Das Gold der Mühle
Historischer Roman. Originalausgabe
1372: Die Witwe Brida findet den verletzten Ritter Ulrich und pflegt ihn gesund. Als er wieder aufbricht, schließt sich ihm Bridas Tochter Ann Durt heimlich an. Brida folgt den jungen Leuten durch die Wirren des Lüneburger Erbfolgekriegs. Doch dann trifft sie den Abenteurer Brose.
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Produktinformationen zu „Das Gold der Mühle “
1372: Die Witwe Brida findet den verletzten Ritter Ulrich und pflegt ihn gesund. Als er wieder aufbricht, schließt sich ihm Bridas Tochter Ann Durt heimlich an. Brida folgt den jungen Leuten durch die Wirren des Lüneburger Erbfolgekriegs. Doch dann trifft sie den Abenteurer Brose.
Klappentext zu „Das Gold der Mühle “
Brida ist eine junge Witwe, die einen Abenteurer liebt. Doch wird er seine Freiheit für ein Leben an ihrer Seite aufgeben?1372 im Lüneburger Land, wo ein brutaler Erbfolgekrieg tobt: Die erst 36-jährige Witwe Brida findet den verletzten jungen Ritter Ulrich am Wegesrand. Kurzentschlossen nimmt sie Ulrich bei sich auf und pflegt ihn gesund. Als der junge Mann wieder aufbricht, schließt sich ihm Bridas 16-jährige Tochter Ann Durt heimlich an. Sobald Brida ihr Verschwinden bemerkt, folgt sie der Spur der jungen Leuten durch die Wirren des Krieges, aber Ulrich und Ann Durt bleiben ihr immer einen Schritt voraus - bis Brida den faszinierenden Abenteurer Brose trifft und in einen Gewissenskonflikt gerät.
Lese-Probe zu „Das Gold der Mühle “
Das Gold der Mühle von Martha Sophie MarcusBrida kauerte auf dem Heuboden des Stalls, spähte durch einen Bretterspalt hinab auf den Hof der Müh le und musste sich Mühe geben, das Kitzeln des Staubs in ihrer Nase nicht zu beachten. Wenn sie nieste, würden die Männer sie entdecken, die da draußen zusammenstanden. und dann gab es kein Entkommen mehr.
Es hatte Zeiten gegeben, da hätte sie nicht gedacht, dass sie sich einmal vor einem Mann verstecken würde. Die meisten Männer im Dorf hatten Respekt vor ihr.
ihr nächster Nachbar Walther jedoch, der vor dem Stall herumtrödelte, anstatt sein Korn einfach in der Mühle abzugeben und wieder zu verschwinden, war zu stur, um sich von scharfen Worten abschrecken zu lassen. und er war zu wütend auf Brida. Sie staunte immer noch, dass der gutmütige Knabe zu einem so reizbaren und boshaften Mann her angewachsen war. Sie seufzte lautlos. Würde er doch endlich gehen! Was konnten die Männer wieder so lange zu kakeln haben? Wer den Weibern Geschwätzigkeit nachsagte, konnte noch nie einen Tag bei der Thomasburger Mühle verbracht haben. hier waren es immer die Kerle, die sich nicht losreißen konnten und tratschten, bis es dunkel wurde. Der Ochsentreiberbauer mit seinem ausladenden Schnauzbart, der neben Walther stand, warf sich ordentlich in die Brust beim Reden. er hatte wohl irgendwo etwas aufgeschnappt, was die anderen noch nicht wussten.
»Sollen sich nicht so wichtigmachen, die Stadtbürger«, sagte er. »Herzog Magnus ist unser rechtmäßiger Herr. Nicht dieser Sachse. hätten sie sich nicht irre machen lassen, müssten sie jetzt nicht die Rache der Welfen fürchten. Das haben sie davon!«
... mehr
Brida drehte den Kopf und legte ihr Ohr an den Bretterspalt. Wenn es um die Uneinigkeit zwischen der Stadt Lüneburg und herzog Magnus ging, dann hörte man lieber gut zu. Die Auswirkungen betrafen das ganze Lüneburgische Land, aber die Umgebung der Stadt war von der Fehde besonders betroffen. Brida hoffte und betete jeden Tag, dass keine der Kriegsparteien sich in den Kopf setzte, die Mühle zu zerstören, so wie man es allenthalben aus anderen Orten hörte. einmal, in Bridas Kindheit, hatte ihr Vater die vornehmen Ritter gerade noch überzeugen können, dass die Mühle Oldenburger Klosterbesitz war und Gott ihnen zürnen würde, wenn sie das Eigentum seiner Diener beschädigten.
Brida schnaubte leise. Ihr Vater war ein wortgewandter Mann gewesen. Wenn ihr Bruder Thomas, der nun der Müller war, dasselbe versuchen würde, würden die Ritter ihn vermutlich auslachen. er war ein guter Kerl, aber schweigsam.
»Der Kaiser stand nie auf der Seite des Herzogs, sondern immer auf der von dem Sachsen. Da ist es doch kein Wunder, wenn die Lüneburger Angst hatten und nicht wussten, wem sie huldigen und gehorchen müssen.« Das war die Stimme eines Knechts aus Ellringen.
und auch der letzte Mann, der als einziger außer Walther noch nicht zu Wort gekommen war, hatte eine Meinung zu der Sache: er stieß einen abfälligen Laut aus. »Nee. angst haben die nicht. Die suchen bloß ihren Vorteil. Darauf verstehen sich die reichen Lüneburger Ratsherren und Pfeffersäcke. und nun lass uns gehen, Hans. Sonst tobt der Alte.«
Brida wechselte die Haltung, um die Knechte durch den Spalt sehen zu können. hastig zog sie den Kopf zurück. Walther blickte genau zu ihr. hatte er sie doch von Weitem schon beobachtet, als sie in die Scheune gegangen war? Verflixt! Wenn es so war, dann würde er sich nicht vom Hof rühren, bis sie wieder herauskam.
Zu allem Übel kamen nun noch die Kinder aus der Mühle. Stina, ihre Jüngste, flitzte unter den alten Kastanienbaum, der mit seiner mächtigen Krone den Hof beherrschte. Sie stampfte mit ihren Holzpantinen ein paar der reifen braunen Früchte aus ihren Stachelhüllen, hob sie auf und warf sie auf Nickel, der ihr aus der Tür gefolgt war.
Nickel war nicht Bridas leiblicher Sohn, sondern ein Findelkind, aber einen großen Unterschied machte das nicht. Stina und er ähnelten sich trotzdem. So duckte Nickel sich nicht, sondern versuchte, die Kastanien zu fangen und zurückzuwerfen. Doch Stina bot ihm kein leichtes Ziel, sondern rannte schon weiter zu den Weiden am Mühlweiher. und weiter zum Mühlrad - auch wenn es den Kindern verboten war -, das wollte Brida wetten.
Sie hätte sie in dieser Lage dennoch gewähren lassen, wenn Walther sich nicht auf einmal von seinen Gesprächspartnern abgewandt hätte und den Kindern gefolgt wäre.
Brida stieß sich von der Wand ab, stakste durch das Heu und stieg die Leiter hinab.
Mit einem flüchtigen Nicken grüßte sie im Vorübergehen die beiden Männer, die noch auf dem Hof standen. als sie zur Rückseite des Mühlengebäudes kam, hatte Walther Stina und Nickel schon zwischen Hauswand, Fluss und Mühlrad in die Enge getrieben.
Mit beiden Daumen in seinem Gürtel stand er da und versperrte ihnen den Weg. er sprach laut, um das Rauschen des Mühlenwehrs und das rhythmische Stampfen und Klappern der Mühle zu übertönen. »aus euch Bälgern kann ja nichts werden. Kein Vater und eine Mutter, die sich immer falsch entscheidet. hat euch nie einer gesagt, dass Kinder am Mühlrad nichts verloren haben, ihr kleinen Holzköpfe? rechts und links braucht ihr welche hinter die Ohren.«
Stina sah ihn trotzig an, wich aber vorsorglich zurück. Gleich darauf, als sie Brida bemerkte, hellte sich ihre Miene erleichtert auf.
»Geht und sammelt die Kastanien ein. ich will sie für Sofias Sau mitnehmen«, befahl Brida den Kindern.
»aber wir haben schon den ganzen Tag gearbeitet. Ann Durt hat gesagt, wir dürfen spielen«, beschwerte Stina sich.
»Dann hätte Ann Durt dazusagen sollen, dass ihr hingehen müsst, wo Spielen erlaubt ist. Nehmt die Kiepe aus dem Lütten Hus für die Kastanien.« Brida schickte sich an zu gehen und beachtete Walther nicht.
Stina und Nickel kamen an ihre Seite gehuscht. Bei allem Gemaule waren sie froh, dass sie Walther entkamen, das wusste Brida.
»Aus denen wird nichts, wenn du sie weiter allein aufziehst «, sagte Walther.
Das sagte er nicht zum ersten Mal zu ihr. Zu ihrem Bedauern hatte es noch immer eine Wirkung auf sie. »Zu meinem Glück bin ich ja nicht allein. und wäre ich es, dann würde ich mir schon einen guten Mann suchen, da mach dir keine Sorgen.«
»Einen besseren als mich, meinst du, ja? Wo fändest du so einen? Denkst du, dich würde jeder nehmen mit deinen Gören? Jung bist du auch nicht mehr. und dein Ruf ist nicht der beste, wie du wohl weißt.« er grinste zwar nicht, dennoch verrieten seine Lippen Genugtuung.
Sie schniefte und stemmte die Hände in die Hüften. »Dass dich die Druse ankomme, Schafswalther. Glaub nicht, ich wüsste nicht, wem ich meinen schlechten Ruf zu verdanken habe, du alter Mistwerfer. und sei bloß froh, dass mir meine Seele zu schade ist, um es dir mit gleicher Münze heimzuzahlen. «
Walther schnaubte und spuckte aus. »ich habe nichts als die Wahrheit über dich gesagt.«
»Mag sein. aber von dem Fliegenschiss Wahrheit, den du über mich weißt, hast du nur die Hälfte erzählt, darauf würde ich wetten.« Mit einem abfälligen Schulterzucken wandte sie sich ab und ging.
»Du wirst schon noch zur Vernunft kommen und mich nehmen, Brigida Müllerstochter!«
Wenn die Esel Reigen tanzen lernen. Vorher werde ich dich nicht zum Mann nehmen, dachte Brida.
Ann Durt, ihre ältere Tochter, stand in der Tür zum Wohn- und Wirtschaftsraum, trocknete sich die Hände und blickte erwartungsvoll zu ihr herüber. Das erinnerte Brida daran, warum sie eigentlich in die Scheune gegangen war. Sie hatte den getrockneten hopfen holen wollen, der ihnen zum Bieransetzen fehlte.
»Ich komme gleich«, rief sie Ann Durt zu.
Ihre hübsche Große lächelte und winkte zur Antwort. Der Mensch musste noch des Weges kommen, dem es gelänge, ein böses Wort aus dem Mädchen hervorzulocken. Zum Glück war ihr Durtchen nicht so dumm, wie sie sanft war.
Zurück in der Mühle, deren vertrautes rumpeln das ganze Gebäude beben ließ und sie beruhigend umfing, sah Brida sich nach ihren Söhnen um. Nachdem vor einigen Wochen der Mühlknecht gestorben war, mussten beide wie erwachsene Männer arbeiten. Trotzdem gelang es Konni, dem jüngeren, immer wieder, sich für eine Weile zwischen die auf ihr Mehl wartenden Leute zu mischen und dem neuesten Tratsch zu lauschen.
Und richtig, da hockte er in der Gaststube bei den zwei einzigen Gästen. Als er seine Mutter eintreten sah, erhob er sich eilig, um zurück zu der Arbeit zu flüchten, die sein Onkel ihm gewiss aufgetragen hatte.
»Halt, mein Sohn. ich will mit dir reden«, bremste Brida ihn.
Der alte Maier, der Stammgast in der Mühle war, weil es ihm auf der Ofenbank bei seiner Tochter zu eng und zu langweilig war, grinste zahnlos. »Was habe ich dir gesagt, min Jung? Lass din Mudder nich sehn, dass du schon wieder hier deinen hintern plattsitzt, sonst färbt sie dich blau unter all deiner weißen tünche.«
Verlegen wischte Konni sich mit der Hand übers mehlbestaubte Gesicht und folgte Brida nach nebenan in den Wohnraum.
»Sollst dich was schämen, Faulpelz! aber sag mal, was gibt es Neues über herzog Magnus und die Lüneburger? es hat mir draußen so geklungen, als wäre etwas geschehen.«
Konni, der aussah, als schäme er sich tatsächlich, aber nicht, als fürchte er, dass seine Mutter ihn je schlüge, nickte. »Kaiser Karl hat den reichsbann über Magnus und seine Verbündeten ausgesprochen. Warum hat er das getan, Mutter?«
Brida schüttelte den Kopf. »Sehe ich aus, als könnte ich einen Kaiser verstehen? ich verstehe schon weit geringere Männer nicht. aber eines kann ich dir sagen: ich fahre im Holzschuh über den Mühlenweiher, wenn Magnus sich dadurch bekümmern lässt, was der Kaiser in seinen fernen Landen verkündet. eher wird es ihn anstacheln. Würden wir uns nicht ohnehin schon hüten, würde ich sagen, dass wir uns in acht nehmen müssen.«
»Ich finde, du hütest dich nicht besonders gut. Du solltest nicht allein zu Jobst und Sofia gehen. Nimm mich mit.«
»Und was würdest du tun, wenn man uns überfiele? Da könntest du mir am Ende doch bloß beim Schreien helfen. und wenn dir bei der Sache etwas zustieße, dann wäre ich unglücklicher, als wenn es mir selbst geschähe.«
»Ich bin schon vierzehn, Mutter. Und Ohm Thomas sagt, ich habe viel Kraft für mein Alter. einen Knüppel schwingen könnte ich ganz gut.«
»Das kann ich auch selbst, Konni. Mach dir keine Sorgen, ich würde mich schon meiner Haut wehren. Thomas braucht dich hier.«
»Er hat doch Willem.«
»Du weißt genau, dass es für euch beide genug Arbeit gibt. und da scherst du dich nun auch wieder hin. Was solltest du denn machen?«
»Den Roggen aus Ellringen wässern. aber der wird heute bestimmt nicht mehr gemahlen. Die Knechte kommen erst morgen zum Abholen wieder.«
»Wenn Ohm Thomas gesagt hat, du sollst ihn wässern, dann tust du es. So viel selbst nachzudenken, ist Vergeudung. Heb dir das für die Zeiten auf, in denen dir kein Älterer Weisung gibt.«
Konni lachte, weil er wusste, dass sie es nur halb ernst meinte. Sie rieb ihm liebevoll mit der Hand das Mehl von der Wange und freute sich wieder einmal, dass er zumindest in seiner Umgänglichkeit nach seinem Vater kam. Er mochte gelegentlich bockig sein, aber verstockt war er nicht. Und Recht hatte er damit, dass sie unterwegs vorsichtig sein musste.
