Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns
Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit
Vom Nutzen und Nachteil des Vergessens
Ein zentraler Glaubenssatz unserer Zeit lautet: Um eine Vergangenheit zu "bewältigen", muß man die Erinnerung an sie ständig wachhalten. Christian Meier, einer der bedeutendsten deutschen...
Ein zentraler Glaubenssatz unserer Zeit lautet: Um eine Vergangenheit zu "bewältigen", muß man die Erinnerung an sie ständig wachhalten. Christian Meier, einer der bedeutendsten deutschen...
Leider schon ausverkauft
Buch (Gebunden)
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns “
Vom Nutzen und Nachteil des Vergessens
Ein zentraler Glaubenssatz unserer Zeit lautet: Um eine Vergangenheit zu "bewältigen", muß man die Erinnerung an sie ständig wachhalten. Christian Meier, einer der bedeutendsten deutschen Historiker, stellt diese Geschichtsversessenheit in seinem brillanten Essay in Frage. Er weist nach, daß in früheren Zeiten nicht Erinnern, sondern Vergessen das Heilmittel war, mit einer schlimmen Vergangenheit fertigzuwerden.
Christian Meier ist die Weltgeschichte durchgegangen, um herauszufinden, was die Menschen früher taten, wenn sie nach Kriegen oder Bürgerkriegen Versöhnung suchten. Sein Befund ist ebenso erstaunlich wie einfach: Die Welt setzte seit den alten Griechen auf Vergessen.
Die deutschen Verbrechen der NS-Zeit aber konnten nicht vergessen werden. Die öffentliche Erinnerung an sie war und ist unabweisbar. Und bei allem Ungenügen: Die Auseinandersetzung damit hat sich gelohnt. Gilt also seitdem eine neue Regel? Wie ist etwa mit der Erinnerung an das Unrecht später gestürzter Diktaturen, zumal des SEDRegimes, umzugehen? Wäre vielleicht auch heute Vergessen eher angebracht als Erinnerung?
Ein zentraler Glaubenssatz unserer Zeit lautet: Um eine Vergangenheit zu "bewältigen", muß man die Erinnerung an sie ständig wachhalten. Christian Meier, einer der bedeutendsten deutschen Historiker, stellt diese Geschichtsversessenheit in seinem brillanten Essay in Frage. Er weist nach, daß in früheren Zeiten nicht Erinnern, sondern Vergessen das Heilmittel war, mit einer schlimmen Vergangenheit fertigzuwerden.
Christian Meier ist die Weltgeschichte durchgegangen, um herauszufinden, was die Menschen früher taten, wenn sie nach Kriegen oder Bürgerkriegen Versöhnung suchten. Sein Befund ist ebenso erstaunlich wie einfach: Die Welt setzte seit den alten Griechen auf Vergessen.
Die deutschen Verbrechen der NS-Zeit aber konnten nicht vergessen werden. Die öffentliche Erinnerung an sie war und ist unabweisbar. Und bei allem Ungenügen: Die Auseinandersetzung damit hat sich gelohnt. Gilt also seitdem eine neue Regel? Wie ist etwa mit der Erinnerung an das Unrecht später gestürzter Diktaturen, zumal des SEDRegimes, umzugehen? Wäre vielleicht auch heute Vergessen eher angebracht als Erinnerung?
Klappentext zu „Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns “
Vom Nutzen und Nachteil des VergessensEin zentraler Glaubenssatz unserer Zeit lautet: Um eine Vergangenheit zu "bewältigen", muß man die Erinnerung an sie ständig wachhalten. Christian Meier, einer der bedeutendsten deutschen Historiker, stellt diese Geschichtsversessenheit in seinem brillanten Essay in Frage. Er weist nach, daß in früheren Zeiten nicht Erinnern, sondern Vergessen das Heilmittel war, mit einer schlimmen Vergangenheit fertigzuwerden.
Christian Meier ist die Weltgeschichte durchgegangen, um herauszufinden, was die Menschen früher taten, wenn sie nach Kriegen oder Bürgerkriegen Versöhnung suchten. Sein Befund ist ebenso erstaunlich wie einfach: Die Welt setzte seit den alten Griechen auf Vergessen.
Die deutschen Verbrechen der NS-Zeit aber konnten nicht vergessen werden. Die öffentliche Erinnerung an sie war und ist unabweisbar. Und bei allem Ungenügen: Die Auseinandersetzung damit hat sich gelohnt. Gilt also seitdem eine neue Regel? Wie ist etwa mit der Erinnerung an das Unrecht später gestürzter Diktaturen, zumal des SEDRegimes, umzugehen? Wäre vielleicht auch heute Vergessen eher angebracht als Erinnerung?
Vom Nutzen und Nachteil des Vergessens Ein zentraler Glaubenssatz unserer Zeit lautet: Um eine Vergangenheit zu ¢bewältigen¢, muß man die Erinnerung an sie ständig wachhalten. Christian Meier, einer der bedeutendsten deutschen Historiker, stellt diese Geschichtsversessenheit in seinem brillanten Essay in Frage. Er weist nach, daß in früheren Zeiten nicht Erinnern, sondern Vergessen das Heilmittel war, mit einer schlimmen Vergangenheit fertigzuwerden.
Christian Meier ist die Weltgeschichte durchgegangen, um herauszufinden, was die Menschen früher taten, wenn sie nach Kriegen oder Bürgerkriegen Versöhnung suchten. Sein Befund ist ebenso erstaunlich wie einfach: Die Welt setzte seit den alten Griechen auf Vergessen.Die deutschen Verbrechen der NS-Zeit aber konnten nicht vergessen werden. Die öffentliche Erinnerung an sie war und ist unabweisbar. Und bei allem Ungenügen: Die Auseinandersetzung damit hat sich gelohnt. Gilt also seitdem eine neue Regel? Wie ist etwa mit der Erinnerung an das Unrecht später gestürzter Diktaturen, zumal des SEDRegimes, umzugehen? Wäre vielleicht auch heute Vergessen eher angebracht als Erinnerung?
Christian Meier ist die Weltgeschichte durchgegangen, um herauszufinden, was die Menschen früher taten, wenn sie nach Kriegen oder Bürgerkriegen Versöhnung suchten. Sein Befund ist ebenso erstaunlich wie einfach: Die Welt setzte seit den alten Griechen auf Vergessen.Die deutschen Verbrechen der NS-Zeit aber konnten nicht vergessen werden. Die öffentliche Erinnerung an sie war und ist unabweisbar. Und bei allem Ungenügen: Die Auseinandersetzung damit hat sich gelohnt. Gilt also seitdem eine neue Regel? Wie ist etwa mit der Erinnerung an das Unrecht später gestürzter Diktaturen, zumal des SEDRegimes, umzugehen? Wäre vielleicht auch heute Vergessen eher angebracht als Erinnerung?
Lese-Probe zu „Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns “
Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns von Christian Meier1. Ein auffälliger Befund
»Die Erinnerung darf nicht enden; sie muß auch künftige Generationen
zur Wachsamkeit mahnen« - so heißt es in der Proklamation,
durch die Bundespräsident Herzog zu Anfang des Jahres
1996 den 27. Januar zum »Tag des Gedenkens an die opfer des
Nationalsozialismus« erklärt hat. »Wer sich der Unmenschlichkeit
nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Anstekkungsgefahren
«, hatte Richard von Weizsäcker in seiner Rede
zum 8. Mai 1985 gesagt. Zwei Zitate aus einer unendlich langen
Reihe: ohne Erinnerung an die beispiellosen Untaten des nationalsozialistischen
Deutschlands, so die weit verbreitete Überzeugung
unserer Tage, besteht die Gefahr der Wiederholung.
Ganz anders liest man es im ersten Artikel eines Vertrags aus
dem Jahr 851. Dort bekunden die Parteien ihre Absicht, »daß aller
vergangenen Übel« - und nun folgt eine Aufzählung verschiedener
Arten von Schädigungen und Betrügereien - »eine Tilgung
(abolitio) geschehe, zwischen uns und bei uns, und daß all dies
aus unsern Herzen gründlich herausgerissen werde mitsamt aller
Bosheit und allem Groll - derart, dass künftig nichts davon ins
Gedächtnis, nämlich daß es nicht zur Vergeltung des Übels«, der
Widerwärtigkeiten etc. komme.
Einmal soll Erinnerung also der Wiederholung des Schlimmen
vorbeugen, das andere Mal will man die Erinnerung geradezu
aus den Herzen reißen, weil man befürchtet, dass sie das
Schlimme neuerdings erzeuge.
... mehr
Sieht man sich sonst in der Geschichte um, so findet man
(falls ich nicht an lauter falschen Stellen gesucht haben sollte) zumindest
in aller Regel Zeugnisse für das letztere: Immer wieder
wird beschlossen, vereinbart, eingeschärft, daß Vergessen sein
soll, Vergessen von vielerlei Unrecht, Grausamkeit, Schlimmem
aller Art. So in einer langen Reihe von Friedensverträgen. Noch
anläßlich des Türkischen Friedens von Lausanne 1923 wird ein
Amnestieabkommen geschlossen, dessen Präambel den Wunsch
ausdrückt, Vergessen (oubli) über die »Ereignisse, die den Frieden
im orient gestört haben«, zu breiten.
