Das Ende ist mein Anfang
Ein Vater spricht über das Leben, den Tod und über Abschied.
Tiziano Terzani hat als langjähriger Korrespondent des Spiegel unser Bild von Asien mit geprägt. Das damals noch unzugängliche China kannte er wie kaum ein anderer westlicher...
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Ein Vater spricht über das Leben, den Tod und über Abschied.
Tiziano Terzani hat als langjähriger Korrespondent des Spiegel unser Bild von Asien mit geprägt. Das damals noch unzugängliche China kannte er wie kaum ein anderer westlicher Journalist, im asiatischen Denken war er seit langem zu Hause.
Als nach längerer Krebserkrankung sein Tod naht, lädt der 65-jährige Terzani seinen Sohn Folco zu sich ein, um Abschied zu nehmen. In einem langem Zwiegespräch erzählt der Vater dem Sohn von seinem bewegten Leben zwischen Europa und Asien und von der Auseinandersetzung mit Krankheit und dem Sterben. Es entspinnt sich ein berührender Dialog über das Leben und die Begegnung mit dem Tod, über Abschied, Trauer und Verlust, aber auch über Hoffnung und Wiederkehr.
Tiziano Terzani hat als langjähriger Korrespondent des SPIEGEL unser Bild von Asien mit geprägt. Das damals noch unzugängliche China kannte er wie kaum ein anderer westlicher Journalist, im asiatischen Denken war er seit langem zu Hause. Als nach längerer Krebserkrankung sein Tod naht, lädt der 65-jährige Terzani seinen Sohn Folco zu sich ein, um Abschied zu nehmen. In einem langen Zwiegespräch erzählt der Vater dem Sohn von seinem bewegten Leben zwischen Europa und Asien und von der Auseinandersetzung mit Krankheit und dem Sterben. Es entspinnt sich ein berührender Dialog über das Leben und die Begegnung mit dem Tod, über Abschied, Trauer und Verlust, aber auch über Hoffnung und Wiederkehr.
Die sehr persönlichen Erinnerungen des bekannten SPIEGEL-Journalisten und Asienkenners.
Das Endeist mein Anfang von Tiziano Terzani
LESEPROBE
Orsigna, den 12. März 2004
Meinlieber Folco,
Duweißt, wie ungern ich telefoniere und wie schwer es mir meine schwindendenKräfte machen, selbst wenige Zeilen zu Papier zu bringen. Daher ist dies keinrichtiger Brief, sondern ein "Telegramm" mit zwei, drei Punkten, die mir nochwichtig sind und die Du wissen sollst.
Ich binentsetzlich schwach, aber heiter und gelassen. Ich liebe dieses Haus und rechnedamit, bis zum Ende hier zu bleiben. Ich hoffe, Dich bald zu sehen, aber nurunter der Bedingung, dass Du mit Deiner Arbeit fertig geworden bist. Denn bistDu erst einmal hier, wird Dich (uns) alles andere vollkommen in Anspruch nehmen,besonders wenn Du Dich auf eine Idee einlässt, über die ich lange nachgedachthabe. Und zwar folgende: Wie wäre es, wenn wir zwei uns jeden Tag eine Stundezusammensetzten und Du mich fragtest, was Du schon immer fragen wolltest, und ichDir frei von der Leber weg erzählte, was mir wichtig ist, von mir und meinerFamilie, von der großen Reise des Lebens? Ein Austausch zwischen uns beiden,Vater und Sohn, so verschieden und einander doch so ähnlich, ein Testament, dasDu dann zu einem Buch zusammenstellen könntest.
BeeilDich, denn ich glaube, mit bleibt nicht mehr viel Zeit. Sieh zu, wie Du eseinrichten kannst, und ich werde mir Mühe geben, noch eine Weile zu leben, umdieses wunderschöne Projekt mit Dir zu verwirklichen, wenn Du Lust dazu hast.
Ichumarme Dich.
DeinPapa
Folco, Folco, komm schnell! In der Kastanie sitzt ein Kuckuck! Ichkann ihn nicht sehen, aber er singt dort sein Lied:
Kuckuck, Kuckuck,
vorbei ist der April,
im Maienangekommen,
derKuckuck schweigt nicht still.
Hör doch,wie schön!
