Das Geheimnis der Schwestern
Roman. Deutsche Erstausgabe
Der frühe Tod der Mutter hat die Schwestern Winona, Aurora und Vivi Ann eng zusammengeschweißt. Doch schon immer hat Winona ihre jüngste Schwester beneidet: um ihre Schönheit und die Liebe des Vaters, um dessen Anerkennung sie selbst vergeblich ringt. Als...
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Produktinformationen zu „Das Geheimnis der Schwestern “
Klappentext zu „Das Geheimnis der Schwestern “
Der frühe Tod der Mutter hat die Schwestern Winona, Aurora und Vivi Ann eng zusammengeschweißt. Doch schon immer hat Winona ihre jüngste Schwester beneidet: um ihre Schönheit und die Liebe des Vaters, um dessen Anerkennung sie selbst vergeblich ringt. Als die unbekümmerte Vivi Ann ausgerechnet Winonas großer Liebe Luke den Kopf verdreht, ist die ältere Schwester außer sich vor Schmerz und Eifersucht. Sie greift zu märgsten Mittel: Verrat. Jahre später führt ein Schicksalsschlag die Schwestern wieder zusammen ...Lese-Probe zu „Das Geheimnis der Schwestern “
Das Geheimnis der Schwestern von Kristin HannahProlog
1979
Die fünfzehnjährige Winona Grey starrte hinaus auf die Ranch am Hood Canal, die seit vier Generationen im Besitz ihrer Familie war, und suchte nach Hinweisen für Veränderungen. Große Verluste sollten Spuren hinterlassen - Gras sollte verdorren, dunkle Wolken sich zusammenziehen oder ein Baum von einem Blitz gespalten werden. Irgendetwas sollte ein Zeichen setzen.
Vom Fenster ihres Zimmers aus konnte sie einen Großteil des Weidelandes überblicken. An der hinteren Grenze ihres Besitzes standen mehrere Gruppen riesiger Zedern, deren filigranes Geäst sich zur Erde neigte; auf den sanft geschwungenen Weiden trabten Pferde an den Koppelzäunen entlang und trampelten das grüne Gras in den schlammigen Boden. Im Wäldchen auf dem Hügel verbarg sich das kleine Cottage, das ihr Urgroßvater bei der Urbarmachung des Landes gebaut hatte.
Alles wirkte ganz normal, aber Winona wusste es besser. Ein paar Jahre zuvor war nicht weit entfernt ein Kind im eisigen Wasser des Hood Canal ertrunken, und monatelang war in der gesamten Region der Washington Coast nur davon die Rede gewesen. Ihre Mutter hatte sich mit Winona hingesetzt und sie vor den heimtückischen, unsichtbaren Unterströmungen gewarnt, die einen selbst in flachem Wasser hinunterziehen konnten, aber jetzt wusste sie, dass unter der Oberfläche des ganz normalen Lebens andere Gefahren lauerten.
... mehr
Sie wandte sich vom Fenster ab und ging hinunter. Seit dem Vortag kam ihr das Haus zu groß und zu still vor. Ihre Schwester Aurora kauerte auf dem blau-gelb karierten Sofa und las. Sie war vierzehn, spindeldürr und knochig, und befand sich in dem heiklen Stadium zwischen Kindheit und Erwachsensein. Sie hatte ein kleines, spitzes Kinn und glatte dunkelbraune Haare, die sie lang und mit einem Mittelscheitel trug.
»Du bist früh wach, Sprout«, bemerkte Winona.
Aurora sah auf. »Ich konnte nicht schlafen.«
»Ja, ich auch nicht.«
»Vivi Ann ist in der Küche. Vor ein paar Minuten habe ich sie weinen hören, aber ...« Aurora zuckte mit den mageren Schultern. »Ich weiß nicht, was ich ihr sagen soll.«
Aurora hatte ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Ruhe und Frieden. Das wusste Winona, sie war die Streitschlichterin der Familie, die immer versuchte, Harmonie herzustellen und alles in Ordnung zu bringen. Kein Wunder, dass sie so verletzlich wirkte. Jetzt konnte sie niemanden mit schönen Worten trösten. »Ich seh mal nach ihr«, erklärte Winona.