Wenn sie noch bei Tageslicht bei ihren Freunden sein wollte, dann musste sie sich bald auf den Weg machen. Der Oktober ging seinem Ende zu, es wurde schon früh dunkel.
Der Weg nach Barendorf, wo Jobst Hufschmied war und mit seiner Frau Sofia lebte, führte Brida an den paar Bauernkaten vorüber, die das Dorf Reinstorf ausmachten. eine von diesen Katen hatte sie sieben Jahre zuvor noch selbst bewohnt. Dann hatte sie aufgeben müssen. Die meisten Leute hatten sich gewundert, dass sie es überhaupt versucht hatte, den Hof nach dem Tod ihres Mannes zu halten.
Es quälte sie noch immer, dass sie ihnen schließlich hatte recht geben müssen. Mit fünf Kindern, die alle noch zu jung für schwere Arbeit waren, hatte es nur einen Fieberausbruch zur Erntezeit gebraucht, um ihr klarzumachen, dass sie allein zu schwach war, um das Nötigste zum Überleben zusammenzubringen, auch wenn sie jede dazu notwendige Arbeit im Grunde beherrschte. Es war ein unschätzbarer Segen, dass ihr Bruder sie gern und ohne Herablassung beherbergte. »Du gehörst mit deinen Kindern nicht weniger in die Mühle als ich«, hatte Thomas gesagt, und damit war es beschlossene Sache gewesen.
Brida dachte nicht mehr oft an das, was sie verloren hatte, doch an diesem Tag bemerkte sie im Vorüberwandern, dass ihr ehemaliges Haus leerstand. Mehrfach hatten über die Jahre die Bewohner gewechselt, seit sie die Pacht verloren hatte. Der Lüneburger Kaufmann, dem alles gehörte, ließ sein alt und krank gewordenes Gesinde dort leben. Für schwere Arbeit taugten die Alten nicht mehr, aber sie waren noch rüstig genug gewesen, um die Kate in Ordnung zu halten. Nun waren sie fort, und sogleich setzte der Verfall ein.
Niemand hatte den alljährlichen Kampf gegen das Laub geführt, sodass der Wind es an der Eingangstür hatte anhäufen können. Wenn sich weiterhin niemand um die Kate kümmerte, würde der Wind es im Winter mit dem Schnee ebenso treiben und die Tür ganz versperren, wusste Brida.
Der Gatterzaun um den Gemüseflecken hinter dem Haus hing schief an einem umgebrochenen morschen Pfahl. ein Schwein hatte sich unter dem Zaun hindurchgewühlt.
Es gab Brida einen Stich, den Schaden zu sehen. Wie stolz sie damals als frischgebackene Braut auf ihr eigenes Haus und ihren eigenen Garten gewesen war! Wie sorgsam sie alles gehütet hatte, und wie zufrieden Lütke und sie für einige Jahre mit sich und ihrer kleinen Welt gewesen waren.
Brida hatte die Eselstute schon angehalten und war dabei, ihre Ärmel hochzuschieben, um den Zaun wieder aufzurichten, als sie sich zur Vernunft rief. Vorbei, dachte sie, den Kampf hast du verloren. Vorbei ist vorbei, und tot ist tot. Kümmere dich um die Lebenden.
Sie gab der Eselin einen Klaps und setzte ihren Weg fort.
Jobst und Sofia waren glücklich, dass sie zum Helfen kam. Sofia brauchte ständig beide Hände, um sie in ihr schmerzendes Kreuz zu drücken, das den hochschwangeren Leib tragen musste. Ihre Stimmung hätte kaum schlechter sein können. Sie litt unter geschwollenen Gliedern und Schwindelanfällen und glaubte sich dem Tode nahe.
Brida fegte aus, putzte, wusch und ging Sofia beim Windelnsäumen zur hand.
Am nächsten Vormittag half sie Jobst und seinem zwölfjährigen Sohn Klas dabei, einen Teil des Daches neu zu decken. Sie stand eben auf der Leiter, um Jobst ein Strohbündel hinaufzureichen, da machte ein heimkehrender Nachbar bei ihnen halt.
»Ihr werdet nicht glauben, was ich heute Morgen in Wendisch Evern gehört habe. Herzog Magnus hat letzte Nacht Lüneburg überfallen. in den Straßen wurde gekämpft, mit viel Blutvergießen und vielen toten. Und stellt euch vor, die Lüneburger sollen gesiegt und etliche edle Ritter in Gefangenschaft genommen haben.«
Jobst kam auf dem Dach ins Wanken, als er sich erstaunt zu seinem Nachbarn umwandte. »Glaubst du das? Wie kann das sein? Da müssen sich die Bürger ja wacker geschlagen haben.«
»Ein Bäcker soll allein etliche Feinde niedergemacht haben. es muss ein Gräuel gewesen sein.«
Brida, die den Arm ausgestreckt hatte, um Jobst zu stützen, damit er nicht vom Dach fiel, überlief ein Schauder. »Was ist mit dem herzog selbst? Lebt er? ist er gefangen?«
Der Nachbar zuckte mit den Schultern. »So viel wussten die Leute auch nicht. aber wir werden es wohl bald genug erfahren.«
»Da hast du recht«, erwiderte sie, doch sie glaubte es nicht. »Bald genug« konnte zu spät sein, wenn herzog Magnus frei war und darauf sann, wie er am wirkungsvollsten Rache an den Lüneburgern nehmen konnte.
Am frühen Nachmittag verabschiedete sie sich zeitig, weil sie auf dem Rückweg zur Mühle nicht wieder über Reinstorf und an ihrem alten Haus vorbeiwollte. Der zweite Weg, der infrage kam, war länger.
Die Eselin musste keine Last mehr tragen, sodass Brida reiten konnte. Nachdem sie Barendorf hinter sich gelassen hatte, das letzte Schweinequieken, die letzten Axtschläge und der letzte Hahnenschrei des Dorflebens verklungen waren, wurde sie der Stille bald überdrüssig. Aus alter Gewohnheit unterhielt sie sich eine Weile mit der Eselstute, dann begann sie zu singen.
Schön sang sie nicht, aber laut und von Herzen. So hätte sie sicher überhört, dass sich hinter ihr auf dem Waldweg Reiter näherten, wenn die Eselin sie nicht mit dem Spiel ihrer langen Ohren darauf aufmerksam gemacht hätte. Sofort führte sie das Tier vom Weg zwischen die Bäume und Sträucher des Unterholzes, legte ihm beruhigend eine Hand auf die Nüstern und umfasste mit der anderen ihren Wanderstab fester.
Das dumpfe Hufgeklapper wurde lauter, das ohrenspiel der Eselin aufgeregter. Brida hielt die Luft an, bis drei schwer bewaffnete Reiter auf dem Abschnitt des Weges erschienen, den sie überblickte. Die Rösser trabten flott, und die Männer schauten nicht nach rechts und links. Sie waren so beschäftigt mit ihrer Eile, dass sie das Schnauben der Eselin nicht hörten. Brida atmete auf. Wenn du dich jemals vor anderen Menschen verstecken willst, dann nimm auf keinen Fall ein Tier mit, dachte sie und legte sich die Hand auf die Brust, in der ihr Herz so wild hämmerte, dass sie davon außer Atmem war. Erst als sie sich wieder beruhigt hatte, wagte sie es, auf den Weg zurückzukehren.
Nun war sie froh über die Stille, die es ihr ermöglichte, nach weiteren reisenden zu lauschen.
Wenn sie nicht so aufmerksam zu Fuß weitergeschlichen wäre, wäre ihr wohl das leise Seufzen entgangen, das aus dem dichten Brombeergestrüpp drang. Sie erstarrte so plötzlich in ihrer Bewegung, dass die Eselin sie zuerst anrempelte, bevor sie ebenfalls mit geweiteten Nüstern ins Gebüsch blickte.
Brida musterte die undurchdringlich wirkende pflanzen- decke und bemerkte geknickte Zweige und niedergetretenes Gras. Die kühle Stimme ihrer Vernunft gab ihr sofort einen Rat: Sieh zu, dass du wegkommst. Was da stöhnt, hatte vielleicht einen Feind, den du nicht auch haben möchtest.
Mit einem schicksalsergebenen Schniefen wandte Brida sich an ihre Eselin. »Aber wann hätte ich je an Schwierigkeiten vorübergehen können, was, Olle? also bleib schön stehen. Ich wate mal in die Brommeln.«
Was sie nach kurzem herumstochern im dornigen Gestrüpp fand, entsprach ihren Befürchtungen. auf dem Waldboden lag ein übel zugerichteter Mensch. Seine Rüstung wies ihn als adligen Kriegsmann aus, das dichte, helle Haar und der schlanke Wuchs verrieten seine Jugend. Seinem Gesicht war nicht viel zu entnehmen, denn wo es nicht rotblau und geschwollen war, da war es von den Stacheln und Zweigen des Gestrüpps zerkratzt und blutig. Blut bedeckte auch seine Beinröhren und Handschuhe und das Laubbett, in dem er ruhte.
Brida musste ihn nicht lange betrachten, um zu wissen, dass jeder seiner Seufzer sein letzter sein konnte.
Lauf weg, solange du noch kannst, sagte die Stimme in ihrem Hinterkopf. es lag auf der Hand, dass dieser junge Kämpe etwas mit der Schlacht um Lüneburg zu tun hatte.
Doch auch diese Mahnung ihrer Vernunft verhallte. Brida dachte an ihren eigenen ältesten Sohn, der ebenso blond war wie der junge Ritter vor ihr. und auch dieser hatte vermutlich eine Mutter, die lange weinen würde, wenn sie ihn verlor.
»Ich grüße euch, mein Herr«, sagte sie laut, beugte sich zu ihm hinab und berührte ihn zaghaft an dem einen Arm, der unverletzt wirkte. »Könnt ihr mich hören?«
Seine Augen waren so zugeschwollen, dass er sie nicht öffnen konnte, aber Brida sah, dass er es versuchte.
»Wirst du mir helfen?«, fragte er. Undeutlich und leise kam es zwischen seinen zerschlagenen Lippen hervor, aber auch seine Stimme klang jung.
Bridas Herz floss vor Mitleid über. »Ich werde euch helfen, junger Herr, aber ihr müsst euch gedulden. Bleibt still liegen, bis ich mit einem Karren wiederkehre.«
Seine Hand zuckte. »Nicht nach Lüneburg.«
»Nein, keine Sorge. Ich kann mir schon denken, dass ihr dort nicht gut aufgehoben wäret.«
»Mir ist so kalt.«
Wortlos nahm Brida ihren Wollumhang ab und deckte ihn damit zu.
Jobst beschnitt gerade dem Zugochsen eines Bauern die verwachsenen Klauen, als Brida auf ihrer Eselin bei seinem Haus ankam. Ihr klapperten die Zähne von dem flinken Trab, zu dem sie das Tier angetrieben hatte. Trotz ihrer Eile wartete sie, bis der Bauer seinen Ochsen davonführte, bevor sie ihrem Freund erzählte, warum sie umgekehrt war.
Er schüttelte den Kopf. »Ich kann ihn nicht bei uns aufnehmen, Brida. Du weißt, dass ich Sofia nicht noch eine Last aufbürden darf. Und dazu die Angst, dass es sich rächen könnte, wenn wir ihn beherbergen ... ich würde ja gern meine Christenpflicht tun, aber es geht nicht.«
Brida tätschelte ihm den Arm. Drei unzertrennliche Freunde waren sie gewesen: Jobst, ihr Bruder Thomas und ihr Liebster Lütke. und Jobst war bei all seiner überragenden Körperkraft schon immer der Zaghafteste von ihnen gewesen.
»Das wollte ich gar nicht von dir verlangen. Leih mir nur den Karren und hilf mir, den Mann aufzuladen. Dann bringe ich ihn in die Mühle.«
»Damit tust du Thomas auch keinen Gefallen. Lass mich Klas zum Kloster Lüne schicken, damit die Kirche sich des Mannes annimmt.«
Brida hatte das »Wirst du mir helfen?« des jungen Ritter noch zu deutlich im Ohr, um Jobsts Angebot ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Es würde zu viel Zeit vergehen, bis die Klosterknechte dem Verletzten zu Hilfe kamen. und wer wusste, ob sich die ehrwürdigen Schwestern nicht der Stadt Lüneburg verpflichtet fühlten und den Jungen auslieferten.
So bestand sie darauf, ihn selbst mitzunehmen, lud ihn gemeinsam mit Jobst auf den Karren und bedeckte ihn mit ihrem Umhang und alten Säcken, damit nicht jeder reisende ihn gleich sah. Er sprach nicht mehr, sondern stöhnte nur, als sie ihn bewegten.
Brida schwitzte auch ohne ihren Umhang Rinnsale, als sie eine Weile später unterwegs war und sich erneut Bewaffnete auf Pferden näherten. Doch die Reiter preschten vorüber, ohne sie zu beachten.
Am liebsten hätte sie die Eselin zum Galopp angetrieben, doch der zweirädrige Karren holperte schon bei maßvoller Geschwindigkeit mit so harten Stößen über die schlechte Straße, dass es ihr selbst wehtat, obwohl sie nicht verletzt war.
Daher war es bereits dunkel, als sie die vertraute dunkle Silhouette des Mühlengebäudes erblickte. Ihr Bruder und ihre Kinder standen auf dem Hof. Ann Durt zündete eben die Fackeln an, die Thomas und Konni trugen.
»Da ist sie ja«, schrie Stina und kam Brida entgegengerannt, noch ganz Kind mit ihren elf Jahren.
Thomas gab Ann Durt die Fackel zurück und folgte Stina mit langen Schritten. »Warum kommst du mit dem Karren? Hat dich das so lange aufgehalten? Hast du gehört, was in Lüneburg geschehen ist?«
Brida ließ die Eselin anhalten und blickte sich nach ihrer Fracht um. unter den Säcken rührte sich nichts, es sah aus, als hätte sie nur Rüben und alte Lumpen geladen. Mit einem Seufzer kletterte sie vom Karren und wandte sich ihrem Bruder zu. »Sind wir heute Nacht unter uns, oder haben wir Gäste? Ich habe etwas mitgebracht, das kein Fremder sehen darf.«
Sofort dämpfte Thomas seine Stimme. »Du machst mir Angst. Wir haben drei bewaffnete Reiter aus Lüneburg hier. Sie sitzen in der Gaststube und wollen übernachten. Wenn du ein Geheimnis auf dem Karren hast, dann bring es nicht ins Haus und nicht in den Pferdestall.«
Nun waren auch die Kinder herangekommen. Bevor Brida ihn davon abhalten konnte, hatte Konni seine Fackel über die Ladefläche gehoben und einen der leeren Säcke gelüpft.
