Die Spur des Fuchses / Commissario Montalbano Bd.12
Commissario Montalbanos zwölfter Fall. Roman
Hat Commissario Montalbano neuerdings das "zweite Gesicht"? Er träumt von einem Pferd und findet tags darauf ein verendetes Pferd am Strand. Kurz darauf meldet sich eine Turnierreiterin bei ihm, die ihr wertvolles Tier vermisst. Die Spur führt zu dem Züchter Lo Duca.
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Produktinformationen zu „Die Spur des Fuchses / Commissario Montalbano Bd.12 “
Hat Commissario Montalbano neuerdings das "zweite Gesicht"? Er träumt von einem Pferd und findet tags darauf ein verendetes Pferd am Strand. Kurz darauf meldet sich eine Turnierreiterin bei ihm, die ihr wertvolles Tier vermisst. Die Spur führt zu dem Züchter Lo Duca.
Klappentext zu „Die Spur des Fuchses / Commissario Montalbano Bd.12 “
Das Verschwinden eines kostbaren Turnierpferds gibt Commissario Montalbano Rätsel auf. Schließlich hatte die erfolgreiche Reiterin Rachele Estermann es beim Züchter Lo Duca untergebracht, der immerhin Schutz von höchster Stelle genießt. Wie sich zeigt, hat Lo Duca so manches zu verbergen, nicht zuletzt den mysteriösen Tod eines seiner Angestellten. Doch ehe der Commissario Lo Ducas dunkles Geheimnis enttarnen kann, gilt es herauszufinden, welche Rolle die sphinxhafte Rachele in dem mörderischen Verwirrspiel hat ...
Lese-Probe zu „Die Spur des Fuchses / Commissario Montalbano Bd.12 “
Die Spur des Fuchses von Andrea CamilleriEins
Er öffnete die Augen und machte sie gleich wieder zu.
Das ging schon eine ganze Weile so, dass er sich dem Aufwachen verweigerte. Grund dafür war nicht, dass er weiterträumen wollte, denn er hatte mittlerweile immer seltener angenehme Träume. Nein, es war schlicht und einfach die Lust, noch ein wenig länger in der dunklen, tiefen, wohlig warmen Höhle des Schlafs zu verweilen, die sich ganz weit unten verbarg, wo niemand ihn finden konnte.
Doch er wusste, dass er hoffnungslos wach war. Und so lauschte er weiter mit fest geschlossenen Augen auf das Rauschen des Meeres.
An diesem Morgen war das Rauschen ganz leicht und leise, fast wie das Rascheln von Blättern, und wiederholte sich auf die stets gleiche Art, was ein Zeichen dafür war, dass die Rollbrandung mit ihrem Vor und Zurück ruhig atmete. Und daher würde es ein schöner Tag werden, windstill. Er schlug die Augen auf und sah auf die Uhr. Es war sieben. Er wollte gerade aufstehen, da fiel ihm ein, dass er einen Traum gehabt hatte, von dem ihm jedoch nur noch einzelne verschwommene zusammenhangslose Bilder in Erinnerung geblieben waren. Eine ausgezeichnete Entschuldigung, um das Aufstehen noch einen winzig kleinen Augenblick hinauszuzögern. Er legte sich wieder hin, schloss die Augen noch einmal und versuchte dabei, die durcheinandergewirbelten Fotogramme in die Abfolge des Traums zu bringen.
... mehr
Die Person, die auf einer weitläufigen Grasfläche neben ihm stand, war eine Frau. Jetzt erkannte er, dass es Livia war - und auch wieder nicht. Sie hatte lediglich Livias Gesicht, aber ihr Körper war zu massig, entstellt durch zwei Pobacken von derartigem Ausmaß, dass die Frau nur mit Mühe gehen konnte.
Im Übrigen fühlte er sich so müde wie nach einem ausgedehnten Spaziergang, obwohl er keine Vorstellung davon hatte, wie lange sie eigentlich schon unterwegs waren.
Da fragte er sie:
»Ist es noch weit?«
»Bist du etwa schon müde? Nicht mal ein kleines Kind würde so schnell müde werden! Wir sind fast da.«
Die Stimme war nicht die von Livia, sie war blechern und viel zu schrill.
Nach etwa hundert Schritten kamen sie an ein offen stehendes schmiedeeisernes Tor. Auf der anderen Seite des Tors setzte sich die grasbewachsene Fläche fort.
Was machte dieses Tor hier, wo doch weit und breit weder eine Straße noch ein Haus zu sehen war? Das wollte er die Frau fragen, tat es dann aber doch nicht, um nicht wieder ihre unangenehme Stimme hören zu müssen.
Die Absurdität, durch ein Tor zu gehen, das keinen Zweck erfüllte und nirgends hinführte, kam ihm so lächerlich vor, dass er einen Schritt zur Seite tat und darum herumging.
»Nein!«, rief die Frau. »Was machst du denn da? Das ist nicht erlaubt! Das könnte die Herrschaften erzürnen!« Ihre Stimme war so schrill, dass sie jeden Augenblick sein Trommelfell zu durchbohren drohte. Von welchen Herrschaften sprach sie da überhaupt? Dennoch gehorchte er. Sobald sie durch das Tor gegangen waren, veränderte sich die Landschaft, sie wurde zu einer Pferderennbahn, zu einem Hippodrom mit einer Rennstrecke. Aber es war kein einziger Zuschauer da, die Tribünen waren menschenleer. Da merkte er, dass er statt Schuhen gespornte Stiefel trug und ganz wie ein Jockey gekleidet war. Heilige Muttergottes, was wollte man da von ihm? Noch nie in seinem Leben hatte er ein Pferd bestiegen. Oder vielleicht doch, als er zehn Jahre alt war und sein Onkel ihn aufs Land mitgenommen hatte, wo ...
»Besteig mich«, sagte die raue Stimme.
Er drehte sich um und sah die Frau an.
Sie war keine Frau mehr, sondern eher ein Pferd. Sie hatte sich auf alle viere niedergelassen, doch die Hufe an Händen und Füßen waren eindeutig unecht, sie bestanden aus Knochen, und sie war mit ihren Füßen da hineingeschlüpft, als wären es Pantoffeln.
Sie trug Sattel und Zaumzeug.
»Besteig mich schon, los«, wiederholte sie.
Er stieg auf, und sie galoppierte davon wie der Blitz. Putupùm, putupùm, putupùm ...