Ihre zwölfjährige Schwester saß an dem gelben Resopaltisch und sah sich ein Bild an.
»Hey, Bean«, sagte Winona und wuschelte ihr durchs Haar.
»Hey, Pea.«
»Was machst du da?«
»Ich male ein Bild von uns dreien.« Sie hielt inne und blickte zu ihr auf. Ihr langes weizenblondes Haar war zerzaust und ihre grünen Augen vom Weinen gerötet. Trotzdem wirkte sie makellos schön wie ein Porzellanpüppchen. »Mom kann das doch vom Himmel aus sehen, oder?«
Winona wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Früher war ihr der Glaube so natürlich und selbstverständlich vorgekommen wie das Atmen, aber das war vorbei. Der Krebs hatte ihre Familie heimgesucht und in so viele Teile gespalten, dass es unmöglich schien, jemals wieder eine Einheit zu werden. »Natürlich«, antwortete sie dumpf. »Wir hängen es an den Kühlschrank.«
Sie wandte sich zum Gehen, merkte aber augenblicklich, dass das ein Fehler war. Denn alles in der Küche erinnerte sie an ihre Mutter - die blaugelben Baumwollvorhänge, der Mountain-Mama-Magnet an der Kühlschranktür, die Schale mit den Muscheln auf dem Fensterbrett. Komm schon, Winnie, gehen wir auf Schatzsuche zum Strand ...
Wie oft hatte Winona in diesem Sommer ihre Mutter vertröstet? Sie hatte keine Zeit gehabt, um etwas mit ihr zu unternehmen, war auch zu cool gewesen, um den Strand nach schönen, glatten Scherben zwischen den zerbrochenen Austernschalen und dem trocknenden Seetang abzusuchen.
Dieser Gedanke trieb sie zum Gefrierschrank. Sie zog die Tür auf und entdeckte einen riesigen Becher Eis. Das würde ihr jetzt auch nicht helfen, trotzdem konnte sie nicht widerstehen.
Sie holte sich einen Löffel, lehnte sich gegen die Küchentheke und fing an zu essen. Durch das Fenster konnte sie die Schottereinfahrt vor dem Farmhaus und den schwedenroten baufälligen Offenstall auf der Lichtung sehen. Dort oben schob sich der blaue verbeulte Truck ihres Dads rückwärts an ihren rostigen Pferdetrailer. Dann stieg ihr Vater aus und ging zur Anhängerkupplung.
»Jetzt sag nicht, er will zum Rodeo«, murmelte Winona.
»Natürlich«, erwiderte Vivi Ann und malte weiter an ihrem Bild. »Er ist schon ganz früh aufgestanden, um alles vorzubereiten. «
»Er will zum Rodeo? Das soll wohl ein Witz sein!«, bemerkte Aurora, die in die Küche gekommen war und sich zu Winona ans Fenster gesellte. »Aber ... wie kann er nur?«
Winona wusste, sie sollte jetzt die Rolle ihrer Mutter übernehmen und erklären, warum es in Ordnung war, dass ihr
Dad schon einen Tag nach der Beerdigung seiner Frau weitermachte wie bisher. Aber eine derartige Lüge brachte sie nicht über die Lippen, nicht mal, um ihren Schwestern Schmerz zu ersparen. Vielleicht war es ja gar keine Lüge - vielleicht verhielten sich Erwachsene so, vielleicht machten sie einfach weiter - aber die Vorstellung war noch furchterregender und noch schwerer auszusprechen. Das darauf folgende Schweigen setzte Winona zu; sie wusste nicht, was sie sagen, wie sie es erträglicher machen sollte, dabei war doch genau das ihre Aufgabe. Als Älteste sollte sie sich um ihre Geschwister kümmern.
