Das kalte Lächeln des Meeres / Commissario Montalbano Bd.7
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Das kalte Lächeln des Meeres von AndreaCamilleri
LESEPROBE
Eins
Was für eine hundsgemeineNacht, er hatte sich pausenlos im Bett herumgewälzt, war weggedöst und wiederwach geworden, war aufgestanden und hatte sich wieder hingelegt. Nicht etwa, weiler es beim Abendessen mit purpi strascinasali oder sarde a beccaficoübertrieben hätte, das wäre wenigstens ein Grund für diese quälendeSchlaflosigkeit gewesen, aber nein, nicht mal diese Befriedigung hatte ergehabt; abends war sein Magen so zugeschnürt gewesen, dass kein Grashalmhineingegangen wäre. Das lag an den düsteren Gedanken, die ihm ein Beitrag inden Fernsehnachrichten beschert hatte. "Ersoffen und noch vom Stein getroffen",heißt es im Volksmund, wenn ein Unglücksrabe von einer unerträglichenPechsträhne heimgesucht wird. Und da er jetzt schon seit ein paar Monatenverzweifelt in einem aufgewühlten Meer schwamm und sich manchmal verlorenfühlte wie ein Ertrinkender, traf ihn dieser Bericht wirklich wie ein Stein,und zwar mitten auf den Kopf; der Schlag betäubte ihn und raubte ihm seineletzten, schwindenden Kräfte.
Mit gleichgültiger Mienehatte die Reporterin mitgeteilt, die Staatsanwaltschaft Genua sei inZusammenhang mit der Erstürmung der Diaz-Schule während des G8-Gipfels zu derÜberzeugung gekommen, dass die Polizisten die beiden in der Schule gefundenenMolotow-Cocktails dort selbst deponiert hätten, um die Aktion zu rechtfertigen.Man habe festgestellt - fuhr die Reporterin fort -, dass der Beamte, der beider Erstürmung angeblich von einem Globalisierungsgegner mit einem Messerangegriffen worden war, gelogen habe: Er habe sich den Schnitt an der Uniformselbst zugefügt, um zu beweisen, wie gefährlich diese Jugendlichen seien, dochmittlerweile sei herausgekommen, dass sie in der Schule friedlich geschlafenhatten.
Nach dem Bericht saßMontalbano eine halbe Stunde in seinem Fernsehsessel, unfähig, einen klarenGedanken zu fassen, sprachlos vor Wut und Scham und schweißgebadet. Er fandnicht mal die Kraft, aufzustehen und ans Telefon zu gehen, das schon langeklingelte. Man brauchte über solche Meldungen, die die regierungsfreundlichenMedien tröpfchenweise verlautbaren ließen, nur ein bisschen nachzudenken, undschon hatte man ein klares Bild vor Augen: Seine Mitstreiter und Kollegen warenin Genua, als niemand damit rechnete, ohne jede Rechtsgrundlage gewaltsamvorgegangen, das war eine Art kaltblütiger Racheakt, obendrein mithilfegetürkter Beweise. So etwas rief verdrängte Aktionen der faschistischen Polizeioder der Polizei unter Innenminister Scelba in Erinnerung. Irgendwann beschlossMontalbano, ins Bett zu gehen. Als er vom Sessel aufstand, fing das blödeTelefon schon wieder an zu klingeln. Automatisch nahm er ab. Es war Livia.
"Salvo! Mein Gott, ichversuche schon die ganze Zeit, dich zu erreichen! Ich habe mir langsam Sorgengemacht! Hast du das Telefon denn nicht gehört?"
"Doch, aber ich hattekeine Lust dranzugehen. Ich wusste ja nicht, dass du es bist."
"Was machst du gerade?"
"Nichts. Ich habe an dasgedacht, was vorhin in den Nachrichten kam."
"Über Genua?"
"Ja."
"Ah. Ich habe den Berichtauch gesehen."
Pause. Und dann:
"Ich wäre jetzt gern beidir. Ich könnte morgen kommen, was meinst du? Dann reden wir in Ruhe überalles. Du wirst schon sehen, dass "
"Livia, da gibts nichtmehr viel zu reden. Wir haben in den letzten Monaten doch so oft darübergesprochen. Ich bin fest entschlossen."
"Wozu denn?"