»Stehen bleiben, stehen bleiben!«
Doch sie lief nur noch schneller. Irgendwann stürzte er zu Boden, sein linker Fuß hing immer noch im Steigbügel, aber die Stute wieherte nur, nein, sie lachte und lachte und lachte ... Dann stolperte die Stutenfrau plötzlich über die Vorderläufe, stieß einen Wiehern aus, und er, so unversehens frei, floh Hals über Kopf davon.
Er mochte sich noch so sehr den Kopf zerbrechen, an mehr konnte er sich nicht erinnern. Er machte die Augen wieder auf, ging zum Fenster und stieß die Läden auf.
Und das Erste, was er sah, war ein Pferd. Es lag seitlich auf dem Sand und rührte sich nicht.
Für einen Augenblick stand er völlig fassungslos da. Er glaubte immer noch zu träumen. Dann wurde ihm klar, dass das Tier auf dem Sand Wirklichkeit war. Aber warum war das Pferd ausgerechnet vor seinem Haus gestorben? Mit Sicherheit hatte es ein schwaches Wiehern von sich gegeben, als es gestürzt war, und das hatte ihn dazu gebracht, im Schlaf den Traum von der Stutenfrau zusammenzufantasieren.
Er beugte sich aus dem Fenster, um besser sehen zu können. Weit und breit keine Menschenseele. Der Fischer, der jeden Morgen dort unten mit seinem Boot ablegte, war inzwischen zu einem schwarzen Punkt weit draußen geschrumpft. Auf dem festen Teil des Sandstrands, nahe dem Meeressaum, hatten die Hufe des Pferdes eine Reihe von Abdrücken hinterlassen, deren Anfang man nicht ausmachen konnte.
Das Pferd war von weit her gekommen.
Schnell zog er sich Hose und Hemd über, öffnete die Glastür und stieg von der Veranda zum Strand hinunter.
Als er unmittelbar vor dem Tier stand und es genauer betrachtete, packte ihn unbändiger Zorn.
»Bastarde! Scheißkerle!«
Das Tier war blutüberströmt, man hatte ihm den Schädel mit einer Eisenstange zertrümmert, der ganze Körper war von einer Reihe brutaler Schläge gezeichnet. An mehreren Stellen klafften tiefe offene Wunden, aus denen Fleischstücke heraushingen. Offenbar war es dem Pferd, obwohl es derart zerschunden war, trotzdem gelungen zu fliehen, und in seiner Verzweiflung war es gerannt, bis es vor Erschöpfung zusammenbrach.
Montalbano war vor Wut so außer sich, dass er, wenn er einen von denen, die dieses Pferd umgebracht hatten, in die Finger bekommen hätte, ihm genau das gleiche Ende bereitet haben würde. Er folgte den Spuren.
Manchmal waren sie unterbrochen, und man sah statt dessen Abdrücke, die darauf hindeuteten, dass das arme Tier auf die Knie gesunken war, nachdem ihm die Vorderläufe versagt hatten.
Montalbano ging fast eine Dreiviertelstunde, bis er schließlich an die Stelle kam, an der das Pferd massakriert worden war.
Die Oberfläche des Sands war hier wegen des gewalttätigen Angriffs fest wie der Boden einer Zirkusmanege, auf dem sich überlagernde Schuh- und Hufabdrücke erkennbar waren. Ringsum verstreut lagen da auch ein langes abgerissenes Seil, mit dem sie das Tier gehalten hatten, und drei blutverkrustete Eisenstangen. Er fing an, die Abdrücke der Schuhe zu zählen, was alles andere als einfach war. Er kam zu dem Schluss, dass das Pferd von höchstens vier Leuten getötet worden sein musste. Aber noch zwei weitere hatten, reglos am Rand des Sandstreifens stehend, dem grausamen Schauspiel beigewohnt und dabei die eine oder andere Zigarette geraucht.
Montalbano kehrte wieder zu seinem Haus zurück und rief von dort aus das Kommissariat an.
»Hallo? Hier spricht ...«
»Catarella, Montalbano hier.«
»Ah, Dottori! Sie sind's? Was ist passiert, Dottori?«
»Ist Dottor Augello da?«
»Noch ist er nicht anwesend.«
»Dann gib mir Fazio, wenn der da ist.«
»Unverzüglichgleich, Dottori.«
Nicht einmal eine Minute verging.
»Dottore, da bin ich.«
»Hör zu, Fazio, komm sofort her zu mir nach Marinella und bring auch Gallo und Galluzzo mit, wenn sie da sind.«
»Ist was passiert?«
»Ja.«
Er ließ die Haustür offen und machte einen langen Strandspaziergang. Angesichts des barbarischen Mords an dem armen Tier hatte ihn blindwütiger Zorn gepackt. Er kehrte zu dem Pferd zurück und setzte sich in den Sand, um es aus nächster Nähe zu betrachten. Sie hatten ihm mit den Stangen auch auf den Bauch geschlagen, vielleicht als das Pferd sich aufbäumte. Dann bemerkte er, dass sich eines der Hufeisen fast vollständig vom Huf gelöst hatte. Er legte sich bäuchlings auf den Sand, streckte einen Arm aus und berührte es. Es baumelte herunter, nur noch von einem einzigen Nagel gehalten, der zur Hälfte aus dem Huf herausgetreten war. In diesem Moment trafen Fazio, Gallo und Galluzzo ein, gingen auf die Veranda, erblickten den Commissario und stiegen die Stufen zum Strand hinunter. Sie sahen das Pferd und stellten keine Fragen.
Nur Fazio machte eine Bemerkung.
»Es gibt echte Dreckskerle auf dieser Welt!«
»Gallo, meinst du, du schaffst es, das Auto hierherzubringen und dann am Ufer entlangzufahren?«, fragte Montalbano.
Gallo grinste süffisant.
»Was sollte dagegensprechen, Dottore?«
»Galluzzo, du fährst mit. Wenn ihr den Spuren des Pferdes folgt, werdet ihr ohne Probleme die Stelle finden, wo dieses Massaker stattgefunden hat. Da liegen Eisenstangen herum, Zigarettenstummel und möglicherweise auch noch andere Dinge. Seht euch einfach um. Sammelt alles mit äußerster Vorsicht ein, ich will Fingerabdrücke feststellen lassen, die dNa, einfach alles, was nötig ist, um herauszufinden, wer diese Schurken waren.«
»Und was machen wir dann? Zeigen wir sie beim Tierschutzbund an?«, fragte Fazio, während die beiden anderen losfuhren.
