Das große Reimmichl-Lesebuch
Mit umfangreicher Biografie zum 150. Geburtstag
Zu Lebzeiten verfasste Sebastian Rieger - besser bekannt unter seinem Pseudonym Reimmichl - um die 60 Bücher. „Das große Reimmichl-Lesebuch" bietet seinen Lesern eine Auswahl seiner Werke.
Von eher unbekannten Berichten über...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Das große Reimmichl-Lesebuch “
Zu Lebzeiten verfasste Sebastian Rieger - besser bekannt unter seinem Pseudonym Reimmichl - um die 60 Bücher. „Das große Reimmichl-Lesebuch" bietet seinen Lesern eine Auswahl seiner Werke.
Von eher unbekannten Berichten über seine Reisen, über Texte aus seiner Zeit als Redakteur, bis hin zu Kurzgeschichten des Reimmichl - eine charakteristische Auswahl seiner Texte sollen Sebastian Rieger dem Leser näher bringen. Im Stil eines Hausbuches verfasst, erzählt „Das große Reimmichl-Lesebuch" über die Lebensgeschichte des Reimmichl. Besser als eine Biographie es könnte, geben die ausgewählten Texte einen tiefergehenden Einblick in das Leben des Reimmichl.
Klappentext zu „Das große Reimmichl-Lesebuch “
Geschichten voller Lebensweisheit und Menschlichkeit Viel hat dieses - einem klassischen "Hausbuch" nachempfundene - Lesebuch für Reimmichl-Freunde zu bieten: So finden diese nicht nur eine kurze Biografie des auch heute noch beliebten Volksschriftstellers, welche die wichtigsten Lebensstationen des Sebastian Rieger vor dem jeweiligen geschichtlichen Hintergrund nachzeichnet, sondern vor allem auch eine repräsentative Auswahl an Schriften aus seinem reichen literarischen Werk. Neben weniger bekannten Texten (wie etwa seinen Reiseberichten über das Nordkap oder Tunesien) beinhaltet dieser Band auch einige beispielhafte politische Leitartikel sowie vor allem eine Vielzahl an heiteren und besinnlichen Kurzgeschichten aus der Feder des Reimmichl. Vor allem Letztere sind auch heute noch spannend zu lesen und deshalb so beliebt, weil sich in ihnen eine humorvolle, positive und doch nicht unrealistische Lebensauffassung widerspiegelt. Tipps: Mit einer kritisch-würdigenden BiografieInkl. vielen nur wenig bekannten Geschichten
Lese-Probe zu „Das große Reimmichl-Lesebuch “
Sebastian Rieger - Das große Reimmichl-LesebuchDaheim im Defereggen
Die Bedeutung, die ein Ort für unser Leben besitzt, hängt nicht allein
von der Länge der Zeit ab, die wir dort verbringen, sondern mehr noch
davon, in welcher Lebensphase wir uns dort aufhalten. So sind die Eindrücke
und Erlebnisse der Kindheit und Jugend viel tiefer und nachhaltiger
als die späterer Zeiten. Das gilt auch für Reimmichl, der am
28. Mai 1867 als Sebastian Rieger am Eggerhof in St. Veit-Inneregg in
Defereggen das Licht der Welt erblickte. St. Veit und das Defereggental
bildeten die nächsten Jahre die geografischen Grenzen seines kindlichen
Lebensraumes.
Als Dreizehnjähriger verließ er dann das Tal, zuerst um die nächsten
acht Jahre das Gymnasium in Brixen zu besuchen und anschließend,
um sich vier Jahre im Theologischen Seminar auf das Priesteramt vorzubereiten.
In dieser Zeit verbrachte er nur mehr die Sommerferien
daheim. Später kehrte er überhaupt nur noch zu gelegentlichen Kurzbesuchen
ins Elternhaus zurück. Dennoch blieb Reimmichl zeitlebens
dem Defereggental und seinen Menschen tief verbunden. Darauf verweisen
auch viele seiner späteren Romanfiguren, für die Menschen aus
seiner engeren Heimat als Vorlage dienten.
Heute erreicht man das Osttiroler Defereggental problemlos mit dem
Auto, entweder über die Felbertauernstraße, über Lienz oder - im Sommer
von Südtiroler Seite aus - über den 2000 m hohen Staller Sattel.
Vor 150 Jahren war das noch ganz anders. In Reimmichls Geburtsjahr
1867 fuhr noch kein Auto auf den Straßen und auch die Eisenbahn
kannte man in Osttirol nur vom Hörensagen, denn die Bahnstrecke
durch das Pustertal wurde erst 1871 eröffnet.
Somit war der Schritt das Entfernungs- und Zeitmaß jener Tage.
Man ging zu Fuß, selten stand ein Fuhrwerk oder eine Kutsche zur
... mehr
Verfügung.
Nachrichten übermittelte man schriftlich durch die Post oder
durch Boten bzw. Botinnen. Und das blieb noch einige Jahrzehnte so.
Wer 1867 von Lienz ins Defereggental wollte, wanderte durch das Iseltal
nordwärts und erreichte nach etwa vier Stunden den kleinen Ort Huben.
Für dieselbe Strecke benötigt man heute mit dem Auto 20 Minuten.
In Huben münden dann zwei Täler: rechts führt eine Straße nach
Kals am Fuße des Großglockners und links verschließt zuerst einmal
eine enge, dunkle Schlucht, durch die die Schwarzach hervorbricht,
den Blick ins Defereggental. Die Straße ins Tal umfährt diese Schlucht
in einem weiten Bogen und erklimmt so den Beginn dieses Hochtales.
Schon seit Jahrhunderten führte zwar ein schmaler, rauer Karrenweg
durchs Defereggental, aber erst 1910 wurde die heutige Straße errichtet
und seither ständig weiter ausgebaut.
