Das Geheimnis der fünf Frauen
Ein historischer Wien-Roman
Im November 1893 wird ein angesehener Wiener Bankier ermordet in seiner Bibliothek aufgefunden. Am Tatort stößt Inspektor Karl Winterbauer auf fünf seit ihrer Kindheit befreundete Frauen und ahnt bald, dass alle ein Geheimnis haben. Allmählich wird aus...
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Produktinformationen zu „Das Geheimnis der fünf Frauen “
Klappentext zu „Das Geheimnis der fünf Frauen “
Im November 1893 wird ein angesehener Wiener Bankier ermordet in seiner Bibliothek aufgefunden. Am Tatort stößt Inspektor Karl Winterbauer auf fünf seit ihrer Kindheit befreundete Frauen und ahnt bald, dass alle ein Geheimnis haben. Allmählich wird aus seinem Misstrauen Sympathie und er beginnt, an ihre Unschuld zu glauben. Da geschieht ein zweiter Mord - und wieder sind nur die fünf Frauen am Ort des Verbrechens. Das Leben des Inspektors treibt einem gefährlichen Strudel entgegen ...
Lese-Probe zu „Das Geheimnis der fünf Frauen “
Das Geheimnis der fünf Frauen - Ulrike LadnarSonntag, 26. November 1893
Der Mann lag auf dem Diwan in einem großen Bibliothekszimmer und schien zu schlafen. Er ruhte auf dem Rücken, die Arme entspannt neben dem Körper, die rechte Wange ganz leicht in ein purpurfarbenes Samtkissen geschmiegt. Die Brille war ihm auf die Nase heruntergerutscht und teilte mit ihren schweren Bügeln sein Gesicht. Auf dem Fußboden neben der Couch häuften sich Bücher, aus denen beschriebene Zettel herausschauten, was darauf schließen ließ, dass der Mann trotz seiner bequemen Haltung in den Büchern nicht nur gelesen, sondern auch mit ihnen gearbeitet hatte. Danach hatte er sich wohl einer Zeitung zugewandt, die jetzt ausgebreitet wie eine Zudecke auf seinem Bauch lag. Dass man über der Tageszeitung einschlafen konnte, konnte Karl Winterbauer gut verstehen. Doch der Mann schlief nicht, er war tot. Und deswegen war Inspektor Karl Winterbauer in dieses Haus gerufen worden. Und nicht auf die Bücher hätte er sein Augenmerk richten sollen, sondern auf den kleinen Revolver, der neben diesen Büchern lag, und nicht auf die Brille, sondern auf die kleine, kreisrunde rote Wunde, die an der Schläfe des Toten zu sehen war und von der aus ein dünnes rotes Rinnsal in das Purpurkissen gelaufen war. Wie immer an einem Tatort konzentrierte sich Winterbauer nach zufälligen Ersteindrücken zunächst völlig auf den Toten, als könne diese Konzentration dem Toten dazu verhelfen, ihm zu sagen, was ihm da zugestoßen sei, nicht durch Worte natürlich oder sonstige geheimnisvolle Medien – Mystisches war Karl Winterbauer nicht nur fremd, sondern sogar widerlich –, sondern dadurch, dass er ihn sah, wie er in seiner letzten Minute lebte und dann für immer verharrte. Wie eingefroren lagen die Opfer vor ihm, selbst wenn sie noch ganz warm waren wie der Tote hier,
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wie er durch eine leichte Berührung der Stirn festgestellt hatte, eingefroren in ihrer letzten Lebensminute, so, wie der letzte Mensch, den sie vor seinem Tod gesehen hatten, sie verlassen hatte, der Mensch, der ihr Mörder war, und, was entscheidender war, so, wie sie diesen Menschen gesehen hatten. Und dieses Sehen war oft wie ein letztes Fühlen, ein letztes Erkennen, es war voll Liebe oder Hass, Verwunderung oder Resignation. Dieser Tote sagte ihm nichts. Seine Augen waren geschlossen, seine Haltung entspannt und gelassen. War er also buchstäblich im Schlaf getötet worden, ohne noch im letzten Moment die Augen zu öffnen, um zu sehen, wer ihm diesen ungeheuren Schmerz zugefügt hatte? Hatte er nicht im Schlaf gehört, wie jemand die Tür zu seiner Bibliothek geöffnet hatte, sich seinem Diwan näherte, leise zwar, aber dennoch ganz gewiss schwer atmend? Hatte er nicht