Das Herz hat viele Zimmer
Roman. Originalausgabe
Alla ist Ende 40, glückliche Ehefrau und Mutter. Bis sie sich verliebt - in den zehn Jahre jüngeren Matthias. Doch sie muss um ihre neue Liebe kämpfen. Zum Glück gibt es ihre besten Freundinnen, die mithelfen, dass Alla wieder ihren Platz im Leben findet.
Leider schon ausverkauft
Buch
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Das Herz hat viele Zimmer “
Alla ist Ende 40, glückliche Ehefrau und Mutter. Bis sie sich verliebt - in den zehn Jahre jüngeren Matthias. Doch sie muss um ihre neue Liebe kämpfen. Zum Glück gibt es ihre besten Freundinnen, die mithelfen, dass Alla wieder ihren Platz im Leben findet.
Klappentext zu „Das Herz hat viele Zimmer “
Eine Geschichte über die große Liebe, kleine Wunder und die Kraft der FreundschaftAlla Junge ist Übersetzerin und mit Ende vierzig glückliche Ehefrau und Mutter zweier fast erwachsener Söhne. Bis sie sich verliebt. Hals über Kopf und gegen ihren Willen - in den zehn Jahre jüngeren Matthias, für den sie sogar ihren Mann verlässt. Gemeinsame Freunde meiden sie nun, ihre Söhne gehen auf Distanz. Und Alla muss um ihre neue Liebe kämpfen. Als sie ihre demenzkranke Mutter zu sich holt, wachsen ihr die Probleme über den Kopf. Zum Glück gibt es noch die besten Freundinnen Anne und Elisabeth, die erst alles besser wissen und dann mithelfen, dass Alla wieder ihren Platz im Leben findet.
Lese-Probe zu „Das Herz hat viele Zimmer “
Das Herz hat viele Zimmer von Franziska StalmannIch heiße Alla. Als der Krieg zu Ende war, war meine Mutter zwanzig und hatte das Gefühl, dass Hitler sie um ihre Jugend gebracht hatte. Ihre Jugend konnte sie nicht zurückholen, aber sie nahm sich vor, wenigstens alle Filme zu sehen, die sie durch seine Diktatur versäumt hatte. Sie fing nicht sofort damit an, es gab Wichtigeres, erst als die Zeiten besser wurden, ging sie ins Kino, sooft sie konnte. Dabei verliebte sie sich in die Schauspielerin Alla Nazimova, und als ich viel später zur Welt kam, nannte sie mich Alla. Mein Vater fand es furchtbar, dass sein Kind den fremdartigen Namen einer toten Hollywoodschauspielerin haben sollte, aber gegen meine Mutter kam er nicht an. Er ging seinen eigenen Weg und nannte mich immer nur »Liebes«. Als ich anfing, über die Dinge nachzudenken, fragte ich ihn, warum. »Liebes heißt, dass ich dich liebe. Es ist dein wahrer Name. Verstehst du?«, sagte er. Ich verstand es nicht, aber ich war stolz auf ihn, weil er so klug war und meinen wahren Namen wusste. Und niemand merkte, dass er mich nie Alla nannte, nicht einmal meine Mutter.
»Alla«, sagte meine Mutter. »Was ist das hier?«
»Ein Coffeeshop, Mama«, sagte ich.
»Und wie heißt das hier?«
»Es heißt auch so: Coffeeshop.«
»Interessant«, sagte sie. »Originell!«
Das fragt sie jedes Mal, und jedes Mal sagt sie: »Interessant, originell«, streckt die dünnen Arme auf den Lehnen der braunen Plastikledersessel aus und spreizt die Hände mit den blauen Adern.
... mehr
Ich rührte Zucker in ihren Cappuccino und zerteilte den Schokoladenmuffin in kleine Stücke, die sie mit zierlichen Bewegungen aufnahm und langsam kaute. Dann schob sie den Teller von sich und richtete ihren Blick auf den Mann gegenüber.
»Hallo«, sagte sie.
Er hob den Blick von seinem Laptop: »Hallo.«
»Sie gefallen mir.«
Er lächelte.
»Sie sind ein richtiger Mann.«
»Hoffentlich«, sagte er.
»Da bin ich sicher«, sagte sie. »Das sehe ich gleich. Alla könnte einen Mann brauchen ...«
»Ich habe einen Mann, Mama.«
»Ja, aber keinen richtigen. Du wirst ältlich und zickig.«
Er grinste.
»Ich habe einen richtigen Mann.«
»Warum wirst du dann ältlich und zickig?«
»Ich werde nicht - hör auf, Mama!«
»Jetzt knirscht sie mit den Zähnen«, sagte meine Mutter. »Das tut sie immer, wenn sie wütend ist. Daran müssen
Sie sich gewöhnen. Aber sonst ist sie eine großartige Frau.«
»Keine Frage«, sagte der Mann.
Ich packte sie am Handgelenk und zog sie aus dem Sessel und hinter mir her zur Tür.
»Wie heißen Sie?«, rief sie zurück.
»Matthias.«
»Was für ein schöner Name!«, rief sie, während ich die Tür aufriss und sie hinausschob.
Ich brachte sie zurück ins Heim und auf ihr Zimmer, sie legte sich auf die Couch, um die Augen ein bisschen zuzumachen, und war sofort eingeschlafen. Auf dem Rückweg überlegte ich mir, wie peinlich es wäre, den Mann dort wiederzutreffen - außer ich ging jetzt sofort zu ihm und erklärte ihm, dass meine Mutter fünfundachtzig und dement sei und nichts dafür könne, was sie tue, und dass es mit mir überhaupt nichts zu tun habe.
Im Coffeeshop war er nicht mehr, und ich fragte die Frau hinter der Theke, ob sie ihn kannte.
»Er ist ziemlich kräftig und hat rote Haare und einen Bart und einen dreckigen Pullover an. Und er heißt Matthias. «
»Das ist der Herr Rosenfelder«, sagte sie. »Dem ist die Kaffeemaschine kaputtgegangen.«
»Und wo ...«
»Der hat seine Schreinerei um die Ecke in der Eismeerstraße. «
Ich ging um die Ecke in die Eismeerstraße, und da war die Schreinerei, eine Ansammlung von Bauten, Bäumen und Sträuchern um einen Hof auf einem großen Grundstück zwischen Mietshäusern. Das Schild, auf dem »Matthias Rosenfelder jun. Schreinerei« stand, war alt, nur das »jun.« war irgendwann frisch aufgemalt worden.