»Heiliges Mühlrad, was ist das denn? Mutter, bist du verrückt? Das ist ein Ritter«, entfuhr es ihm.
Wie aus einem Munde zischten Brida und ihr Bruder ihn gleichzeitig an, leise zu sein.
»Haltet nur ja alle den Mund. Ihr habt nichts gesehen!«, befahl Thomas den Kindern.
Brida drückte ihm dankbar den Arm. »Ich bringe ihn in den Gänsestall. Konni, hilf mir. Du wirst deine Neugier ohnehin nicht bezwingen können.«
Ann Durt hob ebenfalls ihre Fackel und spähte über den Karrenrand. »In den Gänsestall? Da wird ihm Hören und Sehen vergehen.«
Brida zuckte mit den Schultern. »Das ist ihm schon vergangen. Vielleicht für immer, ich weiß es nicht. Geh und bring mir Wasser und ein Tuch in den Stall. Aber so, dass die Gäste es nicht bemerken.«
»Und wir? Was sollen wir tun?«, fragte Stina.
»Ihr setzt euch ans Feuer und spielt ein Fadenspiel oder was euch sonst einfällt. Ich erzähle euch später alles. Habt Geduld und schweigt.«
Widerwillig ließen sich die Kinder von ihrem Onkel und ihrer großen Schwester ins Haus scheuchen.
Willem nahm kopfschüttelnd Konni die Fackel aus der Hand. »Warum kannst du nicht ein Mal an Schwierigkeiten vorübergehen, Mutter? Ich lösche die Fackel, ihr habt genug Mondlicht beim Stall. Es wäre besser, ihr brächtet den Mann außer Sicht, bevor einer von den Reitern herauskommt, um in den Fluss zu pissen. Es sind Lüneburger. Wenn sie sehen, dass du ihren Feind versteckst, zerschlagen sie uns wenigstens den Hausrat, wenn nicht Schlimmeres.«
Energisch griff Brida der Eselin in den Zaum und führte sie in Richtung Fluss und Gänsestall. »Dann geh und sorge dafür, dass sie beschäftigt sind. Würfelt, lass sie auf unsere Kosten trinken. Der Junge hier auf dem Wagen ist vielleicht achtzehn Jahre alt, nicht älter als du. Der Teufel sollte den holen, der dich am Wegesrand fände und dort verrecken ließe.«
Willem legte ihr flüchtig die Hand auf die Schulter. »Verzeih, Mutter. aber ... ach, was hilft es. ich werde mein Bestes tun.«
Konni schob den Karren an, damit die Eselin das von den Gänsen und Schweinen zerwühlte Flussufer leichter überwinden konnte. »Willem ist immer so verflixt vorsichtig und vernünftig. War Vater auch so?«, wollte er wissen.
»Ob du es glaubst oder nicht, das kommt auch von meiner Seite. Willem spricht nur aus, was meine Vernunft mir im Stillen sagt.«
Konni lachte. »Das kann ich nicht glauben. oder jedenfalls glaube ich, dass du nicht oft auf sie hörst.«
Er sprang zum Zaun des Gänseauslaufs und öffnete die Pforte. Die Wächtergans schlug Alarm, und binnen kürzester Zeit krakeelte und trompetete das ganze Gänsevolk.
»Ihr kommt alle auf den Bratspieß«, drohte Brida den Vögeln.
Konni kam wieder zu ihr geflitzt. »Wir müssen uns beeilen. Was ist schwerer, Schultern oder Beine?«
Es bereitete ihnen keine große Mühe, ihre menschliche Bürde vom Karren zwischen den aufgestörten Tieren hindurch in den Stall zu bringen. Sie waren beide stark und hatten schon andere Lasten zusammen getragen.
Gleich nachdem sie ein Plätzchen für ihren reglosen, aber noch atmenden Schützling gefunden und ihn abgelegt hatten, schickte Brida Konni fort, damit er die Eselin versorgte. Die Gänse beruhigten sich bereits, sie hatten die Frau erkannt, aus deren Händen sie täglich ihr Futter empfingen.
Der Mond hatte sie draußen ausreichend mit Licht versorgt, doch im inneren des Gänsestalls versagte er seinen Dienst. Brida sah kaum die Hand vor Augen. außerdem fand sie es für einen kranken Menschen zu kalt. trotz allem begann sie, ihn mit tastenden Fingern von seiner Rüstung zu befreien. Der drückende plattenrock und das Kettenhemd mussten eine Qual sein.
Der junge Mann war so still gewesen, seit sie ihn gefunden hatte, dass sie erleichtert war, als er nun stöhnte.
»Mutter Maria. Mir ist übel.«
Er hatte es kaum ausgesprochen, als er sich auch schon halb aufrichtete und sich übergab.
Brida half ihm, so gut es in der Dunkelheit ging. »Nun, zumindest lebt ihr, mein Junge«, sagte sie und rieb ihm tröstend den von der Rüstung erlösten rücken.
»Mir tut alles weh«, flüsterte er und ließ sich wieder ins Stroh sinken.
»Wart ihr letzte Nacht in Lüneburg? Habt ihr dort in der Schlacht so gelitten?«, fragte sie leise.
»Ja. aber ich wäre davongekommen. Wenn nicht ...« Das Sprechen fiel ihm schwer, von Wort zu Wort klang er undeutlicher, bis er verstummte.
Brida nahm ihm vorsichtig seine Beinschienen ab. Er ließ es sich gefallen, stöhnte aber und schrie auf, als sie seine Knie beugte. Erschrocken hielt sie inne. »Schscht. außer meinem Bruder und meinen Kindern darf niemand wissen, dass ihr hier seid. Ihr müsst die Zähne zusammenbeißen.«
Sie lauschte, hörte jedoch nur das Schnattern der beunruhigten Gänse. Nicht nur der Aufschrei des Verletzten hatte die Vögel erneut aufgestört. Ann Durt kam in den Stall, und sie brachte nicht nur ein Tuch und warmes Wasser, sondern auch einen brennenden Kienspan und einen kleinen Krug Bier.
»Danke, Engel. ich konnte unserem Gast hier im Dunkeln kaum helfen.«
Die flackernde kleine Flamme in Ann Durts Hand beleuchtete ihr Gesicht so wohlwollend, dass sie noch hübscher und sanfter wirkte als bei tag. Ihr Anblick brachte Brida zum Lächeln, obwohl ihr sonst alles andere als heiter zumute war.
Zögernd näherte sich ihre Tochter. »Ist der Herr wach?«
Der Verletzte atmete hörbar ein. »Engel? Ist sie ein Engel? Wird sie mich retten?«
»Nun, meine Tochter ist nur ein irdischer Engel, aber sie wird uns beistehen.«
Eilig sorgte Brida mit Ann Durts Hilfe dafür, dass der Verletzte einigermaßen sauber und weich lag. Sie gaben ihm zu trinken und überließen ihn dann sich selbst, um die Gäste, die in der Mühle auf Bewirtung warteten, nicht unruhig werden zu lassen.
Als Brida den Lüneburgern Bier einschenkte, erkannte sie, dass ihre Vorsicht angebracht war. aufgewühlt und reizbar waren die drei Männer von ihren Kampferlebnissen in der Stadt. Einer von ihnen hatte im Gefecht einen Ritter getötet und wurde es nicht müde, die Erzählung von seiner Heldentat zu wiederholen. Immer neue Schmähworte fanden die drei für die Gefolgschaft von Herzog Magnus, der selbst nicht an der Schlacht teilgenommen hatte.
Jedes Mal, wenn im Laufe des langen Abends einer von den dreien zum Wasserlassen hinaustorkelte, schlug Brida das Herz bis zum Hals. unauffällig spähte sie den zunehmend Betrunkenen durch die Tür nach draußen nach, um sicherzugehen, dass keiner von ihnen sich zum Gänsestall verlief.
Selten war sie so froh darüber gewesen, dass Gäste sich endlich auf ihren Strohsäcken zur ruhe legten.
Thomas, ihre Söhne und die zwei Kleinen - Stina und Nickel - lagen schon in den Butzen und schliefen. Ann Durt saß noch in der Wohnstube auf der Bank beim Feuer, war jedoch auch eingenickt. ihr Kopftuch war verrutscht, und haselbraune Haarsträhnen umspielten ihr Gesicht, sodass Brida nicht nur das engelhafte in ihr sehen konnte, sondern auch das kleine Mädchen, das sie noch vor wenigen Jahren gewesen war. Beide Mädchen hatten die gleiche Haarfarbe wie Brida, während die Jungen Lütkes Blond geerbt hatten.
Sanft rüttelte sie ihre Tochter wach. »Zeit, zu Bett zu gehen, Kind.«
Mit der Anmut eines Schwans, der seine Flügel ausbreitet, reckte Ann Durt sich, rieb sich die Augen und stand dann so federnd auf, als würde sie taufrisch den neuen tag beginnen wollen. »Warst du noch einmal bei dem Kranken?«
Brida schüttelte den Kopf und griff nach einer zerlumpten Decke, um sie sich anstelle ihres Umhanges umzulegen, der dem jungen Ritter im Stall Wärme spendete. »Ich gehe jetzt. Hoffentlich wecken die Gänse unsere Gäste nicht wieder auf.«
Ann Durt überholte sie auf dem Weg zur Tür. »Lass mich gehen. Falls einer von denen aufwacht, kannst du ihn besser beruhigen.«
1
K unzmann von alten fror, er hatte Sodbrennen, und seine Schmerzen ließen ihn keinen Schlaf finden. Burg Rethem an der aller war immer ein Eiskeller, jetzt im Oktober wäre der Aufenthalt nur mit einem großen, lodernden Feuer zu ertragen gewesen. Für ein solches Feuer war der Burgvogt jedoch zu geizig. Er ging lieber davon aus, dass seine kampferprobten Gäste abgehärtet genug waren, um die Kälte zu ertragen.
Gespart hatte er auch beim Essen. So wie er sich fühlte, hätte Kunzmann darauf geschworen, dass das Schweinefleisch vom Abendessen mehr als nur ein wenig verdorben gewesen war. Er hatte es zu seinem Bedauern nicht rechtzeitig bemerkt, weil der Koch das Geschnetzelte geschickt gewürzt und in saurer Soße ersäuft hatte.
Kälte und Sodbrennen waren unverschuldet und ärgerlich. Der Schmerz hingegen hatte eine frohe Seite, denn den hatte er sinnvoll erworben. Ihm war ein böses Elfengeschoss in den Rücken gefahren, als er seinen toten Neffen ins Gestrüpp geworfen hatte. Wenn dieser brennende Rückenschmerz eine Strafe für die Tat sein sollte, dann wollte er sie gern annehmen. Brachte sie ihm doch vermutlich einen gehörigen Zugewinn an Vermögen und Macht ein. Endlich musste er sich nicht mehr fragen, wie viel sein Vater dem jungen Ulrich vermachen würde.
Wäre sein Bruder, der Vater des Jungen, noch am Leben gewesen, hätte Kunzmann nicht damit gehadert, das Erbe teilen zu müssen. Sein Bruder Karl war ein verdienter, gestandener Mann gewesen, und sie hatten gegenseitig auf die Unterstützung durch den anderen bauen können. Der kleine Ulrich hingegen war ein dummer Knabe gewesen, ein Klotz am Bein, der nichts wert war und keinen Anteil am Erbe verdiente. Ihn zu beseitigen, war ein Dienst am Stamme derer von alten gewesen.
So hatte die peinliche Schmach, die sie als des herzogs Gefolgschaft in Lüneburg erlebt hatten, wenigstens ein Gutes gehabt. Kunzmann hätte sich von herzen darüber freuen können, wäre ihm nicht so kalt gewesen und so übel.
Ulrich von Alten fühlte sich, als würde er einen nicht enden wollenden Alptraum durchleben. Ende Januar hatte er von Herzog Magnus seinen ersten Auftrag bekommen. Stolz und siegesgewiss war er losgeritten, um die herzögliche Besatzung der Lüneburger Burg vor dem kommenden Treuebruch der Lüneburger zu warnen. Doch als er bei dem verfluchten Kalkberg ankam, auf dem die Burg stand, war sie bereits durch eine tückische List von den Stadtbürgern eingenommen worden. Als Weiber verkleidet, waren die wehrhaften Bürger in die Burg gekommen, und die Besatzer hatten es erst durchschaut, als es zu spät war. Schmählich hatte Ulrich mit dieser Nachricht zu Magnus zurückkehren müssen.
Seither war er von den Männern der Gefolgschaft nicht mehr für voll genommen worden. Bei Magnus' Rachefeldzug gegen die Stadt hatte Ulrich alles daransetzen wollen, sich zu beweisen und die Schmach auszumerzen. Stattdessen hatte er sich im Verlaufe einer entsetzlichen Niederlage von einem einfachen Zimmermann so am Bein verletzen lassen, dass er sich kaum noch hatte bewegen können. Es gemahnte an ein Wunder, dass es seinem Onkel gelungen war, ihn noch aus der Stadt zu schaffen, als der Ausgang der Schlacht bereits deutlich zu erkennen war. Man hätte es Glück nennen können, wenn sein Onkel anschließend nicht etwas Grauenhaftes getan hätte. Ulrich durfte nicht darüber nachdenken, was vorgefallen war, sonst wurde ihm wieder so übel, dass er seine Erschütterung herauswürgen musste. Jedenfalls konnte es nur noch die Erschütterung sein, die da zum Vorschein kam, denn sein Magen war gänzlich leer.
Hunger hatte er nicht, dazu war sein anderes elend zu groß. er litt grauenhafte Schmerzen an Leib und Seele, konnte sich vor Erschöpfung nicht regen und fand sich in einem schmutzigen Stall abgelegt wieder, als wäre er ein betrunkener Schweinehirt. Warum hatte das Weib ihn überhaupt mitgenommen, wenn sie nicht vorhatte, sich weiter um ihn zu kümmern? er wäre lieber im Eichenlaub gestorben als im Gänsemist.
Wenn doch nur sein Knie nicht so hundsgemein geschmerzt hätte, dann wäre er vielleicht in der Lage gewesen, sich aufzurappeln und eine angemessene Unterkunft aufzusuchen. an Schlaf war nicht mehr zu denken. So wie sein Kopf pochte, musste sein mörderischer Onkel ihn mit einem harten Ding niedergeschlagen haben. er musste Gott danken, dass er noch bei klarem Verstand war.