gespürt, wie jemand sich voll Hass über ihn gebeugt hatte, den Revolver an seine Schläfe gehalten und dann abgedrückt hatte? Hatte ihn der ungeheure Knall nicht zum Augenöffnen veranlasst, und auch nicht der ungeheure Schmerz, der dem Knall gefolgt war? Nach dem Versenken in das Gesicht des Toten versuchte Karl Winterbauer stets, die Atmosphäre der Todesstätte nicht nur aufzufangen, sondern sie geradezu aufzusaugen. Auch sie konnte ihm oft viel über den Toten erzählen. Er wandte den Blick von dem Gesicht des Mannes ab und schaute sich um. Alle vier Zimmerwände waren mit Bücherregalen bedeckt, auf einer Seite unterbrochen durch die Tür, durch die er eingetreten war, auf der gegenüberliegenden Wand durch ein großes Fenster, das einen Blick auf einen weiträumigen Garten mit vielen alten Bäumen eröffnete. Nur an wenigen baumelten noch einzelne braune Blätter an ihren vertrockneten Stielen. Obwohl Winterbauer sich sehr bemühte, gelang ihm die erforderliche Konzentration nicht. Er konnte sich einfach nicht länger gegen das Stimmengeräusch, das durch die nur angelehnte Tür aus dem großen Vorzimmer drang, abschirmen. Schließlich gestand er sich die Vergeblichkeit dieses Bemühens ein. So genau er den Toten betrachtete, so unaufmerksam hatte er zuvor, als er durch den Vorraum ging, die Menschengruppe, die dort stand, wahrgenommen, eine Menschengruppe, die nur aus Frauen bestand: aus weinenden und aufgeregt sprechenden Frauen, die in für Karl Winterbauer befremdlichen, formlosen bunten Kleidern steckten und denen er sich nur kurz vorgestellt hatte. Jetzt schob sich diese Gruppe entschlossen in das Zimmer, in dem der Tote lag, und eine der Frauen wandte sich in einem offensichtlich geschulten Befehlston an ihn: »Herr Inspektor, Sie brauchen uns hier doch nicht. Unsere Freundin muss sich jetzt zurückziehen, und wir werden sie in ihr Zimmer begleiten.« Karl Winterbauer wandte sich der Sprecherin unwillig zu: »Ja, tun Sie das. Aber bleiben Sie alle im Haus. Ich muss mit jeder von Ihnen sprechen.« Während sich drei von ihnen mit der weinenden Frau zurückzogen, erzwang die Wortführerin der Gruppe erneut seine Aufmerksamkeit: »Das wird nicht gehen. Ich werde das Haus verlassen. Ich muss eine Reise vorbereiten, die ich morgen früh antreten werde. Das duldet keinen Aufschub. Guten Tag, Herr Inspektor.« Sie wandte sich zum Gehen um und verließ das Zimmer. Winterbauer ging ihr nach und richtete erst jetzt seine ungeteilte Aufmerksamkeit auf die selbstsichere Frau, die sich da gerade von ihm verabschiedet hatte. Sie mochte Mitte oder Ende 30 sein wie auch die andern vier Frauen, die inzwischen bereits die breite Steintreppe hinaufstiegen, drei von ihnen sich liebevoll um die vierte, wahrscheinlich die Witwe des Toten, kümmernd. »Es tut mir leid«, sagte er verbindlich, »aber Sie werden sich schon die Zeit zu einer Unterredung nehmen müssen. Und diese Unterredung findet dann statt, wenn ich es für richtig halte.« Winterbauer wandte sich wieder der Tür zu, während er auf die seiner Ansicht nach unausweichliche Replik der selbstsicheren Frau wartete. Als sie nichts erwiderte, drehte er sich fast zufrieden noch einmal um, nur um sehen zu müssen, wie in ihrem Gesicht ein leichtes Lächeln auftauchte, dessen Ironie sie jetzt mit einem angedeuteten Knicks unterstützte, wobei sie scheinbar ergeben sagte: »Da werde ich mich wohl fügen müssen.