Das größere Wunder
Roman
Jonas befindet sich auf dem Dach der Welt. Während einer Trekking-Tour auf den Mount Everest lässt er sämtliche Stationen seines Lebens Revue passieren. Erfahrungen aus der Kindheit, Familienschicksale, Reisen rund um den Globus - und...
Leider schon ausverkauft
Buch (Gebunden)
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Das größere Wunder “
Jonas befindet sich auf dem Dach der Welt. Während einer Trekking-Tour auf den Mount Everest lässt er sämtliche Stationen seines Lebens Revue passieren. Erfahrungen aus der Kindheit, Familienschicksale, Reisen rund um den Globus - und Marie. Marie war seine große Liebe. Eine Liebe die sein Leben auf den Kopf gestellt hat.
Das größere Wunder ist ein Buch über eine Reise ins Unbekannte. Ein Buch, das seinesgleichen sucht und auf den Leser mitreissend, verstörend und mit voller Leidenschaft hereinbricht. Das größere Wunder ist ein faszinierendes Buch über die Liebe.
Klappentext zu „Das größere Wunder “
Jonas ist Tourist in einer Todeszone, er nimmt an einer Expedition zum Gipfel des Mount Everest teil. Während des qualvollen Aufstiegs hängt er seinen Erinnerungen nach. An seine wilde Kindheit, an das grausame Schicksal seines Bruders Mike, an seine endlosen Reisen nach Havanna, Tokio, Jerusalem und Oslo. Und schließlich an die magische Begegnung mit Marie, seiner großen Liebe, die sein ganzes Leben verändert. Thomas Glavinics neuer Roman ist eine Expedition ins Ungewisse - ein unvergleichliches Buch, packend und verstörend zugleich, von einer leidenschaftlichen Energie und enormen Suggestivkraft. Und ein Buch der Liebe.
Lese-Probe zu „Das größere Wunder “
Das größere Wunder von Thomas GlavinicFür Jonas hatte jede Zeit ihren eigenen Geruch, so wie sie auch eine eigene Stimmung und einige charakteristische Bilder hatte. Die Zeit, als er sieben oder acht war und lernte, dass das Leben nicht einfach sein würde, roch nach dem starken Filterkaffee seiner Mutter.
Es war jene Zeit, in der er unglücklich war, wenn er in der Schule sitzen musste, weil er dann nicht auf seinen Bruder aufpassen konnte. Mike besuchte den Kindergarten, obwohl er gleich alt war wie Jonas, auf den Tag genau. Bei seiner Geburt war etwas schiefgegangen, die Nabelschnur hatte sich um seinen Hals gewickelt und ihm zu lange die Luft abgesperrt, und nun konnte er weder bis drei zählen noch einen Hund von einer Katze unterscheiden.
Es gab niemanden auf der Welt, den Jonas so sehr liebte, nicht einmal Werner. Er dachte Tag und Nacht daran, wie er Mike beistehen konnte, wie er ihn vor den Hänseleien anderer Kinder und vor der Wut seiner Mutter schützen konnte, der Wut seiner Mutter und der ihrer Freunde, die nichts übrighatten für ein Kind, das dauernd in die Hose machte, mit dem Essen herumwarf und Haushaltsgeräte kaputtschlug. Und so kam Jonas jeden Morgen zu seiner Mutter in die Küche, wo es nach Kaffee roch, im Radio Volksmusik gespielt wurde und überall leere und halbleere Rotweinflaschen herumstanden.
»Mutti, ich habe gestern ein Glas aus dem Schrank genommen.«
»Na und? Stell’s wieder zurück.«
»Das kann ich nicht.«
»Wieso nicht? Hast du es zerbrochen?«
»Es ist mir runtergefallen. Tut mir leid.«
»Du bist ein Idiot, weißt du das? Das wirst du von deinem Taschengeld bezahlen.«
»Entschuldige bitte.«
»Ach, verzieh dich.«
Jonas war jede Form von Beschimpfung oder Strafe lieber, als mit anzusehen, wie Mike gedemütigt
... mehr
wurde, wie er den Mund verzog und zu weinen begann. Jeder musste bemerken, dass Mike nicht verstand, was man von ihm wollte, aber seine Mutter bemerkte es nicht, sie nicht und ihre Freunde nicht, sie schimpften, sie schlugen zu, und Mike wehrte sich niemals.
Jonas, Mike und Werner waren am selben Tag zur Welt gekommen, ihre Mütter lernten sich im gemeinsamen Krankenzimmer kennen.
Jonas und Werner besuchten denselben Kindergarten, saßen in der Grundschule nebeneinander, lernten auf demselben Fahrrad fahren und im selben Fluss schwimmen, verteidigten sich gegenseitig bei Prügeleien, passten gemeinsam auf Mike auf und entwickelten ähnliche Vorlieben und Abneigungen. Gemeinsam blockierten sie Garagen, probierten Apfelmost, fälschten Unterschriften für ihre Mitschüler, terrorisierten den Postboten, ruinierten Schlösser, warfen unangenehmen Zeitgenossen Flaschen durchs Fenster, in denen sie tausende Fliegen gezüchtet hatten, unterbrachen versehentlich die Stromversorgung des ganzen Ortes, retteten eine Hasenfamilie aus einer Tierheimhölle, und all das noch vor ihrem zehnten Lebensjahr.
Jonas wunderte sich oft, warum es nie Prügel für ihre Streiche setzte, egal, wie schlimm sie waren.
Werners Großvater hieß eigentlich Leopold Brunner, doch Verwandte und enge Freunde nannten ihn Picco, und Werner nannte ihn den Boss, wie er es in einem Film über einen Mann gehört hatte, der Picco angeblich ähnlich sah.