Die Gänse, die sich mit seiner Anwesenheit abgefunden hatten und um ihn herumhockten, wurden wieder unruhig, zogen die Köpfe aus dem Gefieder und gaben leise Warnlaute von sich. Die Stalltür wurde von außen geöffnet. Im schwachen Gegenlicht erkannte er, dass es das engelhafte Mädchen war, das zu ihm kam. Dieses Mal trug sie zu seinem Bedauern kein Licht.
»Seid ihr wach, mein Herr?«, flüsterte sie.
»Ja.« er wollte mit fester Stimme sprechen und ihr deutlich sagen, was er von der Art hielt, mit der er behandelt wurde. Doch heraus kam nur ein jämmerliches Krächzen.
»Meine Mutter lässt euch ausrichten, dass wir besser für euch sorgen werden, wenn die Lüneburger Reiter aus dem Haus sind. Bei Tagesanbruch werden sie aufbrechen.«
Süß und sanft klang ihre Stimme. Wenn ihre Hände ebenso sanft waren, wollte er sich von diesem Mädchen gern pflegen lassen.
Also würde er seine Beschwerden für sich behalten und sich in Geduld üben. Wenn nur nicht alles so scheußlich gewesen wäre. Vielleicht konnte sie ihm wenigstens noch eine Decke bringen. »Mir ist kalt«, krächzte er.
Mit leichten Schritten, die kaum das Stroh rascheln ließen, kam sie zu ihm, hockte sich an seine Seite, nahm seine Hand und befühlte mit ihren Fingerspitzen seine Stirn.
»Fieber scheint ihr nicht zu haben. Eure Haut ist eisig. Da wird kein Stroh und keine Decke helfen. Ich sage Mutter, sie soll Konni schicken, damit er bei euch schläft und euch wärmt.«
Er hätte freiwillig noch eine weitere Nacht zwischen den Gänsen verbracht, wenn sie selbst bei ihm geschlafen hätte statt dieses »Konni«.
»Warum bleibst du nicht, Engel?«, flüsterte er.
Damit überraschte er sie. Sie hielt inne und zögerte mit ihrer Antwort. »Es wäre Mutter und Ohm Thomas nicht recht. Wir kennen euch nicht.«
Auf einmal beeilte sie sich, ihn zu verlassen. Er hatte sie mit seiner Dummheit verscheucht. »Verzeih, ich meinte nichts unziemliches damit«, versuchte er, ihr nachzurufen. Heraus kam wieder nur Krächzen, und er war nicht sicher, ob sie ihn verstanden hatte.
Brida liebte die Morgenstunden bei der Mühle, wenn Thomas das Mühlenwehr öffnete und das Wasserrad sich knarrend und stockend in Bewegung setzte. Zum allmählich gleichmäßig werdenden rumpeln des Mahlwerks erwachten von den Kindern bis zu den Hühnern alle, die im Haus und den Ställen der Mühle lebten.
Ein Reiher erhob sich vom Ufer des Mühlenweihers, wo er die bisherige ruhe genutzt hatte, um zwischen dem auf der glatten Wasseroberfläche schwimmenden Herbstlaub hindurch nach einer schuppigen Frühmahlzeit Ausschau zu halten. Thomas verscheuchte die großen Vögel oder schoss mit dem Bogen auf sie, wenn er sie sah, damit sie ihm seine Fische nicht abjagten. Doch Brida mochte ihren Anblick und ließ sie heimlich gewähren.
An diesem Morgen hatte sie keine Zeit, den langsamen Anbruch des Tages zu genießen. Zwei der Lüneburger waren wider Erwarten vor ihr erwacht und hatten die Gaststube bereits verlassen. Rasch hatte sie sich einen Umhang übergeworfen und war auf den Hof hinausgetreten. Konni war nachts nicht aus dem Gänsestall zurückgekehrt, musste also tatsächlich dort geschlafen haben.
Die beiden Lüneburger standen ausgerechnet am Zaun vom Gänseauslauf, beugten sich hinüber und begutachteten das Geflügel, als hätten sie noch nie eine Gans gesehen. Ihr Atem stand ihnen in der Morgenfrische als weißer hauch vor den Gesichtern.
»Einen gesegneten Morgen wünsche ich euch. Habt ihr schlecht geschlafen, oder warum hat es euch so früh unter den warmen Decken hervorgetrieben?«, fragte sie.
Der eine von beiden, der am Vorabend so damit angegeben hatte, wie gnadenlos er mit dem Ritter umgesprungen war, schnaufte abfällig. »Wenn du deine Decken warm nennst, Müllerin, dann will ich nicht wissen, was du kalt nennst. Ich habe mir halb den Arsch abgefroren, nachdem das Feuer verloschen war. Was machst du mit diesen Gänsen? Musst du sie alle zu Martini abliefern?«
Brida fluchte innerlich. Wie konnte sie die Kerle schnell und unauffällig vom Gänsestall vertreiben?
»Nein. Nur die Hälfte von ihnen gehört dem Kloster und muss zu Martini in die Stadt. Einen anderen Teil nudeln wir und verkaufen sie selbst. Der Rest bleibt für die Zucht.«
Der zweite Mann nickte. »Mühlengänse sind immer besonders fett. Man weiß ja, woher das kommt.« er feixte frech.
Brida fühlte den Drang, ihm einen Tritt gegen das Schienbein zu versetzen. Sie hatte Leute wie ihn satt. Taten so, als scherzten sie, und meinten es doch ernst. Die meisten Schandmäuler waren überzeugt davon, dass Mühlengeflügel fett war, weil alle Müller betrogen und absichtlich beim umfüllen der Säcke fremdes Korn in den Schmutz fallen ließen.
»Nun ärgere unsere Müllerin nicht. Mir ist es gleich, warum die Gänse so gut im Futter stehen. Ich möchte gern einen deiner Prachtvögel kaufen und meiner Mutter als Geschenk mitbringen. Geh mit mir in den Stall, und wir suchen den schönsten aus, gutes Weib. Ich bin kein Knauser, und schließlich gibt es Grund zum Feiern. Meine alten Eltern werden sich mit mir darüber freuen, wie wir Magnus' Ungeziefer zum Tanz aufgespielt haben.«
Jetzt nur kein Blick zur Stalltür, mahnte Bridas Vernunft. Sie musste sich anstrengen, um dem Rat zu folgen. Wenn Konni nicht zuhörte und schnell begriff, dass der Zeitpunkt ungünstig war, würde er gewiss gleich herauskommen. Sie wollte ungern erklären müssen, was ihr Sohn nachts im Stall gemacht hatte.
»Es wird deinem Mantel und deinen Stiefeln besser bekommen, wenn du nicht zwischen meinen Gänsen herumstapfst. Außerdem regen sie sich auf, wenn Fremde in den Stall kommen. Und dann werden sie nicht richtig fett.«
»Na gut. Aber ich will eine Auswahl haben. Nicht, dass du mir das leichteste Vögelchen herausgreifst.«
Brida winkte ab. »Ach wo. Du bekommst schon einen üppigen Braten. Ist doch für dein Mütterchen.«
Sie schritt im selben Augenblick durch die Pforte des Gänseauslaufs, als Konni verschlafen aus dem Stall schlurfte. Er nestelte seine Bruch auf und wandte sich zum Wasserlassen der Stallecke zu, ohne die Gäste am Zaun zu bemerken.
Brida stieß einen leisen Laut des Unmutes aus. Sie ging so eilig auf ihn zu, dass die Gänse, die nun der Pforte zustrebten, um auf den Weiher gelassen zu werden, ihr schnell aus dem Weg watschelten. »Guten Morgen, Konni. Gab es Zeichen vom Fuchs?«
Überrascht sah ihr Sohn sich zu ihr um. »Fuchs? Warum meinst du denn, dass ein Fuchs ...« Dann entdeckte er die Männer am Zaun, die ihn ihrerseits verwundert betrachteten. »Ach so, der Fuchs«, murmelte er. »Nein, der hat sich nicht blicken lassen. Zu seinem Glück. Ich hätte ihm das Fell über die Ohren gezogen. Das wäre ja noch schöner, wenn da einfach so ein Fuchs daherkommen könnte und ...«
Brida drohte ihm mit erhobener Hand. »Sei nicht blöd, Grützkopf. ich will für unseren Gast eine Gans aussuchen. Lass mich sehen, wie viele noch im Stall sind.«
Als sie an Konni vorüberging, neigte er sich ihr zu. »Meinetwegen können sie den jungen Herrn verdreschen und mitnehmen. Er mault oder schnarcht in einem fort.«
»Schäm dich«, flüsterte Brida ihm zu, bevor sie den Stall betrat.
Im Halbdunkel hielt sie gleichzeitig nach dem Schlaflager ihres Schützlings und nach einer Gans zum Verkauf Ausschau. Sie erhob die Hand zu ihren Lippen, um den Jungen zum Schweigen zu ermahnen, entdeckte ihn jedoch nicht auf seinem Platz.
Hinter ihr schnatterten die Gänse, Schritte waren zu hören, und der Gänsekäufer kam zu ihr herein.
Bridas Herz sackte ihr bis in die Kniekehlen vor Schreck. Wo war der angeschlagene junge Ritter? Nur ihr Umhang und eine Wolldecke lagen dort, wo die beiden Jungen geschlafen hatten.
»So leicht erregbar scheinen mir deine Gänse nicht zu sein. Da wollte ich sie mir doch lieber selbst ansehen. Schläft dein Sohn immer bei ihnen im Stall?«
Brida hoffte, dass er im schlechten Licht nicht sah, wie heiß ihre Wangen wurden. »Nur wenn wir glauben, dass Raubzeug herumschleicht.«
Energisch ergriff sie eine der letzten Gänse, die sich noch im Stall aufhielten, bei den Flügeln. »Lasst uns diese hier draußen bei Licht betrachten.«
»Nein. Lasst uns lieber nachsehen, ob sich hier drinnen nicht noch eine feistere, schönere versteckt. am besten suchen wir da drüben bei dem weichen Ruhelager. Welche Gans würde sich da nicht niederlassen wollen?«
Sein Tonfall hatte Brida längst verraten, dass es ihm nicht um die Gänse ging. Das Tier in ihren Händen schnatterte ängstlich, weil sie es in ihrer Aufregung zu fest drückte. Wütend klemmte Brida sich die Gans unter den Arm. »Ich denke, du nimmst diese hier und machst jetzt, dass du aus meinem Stall kommst!«
Obwohl sie darauf gefasst war, dass er ihre Worte missachten würde, überrumpelte er sie. Er sprang zu ihr, umarmte sie samt Gans und presste ihr einen unerwünschten Kuss auf die Lippen. Ohne zu zögern, stieß sie ihr Knie in Richtung seines Gemächts. Zu ihrem Bedauern war er darauf gefasst und wich aus, doch immerhin gab er ihr Bewegungsspielraum, sodass sie ihm die Gans an den Kopf werfen konnte. Der verängstigte Vogel nutzte flatternd und zappelnd das Gesicht des Mannes, um sich für einen Flugversuch abzustoßen, und schiss ihm dabei auf sein Wams.
Für Genugtuung ließ Brida sich keine Zeit. Der Lüneburger war gerade lange genug abgelenkt. Sie ergriff die zweizinkige Mistforke, die neben der Tür stand, und schlug ihm deren knorrigen Stiel so hart ins Gesicht, dass er aufschrie.
»Oh, verzeih, da bin ich aber böse ausgerutscht. und verzeih mir gleich noch einmal, denn eben merke ich, dass ich doch keine Gans für dich übrig habe.«
Sie war bereit, noch einmal zuzuschlagen und ihn das volle Maß ihrer Wut spüren zu lassen, doch ein Angriff hatte genügt.
»Widerliche Vettel«, jaulte der Kerl, presste die Hand gegen sein Jochbein und taumelte aus dem Stall. Er ließ die Pforte vom Gänseauslauf hinter sich offen, als er ging.
Binnen kürzester Zeit waren sämtliche Gänse hinausgewatschelt und schwammen auf dem Teich, wie sie es gewohnt waren. Brida blieb eine Weile stehen und beobachtete sie, um ihrem rasenden Herzen die Gelegenheit zu geben, sich zu beruhigen. So empört sie war, so erleichtert war sie auch. Sie hatte schon geglaubt, dass der grobe Lüneburger ihren heimlichen Gast erahnte.
Mit einem Blick versicherte sie sich, dass die Männer gegangen waren. Konni war schon dabei, dem Esel heu zu bringen. er schien ihre Sorge um den adligen Kranken nicht besonders ernst zu nehmen und hatte von dem Geschehen im Gänsestall anscheinend nichts mitbekommen. Was gut war, stellte Brida fest, denn sonst hätte er zur Ehrenrettung seiner Mutter womöglich Streit mit den Männern angefangen.
Kurz war sie unschlüssig, ob sie dringender den Lüneburgern folgen und darauf achten sollte, dass sie ohne weiteren Ärger aufbrachen, oder herausfinden, wohin sich der junge Ritter verkrochen hatte. ein halb unterdrückter Schmerzenslaut, der aus dem Stall zu ihr drang, bestimmte ihre Entscheidung. in der hintersten Ecke fand sie den Kranken. Er saß mit ausgestrecktem Bein und an die Wand gelehnt da, hatte sich im Stroh eingegraben und hielt einen Stapel Nistkörbe vor sich. tatsächlich hätte ihn auf diese Art nur jemand entdeckt, der nach ihm suchte.
Als Brida ihm in sein zerschundenes Gesicht sah, wurde sie wieder von Mitgefühl überwältigt, denn ihm liefen Tränen über die Wangen.
»Armer Junge. Wartet ab, in zwei Tagen wird niemand mehr danach fragen, auf welcher Seite ihr gestanden habt. Dann könnt ihr euch wieder sicher fühlen. Wie habt ihr es denn in diese Ecke geschafft?«
Er schloss seine geschwollenen Augen. »Durch den Mist gekrochen wie schmutziges Gewürm. Ich bitte dich inständig, gutes Weib, gib mir eine bessere Unterkunft.«
Brida nickte. »Sobald die drei Lüneburger vom Hof sind, schaffen wir euch auf den Heuboden. Da ist es sauber und hell.«
Zu Bridas Freude verließen die Lüneburger die Mühle nach kargen Abschiedsworten hastig. Keine Gans verkauft zu haben, empfand sie als kleinen Preis für ihr schnelles Verschwinden.
Rasch brachten sie den jungen Ritter in den Stall, der in früheren Zeiten einmal das Wohnhaus von Bridas Vorfahren gewesen war und liebevoll »Lüttes Hus« genannt wurde. Mit Hilfe eines großen Kornsacks und eines Seilzugs zogen sie ihren Gast auf den Heuboden. Sie holten warmes Wasser zum Säubern seiner Schrammen und Wunden, bereiteten ihm ein Lager, mit dem sie auch selbst zufrieden gewesen wären, und versorgten ihn mit einer Mahlzeit.