"Ich kündige. Morgen geheich zum Questore; Bonetti-Alderighi wird sich freuen."
Livia antwortete nichtsofort, und Montalbano glaubte, die Verbindung sei abgebrochen.
"Livia? Bist du nochdran?"
"Ich bin noch dran.Salvo, ich halte es für einen Riesenfehler, so zu gehen."
"Was meinst du mit so?"
"Wütend und enttäuscht.Du willst die Polizei verlassen, weil du dich fühlst, als hätte dich ein dirnaher Mensch verraten, und deshalb "
"Livia, ich fühle michnicht verraten. Ich bin verraten worden. Hier gehts nicht um Gefühle. Ich habemeinen Beruf immer mit Anstand ausgeübt. Als Ehrenmann. Wenn ich einem Kriminellenmein Wort gegeben habe, habe ich es auch gehalten. Und dafür respektiert manmich. Das ist meine Stärke, verstehst du? Aber jetzt reichts mir, ich hab dieSchnauze voll!"
"Bitte schrei nicht",sagte Livia mit zitternder Stimme.
Montalbano hörte sienicht. In ihm war ein Geräusch, als finge sein Blut gleich an zu kochen. Erfuhr fort:
"Nicht mal demschlimmsten Verbrecher habe ich falsche Beweise untergeschoben! Nie! Damithätte ich mich ja auf sein Niveau begeben. Dann wäre meine Arbeit als Bulle zueinem Drecksgeschäft geworden! Stell dir das mal vor, Livia! Nicht irgendeinunterbelichteter, gewalttätiger Polizist hat die Schule überfallen undirgendwelche Beweise fabriziert, da waren Polizeipräsidenten undstellvertretende Polizeipräsidenten, Hauptkommissare und Konsorten mit von derPartie!"
Erst jetzt begriff er,dass das Geräusch im Hörer Livias Schluchzer waren. Er holte tief Luft.
"Livia?"
"Ja?"
"Ich liebe dich. Schlafgut."
Er legte auf. Und dannhatte diese üble Nacht begonnen.
In Wirklichkeit hatteMontalbanos Unbehagen schon vorher angefangen, nämlich als im Fernsehen derMinisterpräsident zu sehen war, der durch die Gassen von Genua schlenderte,Blumenkästen aufstellen ließ und Anweisung gab, die Unterhosen, die zumTrocknen vor Balkonen und Fenstern hingen, zu entfernen, während seinInnenminister Sicherheitsmaßnahmen ergriff, die eher zu einem bevorstehendenBürgerkrieg als zu einer Versammlung von Regierungschefs gepasst hätten:Stahlzäune zur Sperrung bestimmter Straßen, Abdichtung der Gullys, Schließungder Grenzen und mehrerer Bahnhöfe, Überwachung der Küstengewässer und sogar dieInstallation einer Raketenbatterie. Die Schutzvorkehrungen - dachte derCommissario - waren dermaßen übertrieben, dass sie eine Provokation darstellten.Und dann war das alles passiert: Schlimm genug, dass ein Demonstrant ums Lebengekommen war, doch das Schlimmste war vielleicht das Verhalten einigerPolizeiabteilungen, die friedliche Demonstranten mit Tränengas beschossen,während die Autonomen des so genannten Black Block tun und lassen konnten, wassie wollten. Und danach hatte sich in der Diaz-Schule diese widerwärtigeGeschichte abgespielt, die weniger mit einem Polizeieinsatz zu tun hatte alsmit einem miesen Überfall, um unterdrückte Rachegelüste auszutoben.
Drei Tage nach demG8-Gipfel, als in ganz Italien heftig gestritten wurde, war Montalbano spät insBüro gekommen. Als er aus dem Auto stieg, sah er zwei Maler, die eineSeitenwand des Kommissariats tünchten.
"Ah Dottori Dottori!,rief Catarella, als Montalbano hereinkam. "Die haben uns heute Nachtunanständige Sachen geschrieben!"
Montalbano verstand nichtsofort:
"Wer hat unsgeschrieben?"
"Ich weiß nicht, wer daspersönlich war, der uns geschrieben hat."
Was für einen Mist redeteCatarella da?
"Einen anonymen Brief?"
"Nein, Dottori, der warnicht onanym, Dottori, der war ein Mauerbrief. Und wegen dem Mauerbrief hat derFazio heut Früh gleich die Maler angerufen, dass die den wieder wegmachen."