Jonas kam das erste Mal mit dem Boss in Berührung, als Werner in den Karateverein wollte, wo eine resolute Bäckermeisterin Kampfsport lehrte. Jonas hatte kein Geld dafür, weil sich seine Mutter in den wenigen wachen Stunden zwischen zwei Fuselräuschen weigerte, die Kursgebühren zu übernehmen. Werner redete mit Picco, und der bezahlte den Jahresbeitrag für beide. Da waren sie neun.
Diese Zeit – es war eine Zeit, die nach Plastik roch und seltsam rund war – verbrachten Jonas und Mike bereits öfter bei Werner als zu Hause, denn in der schäbigen, niemals aufgeräumten Wohnung ihrer Mutter war es unerträglich. Die Mutter kam, wann sie wollte, und wenn sie kam, war sie betrunken und nicht allein. Bisweilen schlug sie die beiden, doch mehr als die Ohrfeigen schmerzten Jonas die Schwäche und die leere Trauer, mit der sie diese verabreichte.
Zu essen gab es unregelmäßig, und wenn er saubere Wäsche wollte, musste Jonas seine und Mikes Sachen im Waschbecken mit Seife bearbeiten. Nachts lag er wach und hoffte, dass sein Schluchzen von den Stöhngeräuschen aus dem Nebenzimmer übertönt wurde. Schlief er doch ein, wurde er zum Schlafwandler, landete in Schränken, in der Besenkammer, in der Badewanne oder unter dem Tisch. Er hatte so grauenvolle Albträume, dass seine Schreie sogar die lallenden Bettgenossen seiner Mutter alarmierten.
Jonas empfand wenig religiöse Gefühle im herkömmlichen Sinn, doch oft starrte er mit verweinten Augen in die Dunkelheit und betete zu Gott, flehte ihn an, ihm einen Engel zu schicken, eine Form von Erlösung, irgendetwas, das sein Leben erträglich machte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es jemals einen einsameren Menschen gegeben hatte als ihn. In der Wohnung seiner Mutter baute er um sich eine Mauer aus Büchern und Musik, die er mit seinem Kassettenrecorder abspielte, dem letzten Geschenk, das er von seinem Vater bekommen hatte.
Die Jungen sahen Picco selten, er hielt sich im Hintergrund, und weil Werners Eltern ständig geschäftlich verreist waren, wurden Werner, Jonas und Mike hauptsächlich von Hausangestellten aufgezogen, sofern man das, was sich innerhalb dieses Hauses ereignete, als Erziehung bezeichnen konnte. Jonas war das recht, weil er schon damals der Ansicht war, dass es niemanden auf der Welt gab, der ihn erziehen konnte.
»Ich will der werden, der ich bin«, hatte er einmal auf die entsprechende Frage eines Freundes seiner Mutter geantwortet. Das hatte ihm eine Kopfnuss seiner Mutter eingebracht. Trotzdem antwortete er das gleiche, als ihn Picco ein paar Monate darauf fragte, und der gab ihm keine Kopfnuss, sondern wollte wissen, wie genau das gemeint war.
»Ich glaube, man ist schon jemand«, sagte Jonas. »Jeder ist jemand, und besser als das kann er nicht werden. Er kann nichts anderes werden, und wenn er es doch wird, ist er nicht glücklich.«
»Willst du glücklich sein?« fragte Picco.
»Dumme Frage«, antwortete Jonas.
Die Leute ringsum zuckten zusammen, doch Picco lachte. »Du hast recht. Ich habe sie falsch gestellt. Glaubst du, man ist glücklich, wenn man geworden ist, was man ist?«
»Das weiß ich nicht. Das kann ich nicht sagen. Vielleicht auch nicht. Aber wenn, dann nur so.«
»Und du meinst, das Leben ist uns vorbestimmt?«
»Wann habe ich denn das wieder gesagt? Ich habe gesagt, man muss der werden, der man ist, man muss herausfinden, wer man ist, und der muss man dann werden, auch wenn einem das nicht gefällt.«
»Ist das nicht Vorbestimmung?«
»Nicht wirklich. Vielleicht bin ich ein Gewaltverbrecher oder ein Clown, vielleicht ein Automechaniker oder ein Koch, vielleicht bin ich nur das, was ich sein soll, wenn ich in einem Supermarkt arbeite oder wenn ich den ganzen Tag schlafe oder wenn ich Banken ausraube, aber das ist nicht Vorherbestimmung. Vorherbestimmung ist, wenn vorherbestimmt ist, dass mir an einem bestimmten Tag ein Dachziegel auf den Kopf fällt, aber ich glaube nicht, dass ich wichtig genug bin, dass jemand vorherbestimmt, wann mir ein Dachziegel auf den Kopf fallen wird. Ich glaube, ich bin ich, und das muss ich erst werden, weil ich noch ein Kind bin.«
Picco sah ihn lange an, ohne ein Wort zu sagen. Schließlich landete ein Gummigeschoss in Jonas’ Gesicht, er drehte sich um und sah gerade noch, wie Werner um die Ecke flitzte. Damit war das Gespräch beendet.
Picco hatte blaue, jungenhaft strahlende Augen und eine herrlich sanfte Stimme, die sanfteste Stimme, die Jonas je gehört hatte, eine Stimme, von der man sich umschmeichelt und getragen fühlte. Er war anders gekleidet als die meisten Männer seines Alters, trug oft Turnschuhe zum Sakko, seine Bewegungen waren ungezwungen und federnd. Wenn er daheim war, bemerkte man das sofort an der Musik von Johnny Cash, die weite Teile des Hauses ausfüllte. Die Hausangestellten – zu Anfang fiel es Jonas schwer, die Übersicht zu behalten, er schätzte ihre Zahl auf sieben oder acht – behandelte Picco mehr als Freunde denn als Untergebene.