Er blieb wach, solange sie um ihn herum waren, stellte sich ihnen als Ulrich vor und widersprach nicht, wenn sie ihn »Herr Ritter« nannten. Zu Ann Durt und den Kindern war er am freundlichsten, den Erwachsenen gegenüber verhielt er sich respektvoll, sodass die zusätzliche Arbeit niemanden reute.
Nur Konni hätte auf den adligen Gast gern verzichtet. »So etwas darf sich Ritter nennen!«, beschwerte er sich abends in der Stube. »Wehleidig ist er. Und hat so viel Mitgefühl mit sich selbst wie andere mit der ganzen Christenheit. Soll dankbar sein, dass er noch lebt, und nicht jammern, als würden verdrehte Knie ihm den Tod bringen.«
Nickel hatte mit beiden Händen eine Schale voll Brühe zum Mund geführt und setzte sie nun ab. Die Fettspuren zogen sich über beide Wangen. »Seine Knie sind dick wie Kürbisse. Die Waden sehen dagegen dürr aus. Ich fände das auch schlimm.«
Konni gab ihm einen zärtlichen Klaps gegen den Hinterkopf. »Blödsinn, Nickelchen. Du würdest es genießen, wenn wir alle deine Kugelknie bestaunten. Wahrscheinlich würdest du einen Heller von jedem nehmen, der deine Knie sehen will.«
Stina lachte. »Auf so etwas kommst nur du, Konni!«
Copyright © dieser Ausgabe 2014 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Radom House GmbH.
Brida drehte den Kopf und legte ihr Ohr an den Bretterspalt. Wenn es um die Uneinigkeit zwischen der Stadt Lüneburg und herzog Magnus ging, dann hörte man lieber gut zu. Die Auswirkungen betrafen das ganze Lüneburgische Land, aber die Umgebung der Stadt war von der Fehde besonders betroffen. Brida hoffte und betete jeden Tag, dass keine der Kriegsparteien sich in den Kopf setzte, die Mühle zu zerstören, so wie man es allenthalben aus anderen Orten hörte. einmal, in Bridas Kindheit, hatte ihr Vater die vornehmen Ritter gerade noch überzeugen können, dass die Mühle Oldenburger Klosterbesitz war und Gott ihnen zürnen würde, wenn sie das Eigentum seiner Diener beschädigten.
Brida schnaubte leise. Ihr Vater war ein wortgewandter Mann gewesen. Wenn ihr Bruder Thomas, der nun der Müller war, dasselbe versuchen würde, würden die Ritter ihn vermutlich auslachen. er war ein guter Kerl, aber schweigsam.
»Der Kaiser stand nie auf der Seite des Herzogs, sondern immer auf der von dem Sachsen. Da ist es doch kein Wunder, wenn die Lüneburger Angst hatten und nicht wussten, wem sie huldigen und gehorchen müssen.« Das war die Stimme eines Knechts aus Ellringen.
und auch der letzte Mann, der als einziger außer Walther noch nicht zu Wort gekommen war, hatte eine Meinung zu der Sache: er stieß einen abfälligen Laut aus. »Nee. angst haben die nicht. Die suchen bloß ihren Vorteil. Darauf verstehen sich die reichen Lüneburger Ratsherren und Pfeffersäcke. und nun lass uns gehen, Hans. Sonst tobt der Alte.«
Brida wechselte die Haltung, um die Knechte durch den Spalt sehen zu können. hastig zog sie den Kopf zurück. Walther blickte genau zu ihr. hatte er sie doch von Weitem schon beobachtet, als sie in die Scheune gegangen war? Verflixt! Wenn es so war, dann würde er sich nicht vom Hof rühren, bis sie wieder herauskam.
Zu allem Übel kamen nun noch die Kinder aus der Mühle. Stina, ihre Jüngste, flitzte unter den alten Kastanienbaum, der mit seiner mächtigen Krone den Hof beherrschte. Sie stampfte mit ihren Holzpantinen ein paar der reifen braunen Früchte aus ihren Stachelhüllen, hob sie auf und warf sie auf Nickel, der ihr aus der Tür gefolgt war.
Nickel war nicht Bridas leiblicher Sohn, sondern ein Findelkind, aber einen großen Unterschied machte das nicht. Stina und er ähnelten sich trotzdem. So duckte Nickel sich nicht, sondern versuchte, die Kastanien zu fangen und zurückzuwerfen. Doch Stina bot ihm kein leichtes Ziel, sondern rannte schon weiter zu den Weiden am Mühlweiher. und weiter zum Mühlrad - auch wenn es den Kindern verboten war -, das wollte Brida wetten.
Sie hätte sie in dieser Lage dennoch gewähren lassen, wenn Walther sich nicht auf einmal von seinen Gesprächspartnern abgewandt hätte und den Kindern gefolgt wäre.
Brida stieß sich von der Wand ab, stakste durch das Heu und stieg die Leiter hinab.
Mit einem flüchtigen Nicken grüßte sie im Vorübergehen die beiden Männer, die noch auf dem Hof standen. als sie zur Rückseite des Mühlengebäudes kam, hatte Walther Stina und Nickel schon zwischen Hauswand, Fluss und Mühlrad in die Enge getrieben.
Mit beiden Daumen in seinem Gürtel stand er da und versperrte ihnen den Weg. er sprach laut, um das Rauschen des Mühlenwehrs und das rhythmische Stampfen und Klappern der Mühle zu übertönen. »aus euch Bälgern kann ja nichts werden. Kein Vater und eine Mutter, die sich immer falsch entscheidet. hat euch nie einer gesagt, dass Kinder am Mühlrad nichts verloren haben, ihr kleinen Holzköpfe? rechts und links braucht ihr welche hinter die Ohren.«
Stina sah ihn trotzig an, wich aber vorsorglich zurück. Gleich darauf, als sie Brida bemerkte, hellte sich ihre Miene erleichtert auf.
»Geht und sammelt die Kastanien ein. ich will sie für Sofias Sau mitnehmen«, befahl Brida den Kindern.
»aber wir haben schon den ganzen Tag gearbeitet. Ann Durt hat gesagt, wir dürfen spielen«, beschwerte Stina sich.
»Dann hätte Ann Durt dazusagen sollen, dass ihr hingehen müsst, wo Spielen erlaubt ist. Nehmt die Kiepe aus dem Lütten Hus für die Kastanien.« Brida schickte sich an zu gehen und beachtete Walther nicht.
Stina und Nickel kamen an ihre Seite gehuscht. Bei allem Gemaule waren sie froh, dass sie Walther entkamen, das wusste Brida.
»Aus denen wird nichts, wenn du sie weiter allein aufziehst «, sagte Walther.
Das sagte er nicht zum ersten Mal zu ihr. Zu ihrem Bedauern hatte es noch immer eine Wirkung auf sie. »Zu meinem Glück bin ich ja nicht allein. und wäre ich es, dann würde ich mir schon einen guten Mann suchen, da mach dir keine Sorgen.«
»Einen besseren als mich, meinst du, ja? Wo fändest du so einen? Denkst du, dich würde jeder nehmen mit deinen Gören? Jung bist du auch nicht mehr. und dein Ruf ist nicht der beste, wie du wohl weißt.« er grinste zwar nicht, dennoch verrieten seine Lippen Genugtuung.
Sie schniefte und stemmte die Hände in die Hüften. »Dass dich die Druse ankomme, Schafswalther. Glaub nicht, ich wüsste nicht, wem ich meinen schlechten Ruf zu verdanken habe, du alter Mistwerfer. und sei bloß froh, dass mir meine Seele zu schade ist, um es dir mit gleicher Münze heimzuzahlen. «
Walther schnaubte und spuckte aus. »ich habe nichts als die Wahrheit über dich gesagt.«
»Mag sein. aber von dem Fliegenschiss Wahrheit, den du über mich weißt, hast du nur die Hälfte erzählt, darauf würde ich wetten.« Mit einem abfälligen Schulterzucken wandte sie sich ab und ging.
»Du wirst schon noch zur Vernunft kommen und mich nehmen, Brigida Müllerstochter!«
Wenn die Esel Reigen tanzen lernen. Vorher werde ich dich nicht zum Mann nehmen, dachte Brida.
Ann Durt, ihre ältere Tochter, stand in der Tür zum Wohn- und Wirtschaftsraum, trocknete sich die Hände und blickte erwartungsvoll zu ihr herüber. Das erinnerte Brida daran, warum sie eigentlich in die Scheune gegangen war. Sie hatte den getrockneten hopfen holen wollen, der ihnen zum Bieransetzen fehlte.
»Ich komme gleich«, rief sie Ann Durt zu.
Ihre hübsche Große lächelte und winkte zur Antwort. Der Mensch musste noch des Weges kommen, dem es gelänge, ein böses Wort aus dem Mädchen hervorzulocken. Zum Glück war ihr Durtchen nicht so dumm, wie sie sanft war.
Zurück in der Mühle, deren vertrautes rumpeln das ganze Gebäude beben ließ und sie beruhigend umfing, sah Brida sich nach ihren Söhnen um. Nachdem vor einigen Wochen der Mühlknecht gestorben war, mussten beide wie erwachsene Männer arbeiten. Trotzdem gelang es Konni, dem jüngeren, immer wieder, sich für eine Weile zwischen die auf ihr Mehl wartenden Leute zu mischen und dem neuesten Tratsch zu lauschen.
Und richtig, da hockte er in der Gaststube bei den zwei einzigen Gästen. Als er seine Mutter eintreten sah, erhob er sich eilig, um zurück zu der Arbeit zu flüchten, die sein Onkel ihm gewiss aufgetragen hatte.
»Halt, mein Sohn. ich will mit dir reden«, bremste Brida ihn.
Der alte Maier, der Stammgast in der Mühle war, weil es ihm auf der Ofenbank bei seiner Tochter zu eng und zu langweilig war, grinste zahnlos. »Was habe ich dir gesagt, min Jung? Lass din Mudder nich sehn, dass du schon wieder hier deinen hintern plattsitzt, sonst färbt sie dich blau unter all deiner weißen tünche.«
Verlegen wischte Konni sich mit der Hand übers mehlbestaubte Gesicht und folgte Brida nach nebenan in den Wohnraum.
»Sollst dich was schämen, Faulpelz! aber sag mal, was gibt es Neues über herzog Magnus und die Lüneburger? es hat mir draußen so geklungen, als wäre etwas geschehen.«
Konni, der aussah, als schäme er sich tatsächlich, aber nicht, als fürchte er, dass seine Mutter ihn je schlüge, nickte. »Kaiser Karl hat den reichsbann über Magnus und seine Verbündeten ausgesprochen. Warum hat er das getan, Mutter?«
Brida schüttelte den Kopf. »Sehe ich aus, als könnte ich einen Kaiser verstehen? ich verstehe schon weit geringere Männer nicht. aber eines kann ich dir sagen: ich fahre im Holzschuh über den Mühlenweiher, wenn Magnus sich dadurch bekümmern lässt, was der Kaiser in seinen fernen Landen verkündet. eher wird es ihn anstacheln. Würden wir uns nicht ohnehin schon hüten, würde ich sagen, dass wir uns in acht nehmen müssen.«
»Ich finde, du hütest dich nicht besonders gut. Du solltest nicht allein zu Jobst und Sofia gehen. Nimm mich mit.«
»Und was würdest du tun, wenn man uns überfiele? Da könntest du mir am Ende doch bloß beim Schreien helfen. und wenn dir bei der Sache etwas zustieße, dann wäre ich unglücklicher, als wenn es mir selbst geschähe.«
»Ich bin schon vierzehn, Mutter. Und Ohm Thomas sagt, ich habe viel Kraft für mein Alter. einen Knüppel schwingen könnte ich ganz gut.«
»Das kann ich auch selbst, Konni. Mach dir keine Sorgen, ich würde mich schon meiner Haut wehren. Thomas braucht dich hier.«
»Er hat doch Willem.«
»Du weißt genau, dass es für euch beide genug Arbeit gibt. und da scherst du dich nun auch wieder hin. Was solltest du denn machen?«
»Den Roggen aus Ellringen wässern. aber der wird heute bestimmt nicht mehr gemahlen. Die Knechte kommen erst morgen zum Abholen wieder.«
»Wenn Ohm Thomas gesagt hat, du sollst ihn wässern, dann tust du es. So viel selbst nachzudenken, ist Vergeudung. Heb dir das für die Zeiten auf, in denen dir kein Älterer Weisung gibt.«
Konni lachte, weil er wusste, dass sie es nur halb ernst meinte. Sie rieb ihm liebevoll mit der Hand das Mehl von der Wange und freute sich wieder einmal, dass er zumindest in seiner Umgänglichkeit nach seinem Vater kam. Er mochte gelegentlich bockig sein, aber verstockt war er nicht. Und Recht hatte er damit, dass sie unterwegs vorsichtig sein musste.
Wenn sie noch bei Tageslicht bei ihren Freunden sein wollte, dann musste sie sich bald auf den Weg machen. Der Oktober ging seinem Ende zu, es wurde schon früh dunkel.
Der Weg nach Barendorf, wo Jobst Hufschmied war und mit seiner Frau Sofia lebte, führte Brida an den paar Bauernkaten vorüber, die das Dorf Reinstorf ausmachten. eine von diesen Katen hatte sie sieben Jahre zuvor noch selbst bewohnt. Dann hatte sie aufgeben müssen. Die meisten Leute hatten sich gewundert, dass sie es überhaupt versucht hatte, den Hof nach dem Tod ihres Mannes zu halten.
Es quälte sie noch immer, dass sie ihnen schließlich hatte recht geben müssen. Mit fünf Kindern, die alle noch zu jung für schwere Arbeit waren, hatte es nur einen Fieberausbruch zur Erntezeit gebraucht, um ihr klarzumachen, dass sie allein zu schwach war, um das Nötigste zum Überleben zusammenzubringen, auch wenn sie jede dazu notwendige Arbeit im Grunde beherrschte. Es war ein unschätzbarer Segen, dass ihr Bruder sie gern und ohne Herablassung beherbergte. »Du gehörst mit deinen Kindern nicht weniger in die Mühle als ich«, hatte Thomas gesagt, und damit war es beschlossene Sache gewesen.
Brida dachte nicht mehr oft an das, was sie verloren hatte, doch an diesem Tag bemerkte sie im Vorüberwandern, dass ihr ehemaliges Haus leerstand. Mehrfach hatten über die Jahre die Bewohner gewechselt, seit sie die Pacht verloren hatte. Der Lüneburger Kaufmann, dem alles gehörte, ließ sein alt und krank gewordenes Gesinde dort leben. Für schwere Arbeit taugten die Alten nicht mehr, aber sie waren noch rüstig genug gewesen, um die Kate in Ordnung zu halten. Nun waren sie fort, und sogleich setzte der Verfall ein.