« Wenn es nicht angesichts des Anlasses ihrer Unterredung völlig unangebracht wäre, würde er meinen, sie flirte mit ihm. Da ihm diese Vorstellung peinlich war, ließ er ihre zustimmende Antwort mit all ihren gestischen und mimischen Signalen unkommentiert und wandte sich wieder dem Tatort zu. Doch er musste feststellen, dass er sich nach diesem Zwischenfall noch weniger so konzentrieren konnte, wie es nötig war. Hoffentlich finden sie den Wiesinger bald, dachte er. Felix von Wiesinger war sein Assistent, und er hatte sich ihm in den letzten Monaten immer unverzichtbarer gemacht. Doch ihn außerhalb der Arbeit zu finden, war oft schwierig. Der junge Mann war sehr unternehmungslustig, ein Theater-, Musik- und Kunstfanatiker, ja, und auch ein Frauenfreund. Er konnte jetzt, am späten Sonntagnachmittag, überall sein: noch zu Hause, um sich für den Abend umzukleiden, oder schon in einem seiner zahlreichen Lieblingskaffeehäuser in der Inneren Stadt oder bei einem Heurigen, um mit einem oder zwei Achterln eines guten Weins und einem angeregten Gespräch seinen Sonntagabend einzuleiten. Natürlich konnte er auch – Winterbauer schaute auf die Uhr – gerade irgendwohin unterwegs sein, weil er zu einem Diner oder einem Ball eingeladen war. Da Winterbauer sich, ehrlich wie er war, eingestehen musste, dass die für ihn sonst so typische Konzentrationsfähigkeit heute versagte, beschloss er, sich jetzt doch den Frauen, die inzwischen irgendwo im ersten Stock sein mussten, zu widmen, als der Polizeiarzt eintraf. Es war Dr. Grünbein, ein äußerst gewissenhafter und genauer Fachmann, dem nichts entging. »Wer ist der Tote?«, fragte Dr. Grünbein. »Ich wollte es mir gerade so richtig gemütlich machen, als ich hierher gebeten worden bin.« »Ich auch«, seufzte Karl Winterbauer. »Aber das sind wir ja inzwischen schon gewohnt, nicht wahr? Mörder sind immer zu Zeiten tätig, in denen ihre Jäger sich auf Untätigkeit einstellen, naja, einstellen möchten. Also am Abend oder in der Nacht, noch bevorzugter an einem Sonntagabend oder in der Sonntagnacht. Wie selten geschieht doch eigentlich etwas an einem normalen Tag, während unserer regulären Dienstzeit!« »Ja«, stimmte Dr. Grünbein zu. »Unsere Klienten verbergen sich überwiegend im Dunkel der Nacht.« »Vielleicht sind das ja Reste moralischer Empfindungen, bei einem Verbrechen die Sonne zu scheuen. Gut, dass unsere normalen Dienstzeiten dem nicht Rechnung tragen, sonst müssten auch wir alle nachts arbeiten.« Dr. Grünbein betrachtete den Toten. »Dabei ist es heute sogar richtig früh, noch nicht einmal richtig Abend. Und der da«, er wies auf den Toten, »schien ja sogar noch in seinem Nachmittagsschlaf überrascht worden zu sein. Wer ist es?« »Es ist Franz von Sommerau. Er ist Dozent an der Universität oder Privatgelehrter, das muss man noch genauer bestimmen. Schriftsteller auch. Er scheint recht vermögend zu sein, seine Familie besitzt eine Bank in Wien mit etlichen Filialen, auch außerhalb von Wien, die, glaube ich, sein älterer Bruder leitet. Es gab da mal im letzten Jahrhundert eine Geschichte, da hat ein Vorfahre der Sommeraubankiers einem Neffen oder Cousin des Kaisers, das weiß ich nicht mehr so genau, mit viel Geld ausgeholfen, das hat ihnen Renommee eingebracht und auch das kleine von in ihrem Namen.« Dr. Grünbein lächelte: »Schade, dass unsereins nie den Lebenden, sondern immer nur den Toten hilft. Dafür wird uns nie das kleine von verliehen werden.« Karl Winterbauer stimmte dem Arzt zu: »Das stimmt. Und den Lebenden – denen tun wir doch sogar eher weh mit unseren Fragen, Anschuldigungen, Enthüllungen …« Winterbauer dachte an die weinenden Frauen, die er jetzt mit eben solchen schmerzenden Fragen in ihrer Trauer stören musste, und er wandte sich erneut der Tür zu: »Übrigens sind die Familienangehörigen hier im Haus der Ansicht, der Tote sei von eigener Hand gestorben. Sie haben den Familienarzt gerufen, der dann die hiesige Gendarmerie verständigt hat. Und die hat nach uns geschickt. Es gebe da einen Toten, vermutlich Selbstmord, aber wir sollten sicherheitshalber herkommen.