»Warum? Glaubst du, die Angelegenheit wäre damit erledigt?«
»Nein, das glaube ich nicht. Sollte nur 'n Witz sein.« »Also, mir bleibt bei dieser Geschichte das Lachen im Hals stecken. Warum haben die das nur getan?«
Fazio machte ein nachdenkliches Gesicht.
»Dottore, vielleicht wollten sie dem Besitzer einen Denkzettel verpassen.«
»Kann sein. Und das war's dann?«
»Nicht doch, nein. Es gibt da etwas, das sehr viel wahrscheinlicher ist. Ich habe gehört ...«
»Was?«
»Dass seit einiger Zeit illegale Rennen in Vigàta stattfinden.«
»Und deshalb denkst du, das tote Pferd könnte die Folge von etwas sein, das in diesen Kreisen passiert ist?«
»Was denn sonst? Wir müssen nur die Folge der Folge abwarten, die es unweigerlich geben wird.«
»Aber es wäre doch wohl besser, wenn wir dieser Folge zuvorkommen würden, oder nicht?«, sagte Montalbano. »Sicher wäre das besser, aber das wird schwierig.«
»Na ja, fangen wir doch mal mit der Feststellung an, dass die das Pferd gestohlen haben müssen, bevor sie es umgebracht haben.«
»Dottore, machen Sie Witze? Da wird doch niemand eine Anzeige wegen Pferdediebstahls erstatten. Dann könnte er ja auch gleich zu uns kommen und sagen: Hallo, ich bin einer der Organisatoren der illegalen Rennen.«
»Ist das ein großes Geschäft?«
»Es geht um Wetteinsätze in Höhe von Millionen und Abermillionen Euro.«
»Und wer steckt dahinter?«
»Da wird der Name von Michilino Prestia genannt.« »Und wer ist das?«
»Ach, irgend so ein Trottel, Dottore, muss so um die fünfzig sein und war bis vor einem Jahr Buchhalter in einer Baufirma.«
»Aber das hier sieht mir nicht nach der Angelegenheit eines vertrottelten Buchhalters aus.«
»Sicher nicht, Dottore. Aber Prestia ist ja auch nur ein Strohmann.«
»Für wen?«
»Weiß man nicht.«
»Dann sieh mal zu, dass man's weiß.«
»Werd's versuchen.«
Nachdem sie ins Haus zurückgekehrt waren, ging Fazio in die Küche, um einen Espresso zu machen, und Montalbano rief die Gemeindeverwaltung an, um mitzuteilen, dass auf dem Strand von Marinella der Kadaver eines Pferdes liege.
»Gehört das Pferd Ihnen?«
»Nein.«
»Lassen Sie uns offen miteinander reden, hochwerter Signore. «
»Wieso, wie rede ich denn? Geheimnisvoll?«
»Nein, es geht nur darum, dass Leute oft behaupten, ein totes Tier wäre nicht ihr Eigentum, damit sie die Kosten für den Abtransport nicht zahlen müssen.«
»Ich habe Ihnen gesagt, es gehört nicht mir.«
»Das glauben wir Ihnen. Wissen Sie, wem es gehört?« »Nein.«
»Das glauben wir Ihnen. Wissen Sie, woran es gestorben ist?«
Montalbano überlegte hin und her und beschloss dann, dem Verwaltungsangestellten nichts zu erzählen.
»Ich weiß es nicht, ich habe den Kadaver von meinem Fenster aus gesehen.«
»Folglich waren Sie nicht dabei, als es gestorben ist.« »Offensichtlich nicht.«
»Das glauben wir Ihnen«, sagte der Angestellte.
Und daraufhin fing er an, Tu che a Dio spiegasti l'ali aus Donizettis Oper Lucia di Lammermoor vor sich hin zu trällern.
Trauergesang für das Pferd? Eine freundliche Hommage der Gemeindeverwaltung zum Zeichen ihrer Anteilnahme? »Also, was ist?«, fragte Montalbano.
»Ich habe nachgedacht«, sagte der Sachbearbeiter. »Was gibt's denn da nachzudenken?«
»Wer für die Beseitigung des Kadavers zuständig ist.« »Seid ihr denn nicht dafür zuständig?«
»Wir wären dafür zuständig, wenn es sich um einen Fall für Artikel 11 handeln würde. Wenn es sich hingegen um einen Fall für Artikel 23 handelt, ist die Provinzialbehörde für Hygiene zuständig.«
»Hören Sie, wo Sie mir bis jetzt alles geglaubt haben, sollten Sie das auch weiterhin tun. Eines kann ich Ihnen nämlich versichern: Wenn Sie den Kadaver nicht binnen einer Viertelstunde hier abgeholt haben, werde ich Sie ...«
»Dürfte ich vielleicht erfahren, wer Sie überhaupt sind?« »Ich bin Commissario Montalbano.«
Auf der Stelle änderte sich der Ton des Sachbearbeiters.
»Es handelt sich um einen Artikel 11, kein Zweifel, Commissario.«
Da verspürte Montalbano mit einem Mal den Drang, den anderen ein bisschen zu foppen.
»Damit wärt ihr für die Beseitigung des Kadavers zuständig?«
»Sicher.«
»Ganz sicher?«
Der Verwaltungsangestellte wurde nervös.
»Wieso fragen Sie mich, ob ...«
»Ich will nur nicht, dass die von der Provinzialbehörde für Hygiene nachher irgendwie eingeschnappt sind. Sie wissen doch, wie das läuft mit diesen Zuständigkeitsgeschichten ... Das sage ich jetzt nur in Ihrem Interesse, ich will ja nicht, dass ...«
»Keine Sorge, Commissario. Das ist ganz eindeutig ein Artikel 11. In einer halben Stunde kommt jemand vorbei, seien Sie unbesorgt. Meine Verehrung.«
Fazio und Montalbano tranken den Espresso in der Küche, während sie auf die Rückkehr von Gallo und Galluzzo warteten. Dann ging der Commissario unter die Dusche, rasierte sich, wechselte Hose und Hemd, weil sie schmutzig geworden waren, und als er wieder ins Esszimmer kam, sah er Fazio auf der Veranda im Gespräch mit zwei Männern, die gekleidet waren wie Astronauten unmittelbar nach Verlassen ihres Raumschiffs.