»Warum holt er denn Clem von der Weide?«, fragte Aurora, nahm Winona den Löffel aus der Hand und bediente sich an der Eiscreme.
Vivi Ann gab einen Laut von sich, der halb Schluchzen, halb Schrei war, stürzte zur Tür und riss sie so heftig auf, dass sie gegen die Wand schlug.
»Er verkauft Moms Pferd«, stieß Winona hervor. Sie war wütend, dass sie das nicht vorausgesehen hatte.
»Das kann er doch nicht machen«, entrüstete sich Aurora und sah Winona um Bestätigung heischend an. »Oder?«
Winona konnte ihr nicht geben, was sie suchte. Stattdessen rannte sie Vivi Ann nach. Als sie den Rangierplatz am Stall erreichte, kam sie außer Atem neben Vivi Ann zum Stehen.
Da war ihr Vater und hielt Clem an der Longe. Die Sonne schien auf seinen speckigen Cowboyhut und wurde von der handtellergroßen silbernen Gürtelschnalle reflektiert. Sein markantes Gesicht erinnerte sie an die hiesigen Berge: Flächen aus Granit und schattige Klüfte. Hart und schroff.
»Du darfst Moms Pferd nicht verkaufen«, sagte sie keuchend.
»Willst du mir sagen, was ich darf und was nicht, Winona? «, gab er zurück, und sein Blick blieb kurz an dem Eisbecher haften.
Winona spürte, wie sie rot wurde. Sie musste all ihren Mut zusammennehmen, um ihm zu widersprechen, aber es blieb ihr keine Wahl. Sonst war kein anderer mehr da. »Sie liebt ... sie hat dieses Pferd geliebt.«
»Wir haben kein Geld für ein Pferd, das nicht geritten wird.«
»Ich werde es reiten«, erklärte Winona.
»Du?«
»Ich strenge mich noch mehr an. Ich werde meine Angst überwinden.«
»Haben wir überhaupt einen Sattel in deiner Größe?«
Peinliche Stille folgte darauf, so dass Winona vorstürzte und ihrem Vater die Longe entriss. Aber sie bewegte sich zu schnell oder zu ruckartig - Clementine jedenfalls scheute und scherte zur Seite aus. Winona spürte, wie das Seil brennend in ihre Handfläche schnitt, und verlor fast das Gleichgewicht.
Da war Vivi Ann plötzlich neben ihr und brachte Clementine mit einem Wort und einer Berührung unter Kontrolle. »Alles in Ordnung?«, flüsterte sie Winona zu, als das Pferd wieder ruhig war.
Winona aber schämte sich so, dass sie kein Wort herausbrachte. Sie spürte, dass ihr Vater auf sie zukam, hörte, wie seine Cowboystiefel sich in den Schlamm gruben. Langsam drehten sich Vivi Ann und sie zu ihm um.
»Du hast kein Gespür für Pferde, Winona«, sagte er. Das hatte sie schon ihr ganzes Leben von ihm gehört. Für einen Cowboy gab es keine vernichtendere Bemerkung.
»Ich weiß, aber -«
Er hörte ihr gar nicht zu, sondern sah nur Vivi Ann an. Irgendetwas schien zwischen ihnen vorzugehen, als würde eine Botschaft übermittelt werden, die Winona nicht verstand. »Sie ist ein lebhaftes Tier und noch jung. Damit kann nicht jeder umgehen«, bemerkte ihr Vater.
»Ich aber schon«, erwiderte Vivi Ann.
Das stimmte, und Winona wusste es. Trotz ihrer zwölf Jahre war Vivi Ann furchtloser und tapferer, als Winona je sein würde.
Plötzlich erfasste Winona Neid. Sie wusste, das war falsch
- sogar gemein -, aber sie wollte, dass ihr Vater Vivi Ann missachtete, dass er seine schönste Tochter mit seiner ganzen Missbilligung strafte. Doch er erklärte: »Deine Mama wäre stolz auf dich«, und übergab Vivi Ann die zerschlissene blaue Longe.