Ich bin sofroh, mein Sohn. Ich bin jetzt sechsundsechzig, und mein Leben, diese großeReise, geht dem Ende zu. Ja, ich bin an der Endstation angelangt. Aber ohneTrauer, im Gegenteil, fast mit einem Schmunzeln. Vor ein paar Tagen hat deineMutter mich gefragt, "Hör mal, wenn jemand anriefe und uns von einem Mittelerzählte, mit dem du noch zehn Jahre weiterleben könntest, würdest du esnehmen?" Und ich habe ganz spontan gesagt: "Nein!" Ich würde es nicht nehmen,ich will nicht noch zehn Jahre leben. Wozu denn? Um all das zu tun, was ichbereits getan habe? Ich bin im Himalaja gewesen und habe mich darauf vorbereitet,auf den großen Ozean des Friedens hinauszusegeln. Warum sollte ich mich da nocheinmal in ein Bötchen setzen, um am Ufer entlang zu schippern und zu angeln?Das interessiert mich einfach nicht mehr.
Sieh dirdie Natur an, von dieser Wiese aus, sieh sie dir genau an, hör ihr zu. DerKuckuck; all die zwitschernden Vögel in den Bäumen - wer die wohl sind? -, dieGrillen im Gras, der Wind, der durchs Laub streicht. Ein einziges, großesKonzert mit einem eigenen Leben, das von dem Tod, auf den ich warte, vollkommenunberührt bleibt. Die Ameisen krabbeln weiter vor sich hin, die Vögel singenihrem Gott ein Lied, und der Wind weht wie eh und je.
Was füreine große Lehre! Deshalb bin ich so heiter. Seit Monaten spüre ich einegeballte Freude in mir, die in alle Richtungen ausstrahlt. Ich habe das Gefühl,nie zuvor so leicht und glücklich gewesen zu sein. Und wenn du mich fragst: Wiegeht es dir?, kann ich nur antworten: hervorragend.Mein Kopf ist frei, ich fühle mich wunderbar. Nur dieser Körper fault vor sichhin und ist inzwischen überall leck. Das Einzige, was bleibt, ist, sich von ihmzu lösen und ihn seinem Schicksal zu überlassen, dem Schicksal der Materie, diezerfällt und wieder zu Staub wird. Ohne Angst, denn es ist doch dienatürlichste Sache der Welt. Aber eben weil mir nur noch wenig Zeit bleibt,möchte ich noch etwas Letztes tun: mit dir reden. Mit dir, der dufünfunddreißig Jahre lang - oder wie alt bist du jetzt? Vierunddreißig? - Teilmeines Lebens gewesen bist, Zuschauer dieser langen Reise, die du von unten,aus der Perspektive des Sohns, mitverfolgt hast. Immer warst du da, und dochweiß ich, dass du nicht mein ganzes Leben kennst. So wie ich eigentlich nursehr wenig vom Leben meines Vaters wusste und am Ende bedauerte, nicht einwenig Zeit mit ihm verbracht zu haben, um darüber zu reden. FOLCO: Also hast dudeinen Tod tatsächlich angenommen, Papa?
TIZIANO: Weißtdu, diese Vorstellung vom "Tod" würde ich gern vermeiden. Die indische Wendung"den Körper verlassen", die dir so geläufig ist wie mir, finde ich vielschöner. Mein Traum wäre es zu verschwinden, als gäbe es diesen Moment derTrennung nicht. Der letzte Akt des Lebens, den man Tod nennt, macht mir keineAngst, denn darauf habe ich mich vorbereitet.
Ich willnicht sagen, dass es in deinem Alter genauso wäre. Aber in meinem! Ich habealles getan, was ich wollte, ich habe ungeheuer intensiv gelebt, und ich habenicht das Gefühl, ich hätte irgendetwas versäumt. Ich brauche nicht zu sagen:"Ach, wie gern hätte ich noch ein bisschen Zeit, um dies oder jenes zu tun."Und ich habe keine Angst - dank jener zwei, drei Dinge, die ich für wesentlichhalte und die alle Großen und Weisen der Vergangenheit begriffen haben.
Was ist es,was uns am Tod so ängstigt?