Niemand hatte den alljährlichen Kampf gegen das Laub geführt, sodass der Wind es an der Eingangstür hatte anhäufen können. Wenn sich weiterhin niemand um die Kate kümmerte, würde der Wind es im Winter mit dem Schnee ebenso treiben und die Tür ganz versperren, wusste Brida.
Der Gatterzaun um den Gemüseflecken hinter dem Haus hing schief an einem umgebrochenen morschen Pfahl. ein Schwein hatte sich unter dem Zaun hindurchgewühlt.
Es gab Brida einen Stich, den Schaden zu sehen. Wie stolz sie damals als frischgebackene Braut auf ihr eigenes Haus und ihren eigenen Garten gewesen war! Wie sorgsam sie alles gehütet hatte, und wie zufrieden Lütke und sie für einige Jahre mit sich und ihrer kleinen Welt gewesen waren.
Brida hatte die Eselstute schon angehalten und war dabei, ihre Ärmel hochzuschieben, um den Zaun wieder aufzurichten, als sie sich zur Vernunft rief. Vorbei, dachte sie, den Kampf hast du verloren. Vorbei ist vorbei, und tot ist tot. Kümmere dich um die Lebenden.
Sie gab der Eselin einen Klaps und setzte ihren Weg fort.
Jobst und Sofia waren glücklich, dass sie zum Helfen kam. Sofia brauchte ständig beide Hände, um sie in ihr schmerzendes Kreuz zu drücken, das den hochschwangeren Leib tragen musste. Ihre Stimmung hätte kaum schlechter sein können. Sie litt unter geschwollenen Gliedern und Schwindelanfällen und glaubte sich dem Tode nahe.
Brida fegte aus, putzte, wusch und ging Sofia beim Windelnsäumen zur hand.
Am nächsten Vormittag half sie Jobst und seinem zwölfjährigen Sohn Klas dabei, einen Teil des Daches neu zu decken. Sie stand eben auf der Leiter, um Jobst ein Strohbündel hinaufzureichen, da machte ein heimkehrender Nachbar bei ihnen halt.
»Ihr werdet nicht glauben, was ich heute Morgen in Wendisch Evern gehört habe. Herzog Magnus hat letzte Nacht Lüneburg überfallen. in den Straßen wurde gekämpft, mit viel Blutvergießen und vielen toten. Und stellt euch vor, die Lüneburger sollen gesiegt und etliche edle Ritter in Gefangenschaft genommen haben.«
Jobst kam auf dem Dach ins Wanken, als er sich erstaunt zu seinem Nachbarn umwandte. »Glaubst du das? Wie kann das sein? Da müssen sich die Bürger ja wacker geschlagen haben.«
»Ein Bäcker soll allein etliche Feinde niedergemacht haben. es muss ein Gräuel gewesen sein.«
Brida, die den Arm ausgestreckt hatte, um Jobst zu stützen, damit er nicht vom Dach fiel, überlief ein Schauder. »Was ist mit dem herzog selbst? Lebt er? ist er gefangen?«
Der Nachbar zuckte mit den Schultern. »So viel wussten die Leute auch nicht. aber wir werden es wohl bald genug erfahren.«
»Da hast du recht«, erwiderte sie, doch sie glaubte es nicht. »Bald genug« konnte zu spät sein, wenn herzog Magnus frei war und darauf sann, wie er am wirkungsvollsten Rache an den Lüneburgern nehmen konnte.
Am frühen Nachmittag verabschiedete sie sich zeitig, weil sie auf dem Rückweg zur Mühle nicht wieder über Reinstorf und an ihrem alten Haus vorbeiwollte. Der zweite Weg, der infrage kam, war länger.
Die Eselin musste keine Last mehr tragen, sodass Brida reiten konnte. Nachdem sie Barendorf hinter sich gelassen hatte, das letzte Schweinequieken, die letzten Axtschläge und der letzte Hahnenschrei des Dorflebens verklungen waren, wurde sie der Stille bald überdrüssig. Aus alter Gewohnheit unterhielt sie sich eine Weile mit der Eselstute, dann begann sie zu singen.
Schön sang sie nicht, aber laut und von Herzen. So hätte sie sicher überhört, dass sich hinter ihr auf dem Waldweg Reiter näherten, wenn die Eselin sie nicht mit dem Spiel ihrer langen Ohren darauf aufmerksam gemacht hätte. Sofort führte sie das Tier vom Weg zwischen die Bäume und Sträucher des Unterholzes, legte ihm beruhigend eine Hand auf die Nüstern und umfasste mit der anderen ihren Wanderstab fester.
Das dumpfe Hufgeklapper wurde lauter, das ohrenspiel der Eselin aufgeregter. Brida hielt die Luft an, bis drei schwer bewaffnete Reiter auf dem Abschnitt des Weges erschienen, den sie überblickte. Die Rösser trabten flott, und die Männer schauten nicht nach rechts und links. Sie waren so beschäftigt mit ihrer Eile, dass sie das Schnauben der Eselin nicht hörten. Brida atmete auf. Wenn du dich jemals vor anderen Menschen verstecken willst, dann nimm auf keinen Fall ein Tier mit, dachte sie und legte sich die Hand auf die Brust, in der ihr Herz so wild hämmerte, dass sie davon außer Atmem war. Erst als sie sich wieder beruhigt hatte, wagte sie es, auf den Weg zurückzukehren.
Nun war sie froh über die Stille, die es ihr ermöglichte, nach weiteren reisenden zu lauschen.
Wenn sie nicht so aufmerksam zu Fuß weitergeschlichen wäre, wäre ihr wohl das leise Seufzen entgangen, das aus dem dichten Brombeergestrüpp drang. Sie erstarrte so plötzlich in ihrer Bewegung, dass die Eselin sie zuerst anrempelte, bevor sie ebenfalls mit geweiteten Nüstern ins Gebüsch blickte.
Brida musterte die undurchdringlich wirkende pflanzen- decke und bemerkte geknickte Zweige und niedergetretenes Gras. Die kühle Stimme ihrer Vernunft gab ihr sofort einen Rat: Sieh zu, dass du wegkommst. Was da stöhnt, hatte vielleicht einen Feind, den du nicht auch haben möchtest.
Mit einem schicksalsergebenen Schniefen wandte Brida sich an ihre Eselin. »Aber wann hätte ich je an Schwierigkeiten vorübergehen können, was, Olle? also bleib schön stehen. Ich wate mal in die Brommeln.«
Was sie nach kurzem herumstochern im dornigen Gestrüpp fand, entsprach ihren Befürchtungen. auf dem Waldboden lag ein übel zugerichteter Mensch. Seine Rüstung wies ihn als adligen Kriegsmann aus, das dichte, helle Haar und der schlanke Wuchs verrieten seine Jugend. Seinem Gesicht war nicht viel zu entnehmen, denn wo es nicht rotblau und geschwollen war, da war es von den Stacheln und Zweigen des Gestrüpps zerkratzt und blutig. Blut bedeckte auch seine Beinröhren und Handschuhe und das Laubbett, in dem er ruhte.
Brida musste ihn nicht lange betrachten, um zu wissen, dass jeder seiner Seufzer sein letzter sein konnte.
Lauf weg, solange du noch kannst, sagte die Stimme in ihrem Hinterkopf. es lag auf der Hand, dass dieser junge Kämpe etwas mit der Schlacht um Lüneburg zu tun hatte.
Doch auch diese Mahnung ihrer Vernunft verhallte. Brida dachte an ihren eigenen ältesten Sohn, der ebenso blond war wie der junge Ritter vor ihr. und auch dieser hatte vermutlich eine Mutter, die lange weinen würde, wenn sie ihn verlor.
»Ich grüße euch, mein Herr«, sagte sie laut, beugte sich zu ihm hinab und berührte ihn zaghaft an dem einen Arm, der unverletzt wirkte. »Könnt ihr mich hören?«
Seine Augen waren so zugeschwollen, dass er sie nicht öffnen konnte, aber Brida sah, dass er es versuchte.
»Wirst du mir helfen?«, fragte er. Undeutlich und leise kam es zwischen seinen zerschlagenen Lippen hervor, aber auch seine Stimme klang jung.
Bridas Herz floss vor Mitleid über. »Ich werde euch helfen, junger Herr, aber ihr müsst euch gedulden. Bleibt still liegen, bis ich mit einem Karren wiederkehre.«
Seine Hand zuckte. »Nicht nach Lüneburg.«
»Nein, keine Sorge. Ich kann mir schon denken, dass ihr dort nicht gut aufgehoben wäret.«
»Mir ist so kalt.«
Wortlos nahm Brida ihren Wollumhang ab und deckte ihn damit zu.
Jobst beschnitt gerade dem Zugochsen eines Bauern die verwachsenen Klauen, als Brida auf ihrer Eselin bei seinem Haus ankam. Ihr klapperten die Zähne von dem flinken Trab, zu dem sie das Tier angetrieben hatte. Trotz ihrer Eile wartete sie, bis der Bauer seinen Ochsen davonführte, bevor sie ihrem Freund erzählte, warum sie umgekehrt war.
Er schüttelte den Kopf. »Ich kann ihn nicht bei uns aufnehmen, Brida. Du weißt, dass ich Sofia nicht noch eine Last aufbürden darf. Und dazu die Angst, dass es sich rächen könnte, wenn wir ihn beherbergen ... ich würde ja gern meine Christenpflicht tun, aber es geht nicht.«
Brida tätschelte ihm den Arm. Drei unzertrennliche Freunde waren sie gewesen: Jobst, ihr Bruder Thomas und ihr Liebster Lütke. und Jobst war bei all seiner überragenden Körperkraft schon immer der Zaghafteste von ihnen gewesen.
»Das wollte ich gar nicht von dir verlangen. Leih mir nur den Karren und hilf mir, den Mann aufzuladen. Dann bringe ich ihn in die Mühle.«
»Damit tust du Thomas auch keinen Gefallen. Lass mich Klas zum Kloster Lüne schicken, damit die Kirche sich des Mannes annimmt.«
Brida hatte das »Wirst du mir helfen?« des jungen Ritter noch zu deutlich im Ohr, um Jobsts Angebot ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Es würde zu viel Zeit vergehen, bis die Klosterknechte dem Verletzten zu Hilfe kamen. und wer wusste, ob sich die ehrwürdigen Schwestern nicht der Stadt Lüneburg verpflichtet fühlten und den Jungen auslieferten.
So bestand sie darauf, ihn selbst mitzunehmen, lud ihn gemeinsam mit Jobst auf den Karren und bedeckte ihn mit ihrem Umhang und alten Säcken, damit nicht jeder reisende ihn gleich sah. Er sprach nicht mehr, sondern stöhnte nur, als sie ihn bewegten.
Brida schwitzte auch ohne ihren Umhang Rinnsale, als sie eine Weile später unterwegs war und sich erneut Bewaffnete auf Pferden näherten. Doch die Reiter preschten vorüber, ohne sie zu beachten.
Am liebsten hätte sie die Eselin zum Galopp angetrieben, doch der zweirädrige Karren holperte schon bei maßvoller Geschwindigkeit mit so harten Stößen über die schlechte Straße, dass es ihr selbst wehtat, obwohl sie nicht verletzt war.
Daher war es bereits dunkel, als sie die vertraute dunkle Silhouette des Mühlengebäudes erblickte. Ihr Bruder und ihre Kinder standen auf dem Hof. Ann Durt zündete eben die Fackeln an, die Thomas und Konni trugen.
»Da ist sie ja«, schrie Stina und kam Brida entgegengerannt, noch ganz Kind mit ihren elf Jahren.
Thomas gab Ann Durt die Fackel zurück und folgte Stina mit langen Schritten. »Warum kommst du mit dem Karren? Hat dich das so lange aufgehalten? Hast du gehört, was in Lüneburg geschehen ist?«
Brida ließ die Eselin anhalten und blickte sich nach ihrer Fracht um. unter den Säcken rührte sich nichts, es sah aus, als hätte sie nur Rüben und alte Lumpen geladen. Mit einem Seufzer kletterte sie vom Karren und wandte sich ihrem Bruder zu. »Sind wir heute Nacht unter uns, oder haben wir Gäste? Ich habe etwas mitgebracht, das kein Fremder sehen darf.«
Sofort dämpfte Thomas seine Stimme. »Du machst mir Angst. Wir haben drei bewaffnete Reiter aus Lüneburg hier. Sie sitzen in der Gaststube und wollen übernachten. Wenn du ein Geheimnis auf dem Karren hast, dann bring es nicht ins Haus und nicht in den Pferdestall.«
Nun waren auch die Kinder herangekommen. Bevor Brida ihn davon abhalten konnte, hatte Konni seine Fackel über die Ladefläche gehoben und einen der leeren Säcke gelüpft.
»Heiliges Mühlrad, was ist das denn? Mutter, bist du verrückt? Das ist ein Ritter«, entfuhr es ihm.
Wie aus einem Munde zischten Brida und ihr Bruder ihn gleichzeitig an, leise zu sein.
»Haltet nur ja alle den Mund. Ihr habt nichts gesehen!«, befahl Thomas den Kindern.
Brida drückte ihm dankbar den Arm. »Ich bringe ihn in den Gänsestall. Konni, hilf mir. Du wirst deine Neugier ohnehin nicht bezwingen können.«
Ann Durt hob ebenfalls ihre Fackel und spähte über den Karrenrand. »In den Gänsestall? Da wird ihm Hören und Sehen vergehen.«
Brida zuckte mit den Schultern. »Das ist ihm schon vergangen. Vielleicht für immer, ich weiß es nicht. Geh und bring mir Wasser und ein Tuch in den Stall. Aber so, dass die Gäste es nicht bemerken.«
»Und wir? Was sollen wir tun?«, fragte Stina.
»Ihr setzt euch ans Feuer und spielt ein Fadenspiel oder was euch sonst einfällt. Ich erzähle euch später alles. Habt Geduld und schweigt.«
Widerwillig ließen sich die Kinder von ihrem Onkel und ihrer großen Schwester ins Haus scheuchen.
Willem nahm kopfschüttelnd Konni die Fackel aus der Hand. »Warum kannst du nicht ein Mal an Schwierigkeiten vorübergehen, Mutter? Ich lösche die Fackel, ihr habt genug Mondlicht beim Stall. Es wäre besser, ihr brächtet den Mann außer Sicht, bevor einer von den Reitern herauskommt, um in den Fluss zu pissen. Es sind Lüneburger. Wenn sie sehen, dass du ihren Feind versteckst, zerschlagen sie uns wenigstens den Hausrat, wenn nicht Schlimmeres.«
Energisch griff Brida der Eselin in den Zaum und führte sie in Richtung Fluss und Gänsestall. »Dann geh und sorge dafür, dass sie beschäftigt sind. Würfelt, lass sie auf unsere Kosten trinken. Der Junge hier auf dem Wagen ist vielleicht achtzehn Jahre alt, nicht älter als du. Der Teufel sollte den holen, der dich am Wegesrand fände und dort verrecken ließe.«
Willem legte ihr flüchtig die Hand auf die Schulter. »Verzeih, Mutter. aber ... ach, was hilft es. ich werde mein Bestes tun.«
Konni schob den Karren an, damit die Eselin das von den Gänsen und Schweinen zerwühlte Flussufer leichter überwinden konnte. »Willem ist immer so verflixt vorsichtig und vernünftig. War Vater auch so?«, wollte er wissen.