Auf dem Strand stand ein kleiner Fiat Transporter, dessen hintere Türen geschlossen waren. Das Pferd war nicht mehr zu sehen. Sie hatten es wohl schon eingeladen. »Dottore, könnten Sie wohl mal einen Augenblick kommen?«, fragte Fazio.
»Bin schon hier. Buongiorno.«
»Buongiorno«, sagte einer der beiden Astronauten.
Der andere beschränkte sich darauf, ihn über den Rand der Maske hinweg schief anzuschauen.
»Sie finden den Kadaver nicht«, sagte Fazio verlegen.
»Wie denn das?«, sagte Montalbano völlig baff. »Aber der lag doch eben noch hier!«
»Wir haben überall gesucht, ihn aber nirgends gefunden«, sagte der Mitteilsamere der beiden Astronauten.
»Sollte das vielleicht ein Scherz sein? Wollen Sie uns zum Narren halten?«, fragte der andere drohend.
»Hier macht keiner Scherze«, sagte Fazio, dem das Ganze allmählich gewaltig auf die Nerven ging. »Was glaubst du eigentlich, wen du vor dir hast?«
Sein Gegenüber öffnete den Mund und wollte antworten, überlegte es sich dann aber doch anders und machte ihn wieder zu.
Montalbano stieg die Verandatreppe hinunter, um an der Stelle nachzusehen, an der vorher der Kadaver gelegen hatte. Die anderen folgten ihm.
Auf dem Sand sahen sie jetzt fünf oder sechs unterschiedliche Schuhabdrücke und die beiden parallel verlaufenden Spurrillen eines zweirädrigen Karrens.
Unterdessen stiegen die beiden Astronauten in ihren Transporter und fuhren davon, ohne sich zu verabschieden.
»Die haben den Kadaver geklaut, während wir unseren Espresso getrunken haben«, sagte der Commissario. »Und haben ihn dann auf einen Handkarren gehievt.«
»In der Gegend um Montereale, ungefähr drei Kilometer von hier, stehen an die zehn Baracken, in denen Leute aus Nicht-EU-Staaten untergebracht sind«, sagte Fazio. »Bei denen gibt's heute Abend bestimmt ein Festmahl mit Pferdefleisch.«
In diesem Augenblick sahen sie ihr Auto wieder zurückkehren.
»Wir haben alles eingesammelt, was wir gefunden haben«, sagte Galluzzo.
»Und was habt ihr gefunden?«
»Drei Stangen, ein Stück Seil, elf Zigarettenstummel von zwei verschiedenen Marken und ein leeres Bic-Feuerzeug«, antwortete Galluzzo wieder.
»Dann machen wir jetzt Folgendes«, sagte Montalbano. »Du, Gallo, fährst zur Spurensicherung und gibst denen die Stangen und das Feuerzeug. Du, Galluzzo, packst das Seil und die Stummel ein und bringst sie in mein Büro. Danke für alles, wir sehen uns im Kommissariat. Ich muss noch ein paar private Telefongespräche führen.«
Gallo schien Zweifel zu hegen.
»Was ist?«
»Was soll ich denen von der Spurensicherung denn sagen?« »Dass sie die Fingerabdrücke nehmen sollen.«
Das schürte Gallos Zweifel noch mehr.
»Und wenn die mich fragen, was passiert ist, was sage ich denen dann? Dass wir wegen einem getöteten Gaul ermitteln? Die treten mir doch in den Hintern und schmeißen mich achtkantig raus!«
»Sag ihnen, es hätte eine Schlägerei mit mehreren Verletzten gegeben und dass wir jetzt die Angreifer identifizieren müssen.«
Als Montalbano wieder allein war, ging er ins Haus, zog Schuhe und Socken aus, krempelte die Hosenbeine hoch und ging noch einmal zum Strand hinunter.
Diese Geschichte mit den Leuten, die nicht aus der EU waren und das tote Pferd gestohlen haben sollten, um es zu essen, fand er wenig überzeugend. Wie lange hatten Fazio und er eigentlich mit dem Espresso in der Küche gestanden und sich unterhalten? Doch höchstens eine halbe Stunde.
Und in dieser halben Stunde sollen die Asylanten Zeit gehabt haben, auf das Pferd aufmerksam zu werden, zu ihren drei Kilometer entfernten Baracken zurückzulaufen, einen Karren zu organisieren, wieder herzukommen, das Tier aufzuladen und es wegzuschleppen?
Das wäre doch gar nicht möglich gewesen.
Es sei denn, sie hatten den Kadaver schon frühmorgens entdeckt, noch bevor er das Fenster öffnete. Als sie dann mit dem Karren zurückgekommen waren, hatten sie ihn bei dem Pferd gesehen und sich in der Umgebung versteckt, um auf einen günstigen Augenblick zu warten.
Nach ungefähr fünfzig Metern machten die Spurrillen eine Kurve und verliefen vom Meer weg in Richtung Landesinneres, wo sich ein offener Platz befand, dessen Betondecke ganz mit Rissen übersät war. Schon als Commissario Montalbano nach Marinella gekommen war, hatte es hier so ausgesehen. Von diesem Platz aus konnte man ohne größere Schwierigkeiten die Provinzialstraße erreichen.
»Augenblick mal«, sagte er zu sich. »Jetzt noch mal ganz genau nachdenken.«
Sicher, die Männer aus den Nicht-EU-Staaten wären auf der Provinzialstraße mit dem Karren besser und schneller voran gekommen als auf dem Sand. Aber war das klug, wenn sie von allen vorbeifahrenden Autos dort gesehen werden konnten? Und was, wenn unter diesen Autos eines von der Polizei oder den Carabinieri war?
Bestimmt wären sie dann angehalten worden und hätten eine Menge Fragen beantworten müssen. Und da hätte es leicht passieren können, dass dabei auch mit den Abschiebungspapieren gewedelt worden wäre.
Nein, so blöde waren die nicht.
Was denn dann?
Es gab noch eine andere mögliche Erklärung.
Dass nämlich diejenigen, die den Kadaver weggeschafft hatten, keineswegs von außerhalb waren, sondern vielmehr von ganz innerhalb, genauer gesagt, dass sie aus Vigàta stammten.
Oder aus der Umgebung.