Von denen hatten die Jungen Regina am liebsten. Die Köchin verarztete Wunden, nahm Weinende in den Arm, verteilte Süßigkeiten, erzählte Geschichten und hatte keine Ahnung von dem, was sie am Herd tat.
»Was kochst du heute?« fragte Jonas.
»Das weiß ich nicht.«
»Du meinst, du hast dich noch nicht entschieden?«
»O doch, aber woher soll ich denn wissen, was dabei rauskommt?«
Jonas sah ihr zu, und sogar ihm war klar, dass sie ohne große Sachkenntnis ans Werk ging. Planlos vermischte sie Gewürze, Kräuter, Fleisch und Nudeln, und ihrer Miene beim Abschmecken konnte er ablesen, wie neugierig sie selbst auf das Ergebnis ihres Experiments war.
Zur Leibesfülle neigte hier niemand, auch nicht Gruber, der Gärtner, der in einer Hütte neben dem Haupthaus lebte und sich um alle Reparaturen kümmerte, die auf dem weitläufigen Anwesen anfielen. Seit er sich einmal mit einem Wagenheber ungeschickt angestellt hatte, hinkte er auf dem rechten Bein. Er ging niemals aus, bekam nie Besuch und lachte nie.
Hohenwarter, der eine Art Beraterstelle für Picco einzunehmen schien, sahen sie unregelmäßig, zu selten, um aus ihm schlau zu werden, jedenfalls nicht in diesen ersten Jahren. Er hatte etwas Verschmitztes und strahlte zugleich eine nachlässige Brutalität aus. Ab und an steckte er den Jungen Geld zu und erzählte ihnen vom alten Rom. Mit seinem kahlen glänzenden Kopf und seinen Maßanzügen, die in heftigem Kontrast zu den Filzpantoffeln standen, in denen er durchs Haus schlich, war er eine ziemlich ungewöhnliche Erscheinung. Erst Jahre später begann Jonas zu verstehen, wie viele Geheimnisse es in diesem Haus gab, deren Mittelpunkt Hohenwarter war, und dass es hier um Geschäfte ging, für deren Dimension ihm auch später noch jeder Begriff fehlte.
Mit zehn kam Jonas ins Krankenhaus, weil ihn ein neuer Freund seiner Mutter verprügelt hatte, genau jener, den Jonas insgeheim »das Affe« nannte, weil so ein Mensch seiner Ansicht nach keinen korrekten Artikel verdiente.
Anlass für den Vorfall war Mike gewesen. Beim Versuch, eine Bierflasche als Mikrofon zu benützen und einen Sportreporter zu mimen, hatte Mike die Flasche zerschlagen. Das Affe stürzte sich sofort auf ihn und schlug ihm hart ins Gesicht. Ohne nachzudenken, sprang Jonas dazwischen.
»Hör auf! Lass ihn in Ruhe! Er hat es nicht absichtlich gemacht!«
Im nächsten Moment lag er auf dem Boden, ohne zu wissen, was ihm geschah. Er verstand nicht, wieso er neben leeren Flaschen und Spuren von Katzenpisse auf diesem schmutzigen alten Spannteppich lag und ein riesiger, nach Alkohol dünstender Mann über ihm stand und mit den Fäusten auf ihn einschlug, er verstand es damals nicht und Jahrzehnte später nicht. Er wusste nur, dass ihn nicht der physische Schmerz am tiefsten verletzte, sondern die betretene Untätigkeit seiner Mutter, die mit gesenktem Kopf und einem Glas in der Hand daneben stand und so tat, als sei sie nicht da.
Das war das Bild, das Jonas nie vergessen sollte. Er dachte an seinen Vater, der ein paar Jahre zuvor gestorben war und ihn sicher beschützt hätte, er dachte an den Mount Everest, auf den die mutigsten Menschen der Welt kletterten, er dachte an den Grand Canyon, den er besuchen wollte, seit er im Kindergarten Bilder davon in einem Buch gesehen hatte, und den er sich als eine Heimstatt zauberhafter Urwesen ausmalte, die ihn vor allen Gefahren beschützen würden.
Bald darauf dachte er gar nichts mehr, und alles versank in Dunkelheit.
Mike, Werner und Picco besuchten ihn jeden Tag im Krankenhaus. Selbst Hohenwarter und Regina erschienen, gefolgt von einem riesigen Mann, den Jonas nicht kannte. Beim Anblick der Hämatome an Jonas’ Körper schüttelte Picco den Kopf, strich ihm durchs Haar und murmelte etwas, während Werner stapelweise Micky-Maus-Hefte auspackte und auf den Nachttisch legte.
Mike kletterte zu Jonas ins Bett und schmiegte sich an ihn. Beim Abschied musste er jedes Mal von Jonas fortgezogen werden.
»Er wohnt derzeit bei uns«, erklärte Werner. »Picco wollte das so.«
Am zweiten Tag bekam Jonas ein Einzelzimmer. Als er am Tag darauf für eine Untersuchung nach draußen gerollt wurde, bemerkte er erstaunt, dass der unbekannte Mann aus Piccos Begleitung vor der Tür saß und in einer Zeitschrift las.
»Na, Junge?« sagte der Riese. »Üble Sache, aber es gibt immer noch Schlimmeres.«
»Stimmt wohl.«
»Kennst du die Geschichte von dem Vortragsreisenden in Bangkok?«
»Ich glaube nicht.«
»Nun, das war schon ein älterer Herr, und Bangkok ist heiß und feucht. Nach einem Vortrag ging er auf sein Zimmer und nahm erst mal eine kalte Dusche.«
»Klingt vernünftig.«
»Danach legte er sich aufs Bett, und um sich weiter zu erfrischen, schaltete er einen Ventilator ein. Leider hatte er noch nasse Hände. Errätst du, wie die Geschichte weitergeht?«
»Ich fürchte ja«, sagte Jonas.
