Dark Silence
Denn deine Schuld wird nie vergehen. Thriller
Schwerverletzt überlebt Marla einen Mordanschlag, doch sie kann sich an nichts erinnern. Nicht an ihr Baby, das spurlos verschwunden ist. Nicht an ihren Mann, der sie vehement von der Außenwelt abschottet. Als Marlas Gedächtnis langsam zurückkehrt, ist es fast zu spät.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Dark Silence “
Schwerverletzt überlebt Marla einen Mordanschlag, doch sie kann sich an nichts erinnern. Nicht an ihr Baby, das spurlos verschwunden ist. Nicht an ihren Mann, der sie vehement von der Außenwelt abschottet. Als Marlas Gedächtnis langsam zurückkehrt, ist es fast zu spät.
Klappentext zu „Dark Silence “
Denn deine Schuld wird nie vergehen. Ein rasanter Psychothriller und die Frage, wer bin ich und wem kann ich trauen von Bestseller-Autorin Lisa Jackson.Brutaler Mordanschlag auf einem Highway in San Francisco: Schwerverletzt überlebt Marla Cahill, doch sie kann sich an nichts mehr erinnern. Nicht an ihr Baby, das nach dem Autounfall spurlos verschwunden ist. Nicht an ihre Beifahrerin, die den Unfall nicht überlebt hat. Und nicht an ihren Ehemann, der sie im Krankenhaus vehement von der Außenwelt abschottet - nur zu ihrem Besten, versteht sich. Doch ist Marla wirklich Marla? Und wem kann die Frau ohne Gedächtnis noch vertrauen, wenn ein wahnsinniger Serienkiller ihr nach dem Leben trachtet? Als Marlas Erinnerungen langsam und in Bruchstücken zurückkehren, ist es beinahe schon zu spät ...
Lese-Probe zu „Dark Silence “
Dark silence - Denn deine Schuld wird nie vergehen von Lisa JacksonProlog
Nordkalifornien, Highway 17
„Sie sitzt im nächsten Wagen, einem schwarzen Mercedes Coupé, Modell S500, fährt in südliche Richtung, genau nach Plan.« Er duckte sich tief ins Unterholz, wo Nebel über die nasse Erde kroch, und lauschte der drängenden Stimme, die, von Knistern unterbrochen, aus seinem Sprechfunkgerät drang. »Ich dachte, sie fährt einen Porsche.«
»Es ist ein Mercedes«, fauchte die Stimme wütend. »Dir bleiben noch etwa neunzig Sekunden.« »Verstanden.« Mit schmalen Augen konzentrierte er sich ganz auf die Straße, die sich in diesem Teil Kaliforniens durch Schluchten und Berge wand.
Tatsächlich, durch Nebel und Dunkelheit hörte er das sanfte Schnurren eines hochgezüchteten Motors. Der Wagen kam den Berg herauf. Kam näher. Sie kam näher. Sein Herz hämmerte. Er erinnerte sich an den Duft ihrer Haut. An den Ausdruck in ihren Augen. An das Ausmaß ihres Verrats.
Sie hatte es nicht anders verdient, dieses selbstgerechte Miststück.
Wenn sie doch nur wüsste, dass er es war, der ihr den Tod brachte. Adrenalin schoss ihm ins Blut. »Keine Patzer. Es ist unsere einzige Chance«, war er ermahnt worden.
»Ich weiß, ich weiß.«
»Und es ist hundert Riesen wert.« Bedeutend mehr als das, dachte er, sagte aber nichts. Verdammt viel mehr.
»Ich erledige das.«
Er schaltete das WalkieTalkie aus, schob die Antenne zusammen und verstaute das Headset in der tiefen Tasche seiner Jacke. Schweiß sammelte sich auf seiner Kopfhaut und rann ihm am Hals hinunter, obwohl es in diesem Teil des Waldes kaum wärmer als fünf Grad sein durfte. Er zog die Skimütze über sein bereits schwarz gefärbtes Gesicht und lief
... mehr
über den Laubteppich.
Seine alten Armeestiefel waren immer noch robust, und sein Tarnanzug schützte ihn perfekt in der nebelverhangenen Nacht. Zweige klatschten ihm ins Gesicht.
In der Luft lag der typische Geruch von modrig nasser Erde, aber da war noch etwas: Es roch nach seiner Angst. Was, wenn er versagen würde? Und sie irgendwie überlebte? Sie würde ihn auslachen. Ausgeschlossen. Völlig ausgeschlossen, verdammt noch mal.
Irgendwo in der Nähe ertönte der Schrei einer Eule, beinahe übertönt vom Hämmern seines eigenen Herzens. Dann das Brummen eines schweren Motors in niedrigem Gang ... Aber es war nicht der Motor des Mercedes. Das Geräusch kam aus der entgegengesetzten Richtung. Sein Mund wurde trocken. Ruhig, ermahnte er sich, als er an der Straßenbiegung aus dem Wald trat.
Er hoffte von Herzen, der Laster möge noch ein paar Meilen entfernt sein. Geräuschlos huschte er über das nasse Pflaster, wie das Mitglied eines Sondereinsatzkommandos. Er sah auf die Uhr.
Noch dreißig Sekunden. Der verdammte Wagen hörte sich an, als sei er schon ganz nahe. Er biss die Zähne zusammen, sah durch Nebel und Bäume Scheinwerferlicht aufblitzen. Los, du Miststück, beeil dich! Lauter, von Süden her, der Laster den Geräuschen nach ein Sattelzug.
Er legte Tempo zu. Scheiße. Tief geduckt lief er über die schmale Straße und postierte sich zwischen den scharfen S-Kurven. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf das Singen der Reifen des Coupés auf dem nassen Pflaster gerichtet. Beeil dich, beschwor er sie stumm.