Entsprechend urteilt Cicero in einer Rede, die er zwei Tage
nach Caesars Ermordung, also am 17. März 44 v. Chr., im römischen
Senat hält: omnem memoriam discordiarum oblivione sempiterna
delendam: alle Erinnerung an die Zwieträchtigkeiten sei
durch ewiges Vergessen zu tilgen. Auf diese Weise will er die
»Fundamente des Friedens« legen und das Beispiel befolgen, das
die Athener 403 v. Chr. mit ihrer berühmten Amnestie gegeben
haben. Damals war es um die Beendigung eines Bürgerkriegs gegangen.
Diesmal droht ein Bürgerkrieg neu auszubrechen. Den
Griechen wird auch jenes Wort verdankt, das ursprünglich einfach
»Nicht-Erinnern« heißt: Amnestie. Es begegnet in diesem
Sinne freilich erst seit dem 2. Jahrhundert v. Chr.
Nahezu 2000 Jahre später sollte Churchill in seiner berühmten
Zürcher Rede am 19. September 1946 zu einem blessed act
of oblivion zwischen den Feinden von gestern aufrufen, einem
segensreichen Akt des Vergessens. Zuvor freilich müßten die
crimes and massacres, für die es seit den Mongoleneinfällen des
14. Jahrhunderts keine Parallele gegeben habe, geahndet werden.
Direkt oder indirekt greift er auf Cicero zurück.
1814 wird das gleiche für die Untaten und Greuel der Französischen
Revolution, auch für den Königsmord gefordert. Der
aus dem Exil zurückkehrende französische König, Ludwig XVIII.,
erklärt in der Präambel der Charte Constitutionelle, der von ihm
gewährten Verfassung: »Indem Wir so versucht haben, die Kette
der Zeiten neu zu knüpfen, welche unheilvolle Abweichungen
« - so umschreibt er Revolution und Empire - »unterbrochen
hatten, haben Wir aus Unserer Erinnerung sämtliche Übel, welche
während Unserer Abwesenheit die Heimat bedrückten,
ebenso getilgt wie Wir wollten, daß man sie aus der Geschichte
tilgen könnte«. Anschließend verfügt der König in Artikel 11:
»Sämtliche Nachforschungen über Meinungsäußerungen und
Abstimmungen vor der Restauration sind verboten (interdits).
Dasselbe Vergessen wird den Gerichten und den Bürgern auferlegt
«. Wo sonst zumeist die beiden vertragschließenden Parteien
sich Vergessen konzedieren, tut es hier der Sieger einseitig, obwohl
er Grund genug zur Bestrafung zum Beispiel der Königsmörder
gehabt hätte.
Der Wunsch, Vergessen zu stiften, ist keineswegs auf Europa
beschränkt. Bei den vorislamischen Arabern scheint er vorzukommen.
Auch das »Begraben des Kriegsbeils« bei den Indianern
(man darf es nicht einfach wegwerfen, sonst könnte es wiedergefunden
werden!) gehört hierher. 1743 bieten die Irokesen
dem Staat Virginia an, »diese Angelegenheit im Grunde zu begraben,
daß sie nicht wieder gesehen noch davon gehört werden
kann, solange die Welt steht«. Aber man findet Beispiele auch in
Asien.
Was alles, könnte man aus unsern Tagen hinzufügen, wäre
Millionen Menschen, ja Europa und der Welt erspart geblieben,
wenn die Serben die Schlacht auf dem Amselfeld und die Türkenherrschaft
vergessen (oder jedenfalls nicht so verdammt lebendig
erinnert) hätten - um von kurzfristigeren Erinnerungen
an das, was im 20. Jahrhundert zwischen Serben und Kroaten
geschah, zu schweigen.
Genug der Beispiele, fürs erste. Gegenbeispiele habe ich nur
in der Geschichte der Juden gefunden, unter denen vom Deuteronomion
bis in unsere Tage ständig und intensiv das Gebot der
Erinnerung eingeschärft worden ist. »Hüte dich, daß du nicht des
Herrn vergessest, der Dich aus ägyptenland, aus dem Diensthaus
geführt hat.« Aber auch das Schlimme soll erinnert werden, sowohl
das erlittene - »Gedenke, was dir die Amalekiter taten auf
dem Wege, da ihr aus ägypten zoget« - wie das selbst angerichtete:
»Gedenke und vergiß nicht, wie du den Herrn, Deinen Gott,
erzürntest in der Wüste!«
Eindringlich wird gemahnt: »Denk an die Tage der Vergangenheit
«, »... frage deinen Vater, der wird dir's verkündigen, deine
ältesten, die werden dir's sagen.« 169mal begegnet das Wort zachar
(erinnern) in seinen verschiedenen Formen in der Bibel.
Erinnerung gehört zum Inhalt fast aller großen Feste, auf denen
sie nicht nur in der Gemeinde, sondern auch am Familientisch
stets neu gehegt und weitergegeben wird. »Das Vergessenwollen
verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung
«, sagt jüdische Weisheit. »Nur in Israel, nirgends sonst,
empfindet ein ganzes Volk die Aufforderung, sich zu erinnern,
als religiösen Imperativ.« Das Gedächtnisvolk par excellence hat
Jacques Le Goff die Juden genannt. Elie Wiesel stellt fest: To be a
Jew is to remember.
Dabei steht die Erinnerung an Jahwes Verheißung, an das
Geschenk des Landes, das er den Juden gemacht, an den Bund,
den er mit ihnen geschlossen hat, im Vordergrund. Die Erinnerung
an das Schlimme, das in Mißachtung der göttlichen Gebote
selbstgetane und das erlittene (wenn Jahwes Zorn sie traf),bleibt
eingefangen in seiner Verheißung - bis Auschwitz alle jüdische
Erinnerung vor kaum (oder nicht mehr) lösbare Aufgaben stellt.
Nach Auschwitz ist es aber auch, daß die Erinnerung der
Menschheit allem Vergessen der unermeßlichen Untaten widerstreitet.
Die Frage ist, ob damit zugleich für andere Fälle ein
neues Verhältnis zwischen Erinnern und Vergessen gestiftet ist.
Ist die unabweisbare Erinnerung an Auschwitz also die Ausnahme
von der Regel der Weltgeschichte? oder begründet sie
eine neue Regel? So daß das Gebot des Vergessens obsolet wird?
2. Öffentlicher Umgang mit schlimmer Vergangenheit
Erinnern - Verdrängen - Vergessen: Wenn man die Frage so
stellt, ist klar, daß es sich um Erinnerung an Schlimmes handelt,
sonst bräuchte es ja kein Verdrängen. Schlimmes - dieses Wort
soll hier und im folgenden ganz formal gebraucht werden: das
heißt unabhängig vom absoluten Ausmaß und der Qualität dessen,
was jeweils angerichtet worden ist. Die willkürliche Tötung
einiger hundert Griechen soll also ebenso darunter fallen wie
der weitgehend fabrikmäßige Mord an 6 Millionen Juden im
Zweiten Weltkrieg. Wichtig ist nur, daß es um den Umgang mit
sehr störender, zu schaffen machender Erinnerung gehen soll,
und zwar für Gemeinwesen. Die Frage ist, wie die damit fertig
werden.
Als Gegenstand solch störender Erinnerung kommen vielerlei
Untaten, Verbrechen, Vertreibungen, Morde in Frage, wie sie
vor allem Krieg und Bürgerkrieg immer wieder mit sich bringen.
oft genug für beide Seiten, wenn auch auf verschiedene Weise.
Daraus erwachsen speziell dann besondere Probleme, wenn sich
Völker oder Bürgerkriegsparteien wieder vertragen und ihr Zusammenleben
sichern wollen. Denn die Erinnerung an Schlimmes
erzeugt gern den Drang zur Rache; was zugleich heißen
kann: zu Gerechtigkeit, einer Gerechtigkeit freilich, die allzu
leicht auf parteiliche Weise gesucht wird, so daß das Bedürfnis
nach Widerrache entsteht.
Die Dinge können sich jedenfalls auf die Alternative Gerech-
tigkeit oder Frieden (sei es äußerer, sei es innerer Frieden, eventuell
auch: Desintegration oder Integration) zuspitzen.
Wo dem nicht so ist, wo der Friede als gesichert erscheint und
keine Rache droht, bleiben andere Probleme. Wenn Gemeinwesen
respektive Gesellschaften durch solche Vergangenheiten stark belastet
werden, kann dadurch ihre kollektive Ehre, man spricht
heute gern von Identität, tangiert sein (und zusammen mit andern
Gründen die Neigung zur Verdrängung schlimmer Vergangenheit
stark machen; Verdrängung übrigens nicht im psychopathologischen
Sinn genommen). Selbstverständlich stellen
sich ähnliche Probleme mit der Vergangenheit zugleich vielen Einzelnen.