Wie aus der Ferne sah Winona sie gemeinsam weggehen. Sie redete sich ein, dass es ihr nichts ausmachte, Hauptsache, Clem würde nicht verkauft, aber das tröstete sie kaum.
Dann hörte sie, wie Aurora, nun, da das Drama vorbei war, den Hügel heraufkam und sich zu ihr gesellte. »Alles klar?«
»Ja, alles klar.«
»Hauptsache, Clem wird nicht verkauft.«
»Genau«, sagte Winona und wünschte, es wäre wahr. »Was kümmert es mich, wer das Pferd reitet?«
»So ist es.«
Aber als Winona Jahre später auf die Zeit unmittelbar
nach dem Tod ihrer Mutter zurückblickte, erkannte sie, wie eine einzige Handlung - die Übergabe einer Longe - alles verändert hatte. Von da an war Eifersucht ein ständiger stummer, aber gefährlicher Begleiter ihres Lebens. Doch niemand konnte sie sehen. Zumindest damals nicht.
Copyright © by Ullstein TB (Verlag)
Sie wandte sich vom Fenster ab und ging hinunter. Seit dem Vortag kam ihr das Haus zu groß und zu still vor. Ihre Schwester Aurora kauerte auf dem blau-gelb karierten Sofa und las. Sie war vierzehn, spindeldürr und knochig, und befand sich in dem heiklen Stadium zwischen Kindheit und Erwachsensein. Sie hatte ein kleines, spitzes Kinn und glatte dunkelbraune Haare, die sie lang und mit einem Mittelscheitel trug.
»Du bist früh wach, Sprout«, bemerkte Winona.
Aurora sah auf. »Ich konnte nicht schlafen.«
»Ja, ich auch nicht.«
»Vivi Ann ist in der Küche. Vor ein paar Minuten habe ich sie weinen hören, aber ...« Aurora zuckte mit den mageren Schultern. »Ich weiß nicht, was ich ihr sagen soll.«
Aurora hatte ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Ruhe und Frieden. Das wusste Winona, sie war die Streitschlichterin der Familie, die immer versuchte, Harmonie herzustellen und alles in Ordnung zu bringen. Kein Wunder, dass sie so verletzlich wirkte. Jetzt konnte sie niemanden mit schönen Worten trösten. »Ich seh mal nach ihr«, erklärte Winona.
Ihre zwölfjährige Schwester saß an dem gelben Resopaltisch und sah sich ein Bild an.
»Hey, Bean«, sagte Winona und wuschelte ihr durchs Haar.
»Hey, Pea.«
»Was machst du da?«
»Ich male ein Bild von uns dreien.« Sie hielt inne und blickte zu ihr auf. Ihr langes weizenblondes Haar war zerzaust und ihre grünen Augen vom Weinen gerötet. Trotzdem wirkte sie makellos schön wie ein Porzellanpüppchen. »Mom kann das doch vom Himmel aus sehen, oder?«
Winona wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Früher war ihr der Glaube so natürlich und selbstverständlich vorgekommen wie das Atmen, aber das war vorbei. Der Krebs hatte ihre Familie heimgesucht und in so viele Teile gespalten, dass es unmöglich schien, jemals wieder eine Einheit zu werden. »Natürlich«, antwortete sie dumpf. »Wir hängen es an den Kühlschrank.«
Sie wandte sich zum Gehen, merkte aber augenblicklich, dass das ein Fehler war. Denn alles in der Küche erinnerte sie an ihre Mutter - die blaugelben Baumwollvorhänge, der Mountain-Mama-Magnet an der Kühlschranktür, die Schale mit den Muscheln auf dem Fensterbrett. Komm schon, Winnie, gehen wir auf Schatzsuche zum Strand ...
Wie oft hatte Winona in diesem Sommer ihre Mutter vertröstet? Sie hatte keine Zeit gehabt, um etwas mit ihr zu unternehmen, war auch zu cool gewesen, um den Strand nach schönen, glatten Scherben zwischen den zerbrochenen Austernschalen und dem trocknenden Seetang abzusuchen.