Du kannst schneller sein als der Laster. Du musst. Der Wagen kam näher. Gut. Er sah erneut auf die Uhr, die Zeiger auf dem Leuchtzifferblatt zählten seine Herzschläge. Alles lief genau nach Plan, bis auf den Laster. Noch ein paar Sekunden ...
Erwartungsvoll fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen. Bremsen kreischten in der Nacht. Zu nah. Verdammt noch mal, zu nah. Sein Kopf ruckte herum in Richtung Süden, von wo aus sich das Dröhnen näherte. Das Getriebe des Neunachsers knirschte, als der Fahrer herunterschaltete. Mit angespannten Muskeln lauschte er. Er durfte keinen Zeugen riskieren.
Schweiß lief ihm über den Rücken. Noch konnte er einen Rückzieher machen. Aber wann würde er eine zweite Chance bekommen? Hundert Riesen. Und das war erst der Anfang. Außerdem hatte sie es nicht besser verdient ... und die Gelegenheit war ihm geradezu in den Schoß gefallen. Der Motor des Lasters grollte laut, das Geräusch hallte durch den Wald aus Mammutbäumen und Eichen.
Ein mächtiger Sattelzug, der den steilen Abhang hinunterrollte.
In der entgegengesetzten Richtung schnurrte der Mercedes sofern es tatsächlich einer war immer weiter den Berg herauf, und die Fahrerin war völlig arglos, ahnte nicht, dass sie gleich sterben würde. Sein Atem ging in kurzen Stößen. Ruhig.
Betrachte es als eine Art Übung wie vor Jahren, als du in der Spezialeinheit warst. Du schaffst das. Noch ein paar Sekunden, dann bist du sie los. Sein Herz schlug einen Trommelwirbel. Seine Hände in den enganliegenden Handschuhen waren schweißnass. Zwei Lichtsäulen bogen von unten um die Kurve. Von oben kreischten die Bremsen des Sattelzugs. Jetzt!
Während der schnittige Wagen beschleunigte, sprang er vor, stand mitten auf der Fahrspur in Richtung Süden. Als er im Scheinwerferlicht stand, legte er rasch die Spiegel frei, die an seinem Gürtel befestigt waren.
Die Fahrerin trat heftig auf die Bremse. Mit einem Quietschen blockierten die Reifen des Mercedes, der Wagen brach nach rechts aus, geriet ins Kiesbett am Straßenrand und drehte sich. Flüchtig sah er die Fahrerin, den Ausdruck des Entsetzens auf ihrem schönen Gesicht, während sie schrie und verzweifelt versuchte gegenzulenken.
Eine weitere Person saß neben ihr auf dem Beifahrersitz. Scheiße! Man hatte ihm versichert, sie würde allein sein! Er sprang auf die Fahrspur nach Norden. Wich mit knapper Not dem Kotflügel aus. Stolperte. Stürzte. Die Spiegel an seinem Gürtel zerbrachen. Glas splitterte, glitzerte im Scheinwerferlicht. Mist. Keine Zeit, es aufzusammeln. Keuchend kam er auf die Füße. Rannte in Richtung Wald. Nichts wie weg hier.
Der Schwerlaster bog um die Kurve, bannte ihn im Licht seiner riesigen Scheinwerfer, flutete das nasse Pflaster mit blendendem Licht. Er sprang zur Seite. Dabei sah er einen kurzen Moment die Panik im Gesicht des Fahrers.
Dieser bärtige, kräftige Bär von einem Mann schrie so laut, dass er das Kreischen der Bremsen übertönte. Achtzehn breite Reifen quietschten, es roch nach verbranntem Gummi. Ach du Scheiße, Scheiße, Scheiße! Lauf, Mann! Er sprang über die Leitplanke, stürzte sich in das schützende Dickicht. Bei der harten Landung vertrat er sich den Knöchel, das Fußgelenk knackte schmerzhaft, doch er durfte sich nicht aufhalten. Nicht jetzt. Sein Herz klopfte wie wild.
Der Schweiß lief ihm übers Gesicht. Aus den Augenwinkeln sah er, wie der Mercedes auf der gegenüberliegenden Straßenseite die Leitplanke streifte. Funken flogen. Mit einem durchdringenden Kreischen riss polierter Stahl auf. Der Mann stürmte den Hang hinunter. Er hörte das Ächzen von reißendem Metall, als der Wagen auf die vorbereitete Schwachstelle in der Leitplanke traf, sie durchbrach und geradewegs in die dichtstehenden Bäume raste. Wie geplant. Aber auch der Laster war außer Kontrolle geraten und rumpelte den Hang hinunter.
Der Mann rannte weiter, ohne den stechenden Schmerz in seinem Fußgelenk und das Brennen in seiner Lunge zu beachten. Der Laster raste weiter bergab. Reifen blockierten. Metall kreischte. Der gesamte Wald erzitterte, als der Schwerlaster durch die Leitplanke brach, in seine Richtung, ein wütendes Metallungetüm, das ihn jagte, Tonnen von verbeultem Metall, die durchs Unterholz pflügten. Sein Herz hämmerte, er rannte um sein Leben. Schneller, schneller! Sein Fußgelenk schmerzte höllisch, seine Lunge schien zu bersten.
Er rollte sich ab, rannte weiter, allem Schmerz zum Trotz, lief im Zickzack zwischen den Bäumen hindurch. Wo zum Teufel war er? Und wo stand sein Jeep?