Und warum hatten sie das gemacht? Um den Kadaver sicherzustellen und anschließend verschwinden zu lassen. Vielleicht hatte sich die Sache ja folgendermaßen abgespielt: Dem Pferd gelang es zu fliehen, und jemand rennt ihm nach, um es vollends zu töten. Doch er ist gezwungen, stehen zu bleiben, weil Leute wie etwa der frühe Fischer am Strand sind, die zu gefährlichen Zeugen werden könnten. Er kehrt um und verständigt den Boss. Der kommt zu dem Schluss, dass der Kadaver unbedingt weggeschafft werden muss. Und er organisiert die Sache mit dem Karren. Doch dann wacht er, Montalbano, auf und vermasselt ihm die Tour. Diejenigen, die das Pferd beseitigt hatten, waren dieselben, die es auch getötet hatten.
Ja, genau so musste es gewesen sein.
Und ganz sicher hatte auf der Provinzialstraße, auf Höhe des offenen Platzes, ein Transporter bereitgestanden, um Pferd und Karren einzuladen.
Nein, die Typen aus den Nicht-EU-Staaten hatten mit der Sache gar nichts zu tun.
...
Übersetzung: Moshe Kahn
Copyright © 2010 by Bastei Lübbe GmbH k Co. KG, Köln
Die Person, die auf einer weitläufigen Grasfläche neben ihm stand, war eine Frau. Jetzt erkannte er, dass es Livia war - und auch wieder nicht. Sie hatte lediglich Livias Gesicht, aber ihr Körper war zu massig, entstellt durch zwei Pobacken von derartigem Ausmaß, dass die Frau nur mit Mühe gehen konnte.
Im Übrigen fühlte er sich so müde wie nach einem ausgedehnten Spaziergang, obwohl er keine Vorstellung davon hatte, wie lange sie eigentlich schon unterwegs waren.
Da fragte er sie:
»Ist es noch weit?«
»Bist du etwa schon müde? Nicht mal ein kleines Kind würde so schnell müde werden! Wir sind fast da.«
Die Stimme war nicht die von Livia, sie war blechern und viel zu schrill.
Nach etwa hundert Schritten kamen sie an ein offen stehendes schmiedeeisernes Tor. Auf der anderen Seite des Tors setzte sich die grasbewachsene Fläche fort.
Was machte dieses Tor hier, wo doch weit und breit weder eine Straße noch ein Haus zu sehen war? Das wollte er die Frau fragen, tat es dann aber doch nicht, um nicht wieder ihre unangenehme Stimme hören zu müssen.
Die Absurdität, durch ein Tor zu gehen, das keinen Zweck erfüllte und nirgends hinführte, kam ihm so lächerlich vor, dass er einen Schritt zur Seite tat und darum herumging.
»Nein!«, rief die Frau. »Was machst du denn da? Das ist nicht erlaubt! Das könnte die Herrschaften erzürnen!« Ihre Stimme war so schrill, dass sie jeden Augenblick sein Trommelfell zu durchbohren drohte. Von welchen Herrschaften sprach sie da überhaupt? Dennoch gehorchte er. Sobald sie durch das Tor gegangen waren, veränderte sich die Landschaft, sie wurde zu einer Pferderennbahn, zu einem Hippodrom mit einer Rennstrecke. Aber es war kein einziger Zuschauer da, die Tribünen waren menschenleer. Da merkte er, dass er statt Schuhen gespornte Stiefel trug und ganz wie ein Jockey gekleidet war. Heilige Muttergottes, was wollte man da von ihm? Noch nie in seinem Leben hatte er ein Pferd bestiegen. Oder vielleicht doch, als er zehn Jahre alt war und sein Onkel ihn aufs Land mitgenommen hatte, wo ...
»Besteig mich«, sagte die raue Stimme.
Er drehte sich um und sah die Frau an.
Sie war keine Frau mehr, sondern eher ein Pferd. Sie hatte sich auf alle viere niedergelassen, doch die Hufe an Händen und Füßen waren eindeutig unecht, sie bestanden aus Knochen, und sie war mit ihren Füßen da hineingeschlüpft, als wären es Pantoffeln.
Sie trug Sattel und Zaumzeug.
»Besteig mich schon, los«, wiederholte sie.
Er stieg auf, und sie galoppierte davon wie der Blitz. Putupùm, putupùm, putupùm ...
»Stehen bleiben, stehen bleiben!«
Doch sie lief nur noch schneller. Irgendwann stürzte er zu Boden, sein linker Fuß hing immer noch im Steigbügel, aber die Stute wieherte nur, nein, sie lachte und lachte und lachte ... Dann stolperte die Stutenfrau plötzlich über die Vorderläufe, stieß einen Wiehern aus, und er, so unversehens frei, floh Hals über Kopf davon.
Er mochte sich noch so sehr den Kopf zerbrechen, an mehr konnte er sich nicht erinnern. Er machte die Augen wieder auf, ging zum Fenster und stieß die Läden auf.
Und das Erste, was er sah, war ein Pferd. Es lag seitlich auf dem Sand und rührte sich nicht.
Für einen Augenblick stand er völlig fassungslos da. Er glaubte immer noch zu träumen. Dann wurde ihm klar, dass das Tier auf dem Sand Wirklichkeit war. Aber warum war das Pferd ausgerechnet vor seinem Haus gestorben? Mit Sicherheit hatte es ein schwaches Wiehern von sich gegeben, als es gestürzt war, und das hatte ihn dazu gebracht, im Schlaf den Traum von der Stutenfrau zusammenzufantasieren.
Er beugte sich aus dem Fenster, um besser sehen zu können. Weit und breit keine Menschenseele. Der Fischer, der jeden Morgen dort unten mit seinem Boot ablegte, war inzwischen zu einem schwarzen Punkt weit draußen geschrumpft. Auf dem festen Teil des Sandstrands, nahe dem Meeressaum, hatten die Hufe des Pferdes eine Reihe von Abdrücken hinterlassen, deren Anfang man nicht ausmachen konnte.
Das Pferd war von weit her gekommen.
Schnell zog er sich Hose und Hemd über, öffnete die Glastür und stieg von der Veranda zum Strand hinunter.
Als er unmittelbar vor dem Tier stand und es genauer betrachtete, packte ihn unbändiger Zorn.