Das Tor zur Werkstatt war offen. Drinnen standen Maschinen, Bretter waren gestapelt und frisch gefertigte Fensterrahmen aneinandergelehnt, und es roch nach Holz und Maschinenöl.
Er trat aus einer Tür, über der »Büro« stand.
»Hallo.«
»Hallo«, sagte ich. »Ich wollte Ihnen nur sagen - es ist nämlich so, meine Mutter ist ...«
»Ihre Mutter ist süß.«
»Ja, sicher. Aber sie ist auch krank, sie ist ...«
»Sie ist süß. Und sie hat recht.«
»Womit?«
»Mit alt und zickig.«
»Also ...«
»Ich rede von mir«, sagte er. »Man wird alt und zickig, wenn man keine Frau hat.«
»Warum haben Sie keine Frau? Sie sind ein gut aussehender Mann.«
Er sah mich an.
Es gibt Momente, in denen man nicht herumreden kann. Oder lange nachdenken. Es gibt nur klare Alternativen. In diesem Moment war die eine Alternative zu gehen. Und es gab die andere.
Er stieß die Tür zum Büro ganz auf. Ich ging hinein, und er machte die Tür zu und drehte den Schlüssel um.
Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt so schnell aus den Kleidern war. Vielleicht noch nie. Er war auch sehr schnell, erstaunlich schnell dafür, dass er groß und schwer war. Danach war erst mal alles nur gut, weil es nun auch keine Alternativen mehr gab.
Jemand rüttelte an der Türklinke und rief: »Papa«. Die
Stimme eines Mädchens.
Er fuhr hoch.
»Papa? Bist du da drin?«
»Ja.«
»Ist alles okay? Geht es dir gut?«
»Ja. Sehr gut.«
»Warum machst du nicht auf?«
»Das erkläre ich dir morgen.«
»Okay. Ich geh jetzt.«
Die Stimme wurde leiser. Die Person, zu der sie gehörte, hatte ihre chance erkannt und versuchte, ohne Verhandlungen davonzukommen.
Er war mit einem Sprung an der Tür.
»Mellie? Melanie!«
»Ja?«
»Wohin gehst du?«
»Ins Heavens. Und noch woandershin. Weiß ich noch nicht.«
»Du bist um elf zu Hause.«
»Papa! Zwölf!«
Er sah an sich runter und dann auf mich.
»Keine Sekunde später als zwölf. Du steigst zu keinem besoffenen Jungen ins Auto. Keine S-Bahn. Du nimmst dir ein Taxi, wenn's nötig ist. Du rufst sofort an, wenn was ist. Hast du dein Handy aufgeladen und genug Geld dabei?«
»Ja, Papa. Tschüss.«
Er lehnte sich an die Tür und seufzte.
»Wie alt ist sie?«
»Sechzehn«, sagte er. »Wäre sie bloß schon achtzehn. Oder zwanzig. Dann hätte ich es hinter mir. Mit Jungen ist es leichter. Denen kann auch viel passieren, aber du stellst dir nicht die ganze Zeit vor, dass sie vergewaltigt werden. Oder schwanger. Manchmal wünsche ich mir, sie wäre ein Junge. Dabei ist es so schön, dass sie ein Mädchen ist.«
Ich stand auf und suchte unter den Kleidungsstücken am Boden nach meinen Sachen.
»Gehst du?«
»Ja«, sagte ich.
»Schade.«
Er sah zu, wie ich mich anzog. Dann drehte er den Schlüssel und öffnete die Tür.
Ich wollte etwas sagen, aber ich wusste nicht, was. Er sagte auch nichts. Ich sah zurück, als ich die Werkstatt verließ. Er stand nackt im Türrahmen des Büros und sah mir nach.
Unser Haus leuchtete. Gerd ist Architekt und hat es gebaut, es war sein Traum, ein Haus für uns zu bauen, und er hat Fenster und Farben und die Lichtinstallation so geplant, dass das Haus immer warm und fröhlich ist und nachts ein faszinierendes Farbenspiel bietet. Es ist nicht wirklich warm und fröhlich geworden, dafür ist es zu groß und zu gerade, glaube ich, aber es leuchtet, wenn es dunkel ist.
Er kam mir entgegen.
»Wo warst du? Ich habe mir Sorgen gemacht.«
»Bei Mama.«
»Ich habe bei ihr angerufen. Sie hat gesagt, du bist nicht da.«
»Du kennst sie doch«, sagte ich. »Ich gehe nur ins Bad, und sie weiß nicht mehr, dass ich da bin.«
»Ach ja. natürlich. Sie klang so überzeugend.«
»Es tut mir so leid, Gerd.«
»Was?«
»Dass du dir Sorgen gemacht hast.«
»Wieso? War mein Fehler«, sagte er. »Gregor und Iris sind da. Wir haben Pizza geholt. Ich mache deine schnell warm.«
Gregor und Iris saßen auf der einen Bank an unserem Esstisch und Daniel und Jonas auf der anderen, dicht beieinander. Sie sind Zwillinge und waren noch nie getrennt, nicht im Kindergarten, nicht in der Schule, aber nun machten sie Zivildienst und mussten ganze Tage ohneeinander verbringen, und abends wirkten sie wie verhungert nach der Gegenwart des anderen und wuchsen beinahe zusammen.
Ich schob meinen Kopf zwischen ihre Köpfe, und sie küssten mich auf die Wangen und sagten: »Hallo, Mama«, was auch darauf hindeutete, dass sie in einer schwierigen Phase waren, denn sonst nennen sie mich »Mum«. Auf Englisch ist es lässiger.
Gregor sprang auf und umarmte mich.
»Alla! Du siehst toll aus! noch schöner als sonst!«
Er ist Gerds alter Freund und Partner, wir kennen uns seit über zwanzig Jahren, aber er redet immer so.
»Hör auf mit dem Quatsch.«
»Stimmt aber«, sagte Daniel, und Jonas nickte.
Gerd stellte die Pizza vor mich hin, und ich aß sie, obwohl ich keinen Hunger hatte.
»Wir wollten euch was sagen«, sagte Gregor und nahm Iris' Hand. »Wir bekommen ein Baby.«
Gerd seufzte: »Schon wieder?«
Die Jungs verdrehten die Augen und standen auf.
»Wir gehen dann mal.«
»Wohin?«, fragte ich.
»Dingolfing. Konzert. Vreni«, sagte Jonas.