Und es gibt, bei allen möglichen Unterschieden zwischen
den Individuen, zeit-, gesellschafts- und auch gruppentypische
Weisen von Erinnern, Verdrängen, Vergessen. Das gleiche gilt
für das Bewußtsein, daß man - gegebenenfalls - zu haften hat,
daß man verantwortlich ist für Geschehenes. Man hat ferner zu
unterscheiden zwischen den gleichsam normalen, eventuell routinisierten,
auch ritualisierten Formen des Fertigwerdens mit
schlimmer Vergangenheit im Alltag, der Entsühnung etwa, und
den eher ausnahmsartigen, die bei herausragenden Formen des
Schlimmen besondere Schwierigkeiten bieten mögen.
Da politische Einheiten nicht allein auf der Welt sind, kann
der öffentliche Umgang, den sie mit schlimmer Vergangenheit
pflegen, eingebettet sein in größere Zusammenhänge. Verbreitete,
mächtige Meinungen in der Welt oder in Teilen der Welt
können sich dabei geltend machen und virulent werden.
Wie also gehen Gesellschaften mit schlimmer Vergangenheit
um? Wie können sie damit umgehen? Die Frage drängt sich besonders
im Deutschland der Nachkriegszeit auf. Sie scheint nicht
unbedingt gerade die Historiker zu beschäftigen. Das hat sich
beispielhaft im Historikerstreit von 1986/88 gezeigt. Da ging es
zum einen um historische Wertungen oder Einordnungen des
Mordes an den Juden, zum andern um moralische Forderungen.
Das ganze Gebiet dazwischen, die Realität der Erinnerung und
der Bereich der realen Möglichkeiten, in dem sie sich zu bewegen
hat (und in dem sie viel oder wenig ist), blieb unerörtert. Mehrfach
ging es um den Vergleich mit den stalinistischen Verbrechen,
der dann freilich auch nicht richtig ausgeführt wurde. Und
es wurde auch nicht gefragt, wie es sich sonst in der Geschichte
mit diesen Problemen verhielt.
So ist es nicht einfach, das Problem Erinnern - Verdrängen
- Vergessen für frühere Zeiten zu behandeln. Denn wichtigstes
Material, so vermute ich, schlummert noch ungehoben in den
Quellen. Selbst wo historische Darstellungen auf Einzelnes eingehen,
versäumen ihre Autoren zumeist, es im Register zu berücksichtigen.
Meine Erörterung steht also unter dem Vorbehalt, daß
ich vieles, was das Bild variiert oder gar verändert hätte, übersehen
haben könnte. Doch als Einstieg mag sie ihr Recht haben.
3. Die Griechen
Beschlüsse, an das Schlimme nicht zu erinnern.
Die athenische Amnestie von 404/3 v. Chr.
Hier wäre zuvörderst ein sehr merkwürdiges Zeugnis zu besprechen.
Herodot berichtet, Phrynichos, der bedeutendste Tragiker
der Zeit, habe die Einnahme (und Zerstörung) Milets zum Gegenstand
einer Tragödie gemacht. Die glänzendste, reichste unter
den griechischen Städten an der ostküste der ägäis war das Zentrum
eines Aufstands gegen die dort herrschenden Perser gewesen.
Es war erobert und zerstört worden, 494 v. Chr; ein Ereignis,
das unter den Griechen tiefe Erschütterung auslöste. Die Athener
hatten den Aufstand anfangs unterstützt; sie betrachteten zudem
Milet und andere Städte der Gegend als ihre Kolonien.
Die Aufführung der Tragödie nun, die wenige Jahre darauf
in Athen erfolgte, hat nach Herodot das Theater, also beachtliche
Teile der Bürgerschaft, in Tränen versetzt. Der Dichter wurde
daraufhin zu einer hohen Geldstrafe verurteilt, die Wiederaufführung
des Stücks (die sonst in den kleinen Theatern auf dem
Land wohl möglich gewesen wäre) wurde verboten. Begründung:
Er habe an »häusliches Schlimmes - anders übersetzt: an häusliches
Unheil - erinnert«: hos anamnesanta oikeía kaká (6,21,2).
Das Verbot stellt ein schönes Zeugnis nicht nur für die mögliche
Wirkung der Tragödie dar, sondern auch für das Bemühen,
die Öffentlichkeit von starken emotionalen Erschütterungen
freizuhalten. In ähnliche Richtung weisen gesetzliche Einschränkungen
der Klagegesänge für Verstorbene. offenbar war das Ausbrechen
heftiger Leidenschaft in diesen Städten gefährlich, in
denen alles dicht aufeinanderlebte, die Volksversammlung unüberlegte
Beschlüsse fassen konnte, wo alle politischen Funktionsträger
und organe tief in das Leben der Stadt eingebettet
waren. In einer tieferen Schicht könnte auch die deutliche Abgrenzung
und Unterscheidung zwischen Männlichkeit und
Weiblichkeit tangiert gewesen sein; für Männer gehörte sich - in
der nachhomerischen Zeit - das Klagen und Weinen nicht. Da
scheint man bestimmte Disziplinierungen gebraucht zu haben.
Indes konnte man die Zerstörung Milets nicht aus der politischen
Debatte ausschließen. Immerhin waren Konsequenzen
aus dem Scheitern des Aufstands zu ziehen. Aber vermutlich befürchtete
man gerade deswegen jedes Zuviel, vor allem jede Aufpeitschung
der Emotionen durch Klagen, wie die Tragödie sie
reichlich enthalten haben muß; vielleicht auch das Gegenteil: die
allgemeine Depression. In andern Fällen mochte die Erinnerung
an häusliches Schlimmes ihren Sinn darin haben, den Drang zur
Rache wachzuhalten oder neu zu beleben. Hier dagegen war angesichts
der persischen Übermacht eher Vorsicht am Platz; eben
daher war die tragische Klage so problematisch.
Nebenbei gesagt wird die Tragödie auch an die Hybris erinnert
haben, aus der der Aufstand hervorgegangen war, durch die
sein schlimmes Ende erklärlich wurde - und an der auch Athen
seinen Teil hatte. Denn zu der Gattung gehörte es, daß die Strafe
niemals einfach Unschuldige trifft. So wollte man damals wohl
auch Kritik an eigenen unheilvollen Entscheidungen unterdrükken.
Herodot nennt die attische Unterstützung des Aufstands
später »den Anfang des Unheils zwischen Griechen und Barbaren
« (arche` kakôn. 5,97,3. Kaká ist das Wort, das hier verschiedentlich
wiederkehrt und das ich normalerweise mit »Schlimmes
« übersetze).
Man muß sich fragen, ob der Beschluß des athenischen Rats
gegen das »Erinnern an Schlimmes« an eine schon ältere Tradition
des gemeinsamen Beschweigens unangenehmer, störender
Fakten in der Öffentlichkeit, also des »Vergessens« hat anknüpfen
können.
Jedenfalls finden wir einige Jahrzehnte später die beiden
Wörter, die den Vorwurf gegen Phrynichos bezeichnen, anamimneskein
kaká, Erinnern an Schlimmes, zu einem einzigen ver-
eint, das zu einem terminus technicus wird: mnesikakeîn: (andere
oder sich) an Schlimmes erinnern.
Das Wort begegnet in aller Regel in verneinter Form. Dabei
geht es durchaus auch darum, Hinweise auf mißliche Tatbestände
auszuschließen. Síga, me mnesikakeses, heißt es etwa ein
´
mal bei Aristophanes: Schweig, rühr nicht das Schlimme auf
(wörtlich: Erinnere nicht das Schlimme)! Wenn die Wendung,
wie zu vermuten, karikierend aus dem politischen Leben der Zeit
in den komischen Zusammenhang übernommen worden ist,
könnte das darauf hindeuten, daß man damals im kriegführen-
den, schweren Bedrängnissen ausgesetzten Athen »Schwarzmalerei
«, »Defaitismus« als mnesikakeîn bezeichnete.
Vornehmlich aber soll die Aufforderung, soll der Beschluß,
nicht an Schlimmes zu erinnern, persönliche oder parteiliche
Rache verhindern. Denn die Konsequenzen des Erinnerns, vom
Klagen und Nachtragendsein bis zu Versuchen, Gegner direkt zu
verfolgen, sei es vor Gericht, sei es in unmittelbarem, meist blutigem
Zugriff, sind in der Wortbedeutung eingeschlossen. Die
Wendung me mnesikakeîn wird zur Formel für das, wofür später
das Wort »Amnestia« (Nicht-Erinnerung) benutzt werden kann
(und was keineswegs einfach mit unseren Amnestien gleichzusetzen
ist).