Was uns vorAngst erstarren lässt, wenn wir an den Augenblick des Todes denken, ist dieVorstellung, dass in dem Moment alles, woran wir hängen, verschwindet. Zunächsteinmal der Körper. Was für eine ungeheure Bedeutung haben wir ihm zugemessen! Denkdoch nur, wie wir mit ihm wachsen, wie wir uns mit ihm identifizieren. Siehdich an, so jung, so stark, überall Muskeln. Ich war doch genauso! Ich binjeden Tag kilometerweit gejoggt, um in Form zu bleiben, ich habe Gymnastikgemacht, ich hatte gerade Beine, einen dichten Schnurrbart und den ganzen Kopfvoller rabenschwarzer Haare! Ich war ein schöner junger Mann! Wenn einer "Tiziano Terzani" sagt, stellt ersich diesen Körper vor.
Das istdoch zum Lachen! Sieh dir an, wie ich jetzt aussehe! Nur noch Haut und Knochen,die Beine geschwollen, der Bauch rund wie ein Ballon! Die Geometrie des Körpersist auf den Kopf gestellt: Zuerst hat man breite Schultern und schmale Hüften,jetzt habe ich schmale Schultern und einen riesigen Bauch. Wieso sollte ich andiesem Körper hängen? Einem Körper, der mit jedem Tag schwächer wird, dem dieHaare ausfallen, der nur noch humpeln kann, an dem die Chirurgenherumschnippeln? Wir sind nicht dieser Körper. Aber was sind wir dann?
Wirglauben, all das zu sein, was wir mit dem Tod zu verlieren fürchten. UnsereIdentität. Da hast du dich mit deinem Beruf identifiziert, Journalist,Rechtsanwalt, Bankdirektor, und der Gedanke, dass all das auf einmal verschwindet,dass du nicht mehr der große Journalist oder der erfolgreiche Bankdirektor bist,dass der Tod dir all das nimmt, erschüttert dich. Und dann alles, was dir gehört- das Fahrrad, das Auto, ein wertvolles Bild, das du dir mit denErsparnissen deines ganzen Lebens gekauft hast, ein Grundstück, ein Häuschen amMeer. Alles deins! Und jetzt stirbst du und verlierst es. Der Grund,warum wir solche Angst vor dem Tod haben, ist, dass wir plötzlich auf allesverzichten müssen, woran unser Herz hängt, unseren Besitz, unsere Wünsche,unsere Identität. Ich habe das bereits hinter mir. In den letzten Jahren habeich all diese Dinge über Bord geworfen, und jetzt gibt es nichts mehr, woranich hänge.
Dennnatürlich bist du nicht dein Name, natürlich bist du nicht dein Beruf und auchnicht dein Haus am Meer. Und wenn du schon im Leben lernst, zu sterben, wie dieWeisen der Vorzeit es gelehrt haben - die Sufi s, die Griechen, unseregeliebten Rischis im Himalaja -, dann gewöhnst dudich daran, dich mit diesen Dingen nicht zu identifizieren und zu erkennen, wasfür einen absolut begrenzten, vorübergehenden, lächerlichen, vergänglichen Wertsie haben. Wenn dein Haus am Meer eines Tages - wrumm!- von einer Sturm- flut fortgerissen wird; wenn dein Sohn, einer wie du, der duso lange mein Kind gewesen bist, um den ich mir so viele Gedanken und manchmalauch Sorgen gemacht habe, aus dem Haus geht und ihm ein Ziegelstein auf denKopf fällt und auf einmal - wrumm! - alles vorbeiist, dann begreifst du, dass du unmöglich etwas sein kannst, was einfach soverschwindet.