»Eine halbe Stunde später kam ein Zimmermädchen rein, und selbst da roch es noch verbrannt.«
»Er war tot?«
»Mausetot.«
»Das ist wirklich schlimmer als das, was mir passiert ist.«
»Siehst du«, sagte der Mann und nahm seine Zeitschrift wieder auf. »Man muss die Dinge immer von der positiven Seite betrachten.«
Nach einer Woche, in der ihn seine Mutter kein einziges Mal besucht hatte, wurde Jonas entlassen, und von da an änderte sich einiges.
Mike und Jonas wohnten von nun an bei Picco. Jonas bekam das Zimmer neben Werner, das dreimal so groß war wie sein altes, es war sauber, er hatte immer frische Wäsche und sogar neue Hosen, die ihm nicht zu kurz waren, er musste sich nicht allein um sich kümmern, sondern wurde geweckt und bekam Frühstück, Mittagessen, Abendessen.
»Merkt dein Großvater eigentlich, dass Mike nicht so ist wie wir?« fragte Jonas. »Weiß er, dass es anstrengend werden kann mit ihm?«
»Der findet den normaler als uns, glaube ich«, sagte Werner.
»Und wie lange sollen wir bleiben?«
»Warten wir mal ab. Mir wäre es am liebsten, ihr bleibt für immer.«
»Aber das geht doch nicht.«
»Hier geht alles.«
Die Mutter sahen Jonas und Mike zunächst einmal die Woche. Immer im Beisein des Riesen aus dem Krankenhaus, der Zach hieß und jedes Ziel in einer Entfernung von bis zu dreißig Metern mit einem Stein treffen konnte.
Die Gespräche mit ihr verliefen einsilbig, sie war so gut wie nie nüchtern. Auf Jonas wirkte sie wie jemand, der von einer bösen Hexe verzaubert und in einen Dämmerschlaf versetzt worden war. Sie schälte Erdnüsse, indem sie mit dem Aschenbecher darauf schlug, bohrte verloren in Mottenlöchern an ihrer Jacke und kratzte sich fluchend mit einer Stricknadel in ihrem Gipsarm, weil sich eine Fliege hinein verkrochen hatte. Den Gips trug sie, weil sie in einer Kneipe die Treppe hinuntergefallen war. Jonas hielt ihren Anblick kaum aus und atmete jedes Mal auf, wenn sie wieder zur Tür hinaus war.
Nach und nach besuchten Jonas und Mike ihre Mutter seltener.
Das Affe sah niemand wieder.
Seit Jonas zu Werner gezogen war, verloren für ihn die hohen kirchlichen Feste ihre Bedeutung. Es wurde nichts außer den Geburtstagen gefeiert.
»Gibt es bei euch kein Weihnachten?« fragte Jonas.
»Nein, wieso?« antwortete Werner.
»Weil man das eben feiert.«
»Wieso?«
»Na ganz einfach … weil man Geschenke kriegt und so.«
»Die kriegen wir ja sowieso.«
»Ja gut … aber wegen dem Baum … und wegen Gott.«
»Lass das mal nicht den Boss hören. Der will von Gott nichts wissen. Er sagt, Gott ist ein Nazi.«
Kleidung kauften die Jungen immer gemeinsam mit Zach. Was ihm gefiel, durfte Jonas für Mike ein zweites Mal einpacken, der immer das Gleiche anhaben wollte wie er. Um sich von Mike zu unterscheiden, trug Jonas stets noch einen Gürtel oder ein Armband, was jedoch nur Werner auffiel. Weil Mike oft stumm dasaß und man nicht auf den ersten Blick merkte, dass er die Welt mit anderen Augen sah, kam es mitunter zu Verwechslungen. Jonas und Werner gefiel die Verwirrung, die die Zwillinge bei manchen Hausbewohnern anrichteten, und Jonas trieb sie gern auf die Spitze, indem er sich zuweilen als Mike ausgab, um auf diese Weise herauszufinden, wie sich die Menschen seinem Bruder gegenüber benahmen. Wer nett zu Mike war, den mochte er. Wer böse zu ihm war, fand am nächsten Tag Hundekot in seinen Schuhen oder halbtote Mäuse im Bett.
Die Volksschule hatten Jonas und Werner dank einer nachsichtigen Lehrerin hinter sich gebracht, und nun stellte sich die Frage, wie es weitergehen sollte. Zwei Abgesandte einer Hochbegabtenschule kamen ins Haus und prüften sie. Der IQ beider Jungen lag im Spitzenbereich, dennoch weigerte sich die Schule mit Hinweis auf ihre disziplinären Defizite, sie aufzunehmen. Von da an ließ Picco die beiden im Haus unterrichten.
Es gab vier festangestellte Lehrer für Mathematik, Deutsch, Englisch und Latein, außerdem noch einen Russen und einen Italiener, weil Jonas so gern Sprachen lernte, dazu kamen wechselnde Vortragende für die Fächer Geschichte, Geografie, Chemie, Physik, Biologie und Philosophie, die meisten waren ausgewiesene Spezialisten.
Es kamen Nobelpreisträger ins Haus, Olympiasieger, Fernsehstars, Schachgenies, Künstler, Politiker und Zauberer. Manche blieben länger, andere kürzer, viele nur einen Tag. Jonas und Werner schafften es, einen missliebigen Lehrer nach dem anderen in die Flucht zu schlagen, bis das Personal ihren Wünschen entsprach. Egal, wie schlimm sie es trieben, ob sie den Lehrern ein Feuerzeug in den Auspufftopf ihres Autos schoben, sie mit Bienenstöcken traktierten oder das Essen mit Abführmittel versetzten, von Picco bekamen sie niemals Vorwürfe zu hören. Und auch sonst von niemandem.