Verzweifelt versuchte er, der tödlichen Gefahr aus Metall auszuweichen. Mit einem Hechtsprung setzte er über einen umgestürzten Baumstamm. Dornen zerrten an seiner Kleidung. Er konnte nur hoffen, dass er rechtzeitig seinen Jeep fand, in dem er den Unfallort so weit wie möglich hinter sich lassen konnte. Der Boden bebte.
Es riss ihm die Beine weg, so dass er bäuchlings auf dem Waldboden landete. Ein greller Blitz, dann schoss ein Feuerball zwischen den Bäumen zum Himmel auf, ein leuchtend rot-orangefarbener Pilz. Die Nacht war plötzlich taghell. Gequälte Schreie, grauenhafte, gepeinigte Laute, die ihn für immer verfolgen würden, gellten durch die Nacht, als der Laster explodierte. Ein Funkenregen prasselte auf den Wald nieder und versengte sein Haar, die Skimütze und seine Jacke.
Rauch, der nach Diesel und verbranntem Gummi stank, quoll durch den Wald. Einen Augenblick lang glaubte der Mann, er müsse sterben. Verdient hätte er es, weiß Gott. Dann sah er ihn. Als hätte der Teufel ihn bereitgestellt: Sein Jeep stand direkt vor ihm. In den getönten Scheiben spiegelten sich blutrote Flammen. Der Wagen stand immer noch auf der verlassenen Holzabfuhrstraße, wo der Mann ihn abgestellt hatte.
Er rappelte sich auf, öffnete den Reißverschluss seiner Tasche, kramte nach den Schlüsseln und riss die Fahrertür auf. Geschafft. Beinahe. Halb erstickt vom Rauch warf er sich auf den Fahrersitz. Er zitterte, sein Knöchel pochte schmerzhaft. Als er den Zündschlüssel drehte, sprang der Motor gleich an. Der Wald war in ein gespenstisches Licht getaucht. Die Skimütze, die er sich über das Gesicht gezogen hatte, behielt er vorsichtshalber an. Er schlug die Tür zu, legte den ersten Gang ein und gab Gas. Auf der schlammigen Straße drehten die Reifen durch.
»Mach schon, los, los!« Der Jeep machte einen Satz. Kam ins Schleudern. Dabei spritzte Schlamm auf. Scheiße, er brauchte eine Zigarette. Dringend. Endlich griffen die Reifen. Er warf im Rückspiegel einen Blick auf sein Werk. Feuer und Rauch stiegen zum dunstigen Himmel auf. Sie ist tot. Du hast sie umgebracht. Hast ihre schwarze Seele auf direktem Weg zur Hölle geschickt. Und sie hat es, verdammt noch mal, nicht besser verdient!
Er schaltete das Radio ein. Aus den Lautsprechern grölte über das Heulen des Motors hinweg Jim Morrisons Stimme die vertrauten Verse.
»Come on, baby, light my fire ...« Tja, nie wieder. Das Miststück würde keinen Mann mehr heißmachen.
1.
Sie konnte nicht sehen, nicht sprechen, nicht ... O Gott, sie konnte ihre Hand nicht bewegen. Sie versuchte, die Augen zu öffnen, doch ihre Lider waren schwer wie Blei und schienen auf ihren Augen zu kleben, die grauenhaft schmerzten.
»Mrs Cahill?« Sie spürte kühle Finger auf ihrem Handrücken. »Mrs Cahill, können Sie mich hören?« Die freundliche Frauenstimme klang wie aus weiter Ferne ... wie von weit her, von einem Ort jenseits der Schmerzen. Ich? Ich bin Mrs Cahill? Das erschien ihr nicht richtig, aber sie hatte keine Ahnung, warum.
»Ihr Mann ist zu Besuch gekommen.« Mein Mann? Aber ich habe keinen ... O Gott, was ist los mit mir? Verliere ich den Verstand? Die Finger waren fort, und eine Frau seufzte schwer.
»Es tut mir leid, sie reagiert immer noch nicht.«
»Sie liegt nun seit beinahe sechs Wochen in dieser Klinik.« Eine Männerstimme. Barsch. Hart. Fordernd.
»Sechs Wochen, um Himmels willen, und zeigt keinerlei Anzeichen von Genesung.«
»Das kann man so nicht sagen. Sie atmet selbständig, hat gehustet und versucht zu gähnen. Und ich habe Augenbewegungen hinter den Lidern festgestellt. Lauter gute Zeichen, Hinweise darauf, dass das Stammhirn nicht geschädigt ist ...«
O Gott, sie redeten über Hirnschäden!
»Warum wacht sie dann nicht auf?«, wollte er wissen.
»Ich weiß es nicht.«
»Scheiße.« Er sprach jetzt leiser.
»Lassen Sie ihr Zeit«, erwiderte die Frau sanft. »Wir können natürlich nicht sicher sein, aber es besteht sogar die Möglichkeit, dass sie uns in diesem Moment sprechen hört.«
Ja, ja, ich höre euch, aber ich heiße nicht Mrs Cahill, ich bin nicht verheiratet und ich sterbe vor Schmerzen. Helft mir, um Gottes willen! Wenn ich hier in einer Klinik bin, sollte es doch so etwas wie Kodein oder Morphium oder ... oder wenigstens Aspirin geben.
Der Nebel umfing sie wieder, und sie wollte sich einfach fallenlassen, nichts mehr spüren.
»Marla? Ich bin's, Alex.« Sein tiefer Bariton klang jetzt viel näher. Lauter. Als stünde er nur Zentimeter von ihr entfernt. Kurz darauf spürte sie einen Druck an ihrem Arm. Sie wollte ihn wissen lassen, dass sie ihn hören konnte, doch es gelang ihr einfach nicht, sich zu bewegen. Der Geruch eines Duftwassers stieg ihr in die Nase, und sie wusste instinktiv, dass es eine teure Marke war.