Jetzt wusste Montalbanoendlich, was es mit den beiden Malern auf sich hatte.
"Was stand denn da?"
Catarella wurde knallrotund redete um den heißen Brei herum:
"Mit so schwarzenSpreidosen haben die schlimme Wörter hingeschrieben."
"Ja gut, aber was denn?"
"Scheißbullen",antwortete Catarella und blickte verlegen zu Boden.
"Ist das alles?"
"Nein. Auch noch Mörder.Scheißbullen und Mörder."
"Catarè, warum macht dirdas denn so viel aus?"
Catarella fing fast an zuheulen.
"Weil hier bei uns keinerein Scheißbulle oder ein Mörder ist, Sie schon gar nicht und niemand sonst undich auch nicht, wo ich sowieso die letzte Geige spiele."
Montalbano legte ihmtröstend die Hand auf die Schulter und ging dann in sein Büro. Catarella riefhinter ihm her:
"Ah Dottori! Das hab ichganz vergessen: grannissimi cornuti war auch dabei."
Klar, in Sizilien war auseinem Schmähspruch das Wort cornuto, Gehörnter, nicht wegzudenken! Dieses Wortwar wie ein Markenname, eine typische Art, die sizilianische Mentalitätauszudrücken. Er hatte sich gerade hingesetzt, als Mimì Augello hereinkam. Mimìschien sich durch nichts anfechten zu lassen, er war entspannt und guter Dinge.
"Gibts was Neues?",fragte er.
"Weißt du schon, washeute Nacht an unserer Hauswand stand?"
"Ja, Fazio hats mirerzählt."
"Und das findest dunichts Neues?"
Mimì sah ihn irritiertan.
"Machst du jetzt einenWitz, oder meinst du das ernst?"
"Ich meins ernst."
"Dann aber Hand aufsHerz, wenn du mir antwortest. Glaubst du, dass Livia dich betrügt?"
Diesmal sah MontalbanoMimì irritiert an.
"Sag mal, spinnst du?"
"Ein cornuto bist du alsonicht. Und dass Beba mich betrügt, glaube ich auch nicht. Nun zum nächstenWort: Scheißbullen. Mir haben zwei oder drei Frauen gesagt, ich wäre einScheißtyp. Zu dir hat das wohl noch niemand gesagt, folglich bist du mit demWort nicht gemeint. Von Mörder ganz zu schweigen. Also?"
"Meine Güte, Mimì, bistdu witzig mit deiner Rätselwochen-Logik!"
"Salvo, es ist ja wohlnicht das erste Mal, dass die uns als Schweine, Scheißtypen und Mörderbezeichnen."
"Bloß dass sie diesesMal, zumindest teilweise, Recht haben."
"Ach ja, findest du?"
"Finde ich. Erklär mirmal, warum wir, nachdem jahrelang nichts Vergleichbares passiert ist, in Genuaso vorgegangen sind."
Mimì sah ihn aus schmalenAugenschlitzen an und schwieg.
"O nein!", sagte derCommissario. "Antworte mir richtig, nicht mit diesem Bullenblick."
"Also gut. Aber einsnoch: Ich habe nicht die Absicht, mich mit dir zu zoffen. Einverstanden?"
"Einverstanden."
"Ich weiß schon, was dichwurmt. Nämlich dass das alles unter einer Regierung geschehen ist, der dumisstraust und gegen die du Aversionen hast. Du denkst, dass diese Geschichtefür die derzeitige Regierung ein gefundenes Fressen ist."
"Sag mal, Mimì, hast dueigentlich Zeitung gelesen? Hast du ferngesehen? Mehr oder weniger deutlichwurde gesagt, dass in der Einsatzzentrale in Genua Leute waren, die dort nichtsverloren hatten. Minister und Abgeordnete und alle von ein und derselbenPartei. Von der Partei, die sich immer auf Recht und Gesetz beruft. Aberwohlgemerkt, Mimì: auf ihr Recht und ihr Gesetz."
"Und das heißt?"
"Das heißt, dass sich einTeil der Polizei, vielleicht ein besonders schwacher, da er sich für denstärksten hält, geschützt und abgesichert gefühlt hat. Und ausgerastet ist. Imbesten Fall."
"Gibts auch einenschlechtesten?"
"Klar. Dass wir vonLeuten, die eine Art Test veranstalten wollten, wie Puppen imMarionettentheater gelenkt worden sind."
"Was denn für einenTest?"
"Wie die Menschen aufeinen solchen Gewaltakt wohl reagieren, wie viel Zustimmung, wie vielMissbilligung es gibt. Zum Glück ist die Rechnung nicht aufgegangen."
"Na ja ", meinte Augellozweifelnd.
Montalbano wechselte dasThema.
"Wie gehts Beba?"
"Nicht so besonders. DieSchwangerschaft ist schwierig. Sie muss viel liegen, aber der Arzt sagt, wirbräuchten uns keine Sorgen zu machen."
Montalbano legte mitseinen einsamen Wanderungen auf der Mole Kilometer um Kilometer zurück, saßstundenlang auf seinem Klagefelsen und dachte über Genua nach, bis ihm das Hirnrauchte, futterte zentnerweise càlia e simenza und telefonierte nachts mitLivia, und als seine innere Wunde langsam zu vernarben begann, wurde über eineweitere glorreiche Aktion der Polizei berichtet, diesmal in Neapel. Eine Handvoll Polizisten waren festgenommen worden, weil sie mutmaßlich gewaltbereiteverletzte Demonstranten aus einem Krankenhaus geholt hatten. Auf der Wachewurden die Leute unter einer Flut von Beschimpfungen und Beleidigungenverprügelt. Doch was Montalbano am meisten erschütterte, war die Reaktionanderer Polizisten auf die Festnahmen: Einige ketteten sich aus Solidarität ansTor des Präsidiums, manche organisierten Demonstrationen, diePolizeigewerkschaften regten sich auf, ein stellvertretender Polizeipräsident,der in Genua brutal auf einen zu Boden gestürzten Demonstranten eingetretenhatte, wurde in Neapel wie ein Held gefeiert. Dieselben Politiker, die währenddes G8-Gipfels in Genua weilten, leiteten diesen merkwürdigen (aber Montalbanofand ihn gar nicht so merkwürdig) Kleinaufstand eines Teils der Ordnungskräftegegen die Richter, die die Festnahmen angeordnet hatten. Montalbano hatte dieSchnauze voll. Noch so eine bittere Pille mochte er nicht schlucken. Daher riefer eines Morgens vom Büro aus sofort Dottor Lattes an, den Kabinettschef imPolizeipräsidium Montelusa. Eine halbe Stunde später ließ Lattes Montalbanodurch Catarella ausrichten, dass der Polizeipräsident bereit sei, ihn Punktzwölf Uhr mittags zu empfangen. Die Kollegen im Kommissariat hatten gelernt,aus dem Schritt, mit dem ihr Chef morgens ins Büro kam, auf seine Laune zuschließen, und daher wussten sie gleich, dass er mit dem linken Bein zuerstaufgestanden war. So schien es von Montalbanos Zimmer aus, als ob dasKommissariat ausgestorben wäre, keine Stimme, kein Geräusch waren zu hören.Sobald Catarella, der am Eingang Wache hielt, jemanden kommen sah, riss er dieAugen auf, legte den Finger an den Mund und machte:
"Pssssst!"
Und alle betraten dasKommissariat mit einem Gesicht, als gingen sie zu einer Totenwache.
Gegen zehn klopfteAugello vorsichtig an Montalbanos Tür und durfte eintreten. Er wirkteniedergeschlagen. Montalbano sah ihn besorgt an.
"Wie gehts Beba?"
"Gut. Darf ich michsetzen?"
"Klar."
"Darf ich rauchen?"
"Klar, aber lass dichnicht vom Minister erwischen."
Augello steckte sich eineZigarette an, inhalierte und behielt den Rauch lange in der Lunge.
"Darfst ruhig wiederausatmen", sagte Montalbano. "Ich erlaubs dir."
Mimì sah ihn irritiertan.
"Na ja", fuhr der Commissariofort, "du benimmst dich so untertänig. Wegen jedem Scheiß bittest du mich umErlaubnis. Was ist denn los? Fällt es dir so schwer, zu sagen, was du auf demHerzen hast?"
"Ja", gab Augello zu.