»Ob du es glaubst oder nicht, das kommt auch von meiner Seite. Willem spricht nur aus, was meine Vernunft mir im Stillen sagt.«
Konni lachte. »Das kann ich nicht glauben. oder jedenfalls glaube ich, dass du nicht oft auf sie hörst.«
Er sprang zum Zaun des Gänseauslaufs und öffnete die Pforte. Die Wächtergans schlug Alarm, und binnen kürzester Zeit krakeelte und trompetete das ganze Gänsevolk.
»Ihr kommt alle auf den Bratspieß«, drohte Brida den Vögeln.
Konni kam wieder zu ihr geflitzt. »Wir müssen uns beeilen. Was ist schwerer, Schultern oder Beine?«
Es bereitete ihnen keine große Mühe, ihre menschliche Bürde vom Karren zwischen den aufgestörten Tieren hindurch in den Stall zu bringen. Sie waren beide stark und hatten schon andere Lasten zusammen getragen.
Gleich nachdem sie ein Plätzchen für ihren reglosen, aber noch atmenden Schützling gefunden und ihn abgelegt hatten, schickte Brida Konni fort, damit er die Eselin versorgte. Die Gänse beruhigten sich bereits, sie hatten die Frau erkannt, aus deren Händen sie täglich ihr Futter empfingen.
Der Mond hatte sie draußen ausreichend mit Licht versorgt, doch im inneren des Gänsestalls versagte er seinen Dienst. Brida sah kaum die Hand vor Augen. außerdem fand sie es für einen kranken Menschen zu kalt. trotz allem begann sie, ihn mit tastenden Fingern von seiner Rüstung zu befreien. Der drückende plattenrock und das Kettenhemd mussten eine Qual sein.
Der junge Mann war so still gewesen, seit sie ihn gefunden hatte, dass sie erleichtert war, als er nun stöhnte.
»Mutter Maria. Mir ist übel.«
Er hatte es kaum ausgesprochen, als er sich auch schon halb aufrichtete und sich übergab.
Brida half ihm, so gut es in der Dunkelheit ging. »Nun, zumindest lebt ihr, mein Junge«, sagte sie und rieb ihm tröstend den von der Rüstung erlösten rücken.
»Mir tut alles weh«, flüsterte er und ließ sich wieder ins Stroh sinken.
»Wart ihr letzte Nacht in Lüneburg? Habt ihr dort in der Schlacht so gelitten?«, fragte sie leise.
»Ja. aber ich wäre davongekommen. Wenn nicht ...« Das Sprechen fiel ihm schwer, von Wort zu Wort klang er undeutlicher, bis er verstummte.
Brida nahm ihm vorsichtig seine Beinschienen ab. Er ließ es sich gefallen, stöhnte aber und schrie auf, als sie seine Knie beugte. Erschrocken hielt sie inne. »Schscht. außer meinem Bruder und meinen Kindern darf niemand wissen, dass ihr hier seid. Ihr müsst die Zähne zusammenbeißen.«
Sie lauschte, hörte jedoch nur das Schnattern der beunruhigten Gänse. Nicht nur der Aufschrei des Verletzten hatte die Vögel erneut aufgestört. Ann Durt kam in den Stall, und sie brachte nicht nur ein Tuch und warmes Wasser, sondern auch einen brennenden Kienspan und einen kleinen Krug Bier.
»Danke, Engel. ich konnte unserem Gast hier im Dunkeln kaum helfen.«
Die flackernde kleine Flamme in Ann Durts Hand beleuchtete ihr Gesicht so wohlwollend, dass sie noch hübscher und sanfter wirkte als bei tag. Ihr Anblick brachte Brida zum Lächeln, obwohl ihr sonst alles andere als heiter zumute war.
Zögernd näherte sich ihre Tochter. »Ist der Herr wach?«
Der Verletzte atmete hörbar ein. »Engel? Ist sie ein Engel? Wird sie mich retten?«
»Nun, meine Tochter ist nur ein irdischer Engel, aber sie wird uns beistehen.«
Eilig sorgte Brida mit Ann Durts Hilfe dafür, dass der Verletzte einigermaßen sauber und weich lag. Sie gaben ihm zu trinken und überließen ihn dann sich selbst, um die Gäste, die in der Mühle auf Bewirtung warteten, nicht unruhig werden zu lassen.
Als Brida den Lüneburgern Bier einschenkte, erkannte sie, dass ihre Vorsicht angebracht war. aufgewühlt und reizbar waren die drei Männer von ihren Kampferlebnissen in der Stadt. Einer von ihnen hatte im Gefecht einen Ritter getötet und wurde es nicht müde, die Erzählung von seiner Heldentat zu wiederholen. Immer neue Schmähworte fanden die drei für die Gefolgschaft von Herzog Magnus, der selbst nicht an der Schlacht teilgenommen hatte.
Jedes Mal, wenn im Laufe des langen Abends einer von den dreien zum Wasserlassen hinaustorkelte, schlug Brida das Herz bis zum Hals. unauffällig spähte sie den zunehmend Betrunkenen durch die Tür nach draußen nach, um sicherzugehen, dass keiner von ihnen sich zum Gänsestall verlief.
Selten war sie so froh darüber gewesen, dass Gäste sich endlich auf ihren Strohsäcken zur ruhe legten.
Thomas, ihre Söhne und die zwei Kleinen - Stina und Nickel - lagen schon in den Butzen und schliefen. Ann Durt saß noch in der Wohnstube auf der Bank beim Feuer, war jedoch auch eingenickt. ihr Kopftuch war verrutscht, und haselbraune Haarsträhnen umspielten ihr Gesicht, sodass Brida nicht nur das engelhafte in ihr sehen konnte, sondern auch das kleine Mädchen, das sie noch vor wenigen Jahren gewesen war. Beide Mädchen hatten die gleiche Haarfarbe wie Brida, während die Jungen Lütkes Blond geerbt hatten.
Sanft rüttelte sie ihre Tochter wach. »Zeit, zu Bett zu gehen, Kind.«
Mit der Anmut eines Schwans, der seine Flügel ausbreitet, reckte Ann Durt sich, rieb sich die Augen und stand dann so federnd auf, als würde sie taufrisch den neuen tag beginnen wollen. »Warst du noch einmal bei dem Kranken?«
Brida schüttelte den Kopf und griff nach einer zerlumpten Decke, um sie sich anstelle ihres Umhanges umzulegen, der dem jungen Ritter im Stall Wärme spendete. »Ich gehe jetzt. Hoffentlich wecken die Gänse unsere Gäste nicht wieder auf.«
Ann Durt überholte sie auf dem Weg zur Tür. »Lass mich gehen. Falls einer von denen aufwacht, kannst du ihn besser beruhigen.«
1
K unzmann von alten fror, er hatte Sodbrennen, und seine Schmerzen ließen ihn keinen Schlaf finden. Burg Rethem an der aller war immer ein Eiskeller, jetzt im Oktober wäre der Aufenthalt nur mit einem großen, lodernden Feuer zu ertragen gewesen. Für ein solches Feuer war der Burgvogt jedoch zu geizig. Er ging lieber davon aus, dass seine kampferprobten Gäste abgehärtet genug waren, um die Kälte zu ertragen.
Gespart hatte er auch beim Essen. So wie er sich fühlte, hätte Kunzmann darauf geschworen, dass das Schweinefleisch vom Abendessen mehr als nur ein wenig verdorben gewesen war. Er hatte es zu seinem Bedauern nicht rechtzeitig bemerkt, weil der Koch das Geschnetzelte geschickt gewürzt und in saurer Soße ersäuft hatte.
Kälte und Sodbrennen waren unverschuldet und ärgerlich. Der Schmerz hingegen hatte eine frohe Seite, denn den hatte er sinnvoll erworben. Ihm war ein böses Elfengeschoss in den Rücken gefahren, als er seinen toten Neffen ins Gestrüpp geworfen hatte. Wenn dieser brennende Rückenschmerz eine Strafe für die Tat sein sollte, dann wollte er sie gern annehmen. Brachte sie ihm doch vermutlich einen gehörigen Zugewinn an Vermögen und Macht ein. Endlich musste er sich nicht mehr fragen, wie viel sein Vater dem jungen Ulrich vermachen würde.
Wäre sein Bruder, der Vater des Jungen, noch am Leben gewesen, hätte Kunzmann nicht damit gehadert, das Erbe teilen zu müssen. Sein Bruder Karl war ein verdienter, gestandener Mann gewesen, und sie hatten gegenseitig auf die Unterstützung durch den anderen bauen können. Der kleine Ulrich hingegen war ein dummer Knabe gewesen, ein Klotz am Bein, der nichts wert war und keinen Anteil am Erbe verdiente. Ihn zu beseitigen, war ein Dienst am Stamme derer von alten gewesen.
So hatte die peinliche Schmach, die sie als des herzogs Gefolgschaft in Lüneburg erlebt hatten, wenigstens ein Gutes gehabt. Kunzmann hätte sich von herzen darüber freuen können, wäre ihm nicht so kalt gewesen und so übel.
Ulrich von Alten fühlte sich, als würde er einen nicht enden wollenden Alptraum durchleben. Ende Januar hatte er von Herzog Magnus seinen ersten Auftrag bekommen. Stolz und siegesgewiss war er losgeritten, um die herzögliche Besatzung der Lüneburger Burg vor dem kommenden Treuebruch der Lüneburger zu warnen. Doch als er bei dem verfluchten Kalkberg ankam, auf dem die Burg stand, war sie bereits durch eine tückische List von den Stadtbürgern eingenommen worden. Als Weiber verkleidet, waren die wehrhaften Bürger in die Burg gekommen, und die Besatzer hatten es erst durchschaut, als es zu spät war. Schmählich hatte Ulrich mit dieser Nachricht zu Magnus zurückkehren müssen.
Seither war er von den Männern der Gefolgschaft nicht mehr für voll genommen worden. Bei Magnus' Rachefeldzug gegen die Stadt hatte Ulrich alles daransetzen wollen, sich zu beweisen und die Schmach auszumerzen. Stattdessen hatte er sich im Verlaufe einer entsetzlichen Niederlage von einem einfachen Zimmermann so am Bein verletzen lassen, dass er sich kaum noch hatte bewegen können. Es gemahnte an ein Wunder, dass es seinem Onkel gelungen war, ihn noch aus der Stadt zu schaffen, als der Ausgang der Schlacht bereits deutlich zu erkennen war. Man hätte es Glück nennen können, wenn sein Onkel anschließend nicht etwas Grauenhaftes getan hätte. Ulrich durfte nicht darüber nachdenken, was vorgefallen war, sonst wurde ihm wieder so übel, dass er seine Erschütterung herauswürgen musste. Jedenfalls konnte es nur noch die Erschütterung sein, die da zum Vorschein kam, denn sein Magen war gänzlich leer.
Hunger hatte er nicht, dazu war sein anderes elend zu groß. er litt grauenhafte Schmerzen an Leib und Seele, konnte sich vor Erschöpfung nicht regen und fand sich in einem schmutzigen Stall abgelegt wieder, als wäre er ein betrunkener Schweinehirt. Warum hatte das Weib ihn überhaupt mitgenommen, wenn sie nicht vorhatte, sich weiter um ihn zu kümmern? er wäre lieber im Eichenlaub gestorben als im Gänsemist.
Wenn doch nur sein Knie nicht so hundsgemein geschmerzt hätte, dann wäre er vielleicht in der Lage gewesen, sich aufzurappeln und eine angemessene Unterkunft aufzusuchen. an Schlaf war nicht mehr zu denken. So wie sein Kopf pochte, musste sein mörderischer Onkel ihn mit einem harten Ding niedergeschlagen haben. er musste Gott danken, dass er noch bei klarem Verstand war.
Die Gänse, die sich mit seiner Anwesenheit abgefunden hatten und um ihn herumhockten, wurden wieder unruhig, zogen die Köpfe aus dem Gefieder und gaben leise Warnlaute von sich. Die Stalltür wurde von außen geöffnet. Im schwachen Gegenlicht erkannte er, dass es das engelhafte Mädchen war, das zu ihm kam. Dieses Mal trug sie zu seinem Bedauern kein Licht.
»Seid ihr wach, mein Herr?«, flüsterte sie.
»Ja.« er wollte mit fester Stimme sprechen und ihr deutlich sagen, was er von der Art hielt, mit der er behandelt wurde. Doch heraus kam nur ein jämmerliches Krächzen.
»Meine Mutter lässt euch ausrichten, dass wir besser für euch sorgen werden, wenn die Lüneburger Reiter aus dem Haus sind. Bei Tagesanbruch werden sie aufbrechen.«
Süß und sanft klang ihre Stimme. Wenn ihre Hände ebenso sanft waren, wollte er sich von diesem Mädchen gern pflegen lassen.
Also würde er seine Beschwerden für sich behalten und sich in Geduld üben. Wenn nur nicht alles so scheußlich gewesen wäre. Vielleicht konnte sie ihm wenigstens noch eine Decke bringen. »Mir ist kalt«, krächzte er.
Mit leichten Schritten, die kaum das Stroh rascheln ließen, kam sie zu ihm, hockte sich an seine Seite, nahm seine Hand und befühlte mit ihren Fingerspitzen seine Stirn.
»Fieber scheint ihr nicht zu haben. Eure Haut ist eisig. Da wird kein Stroh und keine Decke helfen. Ich sage Mutter, sie soll Konni schicken, damit er bei euch schläft und euch wärmt.«
Er hätte freiwillig noch eine weitere Nacht zwischen den Gänsen verbracht, wenn sie selbst bei ihm geschlafen hätte statt dieses »Konni«.
»Warum bleibst du nicht, Engel?«, flüsterte er.
Damit überraschte er sie. Sie hielt inne und zögerte mit ihrer Antwort. »Es wäre Mutter und Ohm Thomas nicht recht. Wir kennen euch nicht.«
Auf einmal beeilte sie sich, ihn zu verlassen. Er hatte sie mit seiner Dummheit verscheucht. »Verzeih, ich meinte nichts unziemliches damit«, versuchte er, ihr nachzurufen. Heraus kam wieder nur Krächzen, und er war nicht sicher, ob sie ihn verstanden hatte.