Die Deferegger Talstraße verbindet die Gemeinden Hopfgarten (1100 m,
800 Ew.), St. Veit (1500 m, 800 Ew.) und St. Jakob (1400 m, 1000 Ew.).
Die drei Orte setzen sich auf einer Länge von über 20 km aus einer Vielzahl
von Weilern - hier Rotten genannt - zusammen. Der Großteil der
Siedlungen liegt aber nicht im Talgrund, sondern 300 bis 400 m höher
auf Geländestufen des sonnseitigen Talhanges. Die Schattseite hingegen
besteht aus einem geschlossenen Waldgürtel ohne Siedlungen. Fahrzeugtaugliche
Verbindungen zwischen den einzelnen Höhensiedlungen und
zu den Talorten wurden erst nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet. Bis
dahin musste alles Notwendige auf dem Rücken getragen werden. Übrigens:
Zur Zeit Reimmichls siedelten im Tal dank guter Wirtschaftslage
um 40 Prozent mehr Menschen als heute.
Reisen war im Jahre 1867 noch recht beschwerlich. Von St. Veit in
Defereggen nach Matrei in Ostttirol, lange Zeit Verwaltungs- und Gerichtssitz
für das Defereggental, sind es 22 km, eine Strecke von vier
Stunden Gehzeit, hin und zurück also acht Stunden. Sollte ein St. Veiter
gar eine „Weltreise" nach Brixen oder Innsbruck geplant haben, musste
er gut zu Fuß sein. Als Reimmichl 1880 zum Studium nach Brixen
aufbrach, nahm er den damals gewohnten - nämlich kürzesten - Weg
über das Gsieser Törl (2205 m) ins Südtiroler Gsiesertal nach Welsberg,
wo er nach acht Stunden (!) Fußmarsch den Zug durchs Pustertal besteigen
konnte.
Die Natur allein bestimmte den Lebensrhythmus im Defereggental.
Die Arbeit war schwer, das Gottvertrauen groß, der karge Ertrag unsicher.
So auch am Eggerhof in St. Veit, der mittleren Gemeinde des
Hochtales. Dieses Anwesen liegt auf einem schmalen Geländeabsatz in
der Fraktion Inneregg, eine halbe Stunde über der Talsohle und eine
halbe Stunde von der Kirche St. Veit entfernt. Die Aussicht ist spärlich,
denn auf der gegenüberliegenden Seite, jenseits des Talbaches, erhebt
sich ein steiler, dunkler, felsdurchsetzter Berghang. Am Hof lebten drei
Generationen der Familie Rieger unter einem Dach. Reimmichls Großvater
hatte noch die Tiroler Freiheitskämpfe erlebt und erzählte dem
kleinen Sebastian oft davon. Dr. Hans Brugger, Reimmichls Neffe und
Biograf, war überzeugt, dass diese Geschichten, die der kleine Bub - er
wurde allgemein „Wastl" gerufen - von seinem Großvater hörte, einige
der frühen Reimmichlgeschichten stark beeinflussten.
1827 wurde Johann Rieger, Reimmichls Vater, geboren. Er war Nebenerwerbsbauer,
denn bereits in jungen Jahren zog er hinaus in die
Fremde, um mit Decken, Teppichen und Hüten zu hausieren. Jeweils im
Frühjahr und im Herbst schulterte er die Kraxe, um als Wanderhändler
in der Fremde sein Glück zu versuchen. Damit trat er in die Fußstapfen
vieler seiner Vorfahren, denn die Not zwang zahlreiche Deferegger
bereits im 17. Jahrhundert zu einem Nebenerwerb. Dafür bot sich das
Hausieren mit Waren aller Art an, zuerst in der näheren Umgebung
und später, mit mehr Erfahrung, auch auf weiten Reisen durch Europa.
„Über das Tal würde vielleicht niemand etwas wissen, wenn es nicht
schon früh durch die Teppichhändler in der halben Welt bekannt geworden
wäre", erklärte der Heimatforscher Ludwig von Hörmann 1877.
Im 18. Jahrhundert begannen die Deferegger mit Teppichen und Decken
zu handeln. „Kotzen" oder „Deferegger Teppiche" hieß diese grobe Ware
aus Kuhhaar, die sie im Pustertal einkauften. Später, als die Hausierer
auch in die Städte gingen, waren feinere und kostbarere Decken und
Teppiche gefragt. Die bezogen sie aus dem schwäbischen Nördlingen.
Es gab Zeiten, in denen jeder fünfte Deferegger als Hausierer unterwegs
war. Auch Reimmichls Großvater mütterlicherseits gehörte dazu.
Es hätte sich für einen einzelnen Händler jedoch nicht gelohnt, die
Ware, die er auf seine Kraxe gepackt hatte, vom Defereggental bis in
weit entfernte Länder zu tragen. Deshalb taten sich jeweils mehrere
Hausierer zusammen - meistens waren es Verwandte und Freunde -
und gründeten eine Handelsgesellschaft, eine sogenannte „Kompanie",
in die jeder einen bestimmten Betrag (Einlage) einzahlte. Mit dem Geld
wurden in fernen Gebieten Lager angelegt und der Transport der Ware
zu den Lagern organisiert. Der einzelne Hausierer reiste dann zum
jeweiligen Lager und betrieb den Handel von dort aus. Zusätzlich wurden
noch Lohnknechte angestellt. Anführer einer „Kompanie" war jeweils
ein versierter, erfahrener Hausierer.
Kehrte die „Kompanie" nach erfolgreicher Handelsfahrt wieder ins
Tal zurück, wurden alle Rechnungen beglichen, die Knechte entlohnt
und der Gewinn entsprechend der Einlage unter den Gesellschaftern
aufgeteilt. Dabei hatten die Knechte die Möglichkeit, zu Gesellschaftsteilhabern
aufzusteigen: Sie konnten ihren Lohn, oder einen Teil davon,
in der gemeinsamen Kassa stehen lassen, um zukünftig bei den Handelsreisen
bereits mit bescheidenem Kapital als Teilhaber zu hausieren
und am Gewinn beteiligt zu sein. Diesen Karriereweg ging auch der
Eggerbauer Johann Rieger. Er begann in den 1840er-Jahren als Kompanie-
Knecht und brachte es durch Fleiß im Laufe entbehrungsreicher
Jahre schließlich zum wohlhabenden Gesellschafter. 1884 - Reimmichl
war zu dieser Zeit bereits Kooperator in Sexten - schied Johann Rieger
aufgrund einer chronischen Krankheit aus und ließ sich auszahlen. Ein
Teilhaber konnte nämlich jederzeit Abrechnung verlangen und aus der
Kompanie ausscheiden.