« »Selbstmord war das nicht«, sagte der Arzt, und Karl Winterbauer nickte zustimmend. »Da bin ich mir auch sicher, da läg’ er nicht so schön da, so ruhig und präsentiert wie eine Theaterleiche. Und außerdem: Schauen Sie sich den kleinen Revolver mit dem glänzenden Schaft an. Keinerlei Fingerabdruck, sondern sauber poliert. Da hat jemand bereits einmal etwas von Daktyloskopie gehört, obwohl wir die Methode ja noch gar nicht anwenden. Jetzt muss ich den Frauen draußen beziehungsweise droben erst irgendwie beibringen, dass es sich nicht um Selbstmord handelt. Und das wird sie vollends durcheinanderbringen.« »Frauen?« »Ja, nur Frauen, ich weiß noch nicht, ob es Schwestern, Schwägerinnen, Cousinen oder wer auch immer sind, auch eine Gattin, denke ich.« Dr. Grünbein nickte mitfühlend. »Na ja, vielleicht ist für eine von ihnen die Überraschung nicht gar so groß. Sehen Sie«, er deutete auf den kleinen Revolver, »das ist doch ein ziemlich zierliches und damenfreundliches Ding.« Das kurze Gespräch mit dem erfahrenen Polizeiarzt hatte Karl Winterbauer gut getan, doch als er sich entspannter als vorhin der Bibliothekstür näherte und sie öffnete, hatte er das seltsame Gefühl eines Déjà-vu. Wieder standen Frauen weinend in der Eingangshalle, wieder fünf an der Zahl. Nur waren diese fünf Frauen sehr jung. Drei Mädchen, von denen eines heftig weinte, standen am Fuß der Treppe, und zwei andere verharrten unschlüssig und schweigend in der Mitte der Halle und schienen darauf zu warten, dass jemand ihnen sagte, was zu tun sei. Diese beiden waren offensichtlich Dienstmädchen, die von einem Ausgang zurückgekehrt waren. Es half nichts. Obwohl die Situation tragisch war, fühlte Karl Winterbauer sich wie in der Szenerie einer Gesellschaftskomödie, und er wusste, dass es an ihm lag, jetzt die Regie zu übernehmen. »Sie scheinen ja alle bereits zu wissen, was passiert ist«, wandte er sich an die jungen Frauen. »Herr von Sommerau ist tot. Er liegt in der Bibliothek, wo ein Polizeiarzt ihn untersucht. Die Damen sind oben. Und ich, ich bin Inspektor Winterbauer und muss mit Ihnen allen sprechen. Gehen Sie also bitte in Ihre Räume und warten Sie darauf, dass ich Sie rufe.« Winterbauer sah sich etwas ratlos um, während die jungen Frauen langsam das riesige Vorzimmer, eine Halle fast, verließen. Von dem großen, etwas dunklen Raum gingen an den Seiten etliche Türen ab, während sich gegenüber der Eingangstür eine große breite Steintreppe nach oben wand. Dort befanden sich wahrscheinlich die privaten Räume der Familie, hier unten waren außer der Bibliothek, in der der Tote lag, wahrscheinlich wie üblich nur Besuchs- und andere Gesellschaftsräume zu erwarten. Einen dieser Räume musste er wohl als Besprechungszimmer wählen. Doch welchen? Er wollte eine der Türen öffnen, als ein älterer Mann in einer schlichten grauen Livree die Halle betrat. Er musterte Winterbauer mit einem strengen, Auskunft heischenden Blick. »Ich bin Inspektor Winterbauer«, sagte Karl Winterbauer zum dritten Mal, und wieder hatte er das Gefühl, in einer Komödie aufzutreten. Dort hätte er allerdings spätestens jetzt, also bei der dritten Wiederholung derselben Äußerung, Lacher geerntet. »Und wer sind Sie?« »Ich bin Jean. Ich bin hier im Hause der Diener, der persönliche Diener von Herrn von Sommerau.« »Dann muss ich Ihnen eine traurige Mitteilung machen. Herr von Sommerau ist leider tot. Er liegt in der Bibliothek. Der Polizeiarzt untersucht ihn gerade. Und ich untersuche die Umstände seines Todes.« »Der gute Herr«, sagte der ältere Mann traurig, »was ist da nur passiert? Wenn Sie da sind, dann war es wohl kein … natürlicher Todesfall, nicht wahr?« »Da haben Sie recht. Und jetzt wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir einen Raum zuweisen könnten, in dem ich meine Gespräche mit den Hausbewohnern und den Besuchern führen kann. Besser den Hausbewohnerinnen und Besucherinnen. Denn ich habe hier, bis Sie gekommen sind, nur Frauen gesehen.