Seit dem letzten Viertel des 5. Jahrhunderts sind Beschlüsse,
»nicht an Schlimmes zu erinnern«, greifbar, und zwar fast gleichzeitig
in Verträgen zwischen Gemeinwesen (erstmals 422) und
in Abmachungen zwischen verfeindeten Gruppen innerhalb von
Bürgerschaften (erstmals 424). Da die Beilegung innerer Streitigkeiten
sehr viel schwieriger war als die Beendigung von Kriegen,
da zudem das Zusammenleben in den Städten viel problematischer
war als das zwischen ihnen, sollte man vermuten, daß man
sich darüber weit mehr den Kopf zerbrochen hat, daß also jene
Beschlüsse dort ihren Ausgangspunkt haben. In der Folgezeit
wird den Beschlüssen, »nicht an Schlimmes zu erinnern«, gelegentlich
die Formel beigefügt, keiner solle getötet oder vertrieben
werden.
424 hatten die Bürger von Megara beschlossen, einer ganzen
Gruppe von Verbannten die Rückkehr zu gestatten. Sie waren im
Begriff, im großen Krieg zwischen Sparta und Athen die Seite zu
wechseln. Eine Reihe von Freunden Athens hatte die Stadt verlassen.
Jetzt verhandelten die Zurückgebliebenen mit Verbannten
oder Flüchtlingen, im wesentlichen Gegnern Athens, über deren
Rückkehr und ließen sich von ihnen »heilige Eide schwören,
nichts Schlimmes zu erinnern und in allen Beschlüssen auf das
Wohl der Stadt bedacht zu sein«. Die freilich hielten sich nicht an
den Eid und nötigten, als sie wieder in den Besitz von ämtern
gelangt waren, die Volksversammlung, etwa hundert Gegner
zum Tode zu verurteilen, die sodann hingerichtet wurden. Sie
setzten mithin, wie Thukydides bemerkt, die stasis, also den Bürgerkrieg,
fort. »Sehr wenige« bewirkten auf diese Weise eine Veränderung.
Sie richteten eine strenge oligarchie ein, die lange gedauert
habe.
In der Folgezeit ist eine ganze Reihe von Beschlüssen, nicht
an Schlimmes zu erinnern, bezeugt. Während des Peloponnesischen
Krieges, aber auch später, bedeuteten sie oft nicht mehr als
Waffenstillstände. Thukydides schreibt: »Eidliche Abmachungen
zur Versöhnung, in der Not einander geleistet, galten für den
Augenblick, wenn beide Seiten sich anders nicht zu helfen wußten.
« Bei nächster Gelegenheit wurden sie gebrochen, wobei der,
der als erster wieder Mut faßte, im Vorteil war (3,82,7).
Am besten bekannt und überraschend erfolgreich ist derjenige
Beschluß gewesen, den die Athener Ende des 5. Jahrhunderts
nach blutigem Gewaltregime und Bürgerkrieg faßten. Er
stellte für die Zukunft ein leuchtendes Vorbild dar. Auf ihn hat
sich Cicero 44 v. Chr. berufen.
Nach der militärischen Niederlage im Peloponnesischen
Krieg (404) hatte ein kleiner Kreis von »dreißig Tyrannen«, gestützt
auf den spartanischen, den feindlichen Feldherrn, die Herrschaft
in Athen an sich gerissen und eine große Zahl von Bürgern
sowie reichen, in Athen ansässigen Nichtbürgern ermordet; in
den Quellen heißt es, es seien 2500 insgesamt, darunter 1500 Bürger
gewesen; bei damals etwa 30 000 Bürgern also fünf Prozent.
Es sind, selbst wenn sie etwas übertrieben sind, vergleichsweise
riesige Zahlen. In der Phase der Terreur in Paris 1793/94 hat sich
die Zahl der Hinrichtungen auf ungefähr 2600 belaufen.
Die opfer waren vornehmlich Männer, die in der Demokratie
eine Rolle gespielt hatten, unter anderm sogenannte Sykophanten;
das waren Leute, die sich darauf kapriziert hatten, andere,
vorzugsweise reiche Bürger vor Gericht anzuklagen. Man
kannte keinen Staatsanwalt. Mehrere Arten von Strafverfahren
konnten, wenn es die Betroffenen nicht taten, von jedem andern
Bürger angestrengt werden. Solche Ankläger hatten eine wichtige
Funktion.Aber nicht wenige von ihnen nutzten die Chance,Gegner
auf diese Weise zu bekämpfen; oder Geld zu machen, zum
Beispiel durch Erpressung. Die Praktiken der Sykophanten waren
weithin verhaßt. Jetzt suchten sich die oligarchen nicht zuletzt
an ihnen zu rächen. Andererseits verfolgten sie mit der Zeit
zunehmend auch Männer, an deren Vermögen sie sich bereichern
wollten. Mit perfidem Geschick haben die Dreißig darauf
geachtet, möglichst viele der Athener, die in der Stadt geblieben
waren, als Handlanger an ihren Untaten zu beteiligen. Wer angezeigt
worden war, konnte unter der Bedingung begnadigt werden,
daß er andere anzeigte. Aber auch für die Vorladungen
zog man gerne irgendwelche Bürger heran, um sie zu Spießgesellen
zu machen. Die politischen Bürgerrechte selbst waren auf
3000 Männer, also ein Zehntel der athenischen Bürgerschaft beschränkt
worden.
Zahlreiche Anhänger der alten Demokratie waren geflohen.
Die meisten sammelten sich bald unter Führung des Thrasybul.
Sie fielen in Attika ein, eroberten den Piräus und besiegten
schließlich die Tyrannen. Die Dreißig hatten zuletzt noch die
Spartaner zur Hilfe gerufen, waren von denen aber kaum unterstützt
worden. Der Spartanerkönig Pausanias hatte vielmehr auf
Ausgleich gedrängt.
Die Versöhnung geschah aufgrund eines Vertrags, der unter
anderm die Rückkehr der Demokraten in die Stadt vorsah. Er gestattete
Anklagen gegen diejenigen, die mit eigener Hand jeman-
den getötet oder verletzt hatten. Abgesehen davon aber sei es
»keinem der Rückkehrer gestattet, gegen keinen das Schlimme
zu erinnern außer gegen die Dreißig selbst« und wenige andere
Amtsträger. So heißt es in der dem Aristoteles zugeschriebenen
Schrift »Athenaíon Politeía« (39,6).
Die Scheidung zwischen wenigen Schuldigen und dem Gros
sollte auch im folgenden immer wieder wesentliche Voraussetzung
für Nicht-Erinnern und Amnestie sein. Die Haupt-
schuldigen dürfen nicht ungestraft bleiben. Sie sind gefährlich.
Irgendwohin muß sich auch der Zorn ausleben, irgendwo der
Gerechtigkeit, zumeist: der Rache ihr Recht werden. Das Gros
dagegen (das dadurch zugleich eine Art Alibi erhält, einen Ausweg
in Richtung Distanzierung) muß um des Friedens willen
verschont bleiben. So wird ein Ausgleich zwischen Gerechtigkeit
und Frieden möglich.
Das »Nicht-Erinnern« mußte durch Eide bekräftigt werden,
wahrscheinlich durch mehrere. Zunächst mußten es die Demokraten
vor der Rückkehr beeiden. Gleich anschließend hatten
alle Bürger gemeinsam den gleichen Eid zu schwören (man weiß
nicht, in welcher Form). Möglicherweise wurde der Eid noch
einmal wiederholt, als die oligarchen, denen zunächst ein eigenes
Gemeinwesen auf attischem Boden zugestanden worden war,
zurückkehrten. Jedenfalls hatten ihn künftig (wir wissen nicht
wie lange) Jahr für Jahr der Rat abzulegen und ähnlich auch die
Richter der Geschworenengerichte. Der Redner Andokides formuliert,
es sei für richtig erkannt worden, »das Geschehene auf
sich beruhen zu lassen« (1,81). Man habe die Rettung der Stadt
weit über das Bedürfnis nach privater Rache gestellt.
Die führenden Männer des Gewaltregimes sollten ebenfalls
von Anklagen verschont sein, wenn sie Rechenschaft ablegten. In
unsern Tagen sollte eine ähnliche Bestimmung für die Arbeit der
südafrikanischen Wahrheitskommission gelten.
Zu »Amnestien« in der bei uns vorherrschenden Bedeutung
des Wortes, genauer gesagt: zum Erlaß bestimmter Strafen (einmal
auch zum Verzicht auf Verfolgung derer, die sie eventuell
verhängt bekommen hätten) war es in Athen schon vorher - das
erste Mal, wenn den Quellen zu trauen ist, zu Beginn des 6. Jahrhunderts
- gekommen, meistens angesichts auswärtiger Gefahren.
Einmal wird übrigens ausdrücklich und unter Strafandrohung
verfügt, daß alle Inschriften und Kopien, auf denen diese
Strafen verzeichnet sind, zu vernichten seien, »damit unter den
Athenern Vertrauen sei, jetzt und künftig«. Jeweils kommt der
Straferlaß mehreren Einzelnen zugute, die den inneren Frieden
(und den Zusammenhalt) des Gemeinwesens nicht oder nicht
mehr bedrohen und von denen anzunehmen ist, daß sie sich der
Gesamtheit ohne nennenswerte Komplikationen wieder einfügen.