Dieser Gedanke trieb sie zum Gefrierschrank. Sie zog die Tür auf und entdeckte einen riesigen Becher Eis. Das würde ihr jetzt auch nicht helfen, trotzdem konnte sie nicht widerstehen.
Sie holte sich einen Löffel, lehnte sich gegen die Küchentheke und fing an zu essen. Durch das Fenster konnte sie die Schottereinfahrt vor dem Farmhaus und den schwedenroten baufälligen Offenstall auf der Lichtung sehen. Dort oben schob sich der blaue verbeulte Truck ihres Dads rückwärts an ihren rostigen Pferdetrailer. Dann stieg ihr Vater aus und ging zur Anhängerkupplung.
»Jetzt sag nicht, er will zum Rodeo«, murmelte Winona.
»Natürlich«, erwiderte Vivi Ann und malte weiter an ihrem Bild. »Er ist schon ganz früh aufgestanden, um alles vorzubereiten. «
»Er will zum Rodeo? Das soll wohl ein Witz sein!«, bemerkte Aurora, die in die Küche gekommen war und sich zu Winona ans Fenster gesellte. »Aber ... wie kann er nur?«
Winona wusste, sie sollte jetzt die Rolle ihrer Mutter übernehmen und erklären, warum es in Ordnung war, dass ihr
Dad schon einen Tag nach der Beerdigung seiner Frau weitermachte wie bisher. Aber eine derartige Lüge brachte sie nicht über die Lippen, nicht mal, um ihren Schwestern Schmerz zu ersparen. Vielleicht war es ja gar keine Lüge - vielleicht verhielten sich Erwachsene so, vielleicht machten sie einfach weiter - aber die Vorstellung war noch furchterregender und noch schwerer auszusprechen. Das darauf folgende Schweigen setzte Winona zu; sie wusste nicht, was sie sagen, wie sie es erträglicher machen sollte, dabei war doch genau das ihre Aufgabe. Als Älteste sollte sie sich um ihre Geschwister kümmern.
»Warum holt er denn Clem von der Weide?«, fragte Aurora, nahm Winona den Löffel aus der Hand und bediente sich an der Eiscreme.
Vivi Ann gab einen Laut von sich, der halb Schluchzen, halb Schrei war, stürzte zur Tür und riss sie so heftig auf, dass sie gegen die Wand schlug.
»Er verkauft Moms Pferd«, stieß Winona hervor. Sie war wütend, dass sie das nicht vorausgesehen hatte.
»Das kann er doch nicht machen«, entrüstete sich Aurora und sah Winona um Bestätigung heischend an. »Oder?«
Winona konnte ihr nicht geben, was sie suchte. Stattdessen rannte sie Vivi Ann nach. Als sie den Rangierplatz am Stall erreichte, kam sie außer Atem neben Vivi Ann zum Stehen.
Da war ihr Vater und hielt Clem an der Longe. Die Sonne schien auf seinen speckigen Cowboyhut und wurde von der handtellergroßen silbernen Gürtelschnalle reflektiert. Sein markantes Gesicht erinnerte sie an die hiesigen Berge: Flächen aus Granit und schattige Klüfte. Hart und schroff.
»Du darfst Moms Pferd nicht verkaufen«, sagte sie keuchend.
»Willst du mir sagen, was ich darf und was nicht, Winona? «, gab er zurück, und sein Blick blieb kurz an dem Eisbecher haften.
Winona spürte, wie sie rot wurde. Sie musste all ihren Mut zusammennehmen, um ihm zu widersprechen, aber es blieb ihr keine Wahl. Sonst war kein anderer mehr da. »Sie liebt ... sie hat dieses Pferd geliebt.«
»Wir haben kein Geld für ein Pferd, das nicht geritten wird.«
»Ich werde es reiten«, erklärte Winona.