Doch woher sollte sie das wissen? Die Fingerspitzen auf ihrer Haut waren glatt und weich ... Alex' Hände. Die Hände ihres Mannes. Herrgott, warum konnte sie sich nicht erinnern? Sie versuchte, sich sein Gesicht vorzustellen, seine Haarfarbe, seine Schulterbreite, seine Schuhgröße, irgendetwas, doch es gelang ihr nicht.
Seine Stimme rief keine Bilder hervor. Nur ein schwacher Geruch nach Rauch ging von ihm aus, als sein Ärmel ihr Handgelenk streifte und sie den rauhen Wollstoff seines Jacketts spürte.
»Liebling, bitte wach auf. Du fehlst mir, die Kinder ...« Seine Stimme brach, die Gefühle übermannten ihn. Kinder? Nein! Ausgeschlossen, dass sie Kinder hatte und es nicht wusste. So etwas musste eine Frau, selbst eine Frau, die halb komatös in einem Krankenbett lag, doch instinktiv wissen.
Ihre Intuition würde ihr sagen, dass sie Mutter war, oder nicht? Bewegungslos in dieser Schwärze gefangen, wusste sie nichts.
Wenn sie doch nur die Augen hätte öffnen können ... Doch andererseits war die anheimelnde Wärme der Bewusstlosigkeit so verlockend ... Bald würde sie sich erinnern ... Es war nur eine Frage der Zeit ... Kaltes Grauen kroch ihr über den Rücken, als ihr bewusst wurde, dass sie nicht einen einzigen Moment ihres bisherigen Lebens heraufbeschwören konnte. Es war, als hätte es sie nie gegeben.
Das ist ein Alptraum. Eine andere Erklärung gibt es nicht.
»Marla, bitte, komm zurück zu mir. Zu uns«, flüsterte Alex heiser, und tief im Herzen wünschte sie sich, etwas zu empfinden, einen Hauch von Gefühl für diesen gesichtslosen Fremden, der angeblich ihr Mann war. Seine geschmeidigen Finger verschränkten sich mit ihren. Sie spürte den Druck auf ihrem Handrücken, das Ziehen der Infusionsnadel.
»Cissy vermisst dich, und der kleine James ...«
Wieder brach seine Stimme, und sie gab sich alle Mühe, eine Spur von Zärtlichkeit in ihrem Unterbewusstsein für ihn zu finden, ein bisschen Liebe zu diesem Mann, den sie nicht sehen und an den sie sich nicht erinnern konnte. In der Leere, die ihre Vergangenheit war, fand sie keinen Anhaltspunkt, was Alex Cahills Aussehen betraf, seinen Beruf, seine Art, sie zu lieben ...
Daran müsste sie sich doch erinnern. Und ihre Kinder? Cissy? James? In ihr stiegen keinerlei Bilder von kleinen Engelchen mit laufenden Nasen und roten Wangen auf oder von schlaksigen Halbwüchsigen, die sich mit Akne herumschlugen.
Sie merkte, dass sie plötzlich in einen Dämmerzustand sank. Offenbar hatte man endlich etwas in den Tropf getan, denn ihr war, als würde sie sich aus ihrem Körper lösen ... forttreiben ...
»Wie lange noch?«, fragte er und zog seine Hand zurück.
»Wie lange soll das noch so weitergehen?«
»Das kann Ihnen niemand sagen. Solche Dinge brauchen Zeit«, erwiderte die Schwester, und ihre Stimme klang fern, als käme sie aus einem Tunnel. »Manchmal dauert ein Koma nur ein paar Stunden und ... na ja, manchmal bedeutend länger. Tage. Wochen. Das kann niemand voraussagen. Es könnte sogar noch länger dauern ...«
»Sprechen Sie es nicht aus«, fiel Alex ihr hastig ins Wort. »Sie wird wieder zu sich kommen.«
Seine Stimme war hart wie Stahl. Offenbar war er es gewohnt, Befehle zu erteilen.
»Marla?« Er musste sich wohl wieder dem Bett zugewandt haben, denn seine Stimme klang nun lauter. Ungeduldig.
»Herrgott noch mal, kannst du mich hören?« Unter Aufbietung all ihrer Kräfte versuchte sie, sich zu bewegen. Konnte es nicht. Es war, als sei sie festgeschnallt, auf die Matratze mit dem unangenehm gestärkten Laken gefesselt. Sie konnte nicht einmal einen Finger rühren, aber merkwürdigerweise war es ihr auch irgendwie gleichgültig ...
»Ich will den Arzt sprechen«, verlangte Alex nachdrücklich.
»Ich sehe keinen Grund, warum sie nicht zu Hause betreut werden kann. Ich stelle alle Pflegekräfte ein, die sie benötigt. Krankenschwestern. Betreuer. Wir haben im Haus Platz genug für Leute, die sie rund um die Uhr versorgen.«
Es folgte eine lange Pause, in der sie die unausgesprochene Missbilligung der Krankenschwester spürte wenigstens nahm sie das an. Inzwischen mühte sie sich weiter ab, die Augen zu öffnen, irgendeinen Körperteil zu bewegen, um zu zeigen, dass sie hören konnte, was gesprochen wurde. »Ich weiß zwar nicht, ob er sich zurzeit in der Klinik aufhält, aber ich werde Dr. Robertson mitteilen, dass Sie ihn sprechen möchten«, sagte die Schwester schließlich. Ihre Stimme klang jetzt nicht mehr nachsichtig und geduldig. Eher fest. Professionell.