Mit dem Sportlehrer hätten sie sich indes niemals angelegt, denn zum einen mochten sie ihn sehr, zum anderen hätte der sich zu helfen gewusst. Es war Zach, der sie in einer Kampfkunst unterrichtete, die er Wing Chun nannte und von der sie nie zuvor gehört hatten. Er behauptete, sie von einem Meister in Hongkong gelernt zu haben, einem gewissen Wong Shun Leung.
Copyright © by HANSER Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Jonas, Mike und Werner waren am selben Tag zur Welt gekommen, ihre Mütter lernten sich im gemeinsamen Krankenzimmer kennen.
Jonas und Werner besuchten denselben Kindergarten, saßen in der Grundschule nebeneinander, lernten auf demselben Fahrrad fahren und im selben Fluss schwimmen, verteidigten sich gegenseitig bei Prügeleien, passten gemeinsam auf Mike auf und entwickelten ähnliche Vorlieben und Abneigungen. Gemeinsam blockierten sie Garagen, probierten Apfelmost, fälschten Unterschriften für ihre Mitschüler, terrorisierten den Postboten, ruinierten Schlösser, warfen unangenehmen Zeitgenossen Flaschen durchs Fenster, in denen sie tausende Fliegen gezüchtet hatten, unterbrachen versehentlich die Stromversorgung des ganzen Ortes, retteten eine Hasenfamilie aus einer Tierheimhölle, und all das noch vor ihrem zehnten Lebensjahr.
Jonas wunderte sich oft, warum es nie Prügel für ihre Streiche setzte, egal, wie schlimm sie waren.
Werners Großvater hieß eigentlich Leopold Brunner, doch Verwandte und enge Freunde nannten ihn Picco, und Werner nannte ihn den Boss, wie er es in einem Film über einen Mann gehört hatte, der Picco angeblich ähnlich sah.
Jonas kam das erste Mal mit dem Boss in Berührung, als Werner in den Karateverein wollte, wo eine resolute Bäckermeisterin Kampfsport lehrte. Jonas hatte kein Geld dafür, weil sich seine Mutter in den wenigen wachen Stunden zwischen zwei Fuselräuschen weigerte, die Kursgebühren zu übernehmen. Werner redete mit Picco, und der bezahlte den Jahresbeitrag für beide. Da waren sie neun.
Diese Zeit – es war eine Zeit, die nach Plastik roch und seltsam rund war – verbrachten Jonas und Mike bereits öfter bei Werner als zu Hause, denn in der schäbigen, niemals aufgeräumten Wohnung ihrer Mutter war es unerträglich. Die Mutter kam, wann sie wollte, und wenn sie kam, war sie betrunken und nicht allein. Bisweilen schlug sie die beiden, doch mehr als die Ohrfeigen schmerzten Jonas die Schwäche und die leere Trauer, mit der sie diese verabreichte.
Zu essen gab es unregelmäßig, und wenn er saubere Wäsche wollte, musste Jonas seine und Mikes Sachen im Waschbecken mit Seife bearbeiten. Nachts lag er wach und hoffte, dass sein Schluchzen von den Stöhngeräuschen aus dem Nebenzimmer übertönt wurde. Schlief er doch ein, wurde er zum Schlafwandler, landete in Schränken, in der Besenkammer, in der Badewanne oder unter dem Tisch. Er hatte so grauenvolle Albträume, dass seine Schreie sogar die lallenden Bettgenossen seiner Mutter alarmierten.
Jonas empfand wenig religiöse Gefühle im herkömmlichen Sinn, doch oft starrte er mit verweinten Augen in die Dunkelheit und betete zu Gott, flehte ihn an, ihm einen Engel zu schicken, eine Form von Erlösung, irgendetwas, das sein Leben erträglich machte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es jemals einen einsameren Menschen gegeben hatte als ihn. In der Wohnung seiner Mutter baute er um sich eine Mauer aus Büchern und Musik, die er mit seinem Kassettenrecorder abspielte, dem letzten Geschenk, das er von seinem Vater bekommen hatte.
Die Jungen sahen Picco selten, er hielt sich im Hintergrund, und weil Werners Eltern ständig geschäftlich verreist waren, wurden Werner, Jonas und Mike hauptsächlich von Hausangestellten aufgezogen, sofern man das, was sich innerhalb dieses Hauses ereignete, als Erziehung bezeichnen konnte. Jonas war das recht, weil er schon damals der Ansicht war, dass es niemanden auf der Welt gab, der ihn erziehen konnte.
»Ich will der werden, der ich bin«, hatte er einmal auf die entsprechende Frage eines Freundes seiner Mutter geantwortet. Das hatte ihm eine Kopfnuss seiner Mutter eingebracht. Trotzdem antwortete er das gleiche, als ihn Picco ein paar Monate darauf fragte, und der gab ihm keine Kopfnuss, sondern wollte wissen, wie genau das gemeint war.
»Ich glaube, man ist schon jemand«, sagte Jonas. »Jeder ist jemand, und besser als das kann er nicht werden. Er kann nichts anderes werden, und wenn er es doch wird, ist er nicht glücklich.«
»Willst du glücklich sein?« fragte Picco.
»Dumme Frage«, antwortete Jonas.