»Du?«
»Ich strenge mich noch mehr an. Ich werde meine Angst überwinden.«
»Haben wir überhaupt einen Sattel in deiner Größe?«
Peinliche Stille folgte darauf, so dass Winona vorstürzte und ihrem Vater die Longe entriss. Aber sie bewegte sich zu schnell oder zu ruckartig - Clementine jedenfalls scheute und scherte zur Seite aus. Winona spürte, wie das Seil brennend in ihre Handfläche schnitt, und verlor fast das Gleichgewicht.
Da war Vivi Ann plötzlich neben ihr und brachte Clementine mit einem Wort und einer Berührung unter Kontrolle. »Alles in Ordnung?«, flüsterte sie Winona zu, als das Pferd wieder ruhig war.
Winona aber schämte sich so, dass sie kein Wort herausbrachte. Sie spürte, dass ihr Vater auf sie zukam, hörte, wie seine Cowboystiefel sich in den Schlamm gruben. Langsam drehten sich Vivi Ann und sie zu ihm um.
»Du hast kein Gespür für Pferde, Winona«, sagte er. Das hatte sie schon ihr ganzes Leben von ihm gehört. Für einen Cowboy gab es keine vernichtendere Bemerkung.
»Ich weiß, aber -«
Er hörte ihr gar nicht zu, sondern sah nur Vivi Ann an. Irgendetwas schien zwischen ihnen vorzugehen, als würde eine Botschaft übermittelt werden, die Winona nicht verstand. »Sie ist ein lebhaftes Tier und noch jung. Damit kann nicht jeder umgehen«, bemerkte ihr Vater.
»Ich aber schon«, erwiderte Vivi Ann.
Das stimmte, und Winona wusste es. Trotz ihrer zwölf Jahre war Vivi Ann furchtloser und tapferer, als Winona je sein würde.
Plötzlich erfasste Winona Neid. Sie wusste, das war falsch
- sogar gemein -, aber sie wollte, dass ihr Vater Vivi Ann missachtete, dass er seine schönste Tochter mit seiner ganzen Missbilligung strafte. Doch er erklärte: »Deine Mama wäre stolz auf dich«, und übergab Vivi Ann die zerschlissene blaue Longe.
Wie aus der Ferne sah Winona sie gemeinsam weggehen. Sie redete sich ein, dass es ihr nichts ausmachte, Hauptsache, Clem würde nicht verkauft, aber das tröstete sie kaum.
Dann hörte sie, wie Aurora, nun, da das Drama vorbei war, den Hügel heraufkam und sich zu ihr gesellte. »Alles klar?«
»Ja, alles klar.«
»Hauptsache, Clem wird nicht verkauft.«
»Genau«, sagte Winona und wünschte, es wäre wahr. »Was kümmert es mich, wer das Pferd reitet?«
»So ist es.«
Aber als Winona Jahre später auf die Zeit unmittelbar
nach dem Tod ihrer Mutter zurückblickte, erkannte sie, wie eine einzige Handlung - die Übergabe einer Longe - alles verändert hatte. Von da an war Eifersucht ein ständiger stummer, aber gefährlicher Begleiter ihres Lebens. Doch niemand konnte sie sehen. Zumindest damals nicht.
Copyright © by Ullstein TB (Verlag)
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Autoren-Porträt von Kristin Hannah
Kristin Hannah, Jahrgang 1960, studierte zunächst Jura, obwohl ihre Mutter ihr schon früh prophezeite, dass sie Schriftstellerin werden würde. Heute ist sie eine international erfolgreiche Bestsellerautorin, deren preisgekrönte Romane auch schon verfilmt wurden. Kristin Hannah lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in einer kleinen Stadt in der Nähe von Seattle, Washington. Rahn, MarieMarie Rahn studierte und lehrte Literaturübersetzen in Düsseldorf. Seit über fünfundzwanzig Jahren übersetzt sie für verschiedene Verlage Belletristik aus dem Englischen, Französischen und Italienischen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Kristin Hannah
- 2012, 2. Aufl., 496 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Marie Rahn
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548283705
- ISBN-13: 9783548283708
- Erscheinungsdatum: 12.09.2012
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