»Bastarde! Scheißkerle!«
Das Tier war blutüberströmt, man hatte ihm den Schädel mit einer Eisenstange zertrümmert, der ganze Körper war von einer Reihe brutaler Schläge gezeichnet. An mehreren Stellen klafften tiefe offene Wunden, aus denen Fleischstücke heraushingen. Offenbar war es dem Pferd, obwohl es derart zerschunden war, trotzdem gelungen zu fliehen, und in seiner Verzweiflung war es gerannt, bis es vor Erschöpfung zusammenbrach.
Montalbano war vor Wut so außer sich, dass er, wenn er einen von denen, die dieses Pferd umgebracht hatten, in die Finger bekommen hätte, ihm genau das gleiche Ende bereitet haben würde. Er folgte den Spuren.
Manchmal waren sie unterbrochen, und man sah statt dessen Abdrücke, die darauf hindeuteten, dass das arme Tier auf die Knie gesunken war, nachdem ihm die Vorderläufe versagt hatten.
Montalbano ging fast eine Dreiviertelstunde, bis er schließlich an die Stelle kam, an der das Pferd massakriert worden war.
Die Oberfläche des Sands war hier wegen des gewalttätigen Angriffs fest wie der Boden einer Zirkusmanege, auf dem sich überlagernde Schuh- und Hufabdrücke erkennbar waren. Ringsum verstreut lagen da auch ein langes abgerissenes Seil, mit dem sie das Tier gehalten hatten, und drei blutverkrustete Eisenstangen. Er fing an, die Abdrücke der Schuhe zu zählen, was alles andere als einfach war. Er kam zu dem Schluss, dass das Pferd von höchstens vier Leuten getötet worden sein musste. Aber noch zwei weitere hatten, reglos am Rand des Sandstreifens stehend, dem grausamen Schauspiel beigewohnt und dabei die eine oder andere Zigarette geraucht.
Montalbano kehrte wieder zu seinem Haus zurück und rief von dort aus das Kommissariat an.
»Hallo? Hier spricht ...«
»Catarella, Montalbano hier.«
»Ah, Dottori! Sie sind's? Was ist passiert, Dottori?«
»Ist Dottor Augello da?«
»Noch ist er nicht anwesend.«
»Dann gib mir Fazio, wenn der da ist.«
»Unverzüglichgleich, Dottori.«
Nicht einmal eine Minute verging.
»Dottore, da bin ich.«
»Hör zu, Fazio, komm sofort her zu mir nach Marinella und bring auch Gallo und Galluzzo mit, wenn sie da sind.«
»Ist was passiert?«
»Ja.«
Er ließ die Haustür offen und machte einen langen Strandspaziergang. Angesichts des barbarischen Mords an dem armen Tier hatte ihn blindwütiger Zorn gepackt. Er kehrte zu dem Pferd zurück und setzte sich in den Sand, um es aus nächster Nähe zu betrachten. Sie hatten ihm mit den Stangen auch auf den Bauch geschlagen, vielleicht als das Pferd sich aufbäumte. Dann bemerkte er, dass sich eines der Hufeisen fast vollständig vom Huf gelöst hatte. Er legte sich bäuchlings auf den Sand, streckte einen Arm aus und berührte es. Es baumelte herunter, nur noch von einem einzigen Nagel gehalten, der zur Hälfte aus dem Huf herausgetreten war. In diesem Moment trafen Fazio, Gallo und Galluzzo ein, gingen auf die Veranda, erblickten den Commissario und stiegen die Stufen zum Strand hinunter. Sie sahen das Pferd und stellten keine Fragen.
Nur Fazio machte eine Bemerkung.
»Es gibt echte Dreckskerle auf dieser Welt!«
»Gallo, meinst du, du schaffst es, das Auto hierherzubringen und dann am Ufer entlangzufahren?«, fragte Montalbano.
Gallo grinste süffisant.
»Was sollte dagegensprechen, Dottore?«
»Galluzzo, du fährst mit. Wenn ihr den Spuren des Pferdes folgt, werdet ihr ohne Probleme die Stelle finden, wo dieses Massaker stattgefunden hat. Da liegen Eisenstangen herum, Zigarettenstummel und möglicherweise auch noch andere Dinge. Seht euch einfach um. Sammelt alles mit äußerster Vorsicht ein, ich will Fingerabdrücke feststellen lassen, die dNa, einfach alles, was nötig ist, um herauszufinden, wer diese Schurken waren.«
»Und was machen wir dann? Zeigen wir sie beim Tierschutzbund an?«, fragte Fazio, während die beiden anderen losfuhren.
»Warum? Glaubst du, die Angelegenheit wäre damit erledigt?«
»Nein, das glaube ich nicht. Sollte nur 'n Witz sein.« »Also, mir bleibt bei dieser Geschichte das Lachen im Hals stecken. Warum haben die das nur getan?«
Fazio machte ein nachdenkliches Gesicht.
»Dottore, vielleicht wollten sie dem Besitzer einen Denkzettel verpassen.«
»Kann sein. Und das war's dann?«
»Nicht doch, nein. Es gibt da etwas, das sehr viel wahrscheinlicher ist. Ich habe gehört ...«
»Was?«
»Dass seit einiger Zeit illegale Rennen in Vigàta stattfinden.«
»Und deshalb denkst du, das tote Pferd könnte die Folge von etwas sein, das in diesen Kreisen passiert ist?«
»Was denn sonst? Wir müssen nur die Folge der Folge abwarten, die es unweigerlich geben wird.«
»Aber es wäre doch wohl besser, wenn wir dieser Folge zuvorkommen würden, oder nicht?«, sagte Montalbano. »Sicher wäre das besser, aber das wird schwierig.«
»Na ja, fangen wir doch mal mit der Feststellung an, dass die das Pferd gestohlen haben müssen, bevor sie es umgebracht haben.«
»Dottore, machen Sie Witze? Da wird doch niemand eine Anzeige wegen Pferdediebstahls erstatten. Dann könnte er ja auch gleich zu uns kommen und sagen: Hallo, ich bin einer der Organisatoren der illegalen Rennen.«
»Ist das ein großes Geschäft?«
»Es geht um Wetteinsätze in Höhe von Millionen und Abermillionen Euro.«
»Und wer steckt dahinter?«
»Da wird der Name von Michilino Prestia genannt.« »Und wer ist das?«
»Ach, irgend so ein Trottel, Dottore, muss so um die fünfzig sein und war bis vor einem Jahr Buchhalter in einer Baufirma.«
»Aber das hier sieht mir nicht nach der Angelegenheit eines vertrottelten Buchhalters aus.«
»Sicher nicht, Dottore. Aber Prestia ist ja auch nur ein Strohmann.«
»Für wen?«
»Weiß man nicht.«
»Dann sieh mal zu, dass man's weiß.«
»Werd's versuchen.«
Nachdem sie ins Haus zurückgekehrt waren, ging Fazio in die Küche, um einen Espresso zu machen, und Montalbano rief die Gemeindeverwaltung an, um mitzuteilen, dass auf dem Strand von Marinella der Kadaver eines Pferdes liege.
»Gehört das Pferd Ihnen?«
»Nein.«
»Lassen Sie uns offen miteinander reden, hochwerter Signore. «
»Wieso, wie rede ich denn? Geheimnisvoll?«
»Nein, es geht nur darum, dass Leute oft behaupten, ein totes Tier wäre nicht ihr Eigentum, damit sie die Kosten für den Abtransport nicht zahlen müssen.«
»Ich habe Ihnen gesagt, es gehört nicht mir.«
»Das glauben wir Ihnen. Wissen Sie, wem es gehört?« »Nein.«
»Das glauben wir Ihnen. Wissen Sie, woran es gestorben ist?«
Montalbano überlegte hin und her und beschloss dann, dem Verwaltungsangestellten nichts zu erzählen.
»Ich weiß es nicht, ich habe den Kadaver von meinem Fenster aus gesehen.«
»Folglich waren Sie nicht dabei, als es gestorben ist.« »Offensichtlich nicht.«
»Das glauben wir Ihnen«, sagte der Angestellte.
Und daraufhin fing er an, Tu che a Dio spiegasti l'ali aus Donizettis Oper Lucia di Lammermoor vor sich hin zu trällern.
Trauergesang für das Pferd? Eine freundliche Hommage der Gemeindeverwaltung zum Zeichen ihrer Anteilnahme? »Also, was ist?«, fragte Montalbano.
»Ich habe nachgedacht«, sagte der Sachbearbeiter. »Was gibt's denn da nachzudenken?«
»Wer für die Beseitigung des Kadavers zuständig ist.« »Seid ihr denn nicht dafür zuständig?«
»Wir wären dafür zuständig, wenn es sich um einen Fall für Artikel 11 handeln würde. Wenn es sich hingegen um einen Fall für Artikel 23 handelt, ist die Provinzialbehörde für Hygiene zuständig.«
»Hören Sie, wo Sie mir bis jetzt alles geglaubt haben, sollten Sie das auch weiterhin tun. Eines kann ich Ihnen nämlich versichern: Wenn Sie den Kadaver nicht binnen einer Viertelstunde hier abgeholt haben, werde ich Sie ...«
»Dürfte ich vielleicht erfahren, wer Sie überhaupt sind?« »Ich bin Commissario Montalbano.«
Auf der Stelle änderte sich der Ton des Sachbearbeiters.
»Es handelt sich um einen Artikel 11, kein Zweifel, Commissario.«
Da verspürte Montalbano mit einem Mal den Drang, den anderen ein bisschen zu foppen.
»Damit wärt ihr für die Beseitigung des Kadavers zuständig?«
»Sicher.«
»Ganz sicher?«
Der Verwaltungsangestellte wurde nervös.
»Wieso fragen Sie mich, ob ...«
»Ich will nur nicht, dass die von der Provinzialbehörde für Hygiene nachher irgendwie eingeschnappt sind. Sie wissen doch, wie das läuft mit diesen Zuständigkeitsgeschichten ... Das sage ich jetzt nur in Ihrem Interesse, ich will ja nicht, dass ...«
»Keine Sorge, Commissario. Das ist ganz eindeutig ein Artikel 11. In einer halben Stunde kommt jemand vorbei, seien Sie unbesorgt. Meine Verehrung.«
Fazio und Montalbano tranken den Espresso in der Küche, während sie auf die Rückkehr von Gallo und Galluzzo warteten. Dann ging der Commissario unter die Dusche, rasierte sich, wechselte Hose und Hemd, weil sie schmutzig geworden waren, und als er wieder ins Esszimmer kam, sah er Fazio auf der Veranda im Gespräch mit zwei Männern, die gekleidet waren wie Astronauten unmittelbar nach Verlassen ihres Raumschiffs.
Auf dem Strand stand ein kleiner Fiat Transporter, dessen hintere Türen geschlossen waren. Das Pferd war nicht mehr zu sehen. Sie hatten es wohl schon eingeladen. »Dottore, könnten Sie wohl mal einen Augenblick kommen?«, fragte Fazio.
»Bin schon hier. Buongiorno.«
»Buongiorno«, sagte einer der beiden Astronauten.
Der andere beschränkte sich darauf, ihn über den Rand der Maske hinweg schief anzuschauen.
»Sie finden den Kadaver nicht«, sagte Fazio verlegen.
»Wie denn das?«, sagte Montalbano völlig baff. »Aber der lag doch eben noch hier!«
»Wir haben überall gesucht, ihn aber nirgends gefunden«, sagte der Mitteilsamere der beiden Astronauten.
»Sollte das vielleicht ein Scherz sein? Wollen Sie uns zum Narren halten?«, fragte der andere drohend.
»Hier macht keiner Scherze«, sagte Fazio, dem das Ganze allmählich gewaltig auf die Nerven ging. »Was glaubst du eigentlich, wen du vor dir hast?«
Sein Gegenüber öffnete den Mund und wollte antworten, überlegte es sich dann aber doch anders und machte ihn wieder zu.
Montalbano stieg die Verandatreppe hinunter, um an der Stelle nachzusehen, an der vorher der Kadaver gelegen hatte. Die anderen folgten ihm.
Auf dem Sand sahen sie jetzt fünf oder sechs unterschiedliche Schuhabdrücke und die beiden parallel verlaufenden Spurrillen eines zweirädrigen Karrens.
Unterdessen stiegen die beiden Astronauten in ihren Transporter und fuhren davon, ohne sich zu verabschieden.
