Das geheime Vermächtnis
Roman. Deutsche Erstausgabe
Nach dem Tod ihrer Großmutter erben Beth und Erica das herrschaftliche Gut Storton Manor im englischen Wiltshire - dem Ort, an dem ihr Cousin Henry mit 12 Jahren spurlos verschwand. In alten Briefen ihrer Großmutter stößt Erica auf...
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Taschenbuch
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Das geheime Vermächtnis “
Nach dem Tod ihrer Großmutter erben Beth und Erica das herrschaftliche Gut Storton Manor im englischen Wiltshire - dem Ort, an dem ihr Cousin Henry mit 12 Jahren spurlos verschwand. In alten Briefen ihrer Großmutter stößt Erica auf ein dunkles Familiengeheimnis.
SPIEGEL Bestseller!
Lese-Probe zu „Das geheime Vermächtnis “
Das geheime Vermächtnis von Katherine Webb Prolog
1905
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angsam kam Caroline wieder zu sich. Die Benommen-
heit wich zurück, und sie wurde sich unzähliger Gedanken bewusst, die wie Vögel in einem Käfig durcheinander-flatterten, so schnell, dass sie sie nicht greifen konnte. Mit unsicheren Bewegungen richtete sie sich auf. Das Kind war noch da, auf dem Bett. Angst fuhr ihr klamm den Rücken hinab. Ein Teil von ihr hatte gehofft, dass es nicht so sein würde - dass er irgendwie verschwunden sein könnte, oder besser noch, nie hier gewesen wäre. Er war bis ans andere Ende des Bettes gerobbt, obwohl er Mühe hatte, sich auf der rutschig-weichen Tagesdecke vorwärtszuziehen. Seine kräftigen Fäuste packten eine Handvoll Stoff nach der anderen, und er bewegte sich wie schwimmend ganz langsam über die blaugrüne Seide. Er war so groß und stark geworden. An einem anderen Ort, in einem anderen Leben, hätte ein Krieger aus ihm werden können. Sein Haar war pechschwarz. Der Kleine spähte auf dem Bett umher und wandte dann den Kopf, um Caroline anzusehen. Er gab einen einzelnen Laut von sich, ein leises dah. Und so unsinnig das auch sein mochte, Caroline wusste, dass es eine Frage war. Sie hatte Tränen in den Augen, und ihre Knie drohten erneut nachzugeben. Er war real. Er war hier, in ihrem Schlafzimmer in Storton Manor, und er war stark genug geworden, um ihr Fragen zu stellen.
Ihre Scham glich einer Wolke, die ihr Blick nicht durchdringen konnte. Sie hing wie Rauch in der Luft, verschleierte alles und machte jeden klaren Gedanken unmöglich. Caroline wusste nicht, was sie tun sollte. Lange Minuten verstrichen, bis sie glaubte, Schritte auf dem Flur vor der Tür zu hören. Ihr Herz machte einen Satz, und alles, was sie letztendlich wusste, war, dass das Baby nicht hierbleiben konnte. Nicht auf dem Bett, nicht in ihrem Zimmer, nicht in diesem Haus. Er konnte nicht bleiben, und ebenso wenig durften irgendwelche Bediensteten oder ihr Mann erfahren, dass er je hier gewesen war. Die Dienstboten hatten ihn womöglich schon entdeckt, vielleicht irgendetwas gesehen oder gehört, während sie bewusstlos auf dem Boden lag. Sie konnte nur beten, dass niemand etwas bemerkt hatte. Sie wusste nicht, wie lange sie dort verharrt hatte, vor Grauen und Trauer wie von Sinnen. Offensichtlich nicht so lange, dass dem Kind die Erkundung des Bettes inzwischen langweilig geworden wäre. Ihr blieb noch Zeit, zu handeln, und sie hatte keine andere Wahl.
Caroline wischte sich die Tränen vom Gesicht, ging um das Bett herum und hob den kleinen Jungen hoch, zu beschämt, um ihm in die Augen zu schauen. Auch die waren schwarz, das wusste sie. So schwarz und undurchdringlich wie Tintenflecke. Er war so viel schwerer als in ihrer Erinnerung. Sie legte ihn hin und zog ihm alles aus, auch die Windel. Denn obwohl die Kleidung einfach und grob war, fürchtete sie, die Sachen könnten jemanden auf die Spur zu ihr bringen. Sie warf sie in den Kamin, wo sie auf den Kohlen des morgendlichen Feuers qualmten und stanken. Dann blickte sie sich hilflos um, bis ihr Blick auf den bestickten Kissenbezug am Kopfende des Bettes fiel. Die Stiche waren fein und präzise und bildeten gelbe, bandförmig angeordnete Blüten. Das Leinen war glatt und dick. Caroline zog ihn von dem Kissen und steckte das zappelnde Baby hinein. Sie ging sehr zärtlich mit ihm um, denn ihre Hände waren sich ihrer Liebe zu dem Kind bewusst, wenngleich ihr Verstand sie nicht fassen konnte. Doch sie wickelte den Kleinen nicht darin ein. Stattdessen stülpte sie den Kissenbezug um wie einen Sack und trug das Baby darin hinaus wie ein Wilderer seine Beute. Tränen, die aus tiefstem Herzen kamen, liefen ihr übers Gesicht. Aber sie durfte nicht zögern, sie durfte sich nicht erlauben, ihn wieder zu lieben.