« »Ja«, nickte Jean. »Die gnädige Frau hat heute den Besuch ihrer Freundinnen. Sie kommen immer am vierten Sonntag im Monat hier zusammen. Und wir haben dann alle frei. Sie müssen wissen, dass die gnädige Frau recht unkonventionell ist. Der gute Herr von Sommerau auch. Unser Haushalt ist nicht, wie soll ich sagen, typisch. Aber die Mädchen müssten doch schon hier sein? Es ist ja bereits nach fünf Uhr, und das Abendessen muss gerichtet werden, wo doch heute auch die Köchin nicht da ist.« »Ja, die Mädchen sind hier. Aber könnten Sie mir, bevor Sie Ihren häuslichen Angelegenheiten nachgehen, schnell den benötigten Raum zuweisen?« Der Diener öffnete zuvorkommend eine Tür links von der Bibliothek. »Das könnte für Ihre Zwecke geeignet sein, Herr Inspektor. Es ist unser Besuchszimmer.« Winterbauer warf einen Blick in den kleinen Raum und nickte: »Wunderbar, vielen Dank. Ich warte übrigens noch auf meinen Assistenten, Herrn von Wiesinger. Könnten Sie ihn bitte sofort zu mir führen, wenn er eintrifft?« Felix von Wiesinger war seit drei Monaten der Assistent des Inspektors. Nach anfänglichen Irritationen klappte die Zusammenarbeit zwischen dem erfahrenen und misstrauischen Inspektor und dem jungen und vertrauensvollen Mann, der allen Mitmenschen positiv gegenübertrat, erstaunlich gut. Zwar reagierten sie fast immer gegensätzlich auf einen Impuls von außen, doch die Regelmäßigkeit, mit der diese konträren Reaktionen fast vorhersehbar und berechenbar erfolgten, weckte in beiden Männern häufig eine Eigenschaft, die sie teilten: einen feinen Sinn für Humor. So schlug inzwischen die ursprüngliche gegenseitige Befremdung oft in gemeinsames Lachen um. Schon bei ihrer ersten Begegnung entwaffnete von Wiesinger den Inspektor mit einer für ihn typischen offenen Aussage: »Sie haben als erfahrener Kriminalist gewiss Erkundigungen über mich eingezogen«, sagte er damals, »und dabei einige Tatsachen in Erfahrung gebracht, die Ihnen wenig gefallen haben.« Winterbauer nickte leicht. »Dass ich ein Flaneur* bin, ein verwöhnter junger Herr«, Winterbauer wiederholte sein Nicken, »dass mein Wunsch, hier zu arbeiten, allgemein als einer meiner vielen Spleens gilt, dass ich leichtsinnig bin …« Winterbauer unterbrach von Wiesinger: »Stimmt alles. Ich habe aber auch gehört, dass Sie ein leidenschaftlicher Jurist mit hervorragendem Examen sind und dass Sie auch als Referendar überall günstigste Beurteilungen erhalten haben. Und dass Ihr Herr Vater alles versucht hat, um Sie für andere Tätigkeitsfelder zu motivieren.« Diesmal war es von Wiesinger, der schweigend seine Zustimmung signalisierte. Dann sagte er entschlossen: »Ich will ganz offen sein. Ich weiß selbst noch nicht genau, was ich einmal tun möchte. Natürlich ist es interessant, als Richter oder Rechtsanwalt zu arbeiten. Aber ich liebe auch unser Gut östlich von Wien, wo ich aufgewachsen bin, und könnte mir vorstellen, meinen Vater bei der Verwaltung zu unterstützen. Oder ich gehe einmal in die Politik. Sie haben ja bestimmt herausgefunden, dass ich da auch etwas, wie soll ich sagen, ungewöhnliche Präferenzen habe?« »Ja«, gab Winterbauer zu. »Sie sind Anhänger der Sozialdemokratie. Erstaunlich.« * Flaneur: alles beobachtender Spaziergänger in der Stadt; typische literarische Figur der Zeit »Oder naiv und unreif, wie mein Vater meint.« »Weswegen aber sind Sie nun wirklich hierher gekommen? « »Leider kann ich das nicht so präzise fassen. Aber es hat etwas mit Begriffen zu tun.« »Mit Begriffen?