Auf diese Handelsfahrten wurden oft bereits Halbwüchsige mitgenommen.
Die Hausierer erwarben sich deshalb bereits früh Handels- und
Sprachkenntnisse, sie zeigten gewandte Umgangsformen: Reimmichls
Vater wurde ein ausgezeichneter Geschäftsmann, war geschätzt wegen
seines klugen Rates und konnte sich in drei Sprachen sehr gut verständigen.
Die Deferegger Hausierer blieben aber Bauern - trotz des großen
wirtschaftlichen und finanziellen Erfolges. Der Handel war immer nur
ein Nebenerwerb. Dass sie aber erfolgreich waren, zeigten sie deutlich:
Sie kleideten sich gern nach neuester Mode, die sie auf ihren Fahrten
kennenlernten. Wenn sie aber daheim in städtischer Kleidung zur Heuarbeit
schritten, löste das im Tal natürlich Kopfschütteln aus: Als „Deferegger
Grafen" wurden sie dann verspottet. Sie spielten daheim überhaupt
gerne die feinen, noblen Herren. Andererseits zeigten sie sich oft
großzügig. Gerade Reimmichls Vater war ein solches Vorbild an Großzügigkeit,
sei es gegenüber der Nachbarschaft, der Gemeinde oder der
Kirche. Aber auch andere „Fortgeher", die im Ausland zu Wohlstand
gekommen sind, erwiesen sich immer wieder als Wohltäter ihres Heimattales.
So übernahm z. B. ein einzelner Hausierer, der ebenfalls zum
Mitbesitzer einer Handelsgesellschaft aufgestiegen war, fast die gesamten
Kosten für die Errichtung eines Armenhauses.
Johann Rieger begann seine Handelskarriere als Lohnknecht einer Handelskompanie.
Als er 1860 mit 33 Jahren die um vier Jahre jüngere Maria
Brugger vom Breudinghof heiratete, war er als „Teppich- und Hut-
Vertreter" bei einer St. Veiter Handelsgesellschaft beschäftigt. Durch
Fleiß brachte er es bis zum Teilhaber. Später wirkte er in Lemberg (heute
in der West-Ukraine), Prag und Budapest, wo die Handelsgesellschaft
Niederlassungen betrieb. Er war nur noch wenige Wochen im Jahr zur
Sommerszeit und um Weihnachten daheim.
Johann Rieger zog sich jedoch während der früheren, entbehrungsreichen
Jahre ein Lungenleiden zu, das ihn schließlich mit 57 Jahren
zwang, aus dem Geschäft auszusteigen. Er ließ sich 1884 seine Gesellschaftsanteile
auszahlen und verfügte nun über ein beträchtliches
Vermögen. Mit einem Teil davon vergrößerte er durch Zukäufe seinen
Hof, den bisher seine Frau und sein Bruder, „Onkel Stöffl" genannt, bewirtschafteten.
Es blieb aber immer noch genügend Geld übrig für ein
finanziell abgesichertes Leben. Auch wenn er seine Krankheit nie mehr
ganz überwand: In der frischen Luft des Defereggentales besserte sich
sein Gesundheitszustand zusehends und er konnte wieder alle bäuerlichen
Arbeiten verrichten.
Natürlich wollte die Gemeinde nicht auf einen so welterfahrenen und
erfolgreichen, gleichzeitig bekannt hilfsbereiten Mann verzichten, und so
wurde er Bürgermeister von St. Veit. Er hatte für die Nöte der Gemeindebürger
immer ein offenes Ohr, war ein geschätzter Ratgeber und unterstützte
in Not geratene Mitbürger mit Zuwendungen aus eigener Tasche
oder verhalf ihnen zu günstigen Darlehen, für die er oft selbst bürgte.
Er war auch ein großer Wohltäter der Kirche: Anlässlich der Primiz
seines Sohnes Sebastian 1891 spendierte er der Seelsorgskirche in St. Veit
einen herrlichen Messornat, einen goldenen Kelch, eine Monstranz und
ein Ziborium (Aufbewahrungskelch für die konsekrierten Hostien).
Johann Rieger waren nach dem Ausscheiden aus der Firma allerdings
nur elf Jahre vergönnt, dann meldete sich wieder die alte Krankheit. Er
starb 1895 im Alter von 68 Jahren. Reimmichl war damals Kooperator
in Dölsach und konnte die letzten Stunden bei seinem Vater verbringen
und die Totengebete sprechen.
Johann Rieger hinterließ ein beträchtliches Vermögen, von dem
auch Reimmichl seinen Anteil bekam. Nun offenbarte sich erstmals
die selbstlose Großzügigkeit Reimmichls, die sein Leben auszeichnen
sollte. Den Großteil des Erbes verwendete er zum Ankauf einer Volksbibliothek,
die er der Gemeinde Dölsach, wo er gerade Kooperator war,
zum Geschenk machte. Um den Rest ließ er sich eigene Möbel anfertigen.
Sein Neffe Dr. Hans Brugger erzählt, dass Reimmichl zeitlebens an
diesen altmodischen Möbeln hing und sie bei jeder Übersiedlung, von
Pfarrhaus zu Pfarrhaus, bis nach Heiligkreuz, mitschleppte, gleichsam
als Erinnerung an seinen Vater, den er tief verehrte.
Alte St. Veiter schilderten Johann Rieger, der einen sogenannten Kaiserbart,
also einen Backenbart trug, als eher schweigsam - für einen
Deferegger ungewöhnlich, wie Reimmichl später schmunzelnd meinte
-, aber hilfsbereit, pflichtbewusst, rechtschaffen und tief religiös. Musterhafte
Ordnung am Hof war ihm selbstverständlich und strengen
Gehorsam setzte er voraus. Doch ein Laster hatte auch dieser charakterfeste
Mann, das er zweifellos Reimmichl vererbte: Er rauchte Pfeife
wie ein Schlot.
Albuin Messner, ein Freund Reimmichls und von 1917 bis 1937 Pfarrer
von St. Veit, berichtet in seinen Aufzeichnungen von einer anderen Facette
Riegers: „Vater Rieger war mit seinen Kindern sehr streng, nie hat er sie
verwöhnt. In Anwesenheit des Vaters herrschte stets Ruhe in der Stube,
umso lauter ging es her, wenn der Vater nicht in der Nähe war."