Die Leute ringsum zuckten zusammen, doch Picco lachte. »Du hast recht. Ich habe sie falsch gestellt. Glaubst du, man ist glücklich, wenn man geworden ist, was man ist?«
»Das weiß ich nicht. Das kann ich nicht sagen. Vielleicht auch nicht. Aber wenn, dann nur so.«
»Und du meinst, das Leben ist uns vorbestimmt?«
»Wann habe ich denn das wieder gesagt? Ich habe gesagt, man muss der werden, der man ist, man muss herausfinden, wer man ist, und der muss man dann werden, auch wenn einem das nicht gefällt.«
»Ist das nicht Vorbestimmung?«
»Nicht wirklich. Vielleicht bin ich ein Gewaltverbrecher oder ein Clown, vielleicht ein Automechaniker oder ein Koch, vielleicht bin ich nur das, was ich sein soll, wenn ich in einem Supermarkt arbeite oder wenn ich den ganzen Tag schlafe oder wenn ich Banken ausraube, aber das ist nicht Vorherbestimmung. Vorherbestimmung ist, wenn vorherbestimmt ist, dass mir an einem bestimmten Tag ein Dachziegel auf den Kopf fällt, aber ich glaube nicht, dass ich wichtig genug bin, dass jemand vorherbestimmt, wann mir ein Dachziegel auf den Kopf fallen wird. Ich glaube, ich bin ich, und das muss ich erst werden, weil ich noch ein Kind bin.«
Picco sah ihn lange an, ohne ein Wort zu sagen. Schließlich landete ein Gummigeschoss in Jonas’ Gesicht, er drehte sich um und sah gerade noch, wie Werner um die Ecke flitzte. Damit war das Gespräch beendet.
Picco hatte blaue, jungenhaft strahlende Augen und eine herrlich sanfte Stimme, die sanfteste Stimme, die Jonas je gehört hatte, eine Stimme, von der man sich umschmeichelt und getragen fühlte. Er war anders gekleidet als die meisten Männer seines Alters, trug oft Turnschuhe zum Sakko, seine Bewegungen waren ungezwungen und federnd. Wenn er daheim war, bemerkte man das sofort an der Musik von Johnny Cash, die weite Teile des Hauses ausfüllte. Die Hausangestellten – zu Anfang fiel es Jonas schwer, die Übersicht zu behalten, er schätzte ihre Zahl auf sieben oder acht – behandelte Picco mehr als Freunde denn als Untergebene.
Von denen hatten die Jungen Regina am liebsten. Die Köchin verarztete Wunden, nahm Weinende in den Arm, verteilte Süßigkeiten, erzählte Geschichten und hatte keine Ahnung von dem, was sie am Herd tat.
»Was kochst du heute?« fragte Jonas.
»Das weiß ich nicht.«
»Du meinst, du hast dich noch nicht entschieden?«
»O doch, aber woher soll ich denn wissen, was dabei rauskommt?«
Jonas sah ihr zu, und sogar ihm war klar, dass sie ohne große Sachkenntnis ans Werk ging. Planlos vermischte sie Gewürze, Kräuter, Fleisch und Nudeln, und ihrer Miene beim Abschmecken konnte er ablesen, wie neugierig sie selbst auf das Ergebnis ihres Experiments war.
Zur Leibesfülle neigte hier niemand, auch nicht Gruber, der Gärtner, der in einer Hütte neben dem Haupthaus lebte und sich um alle Reparaturen kümmerte, die auf dem weitläufigen Anwesen anfielen. Seit er sich einmal mit einem Wagenheber ungeschickt angestellt hatte, hinkte er auf dem rechten Bein. Er ging niemals aus, bekam nie Besuch und lachte nie.
Hohenwarter, der eine Art Beraterstelle für Picco einzunehmen schien, sahen sie unregelmäßig, zu selten, um aus ihm schlau zu werden, jedenfalls nicht in diesen ersten Jahren. Er hatte etwas Verschmitztes und strahlte zugleich eine nachlässige Brutalität aus. Ab und an steckte er den Jungen Geld zu und erzählte ihnen vom alten Rom. Mit seinem kahlen glänzenden Kopf und seinen Maßanzügen, die in heftigem Kontrast zu den Filzpantoffeln standen, in denen er durchs Haus schlich, war er eine ziemlich ungewöhnliche Erscheinung. Erst Jahre später begann Jonas zu verstehen, wie viele Geheimnisse es in diesem Haus gab, deren Mittelpunkt Hohenwarter war, und dass es hier um Geschäfte ging, für deren Dimension ihm auch später noch jeder Begriff fehlte.
Mit zehn kam Jonas ins Krankenhaus, weil ihn ein neuer Freund seiner Mutter verprügelt hatte, genau jener, den Jonas insgeheim »das Affe« nannte, weil so ein Mensch seiner Ansicht nach keinen korrekten Artikel verdiente.
Anlass für den Vorfall war Mike gewesen. Beim Versuch, eine Bierflasche als Mikrofon zu benützen und einen Sportreporter zu mimen, hatte Mike die Flasche zerschlagen. Das Affe stürzte sich sofort auf ihn und schlug ihm hart ins Gesicht. Ohne nachzudenken, sprang Jonas dazwischen.
»Hör auf! Lass ihn in Ruhe! Er hat es nicht absichtlich gemacht!«
Im nächsten Moment lag er auf dem Boden, ohne zu wissen, was ihm geschah. Er verstand nicht, wieso er neben leeren Flaschen und Spuren von Katzenpisse auf diesem schmutzigen alten Spannteppich lag und ein riesiger, nach Alkohol dünstender Mann über ihm stand und mit den Fäusten auf ihn einschlug, er verstand es damals nicht und Jahrzehnte später nicht. Er wusste nur, dass ihn nicht der physische Schmerz am tiefsten verletzte, sondern die betretene Untätigkeit seiner Mutter, die mit gesenktem Kopf und einem Glas in der Hand daneben stand und so tat, als sei sie nicht da.
