Das achte Gebot / Hanne Wilhelmsen Bd.5
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Das achteGebot von Anne Holt
LESEPROBE
Eins
Die Gewißheit, daß er nur noch Sekunden zu leben hatte, ließihn endlich im Salzwasser die Augen schließen. Beim Sturz vom hohenBrückengewölbe hatte er zwar einen Moment der Furcht gehabt, doch der Aufprallauf den Fjord hatte nicht wehgetan. Er nahm an, daß er sich beide Arme gebrochenhatte. Seine Hände leuchteten in dem fremden Winkel grauweiß. Wider Willenhatte er einige Schwimmzüge versucht, doch das hatte nichts gebracht. In derstarken Strömung waren seine Arme unbrauchbar. Trotzdem spürte er keinenSchmerz. Eher war das Gegenteil der Fall. Das Wasser umschloß ihn mit einerWärme, die ihn überraschte. Er fühlte sich in die Tiefe gezogen und verlor dasBewußtsein.
Der Anorak des Mannes umwogte seinen Leib, ein dunkler,schlaffer Ballon vor einem noch dunkleren Meer. Sein Kopf dümpelte wie eineBoje hin und her, und er hatte endlich aufgehört, Wasser zu treten.
Als letztes registrierte der Mann, daß er unter Wasser atmenkonnte. Es war durchaus kein unangenehmes Gefühl.
Zwei
Die Frau auf dem Boden war noch vor kurzer Zeit aschblondgewesen. Das war jetzt nicht mehr zu sehen. Ihr Kopf war von ihrem Körpergetrennt worden, und ihre halblangen Haare klebten an den Hautfetzen ihresdurchschnittenen Halses. Außerdem war ihr der Hinterkopf eingeschlagenworden. Die weit aufgerissenen toten Augen schienen Hanne Wilhelmsen überraschtanzustarren, so, als handele es sich bei der Hauptkommissarin um einen äußerstunerwarteten Gast.
Im Kamin brannte noch immer ein Feuer. Kleine Flammenleckten an einer rußgeschwärzten Rückplatte, und das spärliche Licht reichtenicht sehr weit. Da der Strom ausgefallen war und die nächtliche Dunkelheitsich wie eine neugierige Zuschauerin gegen die Fenster preßte, hatte HanneWilhelmsen das Bedürfnis, Holz nachzulegen. Statt dessen schaltete sie ihreTaschenlampe ein. Der Lichtstrahl wanderte über die Tote. Kopf und Rumpf derFrau waren zwar getrennt worden, doch sie ruhten so dicht beieinander, daß dieFrau bei ihrer Enthauptung schon auf dem Boden gelegen haben mußte.
»Schade um das Eisbärfell«, murmelte Kommissar ErikHenriksen.
Hanne Wilhelmsen ließ den Lichtkegel durch das Zimmertanzen. Es war groß, quadratisch und mit Möbeln vollgestopft. DerOberstaatsanwalt und seine Frau hatten offenbar Sinn für Antiquitäten. IhrSinn für Mäßigung war weniger gut entwickelt. Im Halbdunkel konnte Hanne Wilhelmsenmit Rosenmustern verzierte Holzgefäße aus Telemark neben weißen und blaßblauenChinoiserien erkennen. Über dem Kamin hing eine Muskete. Aus dem r6. Jahrhundert,tippte die Hauptkommissarin und ertappte sich bei dem Wunsch, die schöne Waffezu berühren.
Über der Muskete hingen zwei leere, reichverzierte schmiedeeiserneHaken. Daran hatte offenbar das Samuraischwert gehangen. Jetzt lag es auf demBoden, neben Doris Flo Halvorsrud, Mutter von drei Kindern, einer Frau, der esnicht mehr möglich war, ihren fünfundvierzigsten Geburtstag zu erleben. DiesesEreignis lag noch gute drei Monate in der Zukunft. Hanne durchsuchte dieBrieftasche, die sie aus einer Handtasche in der Diele gezogen hatte. Die Augen,die irgendwann einmal in einen Fotoautomaten geschaut hatten, wiesen denselbenüberraschten Ausdruck auf wie der tote Kopf neben dem Kamin.
In einem Plastikfach steckte ein Foto der Kinder.