»Tun Sie das.« Marla versank wieder in der Bewusstlosigkeit, verlor Sekunden, vielleicht Minuten. Dann nahm ihr träger Verstand erneut Stimmen wahr, Stimmen, die ihren Schlaf störten.
»Mrs Cahill braucht jetzt Ruhe«, sagte die Schwester.
»Wir gehen gleich.«
Eine andere Stimme. Älter. Vornehm. Die Stimme kam näher, begleitet von Schritten, fest und energisch, ein starker Kontrast zu dem Alter, das die Stimme vermuten ließ.
»Wir sind ihre Familie, und ich wäre gern für ein paar Minuten mit meinem Sohn und meiner Schwiegertochter allein.«
»Schön. Aber fassen Sie sich um Mrs Cahills willen kurz.«
»Das werden wir«, versprach die ältere Frau, und Marla spürte die Berührung von kühler, trockener Haut auf ihrem Handrücken.
»Komm, Marla, nun wach schon auf. Cissy und der kleine James vermissen dich so. Sie brauchen dich.« Ein dunkles Lachen. »Ich gebe es nur ungern zu, aber die Nana kann ihnen nicht ganz die Mutter ersetzen.«
Nana? Großmutter? Schwiegermutter? Kleidung raschelte, weiche Sohlen tappten über den Fußboden. Offenbar verließ die Schwester das Zimmer.
»Manchmal frage ich mich, ob sie überhaupt noch einmal aufwacht«, knurrte Alex. »Herrgott, ich brauche eine Zigarette.«
Übersetzung: Elisabeth Hartmann
Copyright © 2009 für die deutschsprachige Ausgabe bei Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Seine alten Armeestiefel waren immer noch robust, und sein Tarnanzug schützte ihn perfekt in der nebelverhangenen Nacht. Zweige klatschten ihm ins Gesicht.
In der Luft lag der typische Geruch von modrig nasser Erde, aber da war noch etwas: Es roch nach seiner Angst. Was, wenn er versagen würde? Und sie irgendwie überlebte? Sie würde ihn auslachen. Ausgeschlossen. Völlig ausgeschlossen, verdammt noch mal.
Irgendwo in der Nähe ertönte der Schrei einer Eule, beinahe übertönt vom Hämmern seines eigenen Herzens. Dann das Brummen eines schweren Motors in niedrigem Gang ... Aber es war nicht der Motor des Mercedes. Das Geräusch kam aus der entgegengesetzten Richtung. Sein Mund wurde trocken. Ruhig, ermahnte er sich, als er an der Straßenbiegung aus dem Wald trat.
Er hoffte von Herzen, der Laster möge noch ein paar Meilen entfernt sein. Geräuschlos huschte er über das nasse Pflaster, wie das Mitglied eines Sondereinsatzkommandos. Er sah auf die Uhr.
Noch dreißig Sekunden. Der verdammte Wagen hörte sich an, als sei er schon ganz nahe. Er biss die Zähne zusammen, sah durch Nebel und Bäume Scheinwerferlicht aufblitzen. Los, du Miststück, beeil dich! Lauter, von Süden her, der Laster den Geräuschen nach ein Sattelzug.
Er legte Tempo zu. Scheiße. Tief geduckt lief er über die schmale Straße und postierte sich zwischen den scharfen S-Kurven. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf das Singen der Reifen des Coupés auf dem nassen Pflaster gerichtet. Beeil dich, beschwor er sie stumm.
Du kannst schneller sein als der Laster. Du musst. Der Wagen kam näher. Gut. Er sah erneut auf die Uhr, die Zeiger auf dem Leuchtzifferblatt zählten seine Herzschläge. Alles lief genau nach Plan, bis auf den Laster. Noch ein paar Sekunden ...
Erwartungsvoll fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen. Bremsen kreischten in der Nacht. Zu nah. Verdammt noch mal, zu nah. Sein Kopf ruckte herum in Richtung Süden, von wo aus sich das Dröhnen näherte. Das Getriebe des Neunachsers knirschte, als der Fahrer herunterschaltete. Mit angespannten Muskeln lauschte er. Er durfte keinen Zeugen riskieren.
Schweiß lief ihm über den Rücken. Noch konnte er einen Rückzieher machen. Aber wann würde er eine zweite Chance bekommen? Hundert Riesen. Und das war erst der Anfang. Außerdem hatte sie es nicht besser verdient ... und die Gelegenheit war ihm geradezu in den Schoß gefallen. Der Motor des Lasters grollte laut, das Geräusch hallte durch den Wald aus Mammutbäumen und Eichen.
Ein mächtiger Sattelzug, der den steilen Abhang hinunterrollte.
In der entgegengesetzten Richtung schnurrte der Mercedes sofern es tatsächlich einer war immer weiter den Berg herauf, und die Fahrerin war völlig arglos, ahnte nicht, dass sie gleich sterben würde. Sein Atem ging in kurzen Stößen. Ruhig.
Betrachte es als eine Art Übung wie vor Jahren, als du in der Spezialeinheit warst. Du schaffst das. Noch ein paar Sekunden, dann bist du sie los. Sein Herz schlug einen Trommelwirbel. Seine Hände in den enganliegenden Handschuhen waren schweißnass. Zwei Lichtsäulen bogen von unten um die Kurve. Von oben kreischten die Bremsen des Sattelzugs. Jetzt!
Während der schnittige Wagen beschleunigte, sprang er vor, stand mitten auf der Fahrspur in Richtung Süden. Als er im Scheinwerferlicht stand, legte er rasch die Spiegel frei, die an seinem Gürtel befestigt waren.
Die Fahrerin trat heftig auf die Bremse. Mit einem Quietschen blockierten die Reifen des Mercedes, der Wagen brach nach rechts aus, geriet ins Kiesbett am Straßenrand und drehte sich. Flüchtig sah er die Fahrerin, den Ausdruck des Entsetzens auf ihrem schönen Gesicht, während sie schrie und verzweifelt versuchte gegenzulenken.
Eine weitere Person saß neben ihr auf dem Beifahrersitz. Scheiße! Man hatte ihm versichert, sie würde allein sein! Er sprang auf die Fahrspur nach Norden. Wich mit knapper Not dem Kotflügel aus. Stolperte. Stürzte. Die Spiegel an seinem Gürtel zerbrachen. Glas splitterte, glitzerte im Scheinwerferlicht. Mist. Keine Zeit, es aufzusammeln. Keuchend kam er auf die Füße. Rannte in Richtung Wald. Nichts wie weg hier.
Der Schwerlaster bog um die Kurve, bannte ihn im Licht seiner riesigen Scheinwerfer, flutete das nasse Pflaster mit blendendem Licht. Er sprang zur Seite. Dabei sah er einen kurzen Moment die Panik im Gesicht des Fahrers.
Dieser bärtige, kräftige Bär von einem Mann schrie so laut, dass er das Kreischen der Bremsen übertönte. Achtzehn breite Reifen quietschten, es roch nach verbranntem Gummi. Ach du Scheiße, Scheiße, Scheiße! Lauf, Mann! Er sprang über die Leitplanke, stürzte sich in das schützende Dickicht. Bei der harten Landung vertrat er sich den Knöchel, das Fußgelenk knackte schmerzhaft, doch er durfte sich nicht aufhalten. Nicht jetzt. Sein Herz klopfte wie wild.
Der Schweiß lief ihm übers Gesicht. Aus den Augenwinkeln sah er, wie der Mercedes auf der gegenüberliegenden Straßenseite die Leitplanke streifte. Funken flogen. Mit einem durchdringenden Kreischen riss polierter Stahl auf. Der Mann stürmte den Hang hinunter. Er hörte das Ächzen von reißendem Metall, als der Wagen auf die vorbereitete Schwachstelle in der Leitplanke traf, sie durchbrach und geradewegs in die dichtstehenden Bäume raste. Wie geplant. Aber auch der Laster war außer Kontrolle geraten und rumpelte den Hang hinunter.
Der Mann rannte weiter, ohne den stechenden Schmerz in seinem Fußgelenk und das Brennen in seiner Lunge zu beachten. Der Laster raste weiter bergab. Reifen blockierten. Metall kreischte. Der gesamte Wald erzitterte, als der Schwerlaster durch die Leitplanke brach, in seine Richtung, ein wütendes Metallungetüm, das ihn jagte, Tonnen von verbeultem Metall, die durchs Unterholz pflügten. Sein Herz hämmerte, er rannte um sein Leben. Schneller, schneller! Sein Fußgelenk schmerzte höllisch, seine Lunge schien zu bersten.
Er rollte sich ab, rannte weiter, allem Schmerz zum Trotz, lief im Zickzack zwischen den Bäumen hindurch. Wo zum Teufel war er? Und wo stand sein Jeep?
Verzweifelt versuchte er, der tödlichen Gefahr aus Metall auszuweichen. Mit einem Hechtsprung setzte er über einen umgestürzten Baumstamm. Dornen zerrten an seiner Kleidung. Er konnte nur hoffen, dass er rechtzeitig seinen Jeep fand, in dem er den Unfallort so weit wie möglich hinter sich lassen konnte. Der Boden bebte.
Es riss ihm die Beine weg, so dass er bäuchlings auf dem Waldboden landete. Ein greller Blitz, dann schoss ein Feuerball zwischen den Bäumen zum Himmel auf, ein leuchtend rot-orangefarbener Pilz. Die Nacht war plötzlich taghell. Gequälte Schreie, grauenhafte, gepeinigte Laute, die ihn für immer verfolgen würden, gellten durch die Nacht, als der Laster explodierte. Ein Funkenregen prasselte auf den Wald nieder und versengte sein Haar, die Skimütze und seine Jacke.
Rauch, der nach Diesel und verbranntem Gummi stank, quoll durch den Wald. Einen Augenblick lang glaubte der Mann, er müsse sterben. Verdient hätte er es, weiß Gott. Dann sah er ihn. Als hätte der Teufel ihn bereitgestellt: Sein Jeep stand direkt vor ihm. In den getönten Scheiben spiegelten sich blutrote Flammen. Der Wagen stand immer noch auf der verlassenen Holzabfuhrstraße, wo der Mann ihn abgestellt hatte.
Er rappelte sich auf, öffnete den Reißverschluss seiner Tasche, kramte nach den Schlüsseln und riss die Fahrertür auf. Geschafft. Beinahe. Halb erstickt vom Rauch warf er sich auf den Fahrersitz. Er zitterte, sein Knöchel pochte schmerzhaft. Als er den Zündschlüssel drehte, sprang der Motor gleich an. Der Wald war in ein gespenstisches Licht getaucht. Die Skimütze, die er sich über das Gesicht gezogen hatte, behielt er vorsichtshalber an. Er schlug die Tür zu, legte den ersten Gang ein und gab Gas. Auf der schlammigen Straße drehten die Reifen durch.
»Mach schon, los, los!« Der Jeep machte einen Satz. Kam ins Schleudern. Dabei spritzte Schlamm auf. Scheiße, er brauchte eine Zigarette. Dringend. Endlich griffen die Reifen. Er warf im Rückspiegel einen Blick auf sein Werk. Feuer und Rauch stiegen zum dunstigen Himmel auf. Sie ist tot. Du hast sie umgebracht. Hast ihre schwarze Seele auf direktem Weg zur Hölle geschickt. Und sie hat es, verdammt noch mal, nicht besser verdient!
Er schaltete das Radio ein. Aus den Lautsprechern grölte über das Heulen des Motors hinweg Jim Morrisons Stimme die vertrauten Verse.
»Come on, baby, light my fire ...« Tja, nie wieder. Das Miststück würde keinen Mann mehr heißmachen.
1.
Sie konnte nicht sehen, nicht sprechen, nicht ... O Gott, sie konnte ihre Hand nicht bewegen. Sie versuchte, die Augen zu öffnen, doch ihre Lider waren schwer wie Blei und schienen auf ihren Augen zu kleben, die grauenhaft schmerzten.
»Mrs Cahill?« Sie spürte kühle Finger auf ihrem Handrücken. »Mrs Cahill, können Sie mich hören?« Die freundliche Frauenstimme klang wie aus weiter Ferne ... wie von weit her, von einem Ort jenseits der Schmerzen. Ich? Ich bin Mrs Cahill? Das erschien ihr nicht richtig, aber sie hatte keine Ahnung, warum.
»Ihr Mann ist zu Besuch gekommen.« Mein Mann? Aber ich habe keinen ... O Gott, was ist los mit mir? Verliere ich den Verstand? Die Finger waren fort, und eine Frau seufzte schwer.
»Es tut mir leid, sie reagiert immer noch nicht.«
»Sie liegt nun seit beinahe sechs Wochen in dieser Klinik.« Eine Männerstimme. Barsch. Hart. Fordernd.
»Sechs Wochen, um Himmels willen, und zeigt keinerlei Anzeichen von Genesung.«
»Das kann man so nicht sagen. Sie atmet selbständig, hat gehustet und versucht zu gähnen. Und ich habe Augenbewegungen hinter den Lidern festgestellt. Lauter gute Zeichen, Hinweise darauf, dass das Stammhirn nicht geschädigt ist ...«
O Gott, sie redeten über Hirnschäden!
»Warum wacht sie dann nicht auf?«, wollte er wissen.
»Ich weiß es nicht.«
»Scheiße.« Er sprach jetzt leiser.
»Lassen Sie ihr Zeit«, erwiderte die Frau sanft. »Wir können natürlich nicht sicher sein, aber es besteht sogar die Möglichkeit, dass sie uns in diesem Moment sprechen hört.«
Ja, ja, ich höre euch, aber ich heiße nicht Mrs Cahill, ich bin nicht verheiratet und ich sterbe vor Schmerzen. Helft mir, um Gottes willen! Wenn ich hier in einer Klinik bin, sollte es doch so etwas wie Kodein oder Morphium oder ... oder wenigstens Aspirin geben.
Der Nebel umfing sie wieder, und sie wollte sich einfach fallenlassen, nichts mehr spüren.
»Marla? Ich bin's, Alex.« Sein tiefer Bariton klang jetzt viel näher. Lauter. Als stünde er nur Zentimeter von ihr entfernt. Kurz darauf spürte sie einen Druck an ihrem Arm. Sie wollte ihn wissen lassen, dass sie ihn hören konnte, doch es gelang ihr einfach nicht, sich zu bewegen. Der Geruch eines Duftwassers stieg ihr in die Nase, und sie wusste instinktiv, dass es eine teure Marke war.
Doch woher sollte sie das wissen? Die Fingerspitzen auf ihrer Haut waren glatt und weich ... Alex' Hände. Die Hände ihres Mannes. Herrgott, warum konnte sie sich nicht erinnern? Sie versuchte, sich sein Gesicht vorzustellen, seine Haarfarbe, seine Schulterbreite, seine Schuhgröße, irgendetwas, doch es gelang ihr nicht.
Seine Stimme rief keine Bilder hervor. Nur ein schwacher Geruch nach Rauch ging von ihm aus, als sein Ärmel ihr Handgelenk streifte und sie den rauhen Wollstoff seines Jacketts spürte.
»Liebling, bitte wach auf. Du fehlst mir, die Kinder ...« Seine Stimme brach, die Gefühle übermannten ihn. Kinder? Nein! Ausgeschlossen, dass sie Kinder hatte und es nicht wusste. So etwas musste eine Frau, selbst eine Frau, die halb komatös in einem Krankenbett lag, doch instinktiv wissen.
Ihre Intuition würde ihr sagen, dass sie Mutter war, oder nicht? Bewegungslos in dieser Schwärze gefangen, wusste sie nichts.
Wenn sie doch nur die Augen hätte öffnen können ... Doch andererseits war die anheimelnde Wärme der Bewusstlosigkeit so verlockend ... Bald würde sie sich erinnern ... Es war nur eine Frage der Zeit ... Kaltes Grauen kroch ihr über den Rücken, als ihr bewusst wurde, dass sie nicht einen einzigen Moment ihres bisherigen Lebens heraufbeschwören konnte. Es war, als hätte es sie nie gegeben.
Das ist ein Alptraum. Eine andere Erklärung gibt es nicht.
»Marla, bitte, komm zurück zu mir. Zu uns«, flüsterte Alex heiser, und tief im Herzen wünschte sie sich, etwas zu empfinden, einen Hauch von Gefühl für diesen gesichtslosen Fremden, der angeblich ihr Mann war. Seine geschmeidigen Finger verschränkten sich mit ihren. Sie spürte den Druck auf ihrem Handrücken, das Ziehen der Infusionsnadel.