Das war das Bild, das Jonas nie vergessen sollte. Er dachte an seinen Vater, der ein paar Jahre zuvor gestorben war und ihn sicher beschützt hätte, er dachte an den Mount Everest, auf den die mutigsten Menschen der Welt kletterten, er dachte an den Grand Canyon, den er besuchen wollte, seit er im Kindergarten Bilder davon in einem Buch gesehen hatte, und den er sich als eine Heimstatt zauberhafter Urwesen ausmalte, die ihn vor allen Gefahren beschützen würden.
Bald darauf dachte er gar nichts mehr, und alles versank in Dunkelheit.
Mike, Werner und Picco besuchten ihn jeden Tag im Krankenhaus. Selbst Hohenwarter und Regina erschienen, gefolgt von einem riesigen Mann, den Jonas nicht kannte. Beim Anblick der Hämatome an Jonas’ Körper schüttelte Picco den Kopf, strich ihm durchs Haar und murmelte etwas, während Werner stapelweise Micky-Maus-Hefte auspackte und auf den Nachttisch legte.
Mike kletterte zu Jonas ins Bett und schmiegte sich an ihn. Beim Abschied musste er jedes Mal von Jonas fortgezogen werden.
»Er wohnt derzeit bei uns«, erklärte Werner. »Picco wollte das so.«
Am zweiten Tag bekam Jonas ein Einzelzimmer. Als er am Tag darauf für eine Untersuchung nach draußen gerollt wurde, bemerkte er erstaunt, dass der unbekannte Mann aus Piccos Begleitung vor der Tür saß und in einer Zeitschrift las.
»Na, Junge?« sagte der Riese. »Üble Sache, aber es gibt immer noch Schlimmeres.«
»Stimmt wohl.«
»Kennst du die Geschichte von dem Vortragsreisenden in Bangkok?«
»Ich glaube nicht.«
»Nun, das war schon ein älterer Herr, und Bangkok ist heiß und feucht. Nach einem Vortrag ging er auf sein Zimmer und nahm erst mal eine kalte Dusche.«
»Klingt vernünftig.«
»Danach legte er sich aufs Bett, und um sich weiter zu erfrischen, schaltete er einen Ventilator ein. Leider hatte er noch nasse Hände. Errätst du, wie die Geschichte weitergeht?«
»Ich fürchte ja«, sagte Jonas.
»Eine halbe Stunde später kam ein Zimmermädchen rein, und selbst da roch es noch verbrannt.«
»Er war tot?«
»Mausetot.«
»Das ist wirklich schlimmer als das, was mir passiert ist.«
»Siehst du«, sagte der Mann und nahm seine Zeitschrift wieder auf. »Man muss die Dinge immer von der positiven Seite betrachten.«
Nach einer Woche, in der ihn seine Mutter kein einziges Mal besucht hatte, wurde Jonas entlassen, und von da an änderte sich einiges.
Mike und Jonas wohnten von nun an bei Picco. Jonas bekam das Zimmer neben Werner, das dreimal so groß war wie sein altes, es war sauber, er hatte immer frische Wäsche und sogar neue Hosen, die ihm nicht zu kurz waren, er musste sich nicht allein um sich kümmern, sondern wurde geweckt und bekam Frühstück, Mittagessen, Abendessen.
»Merkt dein Großvater eigentlich, dass Mike nicht so ist wie wir?« fragte Jonas. »Weiß er, dass es anstrengend werden kann mit ihm?«
»Der findet den normaler als uns, glaube ich«, sagte Werner.
»Und wie lange sollen wir bleiben?«
»Warten wir mal ab. Mir wäre es am liebsten, ihr bleibt für immer.«
»Aber das geht doch nicht.«
»Hier geht alles.«
Die Mutter sahen Jonas und Mike zunächst einmal die Woche. Immer im Beisein des Riesen aus dem Krankenhaus, der Zach hieß und jedes Ziel in einer Entfernung von bis zu dreißig Metern mit einem Stein treffen konnte.
Die Gespräche mit ihr verliefen einsilbig, sie war so gut wie nie nüchtern. Auf Jonas wirkte sie wie jemand, der von einer bösen Hexe verzaubert und in einen Dämmerschlaf versetzt worden war. Sie schälte Erdnüsse, indem sie mit dem Aschenbecher darauf schlug, bohrte verloren in Mottenlöchern an ihrer Jacke und kratzte sich fluchend mit einer Stricknadel in ihrem Gipsarm, weil sich eine Fliege hinein verkrochen hatte. Den Gips trug sie, weil sie in einer Kneipe die Treppe hinuntergefallen war. Jonas hielt ihren Anblick kaum aus und atmete jedes Mal auf, wenn sie wieder zur Tür hinaus war.
Nach und nach besuchten Jonas und Mike ihre Mutter seltener.
Das Affe sah niemand wieder.
Seit Jonas zu Werner gezogen war, verloren für ihn die hohen kirchlichen Feste ihre Bedeutung. Es wurde nichts außer den Geburtstagen gefeiert.
»Gibt es bei euch kein Weihnachten?« fragte Jonas.
»Nein, wieso?« antwortete Werner.
»Weil man das eben feiert.«
»Wieso?«
»Na ganz einfach … weil man Geschenke kriegt und so.«
»Die kriegen wir ja sowieso.«
»Ja gut … aber wegen dem Baum … und wegen Gott.«
»Lass das mal nicht den Boss hören. Der will von Gott nichts wissen. Er sagt, Gott ist ein Nazi.«
Kleidung kauften die Jungen immer gemeinsam mit Zach. Was ihm gefiel, durfte Jonas für Mike ein zweites Mal einpacken, der immer das Gleiche anhaben wollte wie er. Um sich von Mike zu unterscheiden, trug Jonas stets noch einen Gürtel oder ein Armband, was jedoch nur Werner auffiel. Weil Mike oft stumm dasaß und man nicht auf den ersten Blick merkte, dass er die Welt mit anderen Augen sah, kam es mitunter zu Verwechslungen. Jonas und Werner gefiel die Verwirrung, die die Zwillinge bei manchen Hausbewohnern anrichteten, und Jonas trieb sie gern auf die Spitze, indem er sich zuweilen als Mike ausgab, um auf diese Weise herauszufinden, wie sich die Menschen seinem Bruder gegenüber benahmen. Wer nett zu Mike war, den mochte er. Wer böse zu ihm war, fand am nächsten Tag Hundekot in seinen Schuhen oder halbtote Mäuse im Bett.