Draußen regnete es in Strömen. Caroline lief mit schmerzendem Rücken und kribbelnder Kopfhaut über den Rasen und glaubte, die Blicke des Hauses auf sich zu spüren. Sobald sie die Bäume erreicht hatte, wo sie außer Sicht war, rang sie nach Luft. Die Knöchel der Finger, die den Kissenbezug zuhielten, traten weiß hervor. Das Kind zappelte leicht und brabbelte vor sich hin, aber es weinte nicht. Regen rann ihr durchs Haar und tropfte von ihrem Kinn. Doch er wird mich niemals reinwaschen, sagte sie sich in stiller Verzweiflung. Da war ein Teich, das wusste sie. Ein Weiher am anderen Ende des Parks, wo das Anwesen auf das Hügelland stieß, in welchem der Bach entsprang, der durch das Dorf floss. Der Teich war tief und finster, das Wasser an einem wolkenverhangenen Tag wie heute aufgewühlt vom plätschernden Regen - bereit, jedes Geheimnis zu verbergen, das man ihm anvertraute. Bei dem Gedanken wurde ihr kalt. Nein, das kann ich nicht, flehte sie stumm. Ich kann nicht. Sie hatte diesem Kind schon so viel genommen.
Sie ging weiter, nicht in Richtung des Teichs, sondern weg vom Haus, und betete darum, dass sich ihr irgendeine andere Möglichkeit bieten möge. Als das tatsächlich geschah, seufzte Caroline vor Erleichterung. Auf einer grünen Lichtung, wo der Wald auf den Feldweg stieß, stand ein Wagen. Ein schwarz-weißes Pony war daneben angebunden, den Kopf tief gesenkt, das Hinterteil Sturm und Regen zugekehrt, und dünne Rauchfähnchen stiegen aus einem metallenen Ofenrohr im Dach auf. Zigeuner, dachte sie, und verzweifelte Hoffnung flackerte in ihrer Brust. Sie würden ihn finden, ihn mitnehmen, mit ihm fortziehen. Sie würde ihn nie wieder sehen, ihm nie wieder gegenüberstehen müssen. Aber er würde gut versorgt sein. Er würde ein Leben haben.
Jetzt begann das Baby zu weinen, denn der Regen hatte den Kissenbezug durchweicht und seine Haut berührt. Hastig hob Caroline den Sack wieder auf die Schulter und lief durch die Bäume um die Lichtung herum zur anderen Seite, weg vom Haus, damit die Spur nicht in diese Richtung wies. Sie hoffte, so würde es aussehen, als hätte jemand, der von Süden her gekommen war, das Kind ausgesetzt. Sie legte ihn zwischen die knotigen Wurzeln einer mächtigen Buche, wo es einigermaßen trocken war, und wich zurück, während seine Schreie lauter und beharrlicher wurden. Nehmt ihn und verschwindet, flehte sie stumm.
Immer wieder stolpernd lief sie so rasch und so leise wie möglich hinein in den Wald, und das Weinen des Babys folgte ihr noch eine Weile. Als sie endlich außer Hörweite war, blieb sie stehen. Sie schwankte unentschlossen und überlegte, ob sie weiterlaufen oder umkehren sollte. Ich werde ihn nie wieder hören, sagte sie sich, aber dieser Gedanke brachte ihr keine Erleichterung. Es konnte nicht anders sein, aber eine Kälte breitete sich in ihrem Herzen aus, so fest und scharfkantig wie Eis, denn sie erkannte jetzt, dass sie vor dem, was sie getan hatte, niemals würde davonlaufen, es nie würde vergessen können. Es steckte in ihr wie ein böses Geschwür, und obwohl es kein Zurück gab, war sie nicht mehr sicher, ob sie weiter vorwärtsgehen konnte. Ihre Hand glitt zu ihrem Bauch, in dem ein Kind heranwuchs. Sie ließ es die Wärme ihrer Handfläche spüren, als wollte sie ihm versichern, dass sie noch lebte und fühlte und es lieben würde. Dann ging sie langsam zum Haus zurück, wo ihr Stunden zu spät klar werden würde, dass sie das Baby zwar sorgfältig ausgezogen, es dann aber in dem feinen, bestickten Bezug ausgesetzt hatte. Sie drückte das Gesicht in ihr nacktes Kopfkissen und versuchte, den kleinen Jungen aus ihrer Erinnerung zu verbannen.
1
Wie still es ist! So still, dass es mir fast
Das Denken drückt und stört mit sonderbarer Und übergroßer Stille.
Samuel Taylor Coleridge, Frost um Mitternacht
Wenigstens haben wir Winter. Wir waren immer nur im Sommer hier, deshalb wirkt das Haus ein wenig anders. Es ist nicht so grässlich vertraut, nicht so übermächtig. Storton Manor, grimmig und klotzig, hat dieselbe Farbe wie der tief hängende Himmel. Ein viktorianischer, neugotischer Berg von einem Herrenhaus, Fenster mit Mittelsäulen und abblätterndem Holz, grün vor Algen. Trockenes Laub liegt an die Wände hingeweht, und Moos wächst dahinter herauf bis zu den Fenstersimsen im Erdgeschoss. Ich steige aus dem Auto und atme ruhig durch. Bisher war der Winter sehr englisch. Feucht und matschig. Die Hecken in der Ferne sehen aus wie verschmierte violette Flecken. Ich habe mich heute extra in leuchtenden Farben angezogen, aus Trotz diesem Ort gegenüber, seiner kargen Strenge und des schweren Gewichts wegen, das meine Erinnerungen bedrückt. Jetzt komme ich mir darin albern vor, wie ein Clown.
Durch die Windschutzscheibe meines alten weißen Golf kann ich Beths Hände in ihrem Schoß liegen sehen, und die feinen Spitzen an dem langen Zopf. Hier und da ist er jetzt von grauen Strähnen durchzogen, und das erscheint mir zu früh, viel zu früh. Sie war ganz versessen darauf, hierherzukommen, aber jetzt sitzt sie da wie erstarrt. Diese blassen, schmalen Hände, schlaff im Schoß gefaltet - passiv, abwartend. Unser Haar war so leuchtend hell, als wir noch klein waren. Es war weißblond wie das Haar von Engeln, von jungen Wikingern. Doch die Reinheit dieser Farbe hatte sich mit den Jahren in dieses langweilige Mausbraun verwandelt. Ich färbe mir jetzt die Haare, damit sie lebendiger wirken. Inzwischen sehen wir immer weniger wie Schwestern aus. Ich erinnere mich, wie Beth und Dinny verschwörerisch flüsterten und die Köpfe zusammensteckten: sein Schopf so dunkel, ihrer so hell. Damals war ich ganz krank vor Eifersucht, und jetzt erscheinen ihre Köpfe vor meinem geistigen Auge wie Yin und Yang. Pech und Schwefel.
Die Fenster des Hauses sind leer und zeigen dunkle Spiegelbilder der kahlen Bäume ringsum. Diese Bäume kommen mir jetzt größer vor, und sie neigen sich zu dicht ans Haus heran. Hier muss ausgeholzt werden. Denke ich etwa daran, was hier zu tun ist, was man verbessern könnte? Stelle ich mir vor, hier zu leben? Das Haus gehört jetzt uns, alle zwölf Schlafzimmer, die hohen Decken, die prächtige Treppe, die Kellerräume, deren Steinböden von dienstbaren Füßen glatt geschliffen sind. Alles gehört uns, aber nur, wenn wir hier einziehen und wohnen bleiben. Das hat Meredith schon immer gewollt. Meredith - unsere Großmutter mit ihrer Boshaftigkeit und ihren knochigen Händen, zu Fäusten geballt. Wenn es nach ihr gegangen wäre, wäre meine Mutter mit uns allen schon vor Jahren hier eingezogen, um ihr beim Sterben zuzuschauen. Aber unsere Mutter weigerte sich, wurde prompt enterbt, und wir setzten unser fröhliches vorstädtisches Leben in Reading fort. Wenn wir nicht hier einziehen, wird das Herrenhaus verkauft und der Erlös wohltätigen Zwecken gestiftet. Meredith, die im Tod zur Philanthropin wurde - verkehrte Welt. Jetzt gehört das Haus also uns, aber nur für kurze Zeit, denn ich glaube nicht, dass wir es lange ertragen können, hier zu wohnen.
Dafür gibt es einen Grund. Wenn ich versuche, ihn direkt ins Auge zu fassen, löst er sich auf wie Nebel. Nur ein Name taucht daraus auf: Henry. Der Junge, der verschwand, der einfach nicht mehr da war. Was ich jetzt denke, als mir vom Blick hinauf in die kahlen Zweige schwindlig wird ... Ich glaube, ich weiß es. Ich weiß, warum wir hier nicht leben können, warum es schon bemerkenswert ist, dass wir überhaupt gekommen sind. Ich weiß es. Ich weiß, warum Beth jetzt nicht einmal aus dem Auto steigen will. Ich frage mich, ob ich ihr gut zureden muss, um sie da herauszubekommen, so, wie man ihr zureden muss, damit sie etwas isst. Auf der Erde zwischen mir und dem Haus wächst keine einzige Pflanze - es ist zu schattig. Vielleicht ist der Boden auch verseucht. Es riecht nach Erde und Fäulnis, nach samtigem Pilz. Humus, das Wort fällt mir plötzlich aus dem Naturkundeunterricht vor vielen Jahren ein. Tausend kleine Insektenmäuler, die kauen und arbeiten und den Boden verdauen. Ein Augenblick der Stille entsteht. Der Motor ist still, die Bäume und das Haus sind still, und alles dazwischen. Hastig setze ich mich wieder ins Auto.
Beth starrt auf ihre Hände hinab. Ich glaube, sie hat noch nicht einmal aufgeblickt und unser Haus angesehen. Plötzlich kommen mir Zweifel, ob es nicht doch ein Fehler war, sie hierherzubringen. Mit einem Mal fürchte ich, dass ich es zu lange aufgeschoben habe, und diese Angst dreht sich in meinen Eingeweiden. An ihrem Hals stehen Sehnen hervor wie dünne Seile, und sie ist irgendwie eckig in den Beifahrersitz gefaltet, ganz Kanten und Winkel. So dünn ist sie jetzt, und sie sieht so zerbrechlich aus. Immer noch meine Schwester, aber sehr verändert. Da ist etwas in ihrem Inneren, das ich nicht zu fassen bekommen, das ich nicht verstehen kann. Sie hat Dinge getan, die ich nicht begreife, und Gedanken gehabt, die ich mir nicht vorstellen kann. Ihre Augen, der Blick starr auf ein Knie gerichtet, sind glasig und weit aufgerissen. Maxwell will, dass sie wieder in die Klinik geht. Das hat er mir vor zwei Tagen am Telefon gesagt, und ich habe ihm fast den Kopf dafür abgerissen, dass er das auch nur vorschlägt. Aber ich verhalte mich in ihrer Gegenwart jetzt anders, sosehr ich mich auch bemühe, das nicht zu tun. Und ein Teil von mir hasst sie dafür. Sie ist meine große Schwester. Sie sollte stärker sein als ich. Ich reibe sacht ihren Arm und schaue sie aufmunternd an. »Wollen wir reingehen? Ich könnte einen Drink gebrauchen.« Meine Stimme klingt in dem beengten Raum sehr laut. Ich stelle mir Merediths kristallene Karaffen vor, die im Salon aufgereiht sind. Als Kind habe ich mich dort hineingeschlichen und in die geheimnisvollen Flüssigkeiten gestarrt, beobachtet, wie sie das Licht einfingen, und die Stopfen herausgezogen, um verbotenerweise daran zu schnuppern. Es erscheint mir irgendwie grotesk, jetzt, wo sie tot ist, ihren Whisky zu trinken. Diese Fürsorglichkeit ist meine Art, Beth zu zeigen, dass ich weiß: Sie will nicht wieder hier sein. Doch dann steigt sie mit einem tiefen Seufzen aus und läuft auf das Haus zu wie getrieben, und ich eile ihr nach.
Von innen wirkt das Haus kleiner, wie viele Dinge, die man aus der Kindheit kennt, aber es ist immer noch riesig. Meine WG-Wohnung in London erschien mir groß, als ich dort einzog, weil sie so viele Zimmer hat, dass man nicht durch die trocknende Wäsche spähen muss, um fernzusehen. Jetzt stehe ich in der weiten Eingangshalle und verspüre den lächerlichen Drang, Rad zu schlagen. Wir zögern und stellen unsere Reisetaschen am Fuß der Treppe ab. Zum allerersten Mal sind wir allein hier angekommen, ohne unsere Eltern, und das fühlt sich so seltsam an, dass wir kopflos im Kreis laufen wie die Schafe. Unsere Rollen werden von Gewohnheiten, von Erinnerungen und Gepflogenheiten definiert. Hier, in diesem Haus, sind wir Kinder. Aber ich muss das irgendwie überspielen, denn ich sehe, wie Beth der Mut verlässt und dieser wohlbekannte hektische Ausdruck in ihre Augen tritt.
»Setz schon mal den Kessel auf. Ich suche den Schnaps, und dann trinken wir Kaffee mit Schuss.«
»Erica, es ist noch nicht einmal Mittag.«
»Na und? Wir sind im Urlaub, oder etwa nicht?« O nein, sind wir nicht. Ich weiß zwar nicht, was genau das hier ist, aber mit Sicherheit kein Urlaub. Beth schüttelt den Kopf.
»Ich trinke nur einen Tee«, sagt sie und schleicht in Richtung Küche. Ihr Rücken ist schmal, die Schulterblätter zeichnen sich scharf unter dem Stoff ihrer Bluse ab. Der Anblick beunruhigt mich - erst vor zehn Tagen habe ich sie das letzte Mal gesehen, aber sie ist unübersehbar noch dünner geworden. Am liebsten würde ich sie in den Arm nehmen, dafür sorgen, dass es ihr wieder gut geht.
Das Haus ist kalt und feucht, also drücke ich an den Knöpfen einer uralten Schalttafel herum, bis ich höre, dass sich Dinge regen, Rohre in der Tiefe stöhnen und Wasser brodelt. Im Kamin liegt alte Asche, und im Papierkorb des Salons finde ich benutzte Taschentücher und einen süßlich vor sich hin faulenden Apfelbutzen. Mich so in Merediths Leben breitzumachen, gibt mir ein scheußliches Gefühl, wie eine leichte Übelkeit. Als könnte ich mich umdrehen und sie im Spiegel sehen - eine säuerliche Grimasse mit künstlich goldblondem Haar. Ich bleibe am Fenster stehen und schaue auf den winterlichen Garten hinaus, der ein Durcheinander zu hoch geschossener, umgeknickter Pflanzen birgt, wild und ungepflegt. Es gibt Gerüche, die ich mit den Sommerferien hier verbinde: Kokosmilch-Sonnencreme; Ochsenschwanzsuppe zu Mittag, und wenn es noch so heiß war; süße, schwere Duftwolken von den Rosen und Lavendelsträuchern an der Terrasse; der scharfe, irgendwie fleischige Geruch von Merediths fetten Labradoren, die ihre heiße Erschöpfung an meine Schienbeine hecheln. Jetzt ist alles so anders. Das hätte Jahrhunderte her sein können. Jemand anders könnte all das erlebt haben. Ein paar Regentropfen klatschen ans Fenster, und ich bin hundert Jahre entfernt von allem und allen. Hier sind wir wahrhaftig allein, Beth und ich. Allein, wieder in diesem Haus, in unserem verschworenen Schweigen, nach all der Zeit, in der nichts gelöst wurde, in der Beth sich selbst Stück für Stück auseinandergerissen hat, während ich alledem immer nur ausgewichen bin.
Übersetzung: Katharina Volk
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by Diana Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
angsam kam Caroline wieder zu sich. Die Benommen-
heit wich zurück, und sie wurde sich unzähliger Gedanken bewusst, die wie Vögel in einem Käfig durcheinander-flatterten, so schnell, dass sie sie nicht greifen konnte. Mit unsicheren Bewegungen richtete sie sich auf. Das Kind war noch da, auf dem Bett. Angst fuhr ihr klamm den Rücken hinab. Ein Teil von ihr hatte gehofft, dass es nicht so sein würde - dass er irgendwie verschwunden sein könnte, oder besser noch, nie hier gewesen wäre. Er war bis ans andere Ende des Bettes gerobbt, obwohl er Mühe hatte, sich auf der rutschig-weichen Tagesdecke vorwärtszuziehen. Seine kräftigen Fäuste packten eine Handvoll Stoff nach der anderen, und er bewegte sich wie schwimmend ganz langsam über die blaugrüne Seide. Er war so groß und stark geworden. An einem anderen Ort, in einem anderen Leben, hätte ein Krieger aus ihm werden können. Sein Haar war pechschwarz. Der Kleine spähte auf dem Bett umher und wandte dann den Kopf, um Caroline anzusehen. Er gab einen einzelnen Laut von sich, ein leises dah. Und so unsinnig das auch sein mochte, Caroline wusste, dass es eine Frage war. Sie hatte Tränen in den Augen, und ihre Knie drohten erneut nachzugeben. Er war real. Er war hier, in ihrem Schlafzimmer in Storton Manor, und er war stark genug geworden, um ihr Fragen zu stellen.
Ihre Scham glich einer Wolke, die ihr Blick nicht durchdringen konnte. Sie hing wie Rauch in der Luft, verschleierte alles und machte jeden klaren Gedanken unmöglich. Caroline wusste nicht, was sie tun sollte. Lange Minuten verstrichen, bis sie glaubte, Schritte auf dem Flur vor der Tür zu hören. Ihr Herz machte einen Satz, und alles, was sie letztendlich wusste, war, dass das Baby nicht hierbleiben konnte. Nicht auf dem Bett, nicht in ihrem Zimmer, nicht in diesem Haus. Er konnte nicht bleiben, und ebenso wenig durften irgendwelche Bediensteten oder ihr Mann erfahren, dass er je hier gewesen war. Die Dienstboten hatten ihn womöglich schon entdeckt, vielleicht irgendetwas gesehen oder gehört, während sie bewusstlos auf dem Boden lag. Sie konnte nur beten, dass niemand etwas bemerkt hatte. Sie wusste nicht, wie lange sie dort verharrt hatte, vor Grauen und Trauer wie von Sinnen. Offensichtlich nicht so lange, dass dem Kind die Erkundung des Bettes inzwischen langweilig geworden wäre. Ihr blieb noch Zeit, zu handeln, und sie hatte keine andere Wahl.
Caroline wischte sich die Tränen vom Gesicht, ging um das Bett herum und hob den kleinen Jungen hoch, zu beschämt, um ihm in die Augen zu schauen. Auch die waren schwarz, das wusste sie. So schwarz und undurchdringlich wie Tintenflecke. Er war so viel schwerer als in ihrer Erinnerung. Sie legte ihn hin und zog ihm alles aus, auch die Windel. Denn obwohl die Kleidung einfach und grob war, fürchtete sie, die Sachen könnten jemanden auf die Spur zu ihr bringen. Sie warf sie in den Kamin, wo sie auf den Kohlen des morgendlichen Feuers qualmten und stanken. Dann blickte sie sich hilflos um, bis ihr Blick auf den bestickten Kissenbezug am Kopfende des Bettes fiel. Die Stiche waren fein und präzise und bildeten gelbe, bandförmig angeordnete Blüten. Das Leinen war glatt und dick. Caroline zog ihn von dem Kissen und steckte das zappelnde Baby hinein. Sie ging sehr zärtlich mit ihm um, denn ihre Hände waren sich ihrer Liebe zu dem Kind bewusst, wenngleich ihr Verstand sie nicht fassen konnte. Doch sie wickelte den Kleinen nicht darin ein. Stattdessen stülpte sie den Kissenbezug um wie einen Sack und trug das Baby darin hinaus wie ein Wilderer seine Beute. Tränen, die aus tiefstem Herzen kamen, liefen ihr übers Gesicht. Aber sie durfte nicht zögern, sie durfte sich nicht erlauben, ihn wieder zu lieben.
Draußen regnete es in Strömen. Caroline lief mit schmerzendem Rücken und kribbelnder Kopfhaut über den Rasen und glaubte, die Blicke des Hauses auf sich zu spüren. Sobald sie die Bäume erreicht hatte, wo sie außer Sicht war, rang sie nach Luft. Die Knöchel der Finger, die den Kissenbezug zuhielten, traten weiß hervor. Das Kind zappelte leicht und brabbelte vor sich hin, aber es weinte nicht. Regen rann ihr durchs Haar und tropfte von ihrem Kinn. Doch er wird mich niemals reinwaschen, sagte sie sich in stiller Verzweiflung. Da war ein Teich, das wusste sie. Ein Weiher am anderen Ende des Parks, wo das Anwesen auf das Hügelland stieß, in welchem der Bach entsprang, der durch das Dorf floss. Der Teich war tief und finster, das Wasser an einem wolkenverhangenen Tag wie heute aufgewühlt vom plätschernden Regen - bereit, jedes Geheimnis zu verbergen, das man ihm anvertraute. Bei dem Gedanken wurde ihr kalt. Nein, das kann ich nicht, flehte sie stumm. Ich kann nicht. Sie hatte diesem Kind schon so viel genommen.
Sie ging weiter, nicht in Richtung des Teichs, sondern weg vom Haus, und betete darum, dass sich ihr irgendeine andere Möglichkeit bieten möge. Als das tatsächlich geschah, seufzte Caroline vor Erleichterung. Auf einer grünen Lichtung, wo der Wald auf den Feldweg stieß, stand ein Wagen. Ein schwarz-weißes Pony war daneben angebunden, den Kopf tief gesenkt, das Hinterteil Sturm und Regen zugekehrt, und dünne Rauchfähnchen stiegen aus einem metallenen Ofenrohr im Dach auf. Zigeuner, dachte sie, und verzweifelte Hoffnung flackerte in ihrer Brust. Sie würden ihn finden, ihn mitnehmen, mit ihm fortziehen. Sie würde ihn nie wieder sehen, ihm nie wieder gegenüberstehen müssen. Aber er würde gut versorgt sein. Er würde ein Leben haben.
Jetzt begann das Baby zu weinen, denn der Regen hatte den Kissenbezug durchweicht und seine Haut berührt. Hastig hob Caroline den Sack wieder auf die Schulter und lief durch die Bäume um die Lichtung herum zur anderen Seite, weg vom Haus, damit die Spur nicht in diese Richtung wies. Sie hoffte, so würde es aussehen, als hätte jemand, der von Süden her gekommen war, das Kind ausgesetzt. Sie legte ihn zwischen die knotigen Wurzeln einer mächtigen Buche, wo es einigermaßen trocken war, und wich zurück, während seine Schreie lauter und beharrlicher wurden. Nehmt ihn und verschwindet, flehte sie stumm.
Immer wieder stolpernd lief sie so rasch und so leise wie möglich hinein in den Wald, und das Weinen des Babys folgte ihr noch eine Weile. Als sie endlich außer Hörweite war, blieb sie stehen. Sie schwankte unentschlossen und überlegte, ob sie weiterlaufen oder umkehren sollte. Ich werde ihn nie wieder hören, sagte sie sich, aber dieser Gedanke brachte ihr keine Erleichterung. Es konnte nicht anders sein, aber eine Kälte breitete sich in ihrem Herzen aus, so fest und scharfkantig wie Eis, denn sie erkannte jetzt, dass sie vor dem, was sie getan hatte, niemals würde davonlaufen, es nie würde vergessen können. Es steckte in ihr wie ein böses Geschwür, und obwohl es kein Zurück gab, war sie nicht mehr sicher, ob sie weiter vorwärtsgehen konnte. Ihre Hand glitt zu ihrem Bauch, in dem ein Kind heranwuchs. Sie ließ es die Wärme ihrer Handfläche spüren, als wollte sie ihm versichern, dass sie noch lebte und fühlte und es lieben würde. Dann ging sie langsam zum Haus zurück, wo ihr Stunden zu spät klar werden würde, dass sie das Baby zwar sorgfältig ausgezogen, es dann aber in dem feinen, bestickten Bezug ausgesetzt hatte. Sie drückte das Gesicht in ihr nacktes Kopfkissen und versuchte, den kleinen Jungen aus ihrer Erinnerung zu verbannen.
1
Wie still es ist! So still, dass es mir fast
Das Denken drückt und stört mit sonderbarer Und übergroßer Stille.
Samuel Taylor Coleridge, Frost um Mitternacht
Wenigstens haben wir Winter. Wir waren immer nur im Sommer hier, deshalb wirkt das Haus ein wenig anders. Es ist nicht so grässlich vertraut, nicht so übermächtig. Storton Manor, grimmig und klotzig, hat dieselbe Farbe wie der tief hängende Himmel. Ein viktorianischer, neugotischer Berg von einem Herrenhaus, Fenster mit Mittelsäulen und abblätterndem Holz, grün vor Algen. Trockenes Laub liegt an die Wände hingeweht, und Moos wächst dahinter herauf bis zu den Fenstersimsen im Erdgeschoss. Ich steige aus dem Auto und atme ruhig durch. Bisher war der Winter sehr englisch. Feucht und matschig. Die Hecken in der Ferne sehen aus wie verschmierte violette Flecken. Ich habe mich heute extra in leuchtenden Farben angezogen, aus Trotz diesem Ort gegenüber, seiner kargen Strenge und des schweren Gewichts wegen, das meine Erinnerungen bedrückt. Jetzt komme ich mir darin albern vor, wie ein Clown.
Durch die Windschutzscheibe meines alten weißen Golf kann ich Beths Hände in ihrem Schoß liegen sehen, und die feinen Spitzen an dem langen Zopf. Hier und da ist er jetzt von grauen Strähnen durchzogen, und das erscheint mir zu früh, viel zu früh. Sie war ganz versessen darauf, hierherzukommen, aber jetzt sitzt sie da wie erstarrt. Diese blassen, schmalen Hände, schlaff im Schoß gefaltet - passiv, abwartend. Unser Haar war so leuchtend hell, als wir noch klein waren. Es war weißblond wie das Haar von Engeln, von jungen Wikingern. Doch die Reinheit dieser Farbe hatte sich mit den Jahren in dieses langweilige Mausbraun verwandelt. Ich färbe mir jetzt die Haare, damit sie lebendiger wirken. Inzwischen sehen wir immer weniger wie Schwestern aus. Ich erinnere mich, wie Beth und Dinny verschwörerisch flüsterten und die Köpfe zusammensteckten: sein Schopf so dunkel, ihrer so hell. Damals war ich ganz krank vor Eifersucht, und jetzt erscheinen ihre Köpfe vor meinem geistigen Auge wie Yin und Yang. Pech und Schwefel.
Die Fenster des Hauses sind leer und zeigen dunkle Spiegelbilder der kahlen Bäume ringsum. Diese Bäume kommen mir jetzt größer vor, und sie neigen sich zu dicht ans Haus heran. Hier muss ausgeholzt werden. Denke ich etwa daran, was hier zu tun ist, was man verbessern könnte? Stelle ich mir vor, hier zu leben? Das Haus gehört jetzt uns, alle zwölf Schlafzimmer, die hohen Decken, die prächtige Treppe, die Kellerräume, deren Steinböden von dienstbaren Füßen glatt geschliffen sind. Alles gehört uns, aber nur, wenn wir hier einziehen und wohnen bleiben. Das hat Meredith schon immer gewollt. Meredith - unsere Großmutter mit ihrer Boshaftigkeit und ihren knochigen Händen, zu Fäusten geballt. Wenn es nach ihr gegangen wäre, wäre meine Mutter mit uns allen schon vor Jahren hier eingezogen, um ihr beim Sterben zuzuschauen. Aber unsere Mutter weigerte sich, wurde prompt enterbt, und wir setzten unser fröhliches vorstädtisches Leben in Reading fort. Wenn wir nicht hier einziehen, wird das Herrenhaus verkauft und der Erlös wohltätigen Zwecken gestiftet. Meredith, die im Tod zur Philanthropin wurde - verkehrte Welt. Jetzt gehört das Haus also uns, aber nur für kurze Zeit, denn ich glaube nicht, dass wir es lange ertragen können, hier zu wohnen.
Dafür gibt es einen Grund. Wenn ich versuche, ihn direkt ins Auge zu fassen, löst er sich auf wie Nebel. Nur ein Name taucht daraus auf: Henry. Der Junge, der verschwand, der einfach nicht mehr da war. Was ich jetzt denke, als mir vom Blick hinauf in die kahlen Zweige schwindlig wird ... Ich glaube, ich weiß es. Ich weiß, warum wir hier nicht leben können, warum es schon bemerkenswert ist, dass wir überhaupt gekommen sind. Ich weiß es. Ich weiß, warum Beth jetzt nicht einmal aus dem Auto steigen will. Ich frage mich, ob ich ihr gut zureden muss, um sie da herauszubekommen, so, wie man ihr zureden muss, damit sie etwas isst. Auf der Erde zwischen mir und dem Haus wächst keine einzige Pflanze - es ist zu schattig. Vielleicht ist der Boden auch verseucht. Es riecht nach Erde und Fäulnis, nach samtigem Pilz. Humus, das Wort fällt mir plötzlich aus dem Naturkundeunterricht vor vielen Jahren ein. Tausend kleine Insektenmäuler, die kauen und arbeiten und den Boden verdauen. Ein Augenblick der Stille entsteht. Der Motor ist still, die Bäume und das Haus sind still, und alles dazwischen. Hastig setze ich mich wieder ins Auto.
Beth starrt auf ihre Hände hinab. Ich glaube, sie hat noch nicht einmal aufgeblickt und unser Haus angesehen. Plötzlich kommen mir Zweifel, ob es nicht doch ein Fehler war, sie hierherzubringen. Mit einem Mal fürchte ich, dass ich es zu lange aufgeschoben habe, und diese Angst dreht sich in meinen Eingeweiden. An ihrem Hals stehen Sehnen hervor wie dünne Seile, und sie ist irgendwie eckig in den Beifahrersitz gefaltet, ganz Kanten und Winkel. So dünn ist sie jetzt, und sie sieht so zerbrechlich aus. Immer noch meine Schwester, aber sehr verändert. Da ist etwas in ihrem Inneren, das ich nicht zu fassen bekommen, das ich nicht verstehen kann. Sie hat Dinge getan, die ich nicht begreife, und Gedanken gehabt, die ich mir nicht vorstellen kann. Ihre Augen, der Blick starr auf ein Knie gerichtet, sind glasig und weit aufgerissen. Maxwell will, dass sie wieder in die Klinik geht. Das hat er mir vor zwei Tagen am Telefon gesagt, und ich habe ihm fast den Kopf dafür abgerissen, dass er das auch nur vorschlägt. Aber ich verhalte mich in ihrer Gegenwart jetzt anders, sosehr ich mich auch bemühe, das nicht zu tun. Und ein Teil von mir hasst sie dafür. Sie ist meine große Schwester. Sie sollte stärker sein als ich. Ich reibe sacht ihren Arm und schaue sie aufmunternd an. »Wollen wir reingehen? Ich könnte einen Drink gebrauchen.« Meine Stimme klingt in dem beengten Raum sehr laut. Ich stelle mir Merediths kristallene Karaffen vor, die im Salon aufgereiht sind. Als Kind habe ich mich dort hineingeschlichen und in die geheimnisvollen Flüssigkeiten gestarrt, beobachtet, wie sie das Licht einfingen, und die Stopfen herausgezogen, um verbotenerweise daran zu schnuppern. Es erscheint mir irgendwie grotesk, jetzt, wo sie tot ist, ihren Whisky zu trinken. Diese Fürsorglichkeit ist meine Art, Beth zu zeigen, dass ich weiß: Sie will nicht wieder hier sein. Doch dann steigt sie mit einem tiefen Seufzen aus und läuft auf das Haus zu wie getrieben, und ich eile ihr nach.