« »Ja. Ich habe während meiner Ausbildung sehr viele Begriffe zu definieren gelernt, die mir merkwürdig abstrakt geblieben sind. Heimtücke. Niedere Beweggründe. Habsucht und so weiter. Ich kann zu Begriffen Oberbegriffe finden und Unterbegriffe. Ich kann kategorisieren und subsumieren. Ich kann über jeden Begriff einen Artikel schreiben, wenn ich will. Aber ich kann … entschuldigen Sie, wenn das so ungenau klingt, ich kann die Begriffe nicht fühlen. Verzeihung, das war jetzt nicht nur ungenau, sondern geradezu absurd. Begriffe sollen ja definiert und eben nicht erfühlt werden. Ich versuche es noch einmal: Ich kann kein guter Jurist sein, aber auch kein guter Politiker oder gnädiger Herr, wie unsere Knechte und Mägde auf dem Gut sagen würden, wenn ich nicht verstehen kann, was hinter Begriffen steckt. Ganz banal gesagt: Ich kann mir bei aller juristischen Erfahrung und auch als regelmäßiger Theater- und Opernbesucher, und da geht es ja meist um leidenschaftliche Taten, Mord und Totschlag gibt es ja zuhauf in jeder Oper, nicht vorstellen, warum beispielsweise jemand jemanden umbringt. Das heißt, ich kann es allenfalls theoretisch nachvollziehen.« »Und als Referendar? Bei Gericht?« »Auch nicht. Das war, wie soll ich sagen, nicht … zeitnah genug. Da war alles Unmittelbare schon vorbei. Alle Beteiligten, Verdächtige und Zeugen, waren schon zu oft zu allem befragt worden und warteten mit fertigen und schlüssigen Erzählungen auf. Ich meine, ich muss mich dem allem direkter stellen. Muss die Menschen kurz nach ihren Taten sehen, muss unmittelbar wahrnehmen können, wie sie leben, wie sie miteinander umgehen, wie sie auf eine Tat reagieren. Vielleicht erhalten dann die Begriffe auch einen umfassenderen Inhalt für mich, einen, der über die Definition hinausweist.« Winterbauer nickte. »Und warum«, fragte er, »sind Sie ausgerechnet bei mir?« Von Wiesinger lächelte: »Sie sind nicht der Einzige, der Erkundigungen angestellt hat. Ich habe das auch getan. Und Sie gelten nun einmal als derjenige, der die höchste Aufklärungsquote hat. Und warum ich dann auch wirklich wie gewünscht bei Ihnen gelandet bin? Leider spielen Beziehungen bei uns in Wien immer noch eine sehr große Rolle, in diesem Fall aber glücklicherweise.« »Aber Sie müssen doch auch gehört haben, dass ich kein sehr bequemer Vorgesetzter bin?« Von Wiesinger überging diese Bemerkung und stellte einige formale Fragen nach den konkreten Erwartungen, die Winterbauer an ihn stellen würde. Diese Erwartungen waren, wie von Wiesinger inzwischen wusste, immens. Um sie auch nur annähernd zu erfüllen, musste er seine Gewohnheiten grundlegend ändern. Er musste seinen Dienst früh antreten und häufig länger bleiben, als er es geplant hatte. Die Täter nahmen nun einmal beim Begehen ihrer Taten keine Rücksicht auf die Freizeitpläne der ermittelnden Beamten. Er musste sich an das schnelle Burenhäutl* oder die Leberkässemmel vom Würstelstand gewöhnen, das war leicht, und an den * Burenwurst: gekochte, sehr grobe, dicke Wurst schlechten Kaffee im Büro, das war schon schwerer. Am lästigsten aber war die Langeweile während der Dienstzeit im Büro, wenn man sich der Herrschaft der Akten unterordnen musste. Niederschriften anfertigen, ausführliche Protokolle über Einvernahmen verfassen, bei denen nichts herauskam, Berichte der Ärzte oder Techniker lesen und ablegen. Nichts vergessen. Außendienst war da schon etwas erfreulicher, aber auch weniger spannend, als von Wiesinger sich das vorgestellt hatte. Zeitaufwändige Beobachtungen und Beschattungen. Ergebnisarme und langwierige Befragungen von Personen aus dem näheren und ferneren Umfeld eines Opfers, die eventuell etwas über das Opfer, vielleicht auch über den Täter wissen konnten. Doch im Ganzen bereute von Wiesinger seine Entscheidung, bei Inspektor Winterbauer zu arbeiten, nicht. Seinen Vorgesetzten lernte er immer mehr zu schätzen und er kam einigen Gründen von dessen hoher Aufklärungsquote auf die Spur: Neben dessen hoher Intelligenz erkannte er auch den Wert von auf den ersten Blick weniger bedeutenden Fähigkeiten wie den eines guten Gedächtnisses und eines immensen Fleißes. Was immer noch befremdend auf ihn wirkte, waren Winterbauers offen gezeigtes Misstrauen und seine latente Menschenfeindlichkeit. Genau so bestürzte jedoch Winterbauer das grundsätzliche Vertrauen in die Integrität seiner Mitmenschen, das seinen Assistenten auszeichnete. Diese Gegensätzlichkeit besprachen die beiden Männer häufig. »Dass so viele Fälle aufgeklärt werden, erklärt sich nur dadurch, dass ich mich nicht um den Finger wickeln lasse«, konstatierte Winterbauer gerne. Von Wiesinger konterte dann: »Sie lösen Ihre Fälle nicht wegen, sondern trotz Ihres Misstrauens.« Winterbauer dachte häufig über die Meinung seines Assistenten nach, vor allem, wenn er beobachtete, wie dieser Ermittlungsgespräche führte. Die befragten Personen beantworteten nämlich nicht nur von Wiesingers immer harmlos klingende Fragen, sondern sie schienen auch bereitwillig Zusatzinformationen zu geben und auf Fragen einzugehen, die nicht gestellt wurden. Statt des strengen Frage-Antwort-Rituals von Winterbauers Verhören schien von Wiesinger fast eine Art Small Talk zu führen. Auch zu Personen, die nicht aus seinem eigenen gesellschaftlichen Kreis stammten, fand er spontan Zugang. Winterbauer hielt seinen Assistenten schon längst nicht mehr für ein verwöhntes Bürschchen, das seine seltsamen Spleens auslebte. Er hatte inzwischen Freude an ihren Diskussionen, an den scherzhaften Querelen genauso wie an den ernsthaften Auseinandersetzungen. Er hatte sich an das umsichtige Agieren seines Assistenten gewöhnt. An seine präzisen Akteneinträge. Und vor allem daran, wie von Wiesinger bei Fällen in sozial höhergestellten Gesellschaftsschichten aufgrund seiner Herkunft und Erziehung stets automatisch den richtigen Ton traf, sodass seine eigene gesellschaftliche Unbeholfenheit, die er hinter seiner Unnahbarkeit versteckte, nicht auffiel. Deswegen wünschte er sich seinen Assistenten dringend herbei, als er über die breiten Steintreppen hinauf in den ersten Stock ging. Denn wenn es etwas gab, wobei er seine Unsicherheit in der feinen Gesellschaft besonders deutlich und schmerzlich spürte, dann war es, wenn es sich um sogenannte feine Damen handelte. Und solche saßen jetzt in einer malerischen Gruppe wie in einem Kaffeehaus auf schlichten Thonetstühlen Nr. 14 um einen ovalen Tisch herum in der linken Hälfte eines kleinen Salons, obwohl sie in der anderen Raumhälfte auf einer Chaiselongue und auf mit vielen Polstern beladenen Sesseln bequemer hätten Platz nehmen und sich mit ihrem Kummer in die Kissen lehnen können. Doch offensichtlich war es ihnen wichtig, ihre wie auf einer Theaterbühne inszenierte Haltung nicht zu verlieren, denn sie saßen aufrecht auf den schlichten Stühlen und berührten mit ihren Rücken die beiden gebogenen Buchenholzrundstäbe der Lehne nicht. Sie wirkten so, als hätten sie bereits alles Erforderliche besprochen. Sie schwiegen in intimer Vertrautheit. Sie trugen noch immer ihre seltsamen Kleider, einfache Hängekleider, die statt in der Taille unter dem Busen zusammengefasst waren und dann locker nach unten fielen. Ähnliches hatte Winterbauer auf Biedermeierbildern im Museum gesehen, doch dort waren die Kleider der dargestellten jungen Damen hell und dünn und verführerisch weit ausgeschnitten und hatten weite Ärmel aus Spitzen oder Ähnlichem, während die Stoffe der hier getragenen Kleider dunkler waren, lila, purpurrot, braun, blau und grün, und die Körper ihrer Trägerinnen schmucklos umhüllten. Winterbauer war schon vorhin irritiert von diesen Kleidern gewesen, doch darüber nachzudenken, war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Die Dame, die bereits unten im Vorraum und in der Bibliothek das Wort ergriffen hatte, sprach bei seinem Eintritt als Erste. »Ich nehme an, dass Sie wissen wollen, wer wir alle sind. Das werde ich Ihnen jetzt sagen, und dann erlauben Sie unserer armen Freundin, sich in ihr Schlafzimmer zurückzuziehen.