Parteiungen, aufgrund derer sie (zu Recht oder Unrecht)
verurteilt worden waren, waren nicht mehr aktuell.
Durch das me mnesikakeîn dagegen sollte jede Art der Verfolgung
politischer Verbrechen (von den Haupttätern eventuell
abgesehen) von vornherein ausgeschlossen werden. Es hatte zur
Voraussetzung, daß schwere Auseinandersetzungen zwischen
Angehörigen verfeindeter Gruppen drohten, die sehr wohl den
inneren Frieden des Gemeinwesens erheblich hätten beeinträchtigen
können. Denn dazu mußte es kommen, wenn etwa vielerlei
Anklagen vor Gericht, Bestrafungen oder gar Akte offener Rache
statthatten; wenn die Leidenschaften aufgeputscht wurden, auch
die der Richter - allesamt Geschworener, die zwar an einen Eid
gebunden, aber doch gegen Parteilichkeit nicht unbedingt gefeit
waren.
Potentiell brisante Gegensätze sollten also zumindest entschärft
und am neuerlichen Ausbruch gehindert werden. Auch
wenn unter Umständen ganze Bürgerschaften sich verpflichteten,
war es nicht so sehr das Gemeinwesen, das auf die Verhän-
gung von Strafen, wie zumal eine Bürgerkriegspartei, die siegreiche
nämlich, die auf Anklage und das heißt: Rache verzichten
sollte. Was dabei passieren mochte, war seit langem ins allgemeine
Bewußtsein eingelagert. Wenn sich ganze Gruppen an erfahrenes
Unrecht tätig erinnerten - der Begriff der tätigen Erinnerung
stammt von Peter Bender -, konnte das den Nerv des
Gemeinwesens treffen, an dessen Wohl, wie es im eben zitierten
Fall der Stadt Megara ausdrücklich hieß, zum Beispiel die rückkehrenden
Emigranten sich orientieren sollten.
Dort hatte die Bürgerschaft Angst vor den Rückkehrern. Sie
rechnete angesichts der äußeren Umstände während des großen
Krieges damit, daß diese sich nicht einfach einfügten, sondern
mächtig genug wären, Rache zu üben. Diese selbst hatten offenbar
nichts zu befürchten, so daß der Eid einseitig bleiben (und
sofort gebrochen werden) konnte.
In Athen, wo ihn schließlich alle leisten mußten, gleichgültig
auf welcher Seite sie gestanden hatten, war es natürlich ebenfalls
vordringlich, daß die Sieger auf Rache verzichteten (zu der sie
wahrhaft Grund genug gehabt hätten). Wenn zugleich die Besiegten
nicht an das Schlimme erinnern durften, so mag es sein,
daß man auch dieses oder jenes Verbrechen der siegreichen Seite
von Verfolgung ausschließen wollte. Ferner sollten die oligarchen
vermutlich nicht als die einzigen Vergessensbedürftigen,
also Schuldigen, dastehen. Auch wäre es allemal schwierig gewesen
- unvergleichlich schwieriger als bei einer Gruppe Verbannter
wie in Megara -, den Kreis derer, die vergessen sollten, abzugrenzen.
Doch ist keineswegs ausgeschlossen, daß dieser Akt vor
allem dazu bestimmt war, die neubegründete Einheit der attischen
Bürgerschaft zu manifestieren. Was geschehen war, sollte
hinter ihnen liegen. Jetzt galt es, gemeinsam und unbelastet die
gegenwärtigen und künftigen Geschäfte des Gemeinwesens einträchtig
zu besorgen.
Zert.-Nr. SGS-COC-001940
Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100
Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier
Munken Premium Cream liefert
Artic Paper Munkedals AB, Schweden
Erste Auflage
Copyright © 2010 by Siedler Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: Rothfos + Gabler, Hamburg
Lektorat und Satz: Ditta Ahmadi, Berlin
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany 2010
ISBN 978-3-88680-949-3
www.siedler-verlag.de
Sieht man sich sonst in der Geschichte um, so findet man
(falls ich nicht an lauter falschen Stellen gesucht haben sollte) zumindest
in aller Regel Zeugnisse für das letztere: Immer wieder
wird beschlossen, vereinbart, eingeschärft, daß Vergessen sein
soll, Vergessen von vielerlei Unrecht, Grausamkeit, Schlimmem
aller Art. So in einer langen Reihe von Friedensverträgen. Noch
anläßlich des Türkischen Friedens von Lausanne 1923 wird ein
Amnestieabkommen geschlossen, dessen Präambel den Wunsch
ausdrückt, Vergessen (oubli) über die »Ereignisse, die den Frieden
im orient gestört haben«, zu breiten.
Entsprechend urteilt Cicero in einer Rede, die er zwei Tage
nach Caesars Ermordung, also am 17. März 44 v. Chr., im römischen
Senat hält: omnem memoriam discordiarum oblivione sempiterna
delendam: alle Erinnerung an die Zwieträchtigkeiten sei
durch ewiges Vergessen zu tilgen. Auf diese Weise will er die
»Fundamente des Friedens« legen und das Beispiel befolgen, das
die Athener 403 v. Chr. mit ihrer berühmten Amnestie gegeben
haben. Damals war es um die Beendigung eines Bürgerkriegs gegangen.
Diesmal droht ein Bürgerkrieg neu auszubrechen. Den
Griechen wird auch jenes Wort verdankt, das ursprünglich einfach
»Nicht-Erinnern« heißt: Amnestie. Es begegnet in diesem
Sinne freilich erst seit dem 2. Jahrhundert v. Chr.
Nahezu 2000 Jahre später sollte Churchill in seiner berühmten
Zürcher Rede am 19. September 1946 zu einem blessed act
of oblivion zwischen den Feinden von gestern aufrufen, einem
segensreichen Akt des Vergessens. Zuvor freilich müßten die
crimes and massacres, für die es seit den Mongoleneinfällen des
14. Jahrhunderts keine Parallele gegeben habe, geahndet werden.
Direkt oder indirekt greift er auf Cicero zurück.
1814 wird das gleiche für die Untaten und Greuel der Französischen
Revolution, auch für den Königsmord gefordert. Der
aus dem Exil zurückkehrende französische König, Ludwig XVIII.,
erklärt in der Präambel der Charte Constitutionelle, der von ihm
gewährten Verfassung: »Indem Wir so versucht haben, die Kette
der Zeiten neu zu knüpfen, welche unheilvolle Abweichungen
« - so umschreibt er Revolution und Empire - »unterbrochen
hatten, haben Wir aus Unserer Erinnerung sämtliche Übel, welche
während Unserer Abwesenheit die Heimat bedrückten,
ebenso getilgt wie Wir wollten, daß man sie aus der Geschichte
tilgen könnte«. Anschließend verfügt der König in Artikel 11:
»Sämtliche Nachforschungen über Meinungsäußerungen und
Abstimmungen vor der Restauration sind verboten (interdits).
Dasselbe Vergessen wird den Gerichten und den Bürgern auferlegt
«. Wo sonst zumeist die beiden vertragschließenden Parteien
sich Vergessen konzedieren, tut es hier der Sieger einseitig, obwohl
er Grund genug zur Bestrafung zum Beispiel der Königsmörder
gehabt hätte.
Der Wunsch, Vergessen zu stiften, ist keineswegs auf Europa
beschränkt. Bei den vorislamischen Arabern scheint er vorzukommen.
Auch das »Begraben des Kriegsbeils« bei den Indianern
(man darf es nicht einfach wegwerfen, sonst könnte es wiedergefunden
werden!) gehört hierher. 1743 bieten die Irokesen
dem Staat Virginia an, »diese Angelegenheit im Grunde zu begraben,
daß sie nicht wieder gesehen noch davon gehört werden
kann, solange die Welt steht«. Aber man findet Beispiele auch in
Asien.
Was alles, könnte man aus unsern Tagen hinzufügen, wäre
Millionen Menschen, ja Europa und der Welt erspart geblieben,
wenn die Serben die Schlacht auf dem Amselfeld und die Türkenherrschaft
vergessen (oder jedenfalls nicht so verdammt lebendig
erinnert) hätten - um von kurzfristigeren Erinnerungen
an das, was im 20. Jahrhundert zwischen Serben und Kroaten
geschah, zu schweigen.
Genug der Beispiele, fürs erste. Gegenbeispiele habe ich nur
in der Geschichte der Juden gefunden, unter denen vom Deuteronomion
bis in unsere Tage ständig und intensiv das Gebot der
Erinnerung eingeschärft worden ist. »Hüte dich, daß du nicht des
Herrn vergessest, der Dich aus ägyptenland, aus dem Diensthaus
geführt hat.« Aber auch das Schlimme soll erinnert werden, sowohl
das erlittene - »Gedenke, was dir die Amalekiter taten auf
dem Wege, da ihr aus ägypten zoget« - wie das selbst angerichtete:
»Gedenke und vergiß nicht, wie du den Herrn, Deinen Gott,
erzürntest in der Wüste!«
Eindringlich wird gemahnt: »Denk an die Tage der Vergangenheit
«, »... frage deinen Vater, der wird dir's verkündigen, deine
ältesten, die werden dir's sagen.« 169mal begegnet das Wort zachar
(erinnern) in seinen verschiedenen Formen in der Bibel.
