die schroffen Küsten Schatten warfen.
Das Schiff nahm wieder an Fahrt auf, kam nun an steil aufragenden Basaltfelswänden vorbei, an zerklüfteten Klippen und an öden Heiden, die oft von den ebenso wilden wie kalten Südwinden der Antarktis gepeitscht wurden. Keine fruchtbaren Wiesen bedeckten sie, sondern dürre Algen, über denen Seevögel kreisten - Albatrosse mit schwanenweißem Gesicht und mächtigen Flügeln, Regentaucher, die der Algen bald überdrüssig waren und hungrig nach Fischen auf das Wasser herabschossen, Meerlerchen mit ihrem gebogenen Schnabel und Raubmöwen, deren Kreischen zu ohrenbetäubendem Lärm anwuchs. Auf die Heidelandschaft folgten sanfte Hügel mit Eichenwäldern und Brombeerhecken und später Wiesen, die von graubraunen, kniehohen Grasbüscheln, weißen Flecken - Schafen oder Staubflächen - und dann und wann von den winzigen Farbtupfern violetter und gelber Blumen übersät waren.
In der Ferne ragten die ersten Berggipfel auf, und Emilia, die an der Reling stand, starrte fasziniert darauf. Bei Tageslicht von kaltem Blau erglühten sie nun im Abendrot in sanftem Rosa. Bei ihrem Anblick musste Emilia unwillkürlich an die Worte des Walfängers Pedro denken, die er einst, als sie vor vielen Jahren zum ersten Mal die Magellanstraße durchkreuzt hatte, an sie gerichtet hatte. Auf der einen Seite, so hatte er ihr erklärt, wäre das chilenische Festland, auf der anderen Seite wären die vielen kleinen, bergigen Inseln von Feuerland.
»Und was kommt jenseits von Feuerland?«, hatte sie gefragt, und seine Antwort hatte gelautet: »Nichts ... nur ewiges Eis. Jenseits von Feuerland liegt das Ende der Welt.«
Die Vorstellung von einer menschenleeren Ödnis, von einer erschreckenden, weil nahezu grenzenlosen Weite hatte ihr damals keine Angst gemacht. Sie hatte schrecklichen Kummer gelitten und war sich sicher: Auf jedem Fleckchen Erde - ob besiedelt oder unbewohnt, ob farbenprächtig oder grau, ob voller Sonnenschein oder kaltem Eis - würde sie von diesem Kummer verfolgt sein. Nun aber, da dieser Kummer längst vergangen war, nur Narben zurückgeblieben waren, die nicht mehr schmerzten, erschauerte sie voller Ehrfurcht und kam sich im Angesicht der gewaltigen Natur winzig klein vor.
Plötzlich nahm sie einen Schatten hinter sich wahr. Eine Gestalt trat zu ihr und umschlang ihre Schultern.
»Woran denkst du?«, fragte der Mann.
»Dass jenseits von Feuerland nichts mehr kommt ...«, murmelte sie nachdenklich.
Immer wieder hatte sie es gehört: Feuerland war noch karger, einsamer und unerforschter als die patagonische Steppe, ein Land der ewigen Stille, die nur manchmal vom Seufzen der Gletscher unterbrochen wurde.
Der Mann streichelte ihr Gesicht, und sie presste sich enger an ihn, während das Sonnenlicht verblasste und der Wind zunehmend schärfer wehte.
Das Schiff glitt an urwüchsigen Wäldern vorbei, und zum Geschrei der Möwen gesellte sich das Rufen der Chucaos, scheue Vögel, deren Echo wie Gelächter klang. Dann wieder schlug Steppe breite Schneisen in den Urwald. Die Schafe, die sich wegen der nahenden Nacht zusammendrängten, sahen aus wie Wolken.
»Es wird kühl«, murmelte er, »lass uns hineingehen.« Anstatt ihm zu folgen, machte Emilia sich von ihm los und umklammerte erneut die Reling. Ihr Blick suchte das Ende des Horizonts, doch Himmel und Meer trafen sich nicht mit einem klaren Schnitt, sondern wurden durch ein weißes Band vereint, vielleicht weitere Berge, vielleicht nur Wolken.
»Ich muss mit dir reden«, murmelte sie. »Es ... es geht um das Geheimnis, das ich dir anvertraut habe. Mein Geheimnis.« Im Wind flatterte sein Mantel so heftig wie ihr Kleid. »Nun ist es kein Geheimnis mehr«, stellte er fest.
»Ja«, sagte sie leise. »Ja, nun weißt du es ... Nun weißt du alles. Doch ich frage mich ... «
Sie brach ab.
Am Ufer wirbelte der Wind Staub und Sand auf und trug beides Richtung Schiff. Hinter dem Staub ballte sich die Sonne, eben noch von Dunst zerfranst, zu einer glühenden Faust. Kurz schien der graue Himmel zu brennen; das Meer leuchtete ein letztes Mal golden auf, dann sog die Nacht alle Farben aus dem Land. Das Wasser wurde pechschwarz, und bleich trat am Abendhimmel die Mondsichel hervor.
Emilia seufzte.
»Ja, nun weißt du alles«, wiederholte sie. »Doch ich frage mich, ob du mit diesem Wissen leben kannst.«
ERSTES BUCH
Das Ende der Welt
1881-1882
1. Kapitel
Die junge Frau rannte um ihr Leben. Trotz allem, was geschehen war, fand sie die Kraft,
zu fliehen und ihre Schmerzen zu ignorieren - es waren schreckliche Schmerzen. Ihr Körper war über und über von Kratzern, Schrammen und blauen Flecken übersät. Ihre Füße brannten, als hätte sich ihre Haut aufgelöst und als würde sie auf rohem Fleisch laufen. Ihr Kopf dröhnte, ihre Kehle schien zu zerbersten. Und dennoch hielt sie nicht inne, legte vielmehr an Tempo zu und wurde erst dann langsamer, als der Durst übermächtig wurde. Als sie ein Rauschen hörte, blieb sie erstmals stehen und hob den Kopf.
Das Rauschen stammte von einem kleinen Fluss, dessen Wasser in der Sonne türkis funkelte. Sie wankte darauf zu, doch ehe sie ihn erreichte, verfingen sich ihre Füße im Gestrüpp; sie stolperte, verlor die Balance, fiel auf trockene Erde. Ächzend und mit geschlossenen Augen robbte sie weiter, zerkratzte sich die Hände noch mehr, schürfte sich die ohnehin blutigen Knie weiter auf. Unbarmherzig brannte die Sonne auf sie herab.
Durst, sie hatte so schrecklichen Durst, und das Wasser, es war doch so nah!
Aber sie konnte es nicht erreichen - noch nicht. Immer wieder wurde sie von ihrem ausgelaugten Körper gezwungen, liegen zu bleiben, und jedes Mal fürchtete sie, von alles vernichtender Schwärze überwältigt zu werden. Doch sie gab nicht auf, robbte weiter, und endlich tauchten ihre Finger in das kühle Nass. Die Spitzen ihres langen schwarzen Haars fielen hinein, die Strömung spielte mit ihnen, und schließlich versenkte sie ihren ganzen Kopf im Fluss, öffnete den Mund und ließ das kalte Wasser einfach hineinfließen. Während sie mit Mühsal schluckte, fühlte es sich an, als würden kleine Messer in ihre Brust schneiden, aber zugleich kehrten neue Lebenskräfte in ihren geschundenen Körper zurück.
Prustend tauchte sie nach einer Weile wieder auf. Das nasse Haar hing über ihr Gesicht. Sie strich es zurück, starrte auf den Fluss, der verschwommen ihr Spiegelbild reflektierte - und erkannte sich nicht wieder. War das ihr Gesicht, ihr Körper, ihre Hände, die sie nun ausstreckte, um sich zu waschen, um ihre blutigen Füße zu betasten und Dornen und Stacheln herauszuziehen?
Sie war sich fremd geworden, wusste nicht mehr, wie sie aussah, wer sie war, und sie wusste auch nicht mehr, wie sie hieß.
»Mein Name«, fragte sie laut in die Stille, »wo ist mein Name geblieben?«
Nachdem sie sich notdürftig gereinigt hatte, blieb sie steif sitzen. Die Luft wurde kühler, das Haar trocknete im Wind. Plötzlich zuckte sie zusammen und blickte sich ängstlich um. Ein Geräusch war erklungen, ganz nah an ihrem Ohr - Hufgetrampel, Gelächter, Stimmen, ein Schuss, das Klirren von Säbeln. Sie duckte sich unwillkürlich, sah sich schnell nach einem Versteck um.
Sollte sie versuchen, zu den kümmerlichen, verdorrten Bäumen dort hinten zu laufen? Oder sich einfach ganz flach auf den Boden legen und hoffen, dass die Farbe ihres Wollkleides mit der der Erde verschmolz und die Reiter nicht auf sie achten würden? Allerdings - wenn diese das glitzernde Wasser sahen, würden sie gewiss rasten und trinken. Sie würden sie sofort entdecken, und dann würden sie sie töten. Daran bestand nicht auch nur der geringste Zweifel.
Sie lauschte wieder, hob schließlich vorsichtig den Kopf; das Hufgetrampel klang zwar näher, aber noch war niemand zu sehen. Rasch sprang sie auf, unterdrückte einen Schmerzenslaut, als sich Steinchen in die blutigen Fußsohlen gruben, und wankte zu den Bäumen. Die Äste reichten bis zur Hüfte, sie konnte mühelos auf die niedrigen klettern und sich von dort aus weiter hinaufziehen. Doch der Baum war kahl und bot nicht sonderlich viel Schutz vor Blicken. Wenn nur einer der Soldaten zufällig den Kopf hob, war es um sie geschehen. Er würde sie erschießen, wenn sie viel Glück hatte, mit seinem Säbel aufspießen, wenn sie ein wenig Glück hatte, oder ihr Kleid zerfetzen, ihr ins Gesicht schlagen und sie schänden, wenn sie gar kein Glück hatte.
Das Geäst knirschte, sie war sich nicht sicher, ob es nicht zu morsch war, um ihrem Gewicht standzuhalten. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Die Soldaten kamen um die Ecke, deuteten auf das Wasser, ritten darauf zu. Ein Kondor zog am blauen Himmel seine Kreise, warf seinen Schatten auf sie.
Die Soldaten sprangen von den Pferden, stürzten auf das Wasser zu, johlten lustvoll, als es ihre trockenen Kehlen nässte. Wahrscheinlich wuschen sie sich ihre blutigen Hände darin. Es musste viel Blut sein. Sie hatten so viele getötet.
Die Soldaten waren am helllichten Tag in der Mission eingefallen, als die junge Frau und ihre Familie gerade beim Essen zusammengesessen waren. Ihre Mahlzeit war wie immer einfach, aber reichlich ausgefallen: Es hatte gekochte Bohnen und Kichererbsen gegeben, flache, noch heiße und krosse Fladen sowie Nüsse der Pinienbäume, die die Größe von Datteln hatten.
Sie leckte sich über die trockenen Lippen und schluchzte auf, als sie daran dachte, dass es für alle, mit denen sie gegessen hatte, die letzte Mahlzeit gewesen war.
Ihre Großmutter war tot.
Ihr Vater auch.
Die Soldaten, die wie aus dem Nichts gekommen waren, hatten die ganze Mission ausgerottet. Sie hatte als Einzige überlebt.
Die Soldaten stapften knietief ins Wasser, spritzten sich lachend nass.
Sie hielt den Atem an, während sie sie beobachtete, und umkrampfte den Ast so fest, dass sich die Rinde in ihre Handinnenfläche bohrte. Doch der Schmerz war so nichtig - gemessen an ihrer Todesangst. Ja, sie hatte Todesangst. Sie wusste nicht mehr, wie sie hieß, sie wusste nicht, wie sie ohne ihre Familie in einer grausamen Welt bestehen sollte, in der Soldaten wahllos mordeten. Aber sie wusste, dass sie leben wollte.
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Autoren-Porträt von Carla Federico
Federico, CarlaCarla Federico ist eine österreichische Autorin, die unter anderem Geschichte studiert hat und heute als freie Autorin in Frankfurt am Main lebt. Ihre große Leidenschaft fürs Reisen hat sie in zahlreiche Länder geführt - und auch auf diverse Kreuzfahrtschiffe. Für ihren Roman hat sie intensive Recherchen betrieben und viele Originalquellen und Reiseberichte von der ersten Kreuzfahrt studiert, um detailgenau das Bordleben und die Landausflüge zu beschreiben.
Bibliographische Angaben
- Autor: Carla Federico
- 2011, 2. Aufl., 757 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426504405
- ISBN-13: 9783426504406
- Erscheinungsdatum: 26.04.2011
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