Er drückte die Zigaretteaus, setzte sich auf dem Stuhl zurecht, holte tief Luft und fing an:
"Salvo, du weißt, dassich dich immer als meinen Vater betrachtet habe "
"Wo hast du denn dasher?"
"Was?"
"Diese Geschichte, dassich dein Vater sein soll. Wenn deine Mutter das gesagt hat, dann hat sie direinen Bären aufgebunden. Wir sind nur fünfzehn Jahre auseinander, und ich warzwar sehr frühreif, aber mit fünfzehn "
"Aber Salvo, ich hab dochnicht gesagt, dass du mein Vater bist, ich meinte, du bist für mich so was wieein Vater."
"Damit kommst du bei mirnicht an. Lass bloß diesen Scheiß mit Vater, Sohn und Heiligem Geist. Sag, waslos ist, und verpiss dich wieder, heute ist nicht mein Tag."
"Warum hast du um einenTermin beim Questore gebeten?"
"Wer hat das gesagt?"
"Catarella."
"Dem werd ich was erzählen."
"Du wirst ihm gar nichtserzählen, das kannst du mit mir ausmachen. Ich habe Catarella angewiesen, mirBescheid zu sagen, falls du dich mit Bonetti-Alderighi in Verbindung setzt. Ichwusste, dass du das früher oder später tun würdest."
"Was ist denn somerkwürdig daran, wenn ich als Kommissar meinen Vorgesetzten sprechen will?"
"Salvo, Bonetti-Alderighiist doch ein rotes Tuch für dich, du erträgst ihn nicht. Wenn er als Pfarrer andein Sterbebett käme, um dir die Absolution zu erteilen, würdest du aufstehenund ihm einen Tritt in den Hintern verpassen. Ich rede jetzt Klartext, inOrdnung?"
"Tu dir keinen Zwang an."
"Du willst gehen."
"Ein bisschen Urlaubwürde mir gut tun."
"Salvo, lass dir dochnicht alles aus der Nase ziehen. Du willst kündigen."
"Das ist doch mein Bier,oder?", fuhr Montalbano ihn an und rutschte auf die Stuhlkante, jederzeitbereit aufzuspringen.
Augello ließ sich nichtbeeindrucken.
"Natürlich. Aber vorhermüssen wir noch etwas zu Ende besprechen. Weißt du noch, dass du gesagt hast,du hättest einen Verdacht?"
"Was für einen Verdacht?"
"Dass die Geschichte inGenua absichtlich von einer Partei provoziert wurde, um die üblenPolizeiaktionen im Nachhinein irgendwie zu rechtfertigen. Weißt du das noch?"
"Ja."
"Ich möchte dich daranerinnern, dass die Sache in Neapel unter einer Mitte-links-Regierung passiertist, sprich vor dem G8-Gipfel. Bloß hat man es erst später erfahren. Wiefindest du das?"
"Beschissen. Mimì,glaubst du, ich hätte nicht darüber nachgedacht? Das macht alles noch vielschlimmer."
"Was meinst du damit?"
"Dass der ganze Dreck inuns steckt."
"Und das merkst du jetzterst? Ausgerechnet du, wo du so viel liest? Wenn du gehen willst, dann geh.Aber nicht jetzt. Geh, wenn du müde bist, wenn du die Altersgrenze erreichthast, wenn dir die Hämorrhoiden wehtun, wenn dein Hirn nicht mehr mitmacht,aber nicht ausgerechnet jetzt."
"Und warum nicht?"
"Weil es verletzendwäre."
"Für wen denn?"
"Für mich zum Beispiel.Ich bin zwar ein Weiberheld, aber ein anständiger Mensch. Catarella ist einEngel. Fazio ist auch ein feiner Kerl. Alle hier im Kommissariat von Vigàtawären verletzt. Auch Bonetti-Alderighi, der immer Ärger macht und einem nie wasdurchgehen lässt, aber in Ordnung ist. Alle deine Kollegen, die du schätzt unddie dich mögen. Die allermeisten Leute bei der Polizei, die nichts mit ein paarSchuften, egal, in welcher Position, zu tun haben. Wenn du gehst, knallst duuns die Tür ins Gesicht. Überleg dir das. Wiedersehen."
Er stand auf undverschwand. Um halb zwölf ließ Montalbano sich von Catarella mit der Questuraverbinden; er teilte Dottor Lattes mit, er komme doch nicht, was er demQuestore habe sagen wollen, sei unwichtig, ganz unwichtig.