Hanne bekam eine Gänsehaut beim Anblick der drei Teenager,die von einem Ruderboot aus in die Kamera lachten, alle drei trugen roteSchwimmwesten, und der Älteste schwenkte eine Bierflasche. Die Kinder hattenÄhnlichkeit miteinander und mit ihrer Mutter. Der Biertrinker und seineSchwester hatten die gleichen blonden Haare wie Doris Flo Halvorsrud. Derjüngere Bruder hatte sich die Haare radikal kurz geschnitten, ein Skinhead mitPickeln und Zahnklammer, dessen magere Jungenfinger über dem Kopf der Schwesterdas V-Zeichen formten.
Es war ein Bild in starken Sommerfarben. Die orangen Schwimmwestenwaren achtlos über braune Schultern gestreift worden, rote und blaueBadekleidung hing tropfend über den grünen Sitzbänken des Bootes. Das Fotozeigte Geschwister in einer Situation, wie sie selten erlebt wird. Es erzähltevom Leben, wie es fast niemals aussieht.
Hanne Wilhelmsen legte das Bild zurück und dachte, daß siebisher keines der Kinder im Haus gesehen hatte. Zerstreut strich sie mit demFinger über eine alte Narbe in ihrer Augenbraue, klappte die Brieftasche zu undschaute sich noch einmal im Zimmer um.
Eine halboffene Küche aus Kirschbaumholz war offenbar in dieRückseite des Hauses eingelassen. Die nach Südwesten schauenden Fenster warengroß, und im Licht der Stadt konnte Hanne Wilhelmsen eine großzügige Terrasseerkennen. Dahinter lag der Oslofjord und spiegelte den Vollmond, der irgendwoüber den Hügeln bei Bærum herumlungerte.
Oberstaatsanwalt Sigurd Halvorsrud hatte die Hände vor dasGesicht geschlagen und saß auf einem klobigen Holzstuhl. Hanne konnte in seinemtief ins Fleisch eingewachsenen Trauring an seiner rechten Hand den Widerscheindes Kaminfeuers sehen. Halvorsruds blaues Polohemd war von Blutspritzernbedeckt. Seine schütteren Haare waren blutverschmiert. Seine graue Wollhose mitden schmalen Aufschlägen wies überall dunkle Flecken auf. Blut. Überall Blut.
»Ich werde nie begreifen, wieviel vier Liter Blut wirklich ausmachen«,murmelte Hanne und drehte sich zu Erik um.
Der rothaarige Mann gab keine Antwort. Er schluckte undschluckte.
»Himbeerbonbons«, mahnte Hanne. »Denk an etwas Saures.Zitrone. Johannisbeere.«
»Ich habe nichts getan!« (...)
© Piper Verlag GmbH
Übersetzung: Gabriele Haefs
Anne Holt, 1958 geboren, wuchs in Norwegen und in den USA auf. Als freie Autorin lebt sie heute mit ihrer Familie in Oslo. Ihre vielfach preisgekrönten Kriminalromane werden in alle großen Sprachen übersetzt und machen sie mit über 7 Millionen verkauften Exemplaren zu einer der erfolgreichsten skandinavischen Autorinnen weltweit. Ihre beiden Serien um Inger Vik und Hanne Wilhelmsen genießen Kultstatus und wurden erfolgreich verfilmt. Haefs, Gabriele
Gabriele Haefs, geboren 1953 in Wachtendonk, Studium der Volkskunde, Sprachwissenschaft, Keltischen Sprachen und Skandinavistik. Seit 1983 ist sie als Übersetzerin von unter anderem Jostein Gaarder, Anne Holt und Ingvar Ambjörnsen tätig. Für ihre Arbeit wurde sie mit dem Deutschen und dem Österreichischen Jugendbuchpreis, dem Akademika-Preis der Universität Oslo und dem Willy Brandt-Preis ausgezeichnet. Sie ist Ritterin 1. Klasse des Norwegischen St. Olavsordens.
- Autor: Anne Holt
- 2017, 10. Aufl., 444 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Gabriele Haefs
- Verlag: Piper
- ISBN-10: 3492235816
- ISBN-13: 9783492235815
- Erscheinungsdatum: 01.06.2002
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