Erinnerung gehört zum Inhalt fast aller großen Feste, auf denen
sie nicht nur in der Gemeinde, sondern auch am Familientisch
stets neu gehegt und weitergegeben wird. »Das Vergessenwollen
verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung
«, sagt jüdische Weisheit. »Nur in Israel, nirgends sonst,
empfindet ein ganzes Volk die Aufforderung, sich zu erinnern,
als religiösen Imperativ.« Das Gedächtnisvolk par excellence hat
Jacques Le Goff die Juden genannt. Elie Wiesel stellt fest: To be a
Jew is to remember.
Dabei steht die Erinnerung an Jahwes Verheißung, an das
Geschenk des Landes, das er den Juden gemacht, an den Bund,
den er mit ihnen geschlossen hat, im Vordergrund. Die Erinnerung
an das Schlimme, das in Mißachtung der göttlichen Gebote
selbstgetane und das erlittene (wenn Jahwes Zorn sie traf),bleibt
eingefangen in seiner Verheißung - bis Auschwitz alle jüdische
Erinnerung vor kaum (oder nicht mehr) lösbare Aufgaben stellt.
Nach Auschwitz ist es aber auch, daß die Erinnerung der
Menschheit allem Vergessen der unermeßlichen Untaten widerstreitet.
Die Frage ist, ob damit zugleich für andere Fälle ein
neues Verhältnis zwischen Erinnern und Vergessen gestiftet ist.
Ist die unabweisbare Erinnerung an Auschwitz also die Ausnahme
von der Regel der Weltgeschichte? oder begründet sie
eine neue Regel? So daß das Gebot des Vergessens obsolet wird?
2. Öffentlicher Umgang mit schlimmer Vergangenheit
Erinnern - Verdrängen - Vergessen: Wenn man die Frage so
stellt, ist klar, daß es sich um Erinnerung an Schlimmes handelt,
sonst bräuchte es ja kein Verdrängen. Schlimmes - dieses Wort
soll hier und im folgenden ganz formal gebraucht werden: das
heißt unabhängig vom absoluten Ausmaß und der Qualität dessen,
was jeweils angerichtet worden ist. Die willkürliche Tötung
einiger hundert Griechen soll also ebenso darunter fallen wie
der weitgehend fabrikmäßige Mord an 6 Millionen Juden im
Zweiten Weltkrieg. Wichtig ist nur, daß es um den Umgang mit
sehr störender, zu schaffen machender Erinnerung gehen soll,
und zwar für Gemeinwesen. Die Frage ist, wie die damit fertig
werden.
Als Gegenstand solch störender Erinnerung kommen vielerlei
Untaten, Verbrechen, Vertreibungen, Morde in Frage, wie sie
vor allem Krieg und Bürgerkrieg immer wieder mit sich bringen.
oft genug für beide Seiten, wenn auch auf verschiedene Weise.
Daraus erwachsen speziell dann besondere Probleme, wenn sich
Völker oder Bürgerkriegsparteien wieder vertragen und ihr Zusammenleben
sichern wollen. Denn die Erinnerung an Schlimmes
erzeugt gern den Drang zur Rache; was zugleich heißen
kann: zu Gerechtigkeit, einer Gerechtigkeit freilich, die allzu
leicht auf parteiliche Weise gesucht wird, so daß das Bedürfnis
nach Widerrache entsteht.
Die Dinge können sich jedenfalls auf die Alternative Gerech-
tigkeit oder Frieden (sei es äußerer, sei es innerer Frieden, eventuell
auch: Desintegration oder Integration) zuspitzen.
Wo dem nicht so ist, wo der Friede als gesichert erscheint und
keine Rache droht, bleiben andere Probleme. Wenn Gemeinwesen
respektive Gesellschaften durch solche Vergangenheiten stark belastet
werden, kann dadurch ihre kollektive Ehre, man spricht
heute gern von Identität, tangiert sein (und zusammen mit andern
Gründen die Neigung zur Verdrängung schlimmer Vergangenheit
stark machen; Verdrängung übrigens nicht im psychopathologischen
Sinn genommen). Selbstverständlich stellen
sich ähnliche Probleme mit der Vergangenheit zugleich vielen Einzelnen.
Und es gibt, bei allen möglichen Unterschieden zwischen
den Individuen, zeit-, gesellschafts- und auch gruppentypische
Weisen von Erinnern, Verdrängen, Vergessen. Das gleiche gilt
für das Bewußtsein, daß man - gegebenenfalls - zu haften hat,
daß man verantwortlich ist für Geschehenes. Man hat ferner zu
unterscheiden zwischen den gleichsam normalen, eventuell routinisierten,
auch ritualisierten Formen des Fertigwerdens mit
schlimmer Vergangenheit im Alltag, der Entsühnung etwa, und
den eher ausnahmsartigen, die bei herausragenden Formen des
Schlimmen besondere Schwierigkeiten bieten mögen.
Da politische Einheiten nicht allein auf der Welt sind, kann
der öffentliche Umgang, den sie mit schlimmer Vergangenheit
pflegen, eingebettet sein in größere Zusammenhänge. Verbreitete,
mächtige Meinungen in der Welt oder in Teilen der Welt
können sich dabei geltend machen und virulent werden.
Wie also gehen Gesellschaften mit schlimmer Vergangenheit
um? Wie können sie damit umgehen? Die Frage drängt sich besonders
im Deutschland der Nachkriegszeit auf. Sie scheint nicht
unbedingt gerade die Historiker zu beschäftigen. Das hat sich
beispielhaft im Historikerstreit von 1986/88 gezeigt. Da ging es
zum einen um historische Wertungen oder Einordnungen des
Mordes an den Juden, zum andern um moralische Forderungen.
Das ganze Gebiet dazwischen, die Realität der Erinnerung und
der Bereich der realen Möglichkeiten, in dem sie sich zu bewegen
hat (und in dem sie viel oder wenig ist), blieb unerörtert. Mehrfach
ging es um den Vergleich mit den stalinistischen Verbrechen,
der dann freilich auch nicht richtig ausgeführt wurde. Und
es wurde auch nicht gefragt, wie es sich sonst in der Geschichte
mit diesen Problemen verhielt.
So ist es nicht einfach, das Problem Erinnern - Verdrängen
- Vergessen für frühere Zeiten zu behandeln. Denn wichtigstes
Material, so vermute ich, schlummert noch ungehoben in den
Quellen. Selbst wo historische Darstellungen auf Einzelnes eingehen,
versäumen ihre Autoren zumeist, es im Register zu berücksichtigen.
Meine Erörterung steht also unter dem Vorbehalt, daß
ich vieles, was das Bild variiert oder gar verändert hätte, übersehen
haben könnte. Doch als Einstieg mag sie ihr Recht haben.
3. Die Griechen
Beschlüsse, an das Schlimme nicht zu erinnern.
Die athenische Amnestie von 404/3 v. Chr.
Hier wäre zuvörderst ein sehr merkwürdiges Zeugnis zu besprechen.
Herodot berichtet, Phrynichos, der bedeutendste Tragiker
der Zeit, habe die Einnahme (und Zerstörung) Milets zum Gegenstand
einer Tragödie gemacht. Die glänzendste, reichste unter
den griechischen Städten an der ostküste der ägäis war das Zentrum
eines Aufstands gegen die dort herrschenden Perser gewesen.
Es war erobert und zerstört worden, 494 v. Chr; ein Ereignis,
das unter den Griechen tiefe Erschütterung auslöste. Die Athener
hatten den Aufstand anfangs unterstützt; sie betrachteten zudem
Milet und andere Städte der Gegend als ihre Kolonien.
Die Aufführung der Tragödie nun, die wenige Jahre darauf
in Athen erfolgte, hat nach Herodot das Theater, also beachtliche
Teile der Bürgerschaft, in Tränen versetzt. Der Dichter wurde
daraufhin zu einer hohen Geldstrafe verurteilt, die Wiederaufführung
des Stücks (die sonst in den kleinen Theatern auf dem
Land wohl möglich gewesen wäre) wurde verboten. Begründung:
Er habe an »häusliches Schlimmes - anders übersetzt: an häusliches
Unheil - erinnert«: hos anamnesanta oikeía kaká (6,21,2).
Das Verbot stellt ein schönes Zeugnis nicht nur für die mögliche
Wirkung der Tragödie dar, sondern auch für das Bemühen,
die Öffentlichkeit von starken emotionalen Erschütterungen
freizuhalten. In ähnliche Richtung weisen gesetzliche Einschränkungen
der Klagegesänge für Verstorbene. offenbar war das Ausbrechen
heftiger Leidenschaft in diesen Städten gefährlich, in
denen alles dicht aufeinanderlebte, die Volksversammlung unüberlegte
Beschlüsse fassen konnte, wo alle politischen Funktionsträger
und organe tief in das Leben der Stadt eingebettet
waren. In einer tieferen Schicht könnte auch die deutliche Abgrenzung
und Unterscheidung zwischen Männlichkeit und
Weiblichkeit tangiert gewesen sein; für Männer gehörte sich - in
der nachhomerischen Zeit - das Klagen und Weinen nicht. Da
scheint man bestimmte Disziplinierungen gebraucht zu haben.
Indes konnte man die Zerstörung Milets nicht aus der politischen
Debatte ausschließen. Immerhin waren Konsequenzen
aus dem Scheitern des Aufstands zu ziehen. Aber vermutlich befürchtete
man gerade deswegen jedes Zuviel, vor allem jede Aufpeitschung
der Emotionen durch Klagen, wie die Tragödie sie
reichlich enthalten haben muß; vielleicht auch das Gegenteil: die
allgemeine Depression. In andern Fällen mochte die Erinnerung
an häusliches Schlimmes ihren Sinn darin haben, den Drang zur
Rache wachzuhalten oder neu zu beleben. Hier dagegen war angesichts
der persischen Übermacht eher Vorsicht am Platz; eben
daher war die tragische Klage so problematisch.
Nebenbei gesagt wird die Tragödie auch an die Hybris erinnert
haben, aus der der Aufstand hervorgegangen war, durch die
sein schlimmes Ende erklärlich wurde - und an der auch Athen
seinen Teil hatte. Denn zu der Gattung gehörte es, daß die Strafe
niemals einfach Unschuldige trifft. So wollte man damals wohl
auch Kritik an eigenen unheilvollen Entscheidungen unterdrükken.
Herodot nennt die attische Unterstützung des Aufstands
später »den Anfang des Unheils zwischen Griechen und Barbaren
« (arche` kakôn. 5,97,3. Kaká ist das Wort, das hier verschiedentlich
wiederkehrt und das ich normalerweise mit »Schlimmes
« übersetze).
Man muß sich fragen, ob der Beschluß des athenischen Rats
gegen das »Erinnern an Schlimmes« an eine schon ältere Tradition
des gemeinsamen Beschweigens unangenehmer, störender
Fakten in der Öffentlichkeit, also des »Vergessens« hat anknüpfen
können.
Jedenfalls finden wir einige Jahrzehnte später die beiden
Wörter, die den Vorwurf gegen Phrynichos bezeichnen, anamimneskein
kaká, Erinnern an Schlimmes, zu einem einzigen ver-
eint, das zu einem terminus technicus wird: mnesikakeîn: (andere
oder sich) an Schlimmes erinnern.
Das Wort begegnet in aller Regel in verneinter Form. Dabei
geht es durchaus auch darum, Hinweise auf mißliche Tatbestände
auszuschließen. Síga, me mnesikakeses, heißt es etwa ein
´
mal bei Aristophanes: Schweig, rühr nicht das Schlimme auf
(wörtlich: Erinnere nicht das Schlimme)! Wenn die Wendung,
wie zu vermuten, karikierend aus dem politischen Leben der Zeit
in den komischen Zusammenhang übernommen worden ist,
könnte das darauf hindeuten, daß man damals im kriegführen-
den, schweren Bedrängnissen ausgesetzten Athen »Schwarzmalerei
«, »Defaitismus« als mnesikakeîn bezeichnete.
Vornehmlich aber soll die Aufforderung, soll der Beschluß,
nicht an Schlimmes zu erinnern, persönliche oder parteiliche
Rache verhindern. Denn die Konsequenzen des Erinnerns, vom
Klagen und Nachtragendsein bis zu Versuchen, Gegner direkt zu
verfolgen, sei es vor Gericht, sei es in unmittelbarem, meist blutigem
Zugriff, sind in der Wortbedeutung eingeschlossen. Die
Wendung me mnesikakeîn wird zur Formel für das, wofür später
das Wort »Amnestia« (Nicht-Erinnerung) benutzt werden kann
(und was keineswegs einfach mit unseren Amnestien gleichzusetzen
ist).
Seit dem letzten Viertel des 5. Jahrhunderts sind Beschlüsse,
»nicht an Schlimmes zu erinnern«, greifbar, und zwar fast gleichzeitig
in Verträgen zwischen Gemeinwesen (erstmals 422) und
in Abmachungen zwischen verfeindeten Gruppen innerhalb von
Bürgerschaften (erstmals 424). Da die Beilegung innerer Streitigkeiten
sehr viel schwieriger war als die Beendigung von Kriegen,
da zudem das Zusammenleben in den Städten viel problematischer
war als das zwischen ihnen, sollte man vermuten, daß man
sich darüber weit mehr den Kopf zerbrochen hat, daß also jene
Beschlüsse dort ihren Ausgangspunkt haben. In der Folgezeit
wird den Beschlüssen, »nicht an Schlimmes zu erinnern«, gelegentlich
die Formel beigefügt, keiner solle getötet oder vertrieben
werden.
424 hatten die Bürger von Megara beschlossen, einer ganzen
Gruppe von Verbannten die Rückkehr zu gestatten. Sie waren im
Begriff, im großen Krieg zwischen Sparta und Athen die Seite zu
wechseln. Eine Reihe von Freunden Athens hatte die Stadt verlassen.
Jetzt verhandelten die Zurückgebliebenen mit Verbannten
oder Flüchtlingen, im wesentlichen Gegnern Athens, über deren
Rückkehr und ließen sich von ihnen »heilige Eide schwören,
nichts Schlimmes zu erinnern und in allen Beschlüssen auf das
Wohl der Stadt bedacht zu sein«. Die freilich hielten sich nicht an
den Eid und nötigten, als sie wieder in den Besitz von ämtern
gelangt waren, die Volksversammlung, etwa hundert Gegner
zum Tode zu verurteilen, die sodann hingerichtet wurden. Sie
setzten mithin, wie Thukydides bemerkt, die stasis, also den Bürgerkrieg,
fort. »Sehr wenige« bewirkten auf diese Weise eine Veränderung.
Sie richteten eine strenge oligarchie ein, die lange gedauert
habe.
In der Folgezeit ist eine ganze Reihe von Beschlüssen, nicht
an Schlimmes zu erinnern, bezeugt. Während des Peloponnesischen
Krieges, aber auch später, bedeuteten sie oft nicht mehr als
Waffenstillstände. Thukydides schreibt: »Eidliche Abmachungen
zur Versöhnung, in der Not einander geleistet, galten für den
Augenblick, wenn beide Seiten sich anders nicht zu helfen wußten.
« Bei nächster Gelegenheit wurden sie gebrochen, wobei der,
der als erster wieder Mut faßte, im Vorteil war (3,82,7).
Am besten bekannt und überraschend erfolgreich ist derjenige
Beschluß gewesen, den die Athener Ende des 5. Jahrhunderts
nach blutigem Gewaltregime und Bürgerkrieg faßten. Er
stellte für die Zukunft ein leuchtendes Vorbild dar. Auf ihn hat
sich Cicero 44 v. Chr. berufen.
Nach der militärischen Niederlage im Peloponnesischen
Krieg (404) hatte ein kleiner Kreis von »dreißig Tyrannen«, gestützt
auf den spartanischen, den feindlichen Feldherrn, die Herrschaft
in Athen an sich gerissen und eine große Zahl von Bürgern
sowie reichen, in Athen ansässigen Nichtbürgern ermordet; in
den Quellen heißt es, es seien 2500 insgesamt, darunter 1500 Bürger
gewesen; bei damals etwa 30 000 Bürgern also fünf Prozent.
Es sind, selbst wenn sie etwas übertrieben sind, vergleichsweise
riesige Zahlen. In der Phase der Terreur in Paris 1793/94 hat sich
die Zahl der Hinrichtungen auf ungefähr 2600 belaufen.
Die opfer waren vornehmlich Männer, die in der Demokratie
eine Rolle gespielt hatten, unter anderm sogenannte Sykophanten;
das waren Leute, die sich darauf kapriziert hatten, andere,
vorzugsweise reiche Bürger vor Gericht anzuklagen. Man
kannte keinen Staatsanwalt. Mehrere Arten von Strafverfahren
konnten, wenn es die Betroffenen nicht taten, von jedem andern
Bürger angestrengt werden. Solche Ankläger hatten eine wichtige
Funktion.Aber nicht wenige von ihnen nutzten die Chance,Gegner
auf diese Weise zu bekämpfen; oder Geld zu machen, zum
Beispiel durch Erpressung. Die Praktiken der Sykophanten waren
weithin verhaßt. Jetzt suchten sich die oligarchen nicht zuletzt
an ihnen zu rächen. Andererseits verfolgten sie mit der Zeit
zunehmend auch Männer, an deren Vermögen sie sich bereichern
wollten. Mit perfidem Geschick haben die Dreißig darauf
geachtet, möglichst viele der Athener, die in der Stadt geblieben
waren, als Handlanger an ihren Untaten zu beteiligen. Wer angezeigt
worden war, konnte unter der Bedingung begnadigt werden,
daß er andere anzeigte. Aber auch für die Vorladungen
zog man gerne irgendwelche Bürger heran, um sie zu Spießgesellen
zu machen. Die politischen Bürgerrechte selbst waren auf
3000 Männer, also ein Zehntel der athenischen Bürgerschaft beschränkt
worden.