Brida liebte die Morgenstunden bei der Mühle, wenn Thomas das Mühlenwehr öffnete und das Wasserrad sich knarrend und stockend in Bewegung setzte. Zum allmählich gleichmäßig werdenden rumpeln des Mahlwerks erwachten von den Kindern bis zu den Hühnern alle, die im Haus und den Ställen der Mühle lebten.
Ein Reiher erhob sich vom Ufer des Mühlenweihers, wo er die bisherige ruhe genutzt hatte, um zwischen dem auf der glatten Wasseroberfläche schwimmenden Herbstlaub hindurch nach einer schuppigen Frühmahlzeit Ausschau zu halten. Thomas verscheuchte die großen Vögel oder schoss mit dem Bogen auf sie, wenn er sie sah, damit sie ihm seine Fische nicht abjagten. Doch Brida mochte ihren Anblick und ließ sie heimlich gewähren.
An diesem Morgen hatte sie keine Zeit, den langsamen Anbruch des Tages zu genießen. Zwei der Lüneburger waren wider Erwarten vor ihr erwacht und hatten die Gaststube bereits verlassen. Rasch hatte sie sich einen Umhang übergeworfen und war auf den Hof hinausgetreten. Konni war nachts nicht aus dem Gänsestall zurückgekehrt, musste also tatsächlich dort geschlafen haben.
Die beiden Lüneburger standen ausgerechnet am Zaun vom Gänseauslauf, beugten sich hinüber und begutachteten das Geflügel, als hätten sie noch nie eine Gans gesehen. Ihr Atem stand ihnen in der Morgenfrische als weißer hauch vor den Gesichtern.
»Einen gesegneten Morgen wünsche ich euch. Habt ihr schlecht geschlafen, oder warum hat es euch so früh unter den warmen Decken hervorgetrieben?«, fragte sie.
Der eine von beiden, der am Vorabend so damit angegeben hatte, wie gnadenlos er mit dem Ritter umgesprungen war, schnaufte abfällig. »Wenn du deine Decken warm nennst, Müllerin, dann will ich nicht wissen, was du kalt nennst. Ich habe mir halb den Arsch abgefroren, nachdem das Feuer verloschen war. Was machst du mit diesen Gänsen? Musst du sie alle zu Martini abliefern?«
Brida fluchte innerlich. Wie konnte sie die Kerle schnell und unauffällig vom Gänsestall vertreiben?
»Nein. Nur die Hälfte von ihnen gehört dem Kloster und muss zu Martini in die Stadt. Einen anderen Teil nudeln wir und verkaufen sie selbst. Der Rest bleibt für die Zucht.«
Der zweite Mann nickte. »Mühlengänse sind immer besonders fett. Man weiß ja, woher das kommt.« er feixte frech.
Brida fühlte den Drang, ihm einen Tritt gegen das Schienbein zu versetzen. Sie hatte Leute wie ihn satt. Taten so, als scherzten sie, und meinten es doch ernst. Die meisten Schandmäuler waren überzeugt davon, dass Mühlengeflügel fett war, weil alle Müller betrogen und absichtlich beim umfüllen der Säcke fremdes Korn in den Schmutz fallen ließen.
»Nun ärgere unsere Müllerin nicht. Mir ist es gleich, warum die Gänse so gut im Futter stehen. Ich möchte gern einen deiner Prachtvögel kaufen und meiner Mutter als Geschenk mitbringen. Geh mit mir in den Stall, und wir suchen den schönsten aus, gutes Weib. Ich bin kein Knauser, und schließlich gibt es Grund zum Feiern. Meine alten Eltern werden sich mit mir darüber freuen, wie wir Magnus' Ungeziefer zum Tanz aufgespielt haben.«
Jetzt nur kein Blick zur Stalltür, mahnte Bridas Vernunft. Sie musste sich anstrengen, um dem Rat zu folgen. Wenn Konni nicht zuhörte und schnell begriff, dass der Zeitpunkt ungünstig war, würde er gewiss gleich herauskommen. Sie wollte ungern erklären müssen, was ihr Sohn nachts im Stall gemacht hatte.
»Es wird deinem Mantel und deinen Stiefeln besser bekommen, wenn du nicht zwischen meinen Gänsen herumstapfst. Außerdem regen sie sich auf, wenn Fremde in den Stall kommen. Und dann werden sie nicht richtig fett.«
»Na gut. Aber ich will eine Auswahl haben. Nicht, dass du mir das leichteste Vögelchen herausgreifst.«
Brida winkte ab. »Ach wo. Du bekommst schon einen üppigen Braten. Ist doch für dein Mütterchen.«
Sie schritt im selben Augenblick durch die Pforte des Gänseauslaufs, als Konni verschlafen aus dem Stall schlurfte. Er nestelte seine Bruch auf und wandte sich zum Wasserlassen der Stallecke zu, ohne die Gäste am Zaun zu bemerken.
Brida stieß einen leisen Laut des Unmutes aus. Sie ging so eilig auf ihn zu, dass die Gänse, die nun der Pforte zustrebten, um auf den Weiher gelassen zu werden, ihr schnell aus dem Weg watschelten. »Guten Morgen, Konni. Gab es Zeichen vom Fuchs?«
Überrascht sah ihr Sohn sich zu ihr um. »Fuchs? Warum meinst du denn, dass ein Fuchs ...« Dann entdeckte er die Männer am Zaun, die ihn ihrerseits verwundert betrachteten. »Ach so, der Fuchs«, murmelte er. »Nein, der hat sich nicht blicken lassen. Zu seinem Glück. Ich hätte ihm das Fell über die Ohren gezogen. Das wäre ja noch schöner, wenn da einfach so ein Fuchs daherkommen könnte und ...«
Brida drohte ihm mit erhobener Hand. »Sei nicht blöd, Grützkopf. ich will für unseren Gast eine Gans aussuchen. Lass mich sehen, wie viele noch im Stall sind.«
Als sie an Konni vorüberging, neigte er sich ihr zu. »Meinetwegen können sie den jungen Herrn verdreschen und mitnehmen. Er mault oder schnarcht in einem fort.«
»Schäm dich«, flüsterte Brida ihm zu, bevor sie den Stall betrat.
Im Halbdunkel hielt sie gleichzeitig nach dem Schlaflager ihres Schützlings und nach einer Gans zum Verkauf Ausschau. Sie erhob die Hand zu ihren Lippen, um den Jungen zum Schweigen zu ermahnen, entdeckte ihn jedoch nicht auf seinem Platz.
Hinter ihr schnatterten die Gänse, Schritte waren zu hören, und der Gänsekäufer kam zu ihr herein.
Bridas Herz sackte ihr bis in die Kniekehlen vor Schreck. Wo war der angeschlagene junge Ritter? Nur ihr Umhang und eine Wolldecke lagen dort, wo die beiden Jungen geschlafen hatten.
»So leicht erregbar scheinen mir deine Gänse nicht zu sein. Da wollte ich sie mir doch lieber selbst ansehen. Schläft dein Sohn immer bei ihnen im Stall?«
Brida hoffte, dass er im schlechten Licht nicht sah, wie heiß ihre Wangen wurden. »Nur wenn wir glauben, dass Raubzeug herumschleicht.«
Energisch ergriff sie eine der letzten Gänse, die sich noch im Stall aufhielten, bei den Flügeln. »Lasst uns diese hier draußen bei Licht betrachten.«
»Nein. Lasst uns lieber nachsehen, ob sich hier drinnen nicht noch eine feistere, schönere versteckt. am besten suchen wir da drüben bei dem weichen Ruhelager. Welche Gans würde sich da nicht niederlassen wollen?«
Sein Tonfall hatte Brida längst verraten, dass es ihm nicht um die Gänse ging. Das Tier in ihren Händen schnatterte ängstlich, weil sie es in ihrer Aufregung zu fest drückte. Wütend klemmte Brida sich die Gans unter den Arm. »Ich denke, du nimmst diese hier und machst jetzt, dass du aus meinem Stall kommst!«
Obwohl sie darauf gefasst war, dass er ihre Worte missachten würde, überrumpelte er sie. Er sprang zu ihr, umarmte sie samt Gans und presste ihr einen unerwünschten Kuss auf die Lippen. Ohne zu zögern, stieß sie ihr Knie in Richtung seines Gemächts. Zu ihrem Bedauern war er darauf gefasst und wich aus, doch immerhin gab er ihr Bewegungsspielraum, sodass sie ihm die Gans an den Kopf werfen konnte. Der verängstigte Vogel nutzte flatternd und zappelnd das Gesicht des Mannes, um sich für einen Flugversuch abzustoßen, und schiss ihm dabei auf sein Wams.
Für Genugtuung ließ Brida sich keine Zeit. Der Lüneburger war gerade lange genug abgelenkt. Sie ergriff die zweizinkige Mistforke, die neben der Tür stand, und schlug ihm deren knorrigen Stiel so hart ins Gesicht, dass er aufschrie.
»Oh, verzeih, da bin ich aber böse ausgerutscht. und verzeih mir gleich noch einmal, denn eben merke ich, dass ich doch keine Gans für dich übrig habe.«
Sie war bereit, noch einmal zuzuschlagen und ihn das volle Maß ihrer Wut spüren zu lassen, doch ein Angriff hatte genügt.
»Widerliche Vettel«, jaulte der Kerl, presste die Hand gegen sein Jochbein und taumelte aus dem Stall. Er ließ die Pforte vom Gänseauslauf hinter sich offen, als er ging.
Binnen kürzester Zeit waren sämtliche Gänse hinausgewatschelt und schwammen auf dem Teich, wie sie es gewohnt waren. Brida blieb eine Weile stehen und beobachtete sie, um ihrem rasenden Herzen die Gelegenheit zu geben, sich zu beruhigen. So empört sie war, so erleichtert war sie auch. Sie hatte schon geglaubt, dass der grobe Lüneburger ihren heimlichen Gast erahnte.
Mit einem Blick versicherte sie sich, dass die Männer gegangen waren. Konni war schon dabei, dem Esel heu zu bringen. er schien ihre Sorge um den adligen Kranken nicht besonders ernst zu nehmen und hatte von dem Geschehen im Gänsestall anscheinend nichts mitbekommen. Was gut war, stellte Brida fest, denn sonst hätte er zur Ehrenrettung seiner Mutter womöglich Streit mit den Männern angefangen.
Kurz war sie unschlüssig, ob sie dringender den Lüneburgern folgen und darauf achten sollte, dass sie ohne weiteren Ärger aufbrachen, oder herausfinden, wohin sich der junge Ritter verkrochen hatte. ein halb unterdrückter Schmerzenslaut, der aus dem Stall zu ihr drang, bestimmte ihre Entscheidung. in der hintersten Ecke fand sie den Kranken. Er saß mit ausgestrecktem Bein und an die Wand gelehnt da, hatte sich im Stroh eingegraben und hielt einen Stapel Nistkörbe vor sich. tatsächlich hätte ihn auf diese Art nur jemand entdeckt, der nach ihm suchte.
Als Brida ihm in sein zerschundenes Gesicht sah, wurde sie wieder von Mitgefühl überwältigt, denn ihm liefen Tränen über die Wangen.
»Armer Junge. Wartet ab, in zwei Tagen wird niemand mehr danach fragen, auf welcher Seite ihr gestanden habt. Dann könnt ihr euch wieder sicher fühlen. Wie habt ihr es denn in diese Ecke geschafft?«
Er schloss seine geschwollenen Augen. »Durch den Mist gekrochen wie schmutziges Gewürm. Ich bitte dich inständig, gutes Weib, gib mir eine bessere Unterkunft.«
Brida nickte. »Sobald die drei Lüneburger vom Hof sind, schaffen wir euch auf den Heuboden. Da ist es sauber und hell.«
Zu Bridas Freude verließen die Lüneburger die Mühle nach kargen Abschiedsworten hastig. Keine Gans verkauft zu haben, empfand sie als kleinen Preis für ihr schnelles Verschwinden.
Rasch brachten sie den jungen Ritter in den Stall, der in früheren Zeiten einmal das Wohnhaus von Bridas Vorfahren gewesen war und liebevoll »Lüttes Hus« genannt wurde. Mit Hilfe eines großen Kornsacks und eines Seilzugs zogen sie ihren Gast auf den Heuboden. Sie holten warmes Wasser zum Säubern seiner Schrammen und Wunden, bereiteten ihm ein Lager, mit dem sie auch selbst zufrieden gewesen wären, und versorgten ihn mit einer Mahlzeit.
Er blieb wach, solange sie um ihn herum waren, stellte sich ihnen als Ulrich vor und widersprach nicht, wenn sie ihn »Herr Ritter« nannten. Zu Ann Durt und den Kindern war er am freundlichsten, den Erwachsenen gegenüber verhielt er sich respektvoll, sodass die zusätzliche Arbeit niemanden reute.
Nur Konni hätte auf den adligen Gast gern verzichtet. »So etwas darf sich Ritter nennen!«, beschwerte er sich abends in der Stube. »Wehleidig ist er. Und hat so viel Mitgefühl mit sich selbst wie andere mit der ganzen Christenheit. Soll dankbar sein, dass er noch lebt, und nicht jammern, als würden verdrehte Knie ihm den Tod bringen.«
Nickel hatte mit beiden Händen eine Schale voll Brühe zum Mund geführt und setzte sie nun ab. Die Fettspuren zogen sich über beide Wangen. »Seine Knie sind dick wie Kürbisse. Die Waden sehen dagegen dürr aus. Ich fände das auch schlimm.«
Konni gab ihm einen zärtlichen Klaps gegen den Hinterkopf. »Blödsinn, Nickelchen. Du würdest es genießen, wenn wir alle deine Kugelknie bestaunten. Wahrscheinlich würdest du einen Heller von jedem nehmen, der deine Knie sehen will.«
Stina lachte. »Auf so etwas kommst nur du, Konni!«
Copyright © dieser Ausgabe 2014 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Radom House GmbH.
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Autoren-Porträt von Martha Sophie Marcus
Marcus, Martha SophieMartha Sophie Marcus, geboren 1972 im Landkreis Schaumburg, studierte Germanistik, Soziologie und Pädagogik und verbrachte anschließend zwei Jahre in Cambridge. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Lüneburg. Mit "Herrin wider Willen", ihrem ersten Roman, feierte sie ein grandioses Debüt. Seitdem sind weitere historische Romane von ihr bei Goldmann erschienen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Martha Sophie Marcus
- 2014, 480 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442474876
- ISBN-13: 9783442474875
- Erscheinungsdatum: 20.01.2014
Rezension zu „Das Gold der Mühle “
"Verwegene Abenteuer, blutige Machtkämpfe, tapfere Menschen, unzerstörbare Liebe." Lüneburger Landeszeitung
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