»Passt auf euch auf!«
»You better take care of yourself, Mum«, sagte Daniel lässig und machte die Flurtür mit demonstrativer Behutsamkeit hinter sich zu.
»Ich mache mir Sorgen«, sagte ich.
»Alla! Was soll ihnen denn in Dingolfing passieren?«, fragte Gerd.
»nicht wegen Dingolfing. Wegen Vreni. Vreni ist Leadsängerin von Fanta Fabrik, und sie beten sie an. Wenn sie beide nicht will, ist alles gut. Wenn sie beide will? Grauenvoll. Aber wenn sie nur einen nimmt? Das wäre eine Katastrophe!«
Die drei lachten. Ich musste auch lachen.
»Und was ist mit unserem Baby?«, fragte Gregor. »Das interessiert hier anscheinend überhaupt niemanden.«
»Es ist schon das vierte«, sagte ich. »Und so schnell hintereinander. «
»Wir wissen auch nicht, wie das passiert ist«, sagte Gregor kokett.
»Wir können es euch erklären«, sagte Gerd. »Ich glaube, wir wissen noch, wie es geht.«
»Wollt ihr nicht auch noch mal? Kinder sind doch das Schönste. Ich weiß gar nicht, wie man ohne leben kann.«
Er war lange nicht besonders scharf darauf gewesen, mit ihnen zu leben, war jetzt umso begeisterter und verkündete die Vorzüge des Kinderkriegens, als hätte er es erfunden.
»Du spinnst«, sagte ich.
»Warum nicht?«, fragte Iris. »Das ist doch kein Problem. Du bist erst siebenundvierzig, Alla.«
»Kommt gar nicht infrage«, sagte Gerd. »Alles, was ich will, sind noch ein paar Enkelkinder. Aber auch nicht gleich.«
nachts lag ich lange wach. Die Jungs waren noch nicht zurück, und sie würden wahrscheinlich auch nicht mehr kommen. Sie übernachteten, wenn sie weggingen, meist woanders, bei Freunden, bei Leuten, die sie gerade kennengelernt hatten. Oder sie schliefen im Auto. Ich war froh, dass sie Jungs waren und zu zweit und bald neunzehn.
Ich sah auf die Uhr. Halb drei. Melanie war bestimmt um zwölf zu Hause gewesen. Er kam mir vor wie jemand, der schrecklich wütend werden konnte.
Gerd schlief neben mir, unbewegt, geräuschlos. Auch sonst war alles still, und das Haus um uns herum schien viel zu groß zu sein, groß, dunkel und kühl.
Ich hatte lange geduscht, aber das Gefühl in meinem Körper, das man hat, wenn man mit einem Mann geschlafen hat, war noch da, das lässt sich nicht wegduschen. Und neben mir lag mein Mann, und ich hatte nicht mit ihm geschlafen. Seit dreiundzwanzig Jahren hatte ich das Gefühl nur gehabt, wenn er es auch hatte. Jetzt hatte es irgendein wildfremder Mann.
Wie war das passiert? Und warum? Warum hatte ich mich auf einen wildfremden Mann geworfen, auf dem Dielenboden eines wildfremden Büros?
So was passiert. Darüber stand gerade etwas in einer von den Frauenzeitschriften, die im coffeeshop ausliegen. Sex mit einem Fremden. Es passiert, und nun ist es dir passiert. Es kommt oft vor, viel öfter, als man denkt. Jede dritte Frau hatte schon Sex mit einem Fremden. Oder jede zweite? Es ist kein Beinbruch, und schon gar kein Verbrechen. Im Gegenteil. Es war schön und mit einem netten Mann. Und du hast nun auch deinen Sex mit einem Fremden gehabt, wie jede zweite oder dritte, und wirst irgendwann mal nicht als total brave und biedere Ehefrau ins Grab gesenkt.
Ich drehte mich auf den Bauch. Auf dem Bauch kann ich leichter aufhören zu denken und besser einschlafen.
Wir gingen nicht mehr in den Coffeeshop, Mama und ich. Wir gingen in das italienische Café, in das deutsche, in ein Retro-café, wir versuchten es mit den anderen Coffeeshops und mit der Cafeteria bei Karstadt, aber nirgends gefiel es ihr so, dass sie fragte: »Was ist das hier? Wie heißt das?« und sagte: »Interessant, originell!« und die Arme auf den Sessellehnen ausstreckte.
Dann traf ich die Frau aus dem Coffeeshop im Drogeriemarkt.
»Hallo«, sagte sie. »Hab Sie lange nicht gesehen. Wie geht es Ihrer Mutter?«
»Gut«, sagte ich.
»Herr Rosenfelder hat nach Ihnen gefragt. Sie haben was vergessen in seiner Werkstatt, sagt er. Muss was Wichtiges sein, er hat schon öfter gefragt. Vermissen Sie nichts?«
Doch. Viel.
Ab jetzt ging ich mit Mama in die Stadt zum Kaffee- trinken, aber ich wusste, dass es mir auf Dauer nicht helfen würde, denn je weiter man läuft, desto näher kommt man.
Als ich Ende November in der Buchhandlung nach Weihnachtsgeschenken suchte, spürte ich seine Hand auf der Schulter und hörte seine Stimme: »Alla.«
Ich drehte mich um.
»Ich habe dich gesucht«, sagte er.
»Ich schlafe nicht mit dir.«
»Brauchst du auch nicht. Gehst du mit mir spazieren?«
Ich nickte.
»Ich muss nur schnell telefonieren«, sagte er und ging raus, und ich kaufte das Buch, das ich in der Hand hatte, obwohl ich nicht wusste, wie es hieß und wovon es handelte.
Wir gingen in den Park. Die Sonne schien, ein paar gelbe und rote Blätter hingen noch an den Bäumen, das Gras war bereift.
Wir gingen schweigend nebeneinanderher, bemüht, uns nicht zu berühren, und beobachteten die Hunde der anderen Spaziergänger, als hätten wir noch nie einen Hund gesehen.
»Wie geht es Melanie?«, fragte ich schließlich.
»Gut.«
»Wo ist ihre Mutter?«
»In Augsburg, bei ihrem neuen Mann.«
»Ist das schlimm?«
»nein. Wir waren froh, als wir uns endlich getrennt hatten.«
Ich stolperte und wäre hingefallen, wenn er mich nicht festgehalten hätte. Er ließ mich gleich wieder los.