Von innen wirkt das Haus kleiner, wie viele Dinge, die man aus der Kindheit kennt, aber es ist immer noch riesig. Meine WG-Wohnung in London erschien mir groß, als ich dort einzog, weil sie so viele Zimmer hat, dass man nicht durch die trocknende Wäsche spähen muss, um fernzusehen. Jetzt stehe ich in der weiten Eingangshalle und verspüre den lächerlichen Drang, Rad zu schlagen. Wir zögern und stellen unsere Reisetaschen am Fuß der Treppe ab. Zum allerersten Mal sind wir allein hier angekommen, ohne unsere Eltern, und das fühlt sich so seltsam an, dass wir kopflos im Kreis laufen wie die Schafe. Unsere Rollen werden von Gewohnheiten, von Erinnerungen und Gepflogenheiten definiert. Hier, in diesem Haus, sind wir Kinder. Aber ich muss das irgendwie überspielen, denn ich sehe, wie Beth der Mut verlässt und dieser wohlbekannte hektische Ausdruck in ihre Augen tritt.
»Setz schon mal den Kessel auf. Ich suche den Schnaps, und dann trinken wir Kaffee mit Schuss.«
»Erica, es ist noch nicht einmal Mittag.«
»Na und? Wir sind im Urlaub, oder etwa nicht?« O nein, sind wir nicht. Ich weiß zwar nicht, was genau das hier ist, aber mit Sicherheit kein Urlaub. Beth schüttelt den Kopf.
»Ich trinke nur einen Tee«, sagt sie und schleicht in Richtung Küche. Ihr Rücken ist schmal, die Schulterblätter zeichnen sich scharf unter dem Stoff ihrer Bluse ab. Der Anblick beunruhigt mich - erst vor zehn Tagen habe ich sie das letzte Mal gesehen, aber sie ist unübersehbar noch dünner geworden. Am liebsten würde ich sie in den Arm nehmen, dafür sorgen, dass es ihr wieder gut geht.
Das Haus ist kalt und feucht, also drücke ich an den Knöpfen einer uralten Schalttafel herum, bis ich höre, dass sich Dinge regen, Rohre in der Tiefe stöhnen und Wasser brodelt. Im Kamin liegt alte Asche, und im Papierkorb des Salons finde ich benutzte Taschentücher und einen süßlich vor sich hin faulenden Apfelbutzen. Mich so in Merediths Leben breitzumachen, gibt mir ein scheußliches Gefühl, wie eine leichte Übelkeit. Als könnte ich mich umdrehen und sie im Spiegel sehen - eine säuerliche Grimasse mit künstlich goldblondem Haar. Ich bleibe am Fenster stehen und schaue auf den winterlichen Garten hinaus, der ein Durcheinander zu hoch geschossener, umgeknickter Pflanzen birgt, wild und ungepflegt. Es gibt Gerüche, die ich mit den Sommerferien hier verbinde: Kokosmilch-Sonnencreme; Ochsenschwanzsuppe zu Mittag, und wenn es noch so heiß war; süße, schwere Duftwolken von den Rosen und Lavendelsträuchern an der Terrasse; der scharfe, irgendwie fleischige Geruch von Merediths fetten Labradoren, die ihre heiße Erschöpfung an meine Schienbeine hecheln. Jetzt ist alles so anders. Das hätte Jahrhunderte her sein können. Jemand anders könnte all das erlebt haben. Ein paar Regentropfen klatschen ans Fenster, und ich bin hundert Jahre entfernt von allem und allen. Hier sind wir wahrhaftig allein, Beth und ich. Allein, wieder in diesem Haus, in unserem verschworenen Schweigen, nach all der Zeit, in der nichts gelöst wurde, in der Beth sich selbst Stück für Stück auseinandergerissen hat, während ich alledem immer nur ausgewichen bin.
Übersetzung: Katharina Volk
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by Diana Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Katherine Webb
Katherine Webb, geboren 1977, wuchs im englischen Hampshire auf und studierte Geschichte an der Durham University. Später arbeitete sie mehrere Jahre als Wirtschafterin auf herrschaftlichen Anwesen. Auf ihr großes internationales Erfolgsdebüt »Das geheime Vermächtnis« folgten zahlreiche weitere SPIEGEL-Bestseller-Romane. Nach längeren Aufenthalten in London und Venedig lebt und schreibt sie heute in der Nähe von Bath, England.
Bibliographische Angaben
- Autor: Katherine Webb
- 2011, Deutsche Erstausgabe, 542 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Katharina Volk
- Verlag: Diana
- ISBN-10: 3453355466
- ISBN-13: 9783453355460
- Erscheinungsdatum: 04.08.2011
Rezension zu „Das geheime Vermächtnis “
"'Das geheime Vermächtnis' von Katherine Webb macht süchtig."
Pressezitat
"Spannung und wohliger Grusel garantiert!" Frauenmagazin FREUNDIN
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