»Cissy vermisst dich, und der kleine James ...«
Wieder brach seine Stimme, und sie gab sich alle Mühe, eine Spur von Zärtlichkeit in ihrem Unterbewusstsein für ihn zu finden, ein bisschen Liebe zu diesem Mann, den sie nicht sehen und an den sie sich nicht erinnern konnte. In der Leere, die ihre Vergangenheit war, fand sie keinen Anhaltspunkt, was Alex Cahills Aussehen betraf, seinen Beruf, seine Art, sie zu lieben ...
Daran müsste sie sich doch erinnern. Und ihre Kinder? Cissy? James? In ihr stiegen keinerlei Bilder von kleinen Engelchen mit laufenden Nasen und roten Wangen auf oder von schlaksigen Halbwüchsigen, die sich mit Akne herumschlugen.
Sie merkte, dass sie plötzlich in einen Dämmerzustand sank. Offenbar hatte man endlich etwas in den Tropf getan, denn ihr war, als würde sie sich aus ihrem Körper lösen ... forttreiben ...
»Wie lange noch?«, fragte er und zog seine Hand zurück.
»Wie lange soll das noch so weitergehen?«
»Das kann Ihnen niemand sagen. Solche Dinge brauchen Zeit«, erwiderte die Schwester, und ihre Stimme klang fern, als käme sie aus einem Tunnel. »Manchmal dauert ein Koma nur ein paar Stunden und ... na ja, manchmal bedeutend länger. Tage. Wochen. Das kann niemand voraussagen. Es könnte sogar noch länger dauern ...«
»Sprechen Sie es nicht aus«, fiel Alex ihr hastig ins Wort. »Sie wird wieder zu sich kommen.«
Seine Stimme war hart wie Stahl. Offenbar war er es gewohnt, Befehle zu erteilen.
»Marla?« Er musste sich wohl wieder dem Bett zugewandt haben, denn seine Stimme klang nun lauter. Ungeduldig.
»Herrgott noch mal, kannst du mich hören?« Unter Aufbietung all ihrer Kräfte versuchte sie, sich zu bewegen. Konnte es nicht. Es war, als sei sie festgeschnallt, auf die Matratze mit dem unangenehm gestärkten Laken gefesselt. Sie konnte nicht einmal einen Finger rühren, aber merkwürdigerweise war es ihr auch irgendwie gleichgültig ...
»Ich will den Arzt sprechen«, verlangte Alex nachdrücklich.
»Ich sehe keinen Grund, warum sie nicht zu Hause betreut werden kann. Ich stelle alle Pflegekräfte ein, die sie benötigt. Krankenschwestern. Betreuer. Wir haben im Haus Platz genug für Leute, die sie rund um die Uhr versorgen.«
Es folgte eine lange Pause, in der sie die unausgesprochene Missbilligung der Krankenschwester spürte wenigstens nahm sie das an. Inzwischen mühte sie sich weiter ab, die Augen zu öffnen, irgendeinen Körperteil zu bewegen, um zu zeigen, dass sie hören konnte, was gesprochen wurde. »Ich weiß zwar nicht, ob er sich zurzeit in der Klinik aufhält, aber ich werde Dr. Robertson mitteilen, dass Sie ihn sprechen möchten«, sagte die Schwester schließlich. Ihre Stimme klang jetzt nicht mehr nachsichtig und geduldig. Eher fest. Professionell.
»Tun Sie das.« Marla versank wieder in der Bewusstlosigkeit, verlor Sekunden, vielleicht Minuten. Dann nahm ihr träger Verstand erneut Stimmen wahr, Stimmen, die ihren Schlaf störten.
»Mrs Cahill braucht jetzt Ruhe«, sagte die Schwester.
»Wir gehen gleich.«
Eine andere Stimme. Älter. Vornehm. Die Stimme kam näher, begleitet von Schritten, fest und energisch, ein starker Kontrast zu dem Alter, das die Stimme vermuten ließ.
»Wir sind ihre Familie, und ich wäre gern für ein paar Minuten mit meinem Sohn und meiner Schwiegertochter allein.«
»Schön. Aber fassen Sie sich um Mrs Cahills willen kurz.«
»Das werden wir«, versprach die ältere Frau, und Marla spürte die Berührung von kühler, trockener Haut auf ihrem Handrücken.
»Komm, Marla, nun wach schon auf. Cissy und der kleine James vermissen dich so. Sie brauchen dich.« Ein dunkles Lachen. »Ich gebe es nur ungern zu, aber die Nana kann ihnen nicht ganz die Mutter ersetzen.«
Nana? Großmutter? Schwiegermutter? Kleidung raschelte, weiche Sohlen tappten über den Fußboden. Offenbar verließ die Schwester das Zimmer.
»Manchmal frage ich mich, ob sie überhaupt noch einmal aufwacht«, knurrte Alex. »Herrgott, ich brauche eine Zigarette.«
Übersetzung: Elisabeth Hartmann
Copyright © 2009 für die deutschsprachige Ausgabe bei Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
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Autoren-Porträt von Lisa Jackson
Lisa Jackson zählt zu den amerikanischen Top-Autorinnen, deren Romane regelmäßig die Bestsellerlisten der „ New York Times", der „ USA Today„ und der „ Publishers Weekly" erobern. Ihre Hochspannungsthriller wurden in fünfundzwanzig Länder verkauft. Auch in Deutschland hat sie den Sprung unter die Top 20 der „ Spiegel"-Bestsellerliste geschafft. Lisa Jackson lebt in Oregon.Bibliographische Angaben
- Autor: Lisa Jackson
- 2010, 6. Aufl., 560 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Elisabeth Hartmann
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426503506
- ISBN-13: 9783426503508
- Erscheinungsdatum: 09.06.2010
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