Zahlreiche Anhänger der alten Demokratie waren geflohen.
Die meisten sammelten sich bald unter Führung des Thrasybul.
Sie fielen in Attika ein, eroberten den Piräus und besiegten
schließlich die Tyrannen. Die Dreißig hatten zuletzt noch die
Spartaner zur Hilfe gerufen, waren von denen aber kaum unterstützt
worden. Der Spartanerkönig Pausanias hatte vielmehr auf
Ausgleich gedrängt.
Die Versöhnung geschah aufgrund eines Vertrags, der unter
anderm die Rückkehr der Demokraten in die Stadt vorsah. Er gestattete
Anklagen gegen diejenigen, die mit eigener Hand jeman-
den getötet oder verletzt hatten. Abgesehen davon aber sei es
»keinem der Rückkehrer gestattet, gegen keinen das Schlimme
zu erinnern außer gegen die Dreißig selbst« und wenige andere
Amtsträger. So heißt es in der dem Aristoteles zugeschriebenen
Schrift »Athenaíon Politeía« (39,6).
Die Scheidung zwischen wenigen Schuldigen und dem Gros
sollte auch im folgenden immer wieder wesentliche Voraussetzung
für Nicht-Erinnern und Amnestie sein. Die Haupt-
schuldigen dürfen nicht ungestraft bleiben. Sie sind gefährlich.
Irgendwohin muß sich auch der Zorn ausleben, irgendwo der
Gerechtigkeit, zumeist: der Rache ihr Recht werden. Das Gros
dagegen (das dadurch zugleich eine Art Alibi erhält, einen Ausweg
in Richtung Distanzierung) muß um des Friedens willen
verschont bleiben. So wird ein Ausgleich zwischen Gerechtigkeit
und Frieden möglich.
Das »Nicht-Erinnern« mußte durch Eide bekräftigt werden,
wahrscheinlich durch mehrere. Zunächst mußten es die Demokraten
vor der Rückkehr beeiden. Gleich anschließend hatten
alle Bürger gemeinsam den gleichen Eid zu schwören (man weiß
nicht, in welcher Form). Möglicherweise wurde der Eid noch
einmal wiederholt, als die oligarchen, denen zunächst ein eigenes
Gemeinwesen auf attischem Boden zugestanden worden war,
zurückkehrten. Jedenfalls hatten ihn künftig (wir wissen nicht
wie lange) Jahr für Jahr der Rat abzulegen und ähnlich auch die
Richter der Geschworenengerichte. Der Redner Andokides formuliert,
es sei für richtig erkannt worden, »das Geschehene auf
sich beruhen zu lassen« (1,81). Man habe die Rettung der Stadt
weit über das Bedürfnis nach privater Rache gestellt.
Die führenden Männer des Gewaltregimes sollten ebenfalls
von Anklagen verschont sein, wenn sie Rechenschaft ablegten. In
unsern Tagen sollte eine ähnliche Bestimmung für die Arbeit der
südafrikanischen Wahrheitskommission gelten.
Zu »Amnestien« in der bei uns vorherrschenden Bedeutung
des Wortes, genauer gesagt: zum Erlaß bestimmter Strafen (einmal
auch zum Verzicht auf Verfolgung derer, die sie eventuell
verhängt bekommen hätten) war es in Athen schon vorher - das
erste Mal, wenn den Quellen zu trauen ist, zu Beginn des 6. Jahrhunderts
- gekommen, meistens angesichts auswärtiger Gefahren.
Einmal wird übrigens ausdrücklich und unter Strafandrohung
verfügt, daß alle Inschriften und Kopien, auf denen diese
Strafen verzeichnet sind, zu vernichten seien, »damit unter den
Athenern Vertrauen sei, jetzt und künftig«. Jeweils kommt der
Straferlaß mehreren Einzelnen zugute, die den inneren Frieden
(und den Zusammenhalt) des Gemeinwesens nicht oder nicht
mehr bedrohen und von denen anzunehmen ist, daß sie sich der
Gesamtheit ohne nennenswerte Komplikationen wieder einfügen.
Parteiungen, aufgrund derer sie (zu Recht oder Unrecht)
verurteilt worden waren, waren nicht mehr aktuell.
Durch das me mnesikakeîn dagegen sollte jede Art der Verfolgung
politischer Verbrechen (von den Haupttätern eventuell
abgesehen) von vornherein ausgeschlossen werden. Es hatte zur
Voraussetzung, daß schwere Auseinandersetzungen zwischen
Angehörigen verfeindeter Gruppen drohten, die sehr wohl den
inneren Frieden des Gemeinwesens erheblich hätten beeinträchtigen
können. Denn dazu mußte es kommen, wenn etwa vielerlei
Anklagen vor Gericht, Bestrafungen oder gar Akte offener Rache
statthatten; wenn die Leidenschaften aufgeputscht wurden, auch
die der Richter - allesamt Geschworener, die zwar an einen Eid
gebunden, aber doch gegen Parteilichkeit nicht unbedingt gefeit
waren.
Potentiell brisante Gegensätze sollten also zumindest entschärft
und am neuerlichen Ausbruch gehindert werden. Auch
wenn unter Umständen ganze Bürgerschaften sich verpflichteten,
war es nicht so sehr das Gemeinwesen, das auf die Verhän-
gung von Strafen, wie zumal eine Bürgerkriegspartei, die siegreiche
nämlich, die auf Anklage und das heißt: Rache verzichten
sollte. Was dabei passieren mochte, war seit langem ins allgemeine
Bewußtsein eingelagert. Wenn sich ganze Gruppen an erfahrenes
Unrecht tätig erinnerten - der Begriff der tätigen Erinnerung
stammt von Peter Bender -, konnte das den Nerv des
Gemeinwesens treffen, an dessen Wohl, wie es im eben zitierten
Fall der Stadt Megara ausdrücklich hieß, zum Beispiel die rückkehrenden
Emigranten sich orientieren sollten.
Dort hatte die Bürgerschaft Angst vor den Rückkehrern. Sie
rechnete angesichts der äußeren Umstände während des großen
Krieges damit, daß diese sich nicht einfach einfügten, sondern
mächtig genug wären, Rache zu üben. Diese selbst hatten offenbar
nichts zu befürchten, so daß der Eid einseitig bleiben (und
sofort gebrochen werden) konnte.
In Athen, wo ihn schließlich alle leisten mußten, gleichgültig
auf welcher Seite sie gestanden hatten, war es natürlich ebenfalls
vordringlich, daß die Sieger auf Rache verzichteten (zu der sie
wahrhaft Grund genug gehabt hätten). Wenn zugleich die Besiegten
nicht an das Schlimme erinnern durften, so mag es sein,
daß man auch dieses oder jenes Verbrechen der siegreichen Seite
von Verfolgung ausschließen wollte. Ferner sollten die oligarchen
vermutlich nicht als die einzigen Vergessensbedürftigen,
also Schuldigen, dastehen. Auch wäre es allemal schwierig gewesen
- unvergleichlich schwieriger als bei einer Gruppe Verbannter
wie in Megara -, den Kreis derer, die vergessen sollten, abzugrenzen.
Doch ist keineswegs ausgeschlossen, daß dieser Akt vor
allem dazu bestimmt war, die neubegründete Einheit der attischen
Bürgerschaft zu manifestieren. Was geschehen war, sollte
hinter ihnen liegen. Jetzt galt es, gemeinsam und unbelastet die
gegenwärtigen und künftigen Geschäfte des Gemeinwesens einträchtig
zu besorgen.
Zert.-Nr. SGS-COC-001940
Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100
Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier
Munken Premium Cream liefert
Artic Paper Munkedals AB, Schweden
Erste Auflage
Copyright © 2010 by Siedler Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: Rothfos + Gabler, Hamburg
Lektorat und Satz: Ditta Ahmadi, Berlin
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany 2010
ISBN 978-3-88680-949-3
www.siedler-verlag.de
... weniger
Autoren-Porträt von Christian Meier
Meier, ChristianChristian Meier ist einer der herausragenden Historiker und Intellektuellen Deutschlands. Er hat zahlreiche Werke zur Antike veröffentlicht, darunter die Bestseller "Caesar" (1982), und "Athen" (1993). Mit Büchern wie "Das Verschwinden der Gegenwart" (2001) und "Von Athen bis Auschwitz" (2002) hat er immer wieder auch aktuelle politische Debatten angestoßen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Christian Meier
- 158 Seiten, Maße: 12,6 x 20,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Siedler
- ISBN-10: 3886809498
- ISBN-13: 9783886809493
- Erscheinungsdatum: 14.06.2010
Rezension zu „Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns “
»Ein kluges Buch über das Verdrängen von Verbrechen.«
Kommentar zu "Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns"
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns".
Kommentar verfassen