« »Vielen Dank, dass Sie mir sagen, wie ich vorzugehen habe, gnädige Frau«, entgegnete Winterbauer so streng wie ironisch und wandte sich dann der Frau im dunkelgrünen Kleid zu, derjenigen, die vorhin von den übrigen getröstet wurde, also wohl die nächste Angehörige des Toten war. Sie blickte auf und schaute den Inspektor offen an: »Ich bin Helene Weinberg. Und der Tote dort unten, das ist mein Bruder, Franz von Sommerau.« »Mein Beileid«, sagte Winterbauer überrascht, hatte er doch die gnädige Frau, wie der Diener sagte, für die Gattin des Toten gehalten. »Selbstverständlich werden wir uns Ihren Anordnungen fügen, Herr Inspektor. Obwohl ich nicht weiß, warum Sie für den Selbstmord meines Bruders mit so einem großen Stab bei uns anrücken.« Sie hatte also trotz ihrer Trauer vorhin im Vorzimmer gesehen, wie weitere Mitglieder seiner Dienststelle und Helfer des Polizeiarztes in das Haus gekommen und dann in der Bibliothek verschwunden waren. »Obwohl auch Ihr großer Stab nicht herausfinden wird, warum er das getan hat. Denn ich kannte meinen Bruder wirklich gut, sehr gut, und ich versichere Ihnen, dass kein Grund vorstellbar ist, der ihn zu diesem Schritt veranlasst haben könnte.« »Leider muss ich Ihnen sagen, dass Ihr Bruder das Opfer eines Mordes geworden ist.« Jetzt geriet die Gruppe in Bewegung. Die Frauen beugten sich leicht über den Tisch und breiteten ihre Arme ein wenig darüber aus, sodass sie sich berührten. »Aber das ist doch genauso absurd.« Helene Weinberg blickte ihre Freundinnen an, die in ihre Richtung zustimmend nickten und in die seine den Kopf schüttelten. »Sie werden verstehen, dass ich mit Ihnen allen sprechen muss, und zwar mit jeder einzeln. Schließlich ist die Tat erfolgt, während Sie hier im Haus waren.« Die Frau im braunen Kleid sagte eher überrascht als erschrocken: »Sie denken deswegen doch nicht, dass eine von uns etwas damit zu tun hat?« »Noch weiß ich gar nichts von Herrn von Sommerau und von Ihnen. Und bevor ich nichts weiß, kann ich nichts denken. Im Übrigen greife ich jetzt den Vorschlag Ihrer Freundin auf und bitte zunächst Frau Weinberg, in ein paar Minuten zu mir hinunter in das Besuchszimmer zu kommen. Vorher müsste ich noch zu den jungen Damen gehen.« Helene Weinberg nickte und erklärte ihm, dass es sich bei den jungen Damen um ihre Nichte Klara und zwei ihrer Schulfreundinnen handle und dass er sie einen Stock höher in Klaras Zimmer direkt über ihrem kleinen Salon finden könnte. Noch einmal versuchte die überaus selbstsichere Dame in Purpurrot den von ihm vorgesehenen Ablauf seiner Untersuchungen zu verändern: »Es wäre besser, wenn Sie zuerst mit mir und dann mit den andern sprächen. Und erst morgen mit Frau Weinberg. Sie ist dem jetzt nicht gewachsen.« »Den Eindruck habe ich durchaus nicht, gnädige Frau«. Auch Helene Weinberg schüttelte den Kopf.
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Autoren-Porträt von Ulrike Ladnar
Ulrike Ladnar wurde in Baden bei Wien geboren und wuchs in Baden-Württemberg auf. Sie arbeitete als Gymnasiallehrerin, Lehrerausbilderin und Schulbuchautorin in Frankfurt am Main. Jetzt, in Pension, hat sie Zeit für viel Neues. Zum Beispiel für das Schreiben Historischer Kriminalromane.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ulrike Ladnar
- 2015, 2. Aufl., 470 Seiten, Maße: 12 x 20,1 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Gmeiner-Verlag
- ISBN-10: 3839216508
- ISBN-13: 9783839216507
- Erscheinungsdatum: 02.03.2015
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