»Die haben den Kadaver geklaut, während wir unseren Espresso getrunken haben«, sagte der Commissario. »Und haben ihn dann auf einen Handkarren gehievt.«
»In der Gegend um Montereale, ungefähr drei Kilometer von hier, stehen an die zehn Baracken, in denen Leute aus Nicht-EU-Staaten untergebracht sind«, sagte Fazio. »Bei denen gibt's heute Abend bestimmt ein Festmahl mit Pferdefleisch.«
In diesem Augenblick sahen sie ihr Auto wieder zurückkehren.
»Wir haben alles eingesammelt, was wir gefunden haben«, sagte Galluzzo.
»Und was habt ihr gefunden?«
»Drei Stangen, ein Stück Seil, elf Zigarettenstummel von zwei verschiedenen Marken und ein leeres Bic-Feuerzeug«, antwortete Galluzzo wieder.
»Dann machen wir jetzt Folgendes«, sagte Montalbano. »Du, Gallo, fährst zur Spurensicherung und gibst denen die Stangen und das Feuerzeug. Du, Galluzzo, packst das Seil und die Stummel ein und bringst sie in mein Büro. Danke für alles, wir sehen uns im Kommissariat. Ich muss noch ein paar private Telefongespräche führen.«
Gallo schien Zweifel zu hegen.
»Was ist?«
»Was soll ich denen von der Spurensicherung denn sagen?« »Dass sie die Fingerabdrücke nehmen sollen.«
Das schürte Gallos Zweifel noch mehr.
»Und wenn die mich fragen, was passiert ist, was sage ich denen dann? Dass wir wegen einem getöteten Gaul ermitteln? Die treten mir doch in den Hintern und schmeißen mich achtkantig raus!«
»Sag ihnen, es hätte eine Schlägerei mit mehreren Verletzten gegeben und dass wir jetzt die Angreifer identifizieren müssen.«
Als Montalbano wieder allein war, ging er ins Haus, zog Schuhe und Socken aus, krempelte die Hosenbeine hoch und ging noch einmal zum Strand hinunter.
Diese Geschichte mit den Leuten, die nicht aus der EU waren und das tote Pferd gestohlen haben sollten, um es zu essen, fand er wenig überzeugend. Wie lange hatten Fazio und er eigentlich mit dem Espresso in der Küche gestanden und sich unterhalten? Doch höchstens eine halbe Stunde.
Und in dieser halben Stunde sollen die Asylanten Zeit gehabt haben, auf das Pferd aufmerksam zu werden, zu ihren drei Kilometer entfernten Baracken zurückzulaufen, einen Karren zu organisieren, wieder herzukommen, das Tier aufzuladen und es wegzuschleppen?
Das wäre doch gar nicht möglich gewesen.
Es sei denn, sie hatten den Kadaver schon frühmorgens entdeckt, noch bevor er das Fenster öffnete. Als sie dann mit dem Karren zurückgekommen waren, hatten sie ihn bei dem Pferd gesehen und sich in der Umgebung versteckt, um auf einen günstigen Augenblick zu warten.
Nach ungefähr fünfzig Metern machten die Spurrillen eine Kurve und verliefen vom Meer weg in Richtung Landesinneres, wo sich ein offener Platz befand, dessen Betondecke ganz mit Rissen übersät war. Schon als Commissario Montalbano nach Marinella gekommen war, hatte es hier so ausgesehen. Von diesem Platz aus konnte man ohne größere Schwierigkeiten die Provinzialstraße erreichen.
»Augenblick mal«, sagte er zu sich. »Jetzt noch mal ganz genau nachdenken.«
Sicher, die Männer aus den Nicht-EU-Staaten wären auf der Provinzialstraße mit dem Karren besser und schneller voran gekommen als auf dem Sand. Aber war das klug, wenn sie von allen vorbeifahrenden Autos dort gesehen werden konnten? Und was, wenn unter diesen Autos eines von der Polizei oder den Carabinieri war?
Bestimmt wären sie dann angehalten worden und hätten eine Menge Fragen beantworten müssen. Und da hätte es leicht passieren können, dass dabei auch mit den Abschiebungspapieren gewedelt worden wäre.
Nein, so blöde waren die nicht.
Was denn dann?
Es gab noch eine andere mögliche Erklärung.
Dass nämlich diejenigen, die den Kadaver weggeschafft hatten, keineswegs von außerhalb waren, sondern vielmehr von ganz innerhalb, genauer gesagt, dass sie aus Vigàta stammten.
Oder aus der Umgebung.
Und warum hatten sie das gemacht? Um den Kadaver sicherzustellen und anschließend verschwinden zu lassen. Vielleicht hatte sich die Sache ja folgendermaßen abgespielt: Dem Pferd gelang es zu fliehen, und jemand rennt ihm nach, um es vollends zu töten. Doch er ist gezwungen, stehen zu bleiben, weil Leute wie etwa der frühe Fischer am Strand sind, die zu gefährlichen Zeugen werden könnten. Er kehrt um und verständigt den Boss. Der kommt zu dem Schluss, dass der Kadaver unbedingt weggeschafft werden muss. Und er organisiert die Sache mit dem Karren. Doch dann wacht er, Montalbano, auf und vermasselt ihm die Tour. Diejenigen, die das Pferd beseitigt hatten, waren dieselben, die es auch getötet hatten.
Ja, genau so musste es gewesen sein.
Und ganz sicher hatte auf der Provinzialstraße, auf Höhe des offenen Platzes, ein Transporter bereitgestanden, um Pferd und Karren einzuladen.
Nein, die Typen aus den Nicht-EU-Staaten hatten mit der Sache gar nichts zu tun.
...
Übersetzung: Moshe Kahn
Copyright © 2010 by Bastei Lübbe GmbH k Co. KG, Köln
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Autoren-Porträt von Andrea Camilleri
Andrea Camilleri ist der erfolgreichste zeitgenössische Autor Italiens und begeistert mit seinem vielfach ausgezeichneten Werk ein Millionenpublikum. Ob er seine Leser mit seinem unwiderstehlichen Helden Salvo Montalbano in den Bann zieht, ihnen mit kulinarischen Köstlichkeiten den Mund wässrig macht oder ihnen unvergessliche Einblicke in die mediterrane Seele gewährt: Dem Charme der Welt Camilleris vermag sich niemand zu entziehen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Andrea Camilleri
- 2012, 5. Aufl., 268 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung:Kahn, Moshe
- Übersetzer: Moshe Kahn
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404166701
- ISBN-13: 9783404166701
- Erscheinungsdatum: 18.05.2012
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