Die Volksschule hatten Jonas und Werner dank einer nachsichtigen Lehrerin hinter sich gebracht, und nun stellte sich die Frage, wie es weitergehen sollte. Zwei Abgesandte einer Hochbegabtenschule kamen ins Haus und prüften sie. Der IQ beider Jungen lag im Spitzenbereich, dennoch weigerte sich die Schule mit Hinweis auf ihre disziplinären Defizite, sie aufzunehmen. Von da an ließ Picco die beiden im Haus unterrichten.
Es gab vier festangestellte Lehrer für Mathematik, Deutsch, Englisch und Latein, außerdem noch einen Russen und einen Italiener, weil Jonas so gern Sprachen lernte, dazu kamen wechselnde Vortragende für die Fächer Geschichte, Geografie, Chemie, Physik, Biologie und Philosophie, die meisten waren ausgewiesene Spezialisten.
Es kamen Nobelpreisträger ins Haus, Olympiasieger, Fernsehstars, Schachgenies, Künstler, Politiker und Zauberer. Manche blieben länger, andere kürzer, viele nur einen Tag. Jonas und Werner schafften es, einen missliebigen Lehrer nach dem anderen in die Flucht zu schlagen, bis das Personal ihren Wünschen entsprach. Egal, wie schlimm sie es trieben, ob sie den Lehrern ein Feuerzeug in den Auspufftopf ihres Autos schoben, sie mit Bienenstöcken traktierten oder das Essen mit Abführmittel versetzten, von Picco bekamen sie niemals Vorwürfe zu hören. Und auch sonst von niemandem.
Mit dem Sportlehrer hätten sie sich indes niemals angelegt, denn zum einen mochten sie ihn sehr, zum anderen hätte der sich zu helfen gewusst. Es war Zach, der sie in einer Kampfkunst unterrichtete, die er Wing Chun nannte und von der sie nie zuvor gehört hatten. Er behauptete, sie von einem Meister in Hongkong gelernt zu haben, einem gewissen Wong Shun Leung.
Copyright © by HANSER Verlag
Alle Rechte vorbehalten
... weniger
Autoren-Porträt von Thomas Glavinic
Thomas Glavinic wurde 1972 in Graz geboren. 1998 erschien sein Debüt Carl Haffners Liebe zum Unentschieden. Es folgten u.a. Die Arbeit der Nacht (2006), Das bin doch ich (2007), Das Leben der Wünsche (2009) und Das größere Wunder (2013). Seine Romane Der Kameramörder (2001) und Wie man leben soll (2004) wurden fürs Kino verfilmt. Thomas Glavinic erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen, zuletzt den Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft. Seine Romane sind in 18 Sprachen übersetzt. Er lebt in Wien.
Bibliographische Angaben
- Autor: Thomas Glavinic
- 2013, 13. Aufl., 528 Seiten, Maße: 13,5 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: HANSER
- ISBN-10: 3446243321
- ISBN-13: 9783446243323
- Erscheinungsdatum: 21.08.2013
Pressezitat
"Nur wenige Autoren vermögen es, die Abgründe, die unter der Oberfläche des Alltäglichen lauern, so brilliant einzufangen. Thomas Glavinic, ein großer Meister der vibrierenden Spannung und ein radikaler Chronist der menschlichen Existenz, ist ein würdiger Nachfolger von Praticia Highsmith und Frank Kafka." John Burnside"Ein Schlüsselwerk seines Schaffens, das die Romane zuvor als Fingerübungen erscheinen lässt ... ein großes Buch über die Angst und die Einsamkeit, über die Liebe und die Freiheit." Tobias Becker, Spiegel Online, 26.08.13
"Das ist vielleicht das allergrößte Wunder dieses Romans, der sich so radikal über Geschmacksfragen, Mögliches und Unwahrscheinliches hinwegsetzt, dass man bereit ist, ihm bis auf den unwirtlichen Berggipfel zu folgen." Jörg Magenau, Süddeutsche Zeitung, 27.08.13
"Glavinic kann Gefühle so präzise beschreiben wie Landschaften, ihm gelingen luzide Formulierungen und hintersinnige Dialoge..." Daniela Strigl, Die Welt, 24.08.13
"Dieser Schmöker von Thomas Glavinic ist wie ein herrliches Kinderzimmer, ach was, ein Abenteuerland." Ulrich Seidler, Frankfurter Rundschau, 05.09.13
"Das allergrößte Wunder dieses Romans, der sich so radikal über Geschmacksfragen, Mögliches und Unwahrscheinliches hinwegsetzt, ist, dass man bereit ist, ihm bis auf den unwirtlichen Berggipfel zu folgen." Süddeutsche Zeitung Online, 27.08.13
"Glavinic' klare Sprache ergreift und lässt einen durch den Roman hecheln." Antje Blinda, Spiegel Online, 19.12.13
"Eine ehrfürchtige Hommage an die Gewalten der Natur und zugleich ein Roman über die Liebe." Roland Krüger, Deutschlandradio Kultur, 22.10.13
Kommentare zu "Das größere Wunder"
4.5 von 5 Sternen
5 Sterne 5Schreiben Sie einen Kommentar zu "Das größere Wunder".
Kommentar verfassen