Und wenn duim Laufe des Lebens zu begreifen beginnst, dass du nicht diese Dinge bist, danntrennst du dich allmählich davon, dann lässt du sie los. Dann lässt du auch daslos, was dir am teuersten ist. Für mich war das die Liebe zu deiner Mutter. Alldie siebenundvierzig Jahre, die wir zusammen gewesen sind, habe ich deineMutter geliebt, und wenn ich sage, dass ich diese Liebe loslasse, heißt dasnicht, dass ich sie nicht mehr liebe, sondern dass ich nicht mehr Sklave dieserLiebe bin; dass ich nicht mehr von ihr abhänge; dass ich mich auch von ihrgelöst habe. Diese Liebe ist Teil meines Lebens, aber ich bin nichtdiese Liebe. Ich bin vieles oder vielleicht auch nichts. Aber ich bin nichtdiese eine Sache. Und der Gedanke, im Moment des Todes diese Liebe zuverlieren, dieses Haus in Orsigna zu verlieren, dichund Saskia zu verlieren, meinen Beruf zu verlieren, kümmert mich nicht mehr. Ermacht mir keine Angst mehr, denn ich habe mich daran gewöhnt. Das hat mich derHimalaja gelehrt, die Einsamkeit dort oben, die Natur, das Glück, dieseKrankheit zu bekommen und die Gelegenheit zu haben, über diese Dinge nachzudenken.
Der anderewesentliche Punkt im Leben eines Menschen, der nicht nur älter, sondern auchreifer wird, wie hoffentlich auch ich, ist das Verhältnis zu seinem Verlangen.Das Verlangen ist unsere große Triebfeder. Hätte Kolumbus nicht das Verlangen verspürt,einen neuen Weg nach Indien zu finden, hätte er Amerika nie entdeckt. Der ganzeFortschritt des Menschen, oder Rückschritt, wenn du so willst, die ganzeZivilisation oder De-Zivilisation ist auf dasVerlangen zurückzuführen, alle Arten von Verlangen, angefangen vom einfachsten,dem körperlichen, dem Verlangen, das Fleisch eines anderen zu besitzen.
DasVerlangen ist ein unglaublicher Antrieb, das will ich gar nicht bestreiten. Esist wichtig und hat die Geschichte der Menschheit geprägt. Aber noch einmal: Wenndu anfängst, es genauer zu betrachten - was ist dieses Verlangen dann? Was sinddiese Bedürfnisse, denen du dich nicht entziehen kannst? Vor allem heute, indieser Gesellschaft, die uns dazu drängt, Bedürfnisse zu erfinden und besondersden banalsten, den materiellen, nachzugehen, denen aus dem Supermarkt. DasVerlangen nach diesen Dingen ist nutzlos, banal, lächerlich.
Das wahreVerlangen, wenn man denn eines will, ist das Verlangen, man selbst zu sein. DasEinzige, was zu ersehnen Sinn hat, ist, vor keinen Entscheidungen mehr zustehen, denn die wahre Entscheidung ist nicht die zwischen zwei SortenZahnpasta, zwei Frauen oder zwei Autos. Die wahre Entscheidung ist die, duselbst zu sein. Wenn du dich an den Gedanken gewöhnst oder bestimmte Übungen inder Richtung machst, wenn du darüber nachdenkst - nachdenkst! -, dann wirst duerkennen, dass jedes Verlangen eine Form von Sklaverei ist. Denn je heftiger duverlangst, desto mehr begrenzt du dich. Bis dein Verlangen so stark ist, dassdu nichts anderes mehr denken und tun kannst, dass du zu seinem Sklaven wirst.
Wenn dudann älter wirst, und reifer, beginnst du das alles möglicherweise zu sehen
Erlacht.
undkannst über all dieses Verlangen lachen, das jetzige und das von früher; kannstdarüber lachen, dass es zu nichts nütze ist, dass es genauso vergänglich istwie alles andere, wie das ganze Leben. Und so lernst du allmählich, dich davonzu befreien, es aus dem Weg zu räumen. Auch den letzten Wunsch, den alle haben,den Wunsch nach einem langen Leben. Wenn man denkt, "Gut, mir liegt nichts mehran Geld und Ruhm, und kaufen will ich auch nichts mehr. Aber was gäbe ich nichtfür ein Mittel, das mir noch zehn Jahre schenkt!"
Auch diesenWunsch habe ich nicht mehr. Ich habe ihn einfach nicht mehr. ()
© DeutscheVerlags-Anstalt
Übersetzung:Christiane Rhein
- Autor: Tiziano Terzani
- 2007, 12. Aufl., 411 Seiten, 34 Schwarz-Weiß-Abbildungen, mit Abbildungen, Maße: 14 x 21,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Christiane Rhein
- Verlag: DVA
- ISBN-10: 3421042926
- ISBN-13: 9783421042927
- Erscheinungsdatum: 02.04.2007
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