Reimmichl erbte von seinem Vater die Großzügigkeit und den Drang
in die Ferne, der ihn später auf große Reisen durch Europa, vom Nordkap
bis an die Küste Afrikas führen sollte.
Da Johann Rieger den Großteil des Jahres auswärts verbrachte, musste
seine Frau Maria in Abwesenheit des Mannes die Rolle des Familienoberhauptes
übernehmen. Sie bewirtschaftete den Hof gemeinsam mit
Stöffl, einem Bruder ihres Mannes, führte den Haushalt und zog die
Kinder groß. Sie war klug, geschickt und führte ein strenges Regiment.
Ihr Einfluss auf die Entwicklung der Kinder war größer als jener des
Vaters.
Reimmichls Mutter wurde 1831 als Maria Brugger vom Breudinghof
geboren. Als sie 1860 mit 29 Jahren Johann Rieger heiratete, konnte sie
weder lesen noch schreiben, ein äußerst unangenehmer Zustand, wenn
man bedenkt, dass der Mann die meiste Zeit des Jahres in der Fremde
war. Doch die Liebe zu ihrem Mann und der Wille, eine tüchtige Hausfrau
zu werden, bewogen sie, noch mit 30 Jahren Lesen und Schreiben
zu lernen, wobei sie ihr Mann und ihr Schwager kräftig unterstützten.
So war in Zukunft wenigstens ein regelmäßiger Briefkontakt zwischen
den beiden Eheleuten möglich. Die Finessen der Groß- und Kleinschreibung
überging sie allerdings, sodass sie zeitlebens alles kleinschrieb,
auch Namen und Adressen. Es störte sie nicht, denn alle Briefe
und Postkarten erreichten ihr Ziel, wie sie lachend erklärte, und auf das
kam es schließlich an.
Maria Rieger bildete gleichsam den Gegenpol zu ihrem Mann. Er
war schweigsam und ernst, sie eine redselige und fröhliche, mit viel
Gottvertrauen ausgestattete Natur, die immer wieder neue Geschichten
zu erzählen wusste. Sie besaß ein großes goldenes Herz: Gastfreundschaft
und Wohltätigkeit gegenüber Armen und Notleidenden wurden
im Rieger-Haus immer großgeschrieben. Vor allem Kindern gegenüber
öffnete sie ihr Herz. Die Rieger-Mutter, wie sie genannt wurde, war ein
bemerkenswertes Beispiel gelebter Nächstenliebe: Sie schenkte nicht
nur fünf Kindern das Leben, sondern zog im Laufe ihres Lebens nicht
weniger als fünf (!) Waisenkinder auf - um Gottes Lohn. Dazu kamen
noch Kinder, die ihr Reimmichl von seinen Seelsorgsorten vorübergehend
schickte, wenn er für eines dieser verlassenen Geschöpfe nicht
gleich einen geeigneten Platz fand.
Damals waren die Menschen noch meist zu Fuß unterwegs, und da der
Eggerhof ziemlich in der Talmitte liegt, bot er sich gut als Rastplatz an.
Und weil es bei der Eggerhofbäuerin immer eine kleine Stärkung gab,
kehrten hier vor allem junge Kooperatoren und Studenten ein, deren
Geldbeutel meist an Schwindsucht litt.
Auf ihrem Sterbebild - Maria Rieger starb 1913 im Alter von 82 Jahren
- wurde sie so charakterisiert: „Die Verstorbene ... war eine Freundin
der Priester, der Armen und Waisen, eine treubesorgte Gattin, eine
echt christliche Hausfrau, wirtschaftlich und wohltätig, geachtet in weitesten
Kreisen."
Dem Ehepaar Rieger wurden vier Buben und ein Mädchen geboren.
Sebastian war der Älteste. Ihm folgten 1869 seine Schwester Aloisia und
wieder zwei Jahre später die Zwillinge Johann und Alois, die aber bald
nach der Geburt starben. 1874 kam der letzte Spross zur Welt, es war
wieder ein Hans.
Aloisia lebte daheim. Sie war ein Spiegelbild ihrer Mutter und in ihrem
Wesen Reimmichl sehr ähnlich. Sie war gesprächig - „so wie alle
Deferegger", ergänzte Pfarrer Albuin Messner -, konnte gut und interessant
erzählen und hatte bis ins Alter ein ausgezeichnetes Gedächtnis.
Sie war eine Frohnatur mit einem stets lachenden Gesicht und für ihre
Wohltätigkeit bekannt. Sie führte die Tradition der Gastfreundschaft
am elterlichen Hof fort. Reimmichl hatte sie besonders ins Herz geschlossen
und auch sie hing an ihrem Bruder. Zu Reimmichls Leidwesen
besuchte sie ihn selten, und wenn, dann immer nur für zwei, drei
Tage, denn sobald sie den Kirchturm von St. Veit nicht mehr sah, befiel
sie das Heimweh und die Arbeit ging ihr ab.
Sie erbte schließlich den väterlichen Hof, überließ ihn aber - da sie
ledig geblieben war - ihrem Ziehbruder Josef. Sie selbst blieb am Hof,
arbeitete bis zu ihrem Tod bescheiden wie eine Magd und war dennoch
im ganzen Tal hoch angesehen. Als sie 1948 zu Grabe getragen wurde,
waren sich alle einig, dass man Aloisia eigentlich zu den Heiligen zählen
müsste.
Hans, der jüngste Rieger, folgte seinem Bruder ins Gymnasium nach
Brixen. Man hielt ihn für talentierter als seinen älteren Bruder Sebastian.
Nach bestandener Matura verbrachte er die Ferien in St. Veit. Eines
Tages zog sich eine Frau bei der Waldarbeit eine schwere Verletzung zu.
Hans kam zufällig dazu und lief rasch einen Arzt holen. Dabei erhitzte
er sich stark und trank in diesem Zustand eiskaltes Wasser. Die Folge
war eine starke Erkältung mit nachfolgender Lungenentzündung, von
der er sich nicht mehr richtig erholte. Er trat zwar im Herbst noch ins
Priesterseminar ein, verstarb aber nach drei Monaten, einen Tag vor
dem Heiligen Abend 1893, mit nur 19 Jahren.