»Und du?«, fragte er. »Wie geht es dir?«
»Gut«, sagte ich. »Mir geht es gut.«
»Und deiner Mutter?«
»Auch.«
Irgendwer fing an, die »Marseillaise« zu spielen. Es war sein Handy. Ach je. Auf geht's, Kinder des Vaterlandes, der Tag des Ruhmes ist da, das Telefon klingelt!
»Ich muss zurück in die Werkstatt«, sagte er. »Sehen wir uns wieder?«
»nein.«
»Warum nicht?«
»Geht nicht.«
»Wir haben nichts getan. Wir haben uns nicht angefasst. nicht mal die Hand gegeben. Wir haben nur geredet.«
»Ja, heute. Aber das halten wir doch nicht durch, wenn wir uns wiedersehen.«
»Warum nicht?«
»Ich will dich anfassen.«
Er nickte und lächelte.
Seine Lippen waren voll und rosig zwischen den roten Barthaaren. Wir hatten uns kaum geküsst im Büro. Schade. Wir waren nicht dazu gekommen.
»Aber ich tue es nicht. Ich bin verheiratet, ich liebe meinen Mann, uns geht es gut, meinem Mann und mir und den Jungs. Das mache ich nicht kaputt.«
»So gut geht es dir mit deinem Mann, dass du mich anfassen willst?«
»Ja! Das kann doch passieren! Ich tue es ja nicht! Bestimmt nicht!«, schrie ich.
Die Spaziergänger drehten sich nach mir um, und ein Hund fing an zu bellen.
»Verdammt«, sagte er und wandte sich mit einem Ruck ab.
»Matthias?«
Er drehte sich um, Hoffnung in den Augen.
»Du gehst nicht mehr in den Coffeeshop, oder?«
»Wieso?«
»Wenn du nicht mehr hingehst, kann ich wieder hin. Mit meiner Mutter. Das ist das einzige café, wo sie wirklich gerne ist.«
»Verdammt«, wiederholte er, »verdammt, verdammt«, und ging mit großen Schritten davon. Dann ging er immer langsamer und schob die Füße durchs Laub, wie Kinder es machen. Wo der Weg um die Kurve bog, blieb er stehen und sah in meine Richtung.
Ich wartete, bis er weitergegangen und in der Biegung verschwunden war, bevor ich auch zurückging, so langsam, dass ich ihn nicht einholen konnte.
Das Logo des Coffeeshops ist eine entflammte Kaffeebohne. Groß schwebt sie über dem Eingang und der Theke, und über die Wände läuft ein breiter Streifen aus vielen kleinen entflammten Kaffeebohnen. Zu Weihnachten dekorieren sie immer so üppig, dass man ihn nicht mehr sehen kann, aber jetzt ist Weihnachten vorbei und die Dekoration entfernt, und die Kaffeebohnen laufen wieder über die Wand.
Elisabeth wies mit dem Finger darauf.
»Was ist das denn? Bazillen? Viren? Darmbakterien?«
»Kaffeebohnen«, sagte ich. »Entflammte Kaffeebohnen. «
»Eklig«, sagte sie. »Widerlich.«
Anne und ich sahen uns an. Wir kennen uns schon so lange, seit dem Sandkasten im Kindergarten, und schon damals war Elisabeth gut im nörgeln, wegen allem und jedem, der Sand war nicht in Ordnung, die Schaufeln, die Förmchen, die Eimer.
Sie kratzte mit dem Fingernagel am Bezug des Sofas.
»Plastik. Tut so, als wäre es Leder. Geschmacklos. Alles so geschmacklos hier. Immerhin ist der Cappuccino trink bar. Bestellst du mir noch einen?«
Sie stand auf und stöckelte Richtung Toilette.
»Was ist los mit ihr?«
»Heiner hat sie verlassen«, sagte Anne.
»Aber das war die große Liebe! Die große Leidenschaft! «
»Schon. Aber mental stimmt es nicht, sagt er.«
»Was heißt das?«
»Mental heißt geistig.«
»Das weiß ich. Was meint er damit?«
Sie sah mich ungeduldig an mit ihren schmalen dunklen Augen unter dem schwarzen Prinz-Eisenherz-Pony.
»Ach, Alla! Der hat eine andere. Jünger, cooler, größere Titten, mehr Geld - such dir was aus. Und ist zu feige, es ihr zu sagen, und murmelt was von mental.«
Elisabeth kam zurück, und ich schob ihr die Tasse hin und legte den Arm um sie.
»Komm, Kleine. Trink was.«
Sie schlürfte den Schaum vom Cappuccino.
»Ihr habt es gut. Ihr habt eure Männer noch.«
»Da ist auch nicht alles Gold, was glänzt«, sagte Anne.
»Aber es glänzt wenigstens. Ich muss jetzt wieder suchen gehen.«
Dabei hatte sie als Erste einen Ehemann gehabt - nick. Sie hatte nick kennengelernt und fast sofort geheiratet. Mit dreiundzwanzig. Sie hatte nicht mal zu Ende studiert. nick war Betriebswirt und im Aufstieg begriffen bei einer Privatbank. Sie bekam zwei Kinder und begleitete seine Karriere perfekt, aber als er vor acht Jahren das Angebot kriegte, in den Vorstand einer New Yorker Bank zu wechseln, verließ er nicht nur Europa, sondern auch Elisabeth. Er hatte da schon so viel Geld, dass eine Scheidung ziemlich teuer gewesen wäre. Sie blieben verheiratet, Elisabeth bekam jeden Monat eine ansehnliche Überweisung und suchte seither nach einem neuen Mann.
»Vielleicht musst du nicht suchen«, sagte Anne. »Da drüben sitzt einer, der sieht schon die ganze Zeit rüber. Roter Bart, schmuddeliger Pullover, leicht übergewichtig, gar nicht dein Typ, aber rasiere ihn, lass ihn abnehmen und zieh ihm was Ordentliches an, dann sieht der richtig gut aus. Schau doch mal, Alla.«
»Brauch ich nicht«, sagte ich aufgeregt. »Der ist nichts für sie, bestimmt nicht. Bleib hier, Elisabeth!«
Aber sie war schon aufgestanden und stöckelte hinüber, die Hüften schwingend und das blonde Haar werfend, dezent, elegant und doch offensichtlich.
Ich zog den Kopf ein und sah in Annes Gesicht.
»Der will sie nicht«, murmelte sie. »Überhaupt nicht. Aber sie lässt nicht locker. Scheiße. Gib auf, Elisabeth. Lass es.«
Es schien endlos lange zu dauern, bis Elisabeth wieder da war. Sie ließ sich neben mich aufs Sofa fallen und seufzte.