Nach dem Anruf verspürteer ein Bedürfnis nach Meeresluft. Als er an der Telefonvermittlung vorbeiging,blaffte er Catarella an:
"Kannst mich wieder beiAugello verpetzen."
Catarella sah ihn traurigan wie ein verloren gegangener Hund.
"Warum sagen Sie so waszu mir, Dottori?"
Jeder fühlte sich von ihmverletzt, nur er selbst durfte sich von niemandem verletzt fühlen.
Auf einmal mochte ernicht mehr im Bett liegen und über all das nachgrübeln, was er und Mimì in denvergangenen Tagen miteinander besprochen hatten. Hatte er Livia nicht seinenEntschluss mitgeteilt? Die Sache war erledigt. Montalbano sah zum Fenster,durch das kaum Licht drang. Die Uhr zeigte fast sechs. Er stand auf und öffnetedie Fensterläden. Im Osten zeichnete die aufgehende Sonne Arabesken luftigerWolken, keine Regenwolken. Das Meer bewegte sich leicht in der Morgenbrise.Montalbano füllte seine Lungen mit Luft und spürte, wie jeder Atemzug ein wenigvon dieser furchtbaren Nacht mit sich forttrug. Er ging in die Küche, setztedie Espressokanne auf und öffnete, während er auf den Kaffee wartete, dieVerandatür.
Der Strand schien leer,zumindest waren bei dem Dämmerlicht weit und breit kein Mensch und kein Tier zusehen. Er trank zwei Tassen Kaffee hintereinander, zog die Badehose an und gingzum Strand hinunter. Der Sand war feucht und fest, vielleicht hatte es amfrühen Abend ein bisschen geregnet. Er steckte einen Fuß ins Wasser. Es warlängst nicht so eisig, wie er gedacht hatte. Vorsichtig ging er weiter, hin undwieder lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Warum, fragte er sich, mussich mit über fünfzig eigentlich noch einen solchen Unfug machen? Wahrscheinlichkriege ich eine dicke Erkältung mit Brummschädel, und dann niese ich eine Wochelang.
Mit gemächlichen,ausholenden Zügen begann er zu schwimmen. Das Meerwasser hatte einen scharfenGeruch und kitzelte in der Nase, beinahe wie Champagner. Und Montalbano fühltesich wie betrunken, denn er schwamm weiter und weiter, endlich war sein Kopffrei von jeglichem Gedanken, und er genoss es, dass er sich in eine ArtAufziehpuppe verwandelt hatte. Was ihn auf einen Schlag wieder zum Menschenmachte, war ein Krampf, der ihm in die linke Wade fuhr. Fluchend drehteMontalbano sich auf den Rücken und machte den toten Mann. Die Schmerzen warenso stark, dass er die Zähne zusammenbeißen musste, aber er wusste, dass siefrüher oder später vorbeigehen würden. Diese verfluchten Krämpfe waren in denletzten zwei, drei Jahren immer häufiger aufgetreten. Erste Symptome desAlters, das hinter der Ecke lauerte? Er ließ sich weiter treiben. Die Schmerzenwurden allmählich schwächer, sodass er zwei Schwimmzüge rückwärts machenkonnte. Beim zweiten Zug stieß er mit der rechten Hand gegen etwas.
Im Bruchteil einerSekunde begriff Montalbano, dass dieses Etwas der Fuß eines Menschen war.Direkt hinter ihm machte noch jemand den toten Mann, und er hatte ihn nichtgesehen.
"Entschuldigung", sagteer hastig und drehte sich auf den Bauch.
Der andere gab keineAntwort, er machte nämlich nicht den toten Mann. Er war wirklich tot. Und sowie er aussah, war er das schon ziemlich lange.
© für die Originalausgabe2003 by Sellerio Editore
© für diedeutschsprachige Ausgabe 2005 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG,Bergisch Gladbach - All rights reserved.
Übersetzung: Christianevon Bechtolsheim
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- Autor: Andrea Camilleri
- 2015, 10. Aufl., 288 Seiten, Maße: 12,5 x 18,5 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Christiane von Bechtolsheim
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404921933
- ISBN-13: 9783404921935
- Erscheinungsdatum: 13.10.2005
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