Dann waren da noch zwei Onkel, Vaters Brüder, die stark auf Reimmichl
als Volksschriftsteller abfärbten: Der eine war der bereits erwähnte
Stephan, allgemein „Stöffl" genannt, ein humorvoller, sangesfroher,
redseliger Mensch mit einem beinahe unerschöpflichen Fundus an Geschichten;
der andere hieß Josef, ein begeisterter Schütze und Jäger, der
das Jägerlatein beherrschte wie wenige. Reimmichl sagt später einmal,
dass er viele Typen seiner Geschichten und Romane vorwiegend aus
dem Defereggental entliehen hat. So diente Onkel Josef als Vorlage für
die „Geschichten vom Kreuzkaspar".
Ein nicht minder großer Erzähler und begnadeter „Lügner" und
„Reimer" mit großem Einfluss auf Reimmichls spätere Schriftstellerei
war der Bruder der Mutter, Thomas Brugger, Bauer zu Breuding. Sei-
ne angeblichen Kriegserlebnisse unter Feldmarschall Radetzky im sardisch-
piemontesischen Krieg fesselten jedes Mal den jungen Sebastian
und die übrigen Zuhörer derart, dass die Frage nach dem Wahrheitsgehalt
vollkommen in den Hintergrund trat.
„Lügner" bedeutet in diesem Zusammenhang in der Volkssprache
„Reimer" und kommt von zusammenreimen, zusammendichten, auch
im Sinne von übertreiben. Reimmichls Mutter, die den Aufstieg ihres
Sohnes zu einem der erfolgreichsten Volksschriftsteller seiner Zeit erlebte,
ermahnte ihn gelegentlich, in seinen Geschichten nicht so viel
„zusammenzulügen" - im Sinne von „zusammenreimen".
© Verlagsanstalt Tyrolia,
Nachrichten übermittelte man schriftlich durch die Post oder
durch Boten bzw. Botinnen. Und das blieb noch einige Jahrzehnte so.
Wer 1867 von Lienz ins Defereggental wollte, wanderte durch das Iseltal
nordwärts und erreichte nach etwa vier Stunden den kleinen Ort Huben.
Für dieselbe Strecke benötigt man heute mit dem Auto 20 Minuten.
In Huben münden dann zwei Täler: rechts führt eine Straße nach
Kals am Fuße des Großglockners und links verschließt zuerst einmal
eine enge, dunkle Schlucht, durch die die Schwarzach hervorbricht,
den Blick ins Defereggental. Die Straße ins Tal umfährt diese Schlucht
in einem weiten Bogen und erklimmt so den Beginn dieses Hochtales.
Schon seit Jahrhunderten führte zwar ein schmaler, rauer Karrenweg
durchs Defereggental, aber erst 1910 wurde die heutige Straße errichtet
und seither ständig weiter ausgebaut.
Die Deferegger Talstraße verbindet die Gemeinden Hopfgarten (1100 m,
800 Ew.), St. Veit (1500 m, 800 Ew.) und St. Jakob (1400 m, 1000 Ew.).
Die drei Orte setzen sich auf einer Länge von über 20 km aus einer Vielzahl
von Weilern - hier Rotten genannt - zusammen. Der Großteil der
Siedlungen liegt aber nicht im Talgrund, sondern 300 bis 400 m höher
auf Geländestufen des sonnseitigen Talhanges. Die Schattseite hingegen
besteht aus einem geschlossenen Waldgürtel ohne Siedlungen. Fahrzeugtaugliche
Verbindungen zwischen den einzelnen Höhensiedlungen und
zu den Talorten wurden erst nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet. Bis
dahin musste alles Notwendige auf dem Rücken getragen werden. Übrigens:
Zur Zeit Reimmichls siedelten im Tal dank guter Wirtschaftslage
um 40 Prozent mehr Menschen als heute.
Reisen war im Jahre 1867 noch recht beschwerlich. Von St. Veit in
Defereggen nach Matrei in Ostttirol, lange Zeit Verwaltungs- und Gerichtssitz
für das Defereggental, sind es 22 km, eine Strecke von vier
Stunden Gehzeit, hin und zurück also acht Stunden. Sollte ein St. Veiter
gar eine „Weltreise" nach Brixen oder Innsbruck geplant haben, musste
er gut zu Fuß sein. Als Reimmichl 1880 zum Studium nach Brixen
aufbrach, nahm er den damals gewohnten - nämlich kürzesten - Weg
über das Gsieser Törl (2205 m) ins Südtiroler Gsiesertal nach Welsberg,
wo er nach acht Stunden (!) Fußmarsch den Zug durchs Pustertal besteigen
konnte.
Die Natur allein bestimmte den Lebensrhythmus im Defereggental.
Die Arbeit war schwer, das Gottvertrauen groß, der karge Ertrag unsicher.
So auch am Eggerhof in St. Veit, der mittleren Gemeinde des
Hochtales. Dieses Anwesen liegt auf einem schmalen Geländeabsatz in
der Fraktion Inneregg, eine halbe Stunde über der Talsohle und eine
halbe Stunde von der Kirche St. Veit entfernt. Die Aussicht ist spärlich,
denn auf der gegenüberliegenden Seite, jenseits des Talbaches, erhebt
sich ein steiler, dunkler, felsdurchsetzter Berghang. Am Hof lebten drei
Generationen der Familie Rieger unter einem Dach. Reimmichls Großvater
hatte noch die Tiroler Freiheitskämpfe erlebt und erzählte dem
kleinen Sebastian oft davon. Dr. Hans Brugger, Reimmichls Neffe und
Biograf, war überzeugt, dass diese Geschichten, die der kleine Bub - er
wurde allgemein „Wastl" gerufen - von seinem Großvater hörte, einige
der frühen Reimmichlgeschichten stark beeinflussten.
1827 wurde Johann Rieger, Reimmichls Vater, geboren. Er war Nebenerwerbsbauer,
denn bereits in jungen Jahren zog er hinaus in die
Fremde, um mit Decken, Teppichen und Hüten zu hausieren. Jeweils im
Frühjahr und im Herbst schulterte er die Kraxe, um als Wanderhändler
in der Fremde sein Glück zu versuchen. Damit trat er in die Fußstapfen
vieler seiner Vorfahren, denn die Not zwang zahlreiche Deferegger
bereits im 17. Jahrhundert zu einem Nebenerwerb. Dafür bot sich das
Hausieren mit Waren aller Art an, zuerst in der näheren Umgebung
und später, mit mehr Erfahrung, auch auf weiten Reisen durch Europa.
„Über das Tal würde vielleicht niemand etwas wissen, wenn es nicht
schon früh durch die Teppichhändler in der halben Welt bekannt geworden
wäre", erklärte der Heimatforscher Ludwig von Hörmann 1877.
Im 18. Jahrhundert begannen die Deferegger mit Teppichen und Decken
zu handeln. „Kotzen" oder „Deferegger Teppiche" hieß diese grobe Ware
aus Kuhhaar, die sie im Pustertal einkauften. Später, als die Hausierer
auch in die Städte gingen, waren feinere und kostbarere Decken und
Teppiche gefragt. Die bezogen sie aus dem schwäbischen Nördlingen.
Es gab Zeiten, in denen jeder fünfte Deferegger als Hausierer unterwegs
war. Auch Reimmichls Großvater mütterlicherseits gehörte dazu.
Es hätte sich für einen einzelnen Händler jedoch nicht gelohnt, die
Ware, die er auf seine Kraxe gepackt hatte, vom Defereggental bis in
weit entfernte Länder zu tragen. Deshalb taten sich jeweils mehrere
Hausierer zusammen - meistens waren es Verwandte und Freunde -
und gründeten eine Handelsgesellschaft, eine sogenannte „Kompanie",
in die jeder einen bestimmten Betrag (Einlage) einzahlte. Mit dem Geld
wurden in fernen Gebieten Lager angelegt und der Transport der Ware
zu den Lagern organisiert. Der einzelne Hausierer reiste dann zum
jeweiligen Lager und betrieb den Handel von dort aus. Zusätzlich wurden
noch Lohnknechte angestellt. Anführer einer „Kompanie" war jeweils
ein versierter, erfahrener Hausierer.
Kehrte die „Kompanie" nach erfolgreicher Handelsfahrt wieder ins
Tal zurück, wurden alle Rechnungen beglichen, die Knechte entlohnt
und der Gewinn entsprechend der Einlage unter den Gesellschaftern
aufgeteilt. Dabei hatten die Knechte die Möglichkeit, zu Gesellschaftsteilhabern
aufzusteigen: Sie konnten ihren Lohn, oder einen Teil davon,
in der gemeinsamen Kassa stehen lassen, um zukünftig bei den Handelsreisen
bereits mit bescheidenem Kapital als Teilhaber zu hausieren
und am Gewinn beteiligt zu sein. Diesen Karriereweg ging auch der
Eggerbauer Johann Rieger. Er begann in den 1840er-Jahren als Kompanie-
Knecht und brachte es durch Fleiß im Laufe entbehrungsreicher
Jahre schließlich zum wohlhabenden Gesellschafter. 1884 - Reimmichl
war zu dieser Zeit bereits Kooperator in Sexten - schied Johann Rieger
aufgrund einer chronischen Krankheit aus und ließ sich auszahlen. Ein
Teilhaber konnte nämlich jederzeit Abrechnung verlangen und aus der
Kompanie ausscheiden.
Auf diese Handelsfahrten wurden oft bereits Halbwüchsige mitgenommen.
Die Hausierer erwarben sich deshalb bereits früh Handels- und
Sprachkenntnisse, sie zeigten gewandte Umgangsformen: Reimmichls
Vater wurde ein ausgezeichneter Geschäftsmann, war geschätzt wegen
seines klugen Rates und konnte sich in drei Sprachen sehr gut verständigen.
Die Deferegger Hausierer blieben aber Bauern - trotz des großen
wirtschaftlichen und finanziellen Erfolges. Der Handel war immer nur
ein Nebenerwerb. Dass sie aber erfolgreich waren, zeigten sie deutlich:
Sie kleideten sich gern nach neuester Mode, die sie auf ihren Fahrten
kennenlernten. Wenn sie aber daheim in städtischer Kleidung zur Heuarbeit
schritten, löste das im Tal natürlich Kopfschütteln aus: Als „Deferegger
Grafen" wurden sie dann verspottet. Sie spielten daheim überhaupt
gerne die feinen, noblen Herren. Andererseits zeigten sie sich oft
großzügig. Gerade Reimmichls Vater war ein solches Vorbild an Großzügigkeit,
sei es gegenüber der Nachbarschaft, der Gemeinde oder der
Kirche. Aber auch andere „Fortgeher", die im Ausland zu Wohlstand
gekommen sind, erwiesen sich immer wieder als Wohltäter ihres Heimattales.
So übernahm z. B. ein einzelner Hausierer, der ebenfalls zum
Mitbesitzer einer Handelsgesellschaft aufgestiegen war, fast die gesamten
Kosten für die Errichtung eines Armenhauses.
Johann Rieger begann seine Handelskarriere als Lohnknecht einer Handelskompanie.
Als er 1860 mit 33 Jahren die um vier Jahre jüngere Maria
Brugger vom Breudinghof heiratete, war er als „Teppich- und Hut-
Vertreter" bei einer St. Veiter Handelsgesellschaft beschäftigt. Durch
Fleiß brachte er es bis zum Teilhaber. Später wirkte er in Lemberg (heute
in der West-Ukraine), Prag und Budapest, wo die Handelsgesellschaft
Niederlassungen betrieb. Er war nur noch wenige Wochen im Jahr zur
Sommerszeit und um Weihnachten daheim.
Johann Rieger zog sich jedoch während der früheren, entbehrungsreichen
Jahre ein Lungenleiden zu, das ihn schließlich mit 57 Jahren
zwang, aus dem Geschäft auszusteigen. Er ließ sich 1884 seine Gesellschaftsanteile
auszahlen und verfügte nun über ein beträchtliches
Vermögen. Mit einem Teil davon vergrößerte er durch Zukäufe seinen
Hof, den bisher seine Frau und sein Bruder, „Onkel Stöffl" genannt, bewirtschafteten.
Es blieb aber immer noch genügend Geld übrig für ein
finanziell abgesichertes Leben. Auch wenn er seine Krankheit nie mehr
ganz überwand: In der frischen Luft des Defereggentales besserte sich
sein Gesundheitszustand zusehends und er konnte wieder alle bäuerlichen
Arbeiten verrichten.
Natürlich wollte die Gemeinde nicht auf einen so welterfahrenen und
erfolgreichen, gleichzeitig bekannt hilfsbereiten Mann verzichten, und so
wurde er Bürgermeister von St. Veit. Er hatte für die Nöte der Gemeindebürger
immer ein offenes Ohr, war ein geschätzter Ratgeber und unterstützte
in Not geratene Mitbürger mit Zuwendungen aus eigener Tasche
oder verhalf ihnen zu günstigen Darlehen, für die er oft selbst bürgte.
Er war auch ein großer Wohltäter der Kirche: Anlässlich der Primiz
seines Sohnes Sebastian 1891 spendierte er der Seelsorgskirche in St. Veit
einen herrlichen Messornat, einen goldenen Kelch, eine Monstranz und
ein Ziborium (Aufbewahrungskelch für die konsekrierten Hostien).
Johann Rieger waren nach dem Ausscheiden aus der Firma allerdings
nur elf Jahre vergönnt, dann meldete sich wieder die alte Krankheit. Er
starb 1895 im Alter von 68 Jahren. Reimmichl war damals Kooperator
in Dölsach und konnte die letzten Stunden bei seinem Vater verbringen
und die Totengebete sprechen.
Johann Rieger hinterließ ein beträchtliches Vermögen, von dem
auch Reimmichl seinen Anteil bekam. Nun offenbarte sich erstmals
die selbstlose Großzügigkeit Reimmichls, die sein Leben auszeichnen
sollte. Den Großteil des Erbes verwendete er zum Ankauf einer Volksbibliothek,
die er der Gemeinde Dölsach, wo er gerade Kooperator war,
zum Geschenk machte. Um den Rest ließ er sich eigene Möbel anfertigen.
Sein Neffe Dr. Hans Brugger erzählt, dass Reimmichl zeitlebens an
diesen altmodischen Möbeln hing und sie bei jeder Übersiedlung, von
Pfarrhaus zu Pfarrhaus, bis nach Heiligkreuz, mitschleppte, gleichsam
als Erinnerung an seinen Vater, den er tief verehrte.
Alte St. Veiter schilderten Johann Rieger, der einen sogenannten Kaiserbart,
also einen Backenbart trug, als eher schweigsam - für einen
Deferegger ungewöhnlich, wie Reimmichl später schmunzelnd meinte
-, aber hilfsbereit, pflichtbewusst, rechtschaffen und tief religiös. Musterhafte
Ordnung am Hof war ihm selbstverständlich und strengen
Gehorsam setzte er voraus. Doch ein Laster hatte auch dieser charakterfeste
Mann, das er zweifellos Reimmichl vererbte: Er rauchte Pfeife
wie ein Schlot.
Albuin Messner, ein Freund Reimmichls und von 1917 bis 1937 Pfarrer
von St. Veit, berichtet in seinen Aufzeichnungen von einer anderen Facette
Riegers: „Vater Rieger war mit seinen Kindern sehr streng, nie hat er sie
verwöhnt. In Anwesenheit des Vaters herrschte stets Ruhe in der Stube,
umso lauter ging es her, wenn der Vater nicht in der Nähe war."
Reimmichl erbte von seinem Vater die Großzügigkeit und den Drang
in die Ferne, der ihn später auf große Reisen durch Europa, vom Nordkap
bis an die Küste Afrikas führen sollte.
Da Johann Rieger den Großteil des Jahres auswärts verbrachte, musste
seine Frau Maria in Abwesenheit des Mannes die Rolle des Familienoberhauptes
übernehmen. Sie bewirtschaftete den Hof gemeinsam mit
Stöffl, einem Bruder ihres Mannes, führte den Haushalt und zog die
Kinder groß. Sie war klug, geschickt und führte ein strenges Regiment.
Ihr Einfluss auf die Entwicklung der Kinder war größer als jener des
Vaters.
Reimmichls Mutter wurde 1831 als Maria Brugger vom Breudinghof
geboren. Als sie 1860 mit 29 Jahren Johann Rieger heiratete, konnte sie
weder lesen noch schreiben, ein äußerst unangenehmer Zustand, wenn
man bedenkt, dass der Mann die meiste Zeit des Jahres in der Fremde
war. Doch die Liebe zu ihrem Mann und der Wille, eine tüchtige Hausfrau
zu werden, bewogen sie, noch mit 30 Jahren Lesen und Schreiben
zu lernen, wobei sie ihr Mann und ihr Schwager kräftig unterstützten.
So war in Zukunft wenigstens ein regelmäßiger Briefkontakt zwischen
den beiden Eheleuten möglich. Die Finessen der Groß- und Kleinschreibung
überging sie allerdings, sodass sie zeitlebens alles kleinschrieb,
auch Namen und Adressen. Es störte sie nicht, denn alle Briefe
und Postkarten erreichten ihr Ziel, wie sie lachend erklärte, und auf das
kam es schließlich an.
Maria Rieger bildete gleichsam den Gegenpol zu ihrem Mann. Er
war schweigsam und ernst, sie eine redselige und fröhliche, mit viel
Gottvertrauen ausgestattete Natur, die immer wieder neue Geschichten
zu erzählen wusste. Sie besaß ein großes goldenes Herz: Gastfreundschaft
und Wohltätigkeit gegenüber Armen und Notleidenden wurden
im Rieger-Haus immer großgeschrieben. Vor allem Kindern gegenüber
öffnete sie ihr Herz. Die Rieger-Mutter, wie sie genannt wurde, war ein
bemerkenswertes Beispiel gelebter Nächstenliebe: Sie schenkte nicht
nur fünf Kindern das Leben, sondern zog im Laufe ihres Lebens nicht
weniger als fünf (!) Waisenkinder auf - um Gottes Lohn. Dazu kamen
noch Kinder, die ihr Reimmichl von seinen Seelsorgsorten vorübergehend
schickte, wenn er für eines dieser verlassenen Geschöpfe nicht
gleich einen geeigneten Platz fand.
Damals waren die Menschen noch meist zu Fuß unterwegs, und da der
Eggerhof ziemlich in der Talmitte liegt, bot er sich gut als Rastplatz an.
Und weil es bei der Eggerhofbäuerin immer eine kleine Stärkung gab,
kehrten hier vor allem junge Kooperatoren und Studenten ein, deren
Geldbeutel meist an Schwindsucht litt.
Auf ihrem Sterbebild - Maria Rieger starb 1913 im Alter von 82 Jahren
- wurde sie so charakterisiert: „Die Verstorbene ... war eine Freundin
der Priester, der Armen und Waisen, eine treubesorgte Gattin, eine
echt christliche Hausfrau, wirtschaftlich und wohltätig, geachtet in weitesten
Kreisen."
Dem Ehepaar Rieger wurden vier Buben und ein Mädchen geboren.
Sebastian war der Älteste. Ihm folgten 1869 seine Schwester Aloisia und
wieder zwei Jahre später die Zwillinge Johann und Alois, die aber bald
nach der Geburt starben. 1874 kam der letzte Spross zur Welt, es war
wieder ein Hans.
Aloisia lebte daheim. Sie war ein Spiegelbild ihrer Mutter und in ihrem
Wesen Reimmichl sehr ähnlich. Sie war gesprächig - „so wie alle
Deferegger", ergänzte Pfarrer Albuin Messner -, konnte gut und interessant
erzählen und hatte bis ins Alter ein ausgezeichnetes Gedächtnis.
Sie war eine Frohnatur mit einem stets lachenden Gesicht und für ihre
Wohltätigkeit bekannt. Sie führte die Tradition der Gastfreundschaft
am elterlichen Hof fort. Reimmichl hatte sie besonders ins Herz geschlossen
und auch sie hing an ihrem Bruder. Zu Reimmichls Leidwesen
besuchte sie ihn selten, und wenn, dann immer nur für zwei, drei
Tage, denn sobald sie den Kirchturm von St. Veit nicht mehr sah, befiel
sie das Heimweh und die Arbeit ging ihr ab.
Sie erbte schließlich den väterlichen Hof, überließ ihn aber - da sie
ledig geblieben war - ihrem Ziehbruder Josef. Sie selbst blieb am Hof,
arbeitete bis zu ihrem Tod bescheiden wie eine Magd und war dennoch
im ganzen Tal hoch angesehen. Als sie 1948 zu Grabe getragen wurde,
waren sich alle einig, dass man Aloisia eigentlich zu den Heiligen zählen
müsste.
Hans, der jüngste Rieger, folgte seinem Bruder ins Gymnasium nach
Brixen. Man hielt ihn für talentierter als seinen älteren Bruder Sebastian.
Nach bestandener Matura verbrachte er die Ferien in St. Veit. Eines
Tages zog sich eine Frau bei der Waldarbeit eine schwere Verletzung zu.
Hans kam zufällig dazu und lief rasch einen Arzt holen. Dabei erhitzte
er sich stark und trank in diesem Zustand eiskaltes Wasser. Die Folge
war eine starke Erkältung mit nachfolgender Lungenentzündung, von
der er sich nicht mehr richtig erholte. Er trat zwar im Herbst noch ins
Priesterseminar ein, verstarb aber nach drei Monaten, einen Tag vor
dem Heiligen Abend 1893, mit nur 19 Jahren.
Dann waren da noch zwei Onkel, Vaters Brüder, die stark auf Reimmichl
als Volksschriftsteller abfärbten: Der eine war der bereits erwähnte
Stephan, allgemein „Stöffl" genannt, ein humorvoller, sangesfroher,
redseliger Mensch mit einem beinahe unerschöpflichen Fundus an Geschichten;
der andere hieß Josef, ein begeisterter Schütze und Jäger, der
das Jägerlatein beherrschte wie wenige. Reimmichl sagt später einmal,
dass er viele Typen seiner Geschichten und Romane vorwiegend aus
dem Defereggental entliehen hat. So diente Onkel Josef als Vorlage für
die „Geschichten vom Kreuzkaspar".
Ein nicht minder großer Erzähler und begnadeter „Lügner" und
„Reimer" mit großem Einfluss auf Reimmichls spätere Schriftstellerei
war der Bruder der Mutter, Thomas Brugger, Bauer zu Breuding. Sei-
ne angeblichen Kriegserlebnisse unter Feldmarschall Radetzky im sardisch-
piemontesischen Krieg fesselten jedes Mal den jungen Sebastian
und die übrigen Zuhörer derart, dass die Frage nach dem Wahrheitsgehalt
vollkommen in den Hintergrund trat.
„Lügner" bedeutet in diesem Zusammenhang in der Volkssprache
„Reimer" und kommt von zusammenreimen, zusammendichten, auch
im Sinne von übertreiben. Reimmichls Mutter, die den Aufstieg ihres
Sohnes zu einem der erfolgreichsten Volksschriftsteller seiner Zeit erlebte,
ermahnte ihn gelegentlich, in seinen Geschichten nicht so viel
„zusammenzulügen" - im Sinne von „zusammenreimen".
© Verlagsanstalt Tyrolia,
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Autoren-Porträt von Sebastian Rieger
Sebastian Rieger, geb. 1867 in St. Veit im Defereggental, war katholischer Priester und Publizist. Als Schriftsteller kannte man ihn unter dem Namen Reimmichl. Seine Bekanntheit über die Landesgrenzen hinaus verdankte er in erster Linie seinen Büchern und seiner Tätigkeit als Journalist, Geschichtenschreiber und Chefredakteur des Tiroler Volksboten. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde er zu dem heute noch von vielen geliebten und verehrten "Kalendermann" und Geschichtenerzähler. Er starb 86-jährig in Hall in Tirol.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sebastian Rieger
- 2016, 2. Aufl., 280 Seiten, 15 farbige Abbildungen, 22 Schwarz-Weiß-Abbildungen, 10 Abbildungen, Maße: 15,4 x 23,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Herausgegeben: Paul Muigg
- Verlag: Tyrolia
- ISBN-10: 3702235728
- ISBN-13: 9783702235727
- Erscheinungsdatum: 24.10.2016
Kommentar zu "Das große Reimmichl-Lesebuch"
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