»Toller Mann! Schade.«
»Wieso schade?«
»Er hat nicht mich angestarrt, sondern Alla. Sie sieht aus wie die Frau, die er liebt, sagt er. Er hat diese Frau nur zweimal getroffen und nur einmal mit ihr geschlafen, aber er liebt sie. Ich habe gefragt, ob er es nicht mal mit einer anderen probieren will, ganz unverbindlich, vielleicht funktioniert es ja, aber er sagt, das hat keinen Sinn, er kennt sich, wenn er liebt, dann liebt er. Toll, nicht? Und die Frau, die muss ja auch toll sein. Sie hat nur einmal mit ihm geschlafen, und er ist verzaubert fürs Leben ...«
»Ja, toll«, sagte Anne spöttisch. »Er so toll, sie so toll. Die große Liebe. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Wahrscheinlich fickt sie schon woanders rum, und er ist morgen mit einer neuen hier.«
»Also, Anne, wirklich«, sagte Elisabeth.
Anne ist so. Wenn sie sich ärgert, zum Beispiel weil jemand in sentimentales Schwärmen gerät, wird sie grob, besonders, wenn es Elisabeth ist, die schwärmt.
Elisabeth sagt dann immer so was wie »Also, Anne, wirklich«, und mit diesem Hin und Her haben sie schon angefangen, als wir noch im Sandkasten spielten, so ungefähr jedenfalls.
Ich spürte Matthias' Gegenwart hinter mir und war froh, als ich extralautes Stuhlrücken hörte und er ziemlich dicht an mir vorbeiging und ich seinen Rücken im grünen Parka mit dem Rot seiner Haare darüber sah und die Tür hinter ihm zufiel. Mir wurde heiß, die Glut stieg bis in mein Gesicht.
Die beiden sahen mich gerade nicht an, Gott sei Dank. Sie stritten über die große Liebe, ob es sie gab, und wenn ja, wie man sie definieren konnte. Es war ein behaglicher Streit, weil beide fest daran glaubten, auch wenn Anne dagegen sprach und Elisabeths große Liebe schrecklich gescheitert war und sie seither nicht mal eine kleine gefunden hatte.
Ich hörte nicht hin und sah ihnen nur zu. Elisabeth hatte Prosecco geholt, wie sie das früher oder später immer tut, wenn wir zusammen sind, lehnte sich zufrieden zurück, schlug die Beine übereinander und trank. Anne blickte in ihr Glas, als ob sie die Perlen zählte, die im Prosecco hochstiegen, nahm einen Schluck und schüttelte ihren Pony zurecht.
Die große Liebe. Ich dachte daran, wie wir geheiratet hatten, jede von uns. Elisabeth in Weiß, mit Polterabend, Kirche, großer Hochzeitsfeier und Anne und mir als Brautjungfern, was wir beide teils komisch, teils sehr bewegend fanden. Anne auf dem Standesamt, und abends ein Gartenfest mit Bier vom Fass und einem Buffet, zu dem jeder etwas mitbrachte. Gerd und ich in New York, ohne dass jemand davon wusste, und später zu Hause eine Just-Married-Überraschungsparty. Unsere Eltern trugen es mit Fassung, Anne und Elisabeth brauchten lange, um mir die heimliche Hochzeit zu verzeihen.
Und wir waren so überzeugt, dass es die einzig wahre große Liebe ist, dachte ich, fest und zweifelsfrei überzeugt. Es war ja auch die große Liebe, für jede von uns. Aber die einzige?
»Vielleicht gibt es nicht nur eine große Liebe im Leben «, sagte ich. »Vielleicht gibt es mehrere?«
Elisabeth zog die Augenbrauen hoch, Anne blickte spöttisch.
»Ach ja«, sagte sie, »wie einfach. Das Glück im Sechser- pack. Man wirft das alte weg und nimmt sich ein neues. «
»Entweder oder«, sagte Elisabeth. »Die große Liebe gibt es nur einmal. Sonst ist es keine.«
»Eben. Wenn überhaupt, dann gibt's nur eine«, sagte Anne.
Gerade hatten sie noch gestritten, jetzt waren sie gegen mich verbündet. Solche Wechsel gehen schnell bei uns, und keine nimmt sie furchtbar ernst. Vielleicht sind wir auch deshalb noch zusammen.
»Aber wonach suchst du dann?«, fragte ich Elisabeth. »nicht nach der großen Liebe?«
»natürlich nicht«, sagte sie in dem entrüsteten Ton, der vermuten lässt, dass es doch so ist. »nach Liebe, nach Beziehung, ja ...«
In Annes Rucksack piepte das Handy. Sie zog er heraus und ging damit in die stille Ecke neben dem Tresen.
Sie ist Internistin und hat eine Praxis zusammen mit ihrem Mann Ludwig. Dies ist ihr freier Nachmittag, an dem wir uns oft treffen. Aber fast immer ruft die Sprechstundenhilfe an, weil es irgendetwas gibt, was nur Anne weiß und kann, und niemand sonst.
Wir warteten. Anne kam zurück.
»Das war ...«
»... die Sprechstundenhilfe«, sagten wir einstimmig, Elisabeth und ich.
»Was macht Ludwig eigentlich so in der Praxis?«, fragte Elisabeth, wie immer.
»Ein Nickerchen auf dem Röntgentisch«, antwortete ich, auch wie immer.
»Ihr seid blöd«, sagte Anne. »Ich muss weg. Aber ich hätte sowieso bald gehen müssen. Es ist halb fünf.«
»Dann muss ich auch gehen«, sagte ich. »Essen machen. Arbeiten.«
»Und was ist mit mir?«, fragte Elisabeth.
Sie hat so viel Zeit und Geld und Freiheit. Ihre Tochter ist in England verheiratet, ihr Sohn lebt in new York, wie nick, und macht Karriere wie nick. Sie besucht sie oft, aber es gibt nichts, was sie tun und niemanden, um den sie sich unbedingt kümmern muss. Wir haben es besser, Anne und ich.
»Du wirst dich doch allein nicht fürchten«, sagte Anne. »Du bist ein großes Mädchen.«
»Außerdem sitzt da drüben ein Mann, der dich anstarrt, als hätte er in seinem Leben noch keine Frau gesehen«, sagte ich. »Und schon gar keine so schöne.«
»Wo?«, fragte Elisabeth.
»Am Fenster. Breite Schultern, geschorener Schädel. Tolle Waden.«
»Mhm«, machte Anne.
»Und er sieht aus, als ob er auch Verstand hat, nicht nur Muskeln.«
»Geht nur«, sagte Elisabeth.
Als ich nach Hause kam, war es halb sechs, und ich war verwirrt und beschwipst, obwohl ich von dem Prosecco nur einen Schluck getrunken und den Rest hatte stehen lassen. Ich tat die doppelte Menge Kaffee in den Filter der Kaffeemaschine, und während das Wasser durchlief, bereitete ich Tomatensoße vor, legte die Spaghettipackung neben einen Topf mit Wasser und deckte den Tisch.
Ich füllte die Thermoskanne und einen Becher mit der schwarzen Brühe und trank, während ich die Treppe hinaufging, und als ich am Schreibtisch ankam, hatte ich Herzrasen, aber ich war wieder wach.
Ich machte den Laptop an und schlug das Buch an der Stelle auf, wo ich aufgehört hatte. Ich bin Übersetzerin. Das Buch heißt The Collector und handelt von einer Frau, die fünfzehn Jahre nach der großen Weltkatastrophe auf dem Weg durch Amerika ist. Die Zivilisation ist zerstört, die Städte sind verwüstet, die Menschen, die es noch gibt, leben in Wäldern und Höhlen.
»Kombination aus Endzeitstory und Roadmovie«, hatte die Lektorin gesagt. »Roadmovie geht immer, und Endzeit ist gerade so angesagt. Wir ziehen es im Programm vor, weiß man, wie lange Endzeit noch angesagt ist? Du musst schnell machen, Alla, geht das?«
Es gibt keine Bücher mehr, und die Frau ist unterwegs, um zu sammeln, was im Gedächtnis der Menschen überlebt hat: Bibelstellen, Sätze aus Romanen, Gedichtverse, Liedzeilen, Sprechblasen aus comic-Heften. Es gibt auch kein Papier mehr, also lernt sie es auswendig, und wo immer sie hinkommt, trägt sie es vor und sammelt neues.
Ich hatte an der Stelle aufgehört, wo ein alter Mann der Sammlerin Strophen eines Liebesliedes vorsagt. Es war schön, zur Abwechslung Verse zu übersetzen, es brachte mich in Schwung, und als Daniel die Tür öffnete, war es halb neun, und ich hatte viel geschafft.
»Hi, Mum.«
»Hi, Sweetheart.«
»Es wäre dann serviert.«
»Habt ihr alles gefunden?«
»Nein, wir haben einen Blindenhund engagiert.«
Gerd und Jonas hatten die Teller schon gefüllt, ich setzte mich neben Gerd, und wir aßen, während die Jungs vom Dienst erzählten - Jonas war in einer psychiatrischen Tagesklinik, Daniel fuhr Krankentransporte. Aber dann begann der Refrain des Liedes, das ich übersetzt hatte, sich in meinem Kopf zu drehen. Farewell, my lovely, see you again, tomorrow, my lovely, or when? Next week, my lovely, next year, or when? When will we meet again? Ich konnte mich nicht mehr konzentrieren auf das, was sie erzählten, und aß nur noch mechanisch zu Ende.
Jonas murmelte nach dem letzten Bissen: »Basketball, Mum«, und verschwand im Wohnzimmer, und Gerd und Daniel folgten, als sie den Anpfiff hörten. Ich räumte den Tisch ab, stellte das Geschirr nur schnell in die Spüle und zog meinen Mantel an.
»Ich muss noch mal weg«, rief ich ins Wohnzimmer, und die drei nickten, ohne den Blick vom Bildschirm zu lösen.
Ich fuhr in den Hof der Werkstatt. Alles war dunkel bis auf ein Licht in einem Fenster im Erdgeschoss. Das Büro vermutlich.
Ich machte den Motor aus, blieb sitzen und hoffte auf den Impuls, ihn wieder anzumachen und nach Hause zu fahren.
Er kam nicht. Ich stieg aus, ging auf das Licht zu und klopfte an die Fensterscheibe. Ich musste lange klopfen, bis der Vorhang zurückgezogen und das Fenster aufgerissen wurde.
»Wer zum Teufel - was machst du denn hier?«
Sein Gesicht war rot und gedunsen, und er roch nach Alkohol.
»Bist du betrunken?«
»noch nicht. Bald.«
Ich zögerte.
»Warum verschwindest du nicht einfach wieder?«
»Hab ich versucht«, sagte ich. »Geht nicht.«
»Dann komm rein.«
»Durchs Fenster?«
Er nickte.
Ich kletterte durchs Fenster.
Drinnen verbreitete ein grün glasierter kleiner Ofen Wärme. Auf dem Schreibtisch standen eine Flasche Whisky und ein halb volles Glas neben einem Laptop, auf dem ein Film mit Humphrey Bogart lief. Er und Lauren Bacall rauchten und sahen besorgt aus.
»Kaffee oder Whisky?«
Ich schüttelte den Kopf.
Er goss aus der Kanne der Kaffeemaschine einen Becher voll und setzte sich auf das altmodisch geschwungene Sofa an der Rückwand des Büros.
»Wo ist Melanie?«, fragte ich.
Er machte eine Kopfbewegung nach links oben.
»In der Wohnung.«
»Und warum bist du nicht da?«, fragte ich. »Warum sitzt du hier rum?«
»Geht dich das was an?«
»Ja.«
»Sie braucht nicht zu sehen, wie ich mich volllaufen lasse.«
Er trank den Kaffee in großen Schlucken und sah auf den Bildschirm.
Bacall und Bogart rauchten immer noch, aber sie sahen nicht mehr so besorgt aus. Sie trug einen gestreiften Morgenmantel und redete, und er saß da und sah sie an. Plötzlich setzte sie sich auf seinen Schoß, legte den Kopf zur Seite, sodass ihr schön frisiertes Haar wie ein Vorhang herabfiel, und küsste ihn. Sie stand auf, sie redeten, dann setzte sie sich wieder auf seinen Schoß und küsste ihn, und diesmal erwiderte er ihren Kuss.
Ich drehte mich um, setzte mich auf seinen Schoß und küsste ihn, und er war viel schneller als Bogart, er ließ den Kaffeebecher fallen, der laut über den Boden rollte, legte die Arme um mich und küsste mich wieder.
Irgendwann löste ich mich von ihm, hob den Kopf und sah auf die Wanduhr über dem Schreibtisch. nach zwölf.
»Ich muss gehen.«
Er sah mich genau an.
»Du hast einen roten Kreis um den Mund. Ich habe dich wund gerieben. Mit dem Bart.«
»Macht nichts.«
»Doch. Wenn du mich öfter küsst, rasiere ich mich.«
»Wäre vielleicht nicht schlecht.«
»Gut.«
Er hob mich von seinem Schoß, stand auf und nahm mich in die Arme. Ich hätte für immer so bleiben wollen, seine Arme um mich, meine Arme um seinen Rücken, aber ich machte mich los.
»Wenn ich jetzt nicht gehe, bleibe ich.«
Er brachte mich durch die dunkle, kalte Werkstatt und öffnete das Tor. Es hatte geschneit, und der Hof lag unter einer unberührten Schneedecke. Ich rannte zum Auto.
Zu Hause war schon alles dunkel, nur das Flurlicht brannte und das in meinem Arbeitszimmer. Sie hatten bestimmt gedacht, ich wäre bei Elisabeth. Sie rief manchmal abends an, wenn sie Liebeskummer hatte, und dann fuhr ich noch hinüber, und es wurde meistens spät.
Ich ging die Treppe hinauf und machte das Licht im Arbeitszimmer aus. An Daniels Tür blieb ich stehen, öffnete sie einen Spalt und sagte leise: »Dani, Jon?«
Sie haben jeder ein Zimmer für sich, aber dazwischen gibt es eine Schiebetür, und die steht fast immer offen.
Sie schliefen. Daniel lag wie immer schräg und verkrampft im Bett, die Decke verrutscht, Schultern und Füße frei, Jonas dagegen ruhte entspannt auf dem Rücken, die Decke ordentlich über sich gelegt, und genau so würde er morgen früh aufwachen. Wie Gerd. Ich deckte Daniel zu und machte Jonas' Computer aus.
Im Badezimmerspiegel sah ich den roten Kreis aus wunder Haut um meinen Mund. Ich wühlte die Wundcreme aus der Medizinschublade und tupfte sie dick auf, damit das Weiß das Rot verdeckte, aber es half nicht viel.
Der scharlachrote Buchstabe, das Mal der Schuld auf der Brust der Ehebrecherin. Der rote Kreis im Gesicht der Ehebrecherin.
Ach komm, Alla, das ist Kitsch, schräges Drama.
Lass Kitsch und Drama weg, Ehebruch bleibt. Das klingt so altmodisch. nenn es Betrug, Seitensprung, es ändert nichts. Beim ersten Mal ist es dir passiert, so was kommt vor, da waren wir uns einig, aber dieses Mal bist du hingegangen und hast es gewollt, und du wirst es wieder wollen, das ist sicher.
Und dann? Wie soll das weitergehen?
»Keine Ahnung«, sagte ich zu meinem Spiegelbild, machte das Licht aus, damit ich mich nicht mehr sehen musste, und putzte mir die Zähne im Dunkeln.
Ich ging durch den dunklen Flur, öffnete leise die Tür zum Schlafzimmer und schlüpfte behutsam ins Bett, um Gerd nicht zu wecken.
»Alla«, sagte er.
»Du bist ja wach.«
»Alles wieder in Ordnung?«
»Was meinst du?«
»Du warst doch bei Elisabeth.«
»Ach so. Ja. Es war nicht so schlimm.«
Er beugte sich herüber und wollte mich küssen.
»Nein«, sagte ich. »Ich habe Wundcreme um den Mund.«
»Warum?«
»Die Haut ist ganz rot.«
»Warum?«
»Keine Ahnung.«
Er tastete nach dem Lichtschalter der nachttischlampe.
»Mach das Licht nicht an. Ich sehe scheußlich aus.«
Er schob sich näher, bis wir uns berührten, murmelte: »Du hast ganz kalte Füße«, und schlief ein.
Ich drückte mich an ihn und legte meine Füße an seine warmen Waden, wie ich es sonst immer tat. Aber diesmal ging es nicht. Ich hatte gerade zwei Stunden auf dem Schoß eines anderen Mannes gesessen und seinen Geruch noch an mir, ich konnte mich jetzt nicht an meinen Mann kuscheln. Ich konnte auch meine Füße nicht an ihm wärmen, denn sie waren deshalb so kalt, weil ich mit einem anderen Mann in dessen schlecht geheiztem Büro auf dem Sofa geknutscht hatte wie eine Vierzehnjährige.
Ich rückte von ihm weg, rieb die Füße aneinander und sah auf den Vorhang, auf den die Straßenbeleuchtung das Fensterkreuz warf.
Wie soll das bloß weitergehen?
© 2013 by Diana Verlag, München
Ich rührte Zucker in ihren Cappuccino und zerteilte den Schokoladenmuffin in kleine Stücke, die sie mit zierlichen Bewegungen aufnahm und langsam kaute. Dann schob sie den Teller von sich und richtete ihren Blick auf den Mann gegenüber.
»Hallo«, sagte sie.
Er hob den Blick von seinem Laptop: »Hallo.«
»Sie gefallen mir.«
Er lächelte.
»Sie sind ein richtiger Mann.«
»Hoffentlich«, sagte er.
»Da bin ich sicher«, sagte sie. »Das sehe ich gleich. Alla könnte einen Mann brauchen ...«
»Ich habe einen Mann, Mama.«
»Ja, aber keinen richtigen. Du wirst ältlich und zickig.«
Er grinste.
»Ich habe einen richtigen Mann.«
»Warum wirst du dann ältlich und zickig?«
»Ich werde nicht - hör auf, Mama!«
»Jetzt knirscht sie mit den Zähnen«, sagte meine Mutter. »Das tut sie immer, wenn sie wütend ist. Daran müssen
Sie sich gewöhnen. Aber sonst ist sie eine großartige Frau.«
»Keine Frage«, sagte der Mann.
Ich packte sie am Handgelenk und zog sie aus dem Sessel und hinter mir her zur Tür.
»Wie heißen Sie?«, rief sie zurück.
»Matthias.«
»Was für ein schöner Name!«, rief sie, während ich die Tür aufriss und sie hinausschob.
Ich brachte sie zurück ins Heim und auf ihr Zimmer, sie legte sich auf die Couch, um die Augen ein bisschen zuzumachen, und war sofort eingeschlafen. Auf dem Rückweg überlegte ich mir, wie peinlich es wäre, den Mann dort wiederzutreffen - außer ich ging jetzt sofort zu ihm und erklärte ihm, dass meine Mutter fünfundachtzig und dement sei und nichts dafür könne, was sie tue, und dass es mit mir überhaupt nichts zu tun habe.
Im Coffeeshop war er nicht mehr, und ich fragte die Frau hinter der Theke, ob sie ihn kannte.
»Er ist ziemlich kräftig und hat rote Haare und einen Bart und einen dreckigen Pullover an. Und er heißt Matthias. «
»Das ist der Herr Rosenfelder«, sagte sie. »Dem ist die Kaffeemaschine kaputtgegangen.«
»Und wo ...«
»Der hat seine Schreinerei um die Ecke in der Eismeerstraße. «
Ich ging um die Ecke in die Eismeerstraße, und da war die Schreinerei, eine Ansammlung von Bauten, Bäumen und Sträuchern um einen Hof auf einem großen Grundstück zwischen Mietshäusern. Das Schild, auf dem »Matthias Rosenfelder jun. Schreinerei« stand, war alt, nur das »jun.« war irgendwann frisch aufgemalt worden.
Das Tor zur Werkstatt war offen. Drinnen standen Maschinen, Bretter waren gestapelt und frisch gefertigte Fensterrahmen aneinandergelehnt, und es roch nach Holz und Maschinenöl.
Er trat aus einer Tür, über der »Büro« stand.
»Hallo.«
»Hallo«, sagte ich. »Ich wollte Ihnen nur sagen - es ist nämlich so, meine Mutter ist ...«
»Ihre Mutter ist süß.«
»Ja, sicher. Aber sie ist auch krank, sie ist ...«
»Sie ist süß. Und sie hat recht.«
»Womit?«
»Mit alt und zickig.«
»Also ...«
»Ich rede von mir«, sagte er. »Man wird alt und zickig, wenn man keine Frau hat.«
»Warum haben Sie keine Frau? Sie sind ein gut aussehender Mann.«
Er sah mich an.
Es gibt Momente, in denen man nicht herumreden kann. Oder lange nachdenken. Es gibt nur klare Alternativen. In diesem Moment war die eine Alternative zu gehen. Und es gab die andere.
Er stieß die Tür zum Büro ganz auf. Ich ging hinein, und er machte die Tür zu und drehte den Schlüssel um.
Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt so schnell aus den Kleidern war. Vielleicht noch nie. Er war auch sehr schnell, erstaunlich schnell dafür, dass er groß und schwer war. Danach war erst mal alles nur gut, weil es nun auch keine Alternativen mehr gab.
Jemand rüttelte an der Türklinke und rief: »Papa«. Die
Stimme eines Mädchens.
Er fuhr hoch.
»Papa? Bist du da drin?«
»Ja.«
»Ist alles okay? Geht es dir gut?«
»Ja. Sehr gut.«
»Warum machst du nicht auf?«
»Das erkläre ich dir morgen.«
»Okay. Ich geh jetzt.«
Die Stimme wurde leiser. Die Person, zu der sie gehörte, hatte ihre chance erkannt und versuchte, ohne Verhandlungen davonzukommen.
Er war mit einem Sprung an der Tür.
»Mellie? Melanie!«
»Ja?«
»Wohin gehst du?«
»Ins Heavens. Und noch woandershin. Weiß ich noch nicht.«
»Du bist um elf zu Hause.«
»Papa! Zwölf!«
Er sah an sich runter und dann auf mich.
»Keine Sekunde später als zwölf. Du steigst zu keinem besoffenen Jungen ins Auto. Keine S-Bahn. Du nimmst dir ein Taxi, wenn's nötig ist. Du rufst sofort an, wenn was ist. Hast du dein Handy aufgeladen und genug Geld dabei?«
»Ja, Papa. Tschüss.«
Er lehnte sich an die Tür und seufzte.
»Wie alt ist sie?«
»Sechzehn«, sagte er. »Wäre sie bloß schon achtzehn. Oder zwanzig. Dann hätte ich es hinter mir. Mit Jungen ist es leichter. Denen kann auch viel passieren, aber du stellst dir nicht die ganze Zeit vor, dass sie vergewaltigt werden. Oder schwanger. Manchmal wünsche ich mir, sie wäre ein Junge. Dabei ist es so schön, dass sie ein Mädchen ist.«
Ich stand auf und suchte unter den Kleidungsstücken am Boden nach meinen Sachen.
»Gehst du?«
»Ja«, sagte ich.
»Schade.«
Er sah zu, wie ich mich anzog. Dann drehte er den Schlüssel und öffnete die Tür.
Ich wollte etwas sagen, aber ich wusste nicht, was. Er sagte auch nichts. Ich sah zurück, als ich die Werkstatt verließ. Er stand nackt im Türrahmen des Büros und sah mir nach.
Unser Haus leuchtete. Gerd ist Architekt und hat es gebaut, es war sein Traum, ein Haus für uns zu bauen, und er hat Fenster und Farben und die Lichtinstallation so geplant, dass das Haus immer warm und fröhlich ist und nachts ein faszinierendes Farbenspiel bietet. Es ist nicht wirklich warm und fröhlich geworden, dafür ist es zu groß und zu gerade, glaube ich, aber es leuchtet, wenn es dunkel ist.
Er kam mir entgegen.
»Wo warst du? Ich habe mir Sorgen gemacht.«
»Bei Mama.«
»Ich habe bei ihr angerufen. Sie hat gesagt, du bist nicht da.«
»Du kennst sie doch«, sagte ich. »Ich gehe nur ins Bad, und sie weiß nicht mehr, dass ich da bin.«
»Ach ja. natürlich. Sie klang so überzeugend.«
»Es tut mir so leid, Gerd.«
»Was?«
»Dass du dir Sorgen gemacht hast.«
»Wieso? War mein Fehler«, sagte er. »Gregor und Iris sind da. Wir haben Pizza geholt. Ich mache deine schnell warm.«
Gregor und Iris saßen auf der einen Bank an unserem Esstisch und Daniel und Jonas auf der anderen, dicht beieinander. Sie sind Zwillinge und waren noch nie getrennt, nicht im Kindergarten, nicht in der Schule, aber nun machten sie Zivildienst und mussten ganze Tage ohneeinander verbringen, und abends wirkten sie wie verhungert nach der Gegenwart des anderen und wuchsen beinahe zusammen.
Ich schob meinen Kopf zwischen ihre Köpfe, und sie küssten mich auf die Wangen und sagten: »Hallo, Mama«, was auch darauf hindeutete, dass sie in einer schwierigen Phase waren, denn sonst nennen sie mich »Mum«. Auf Englisch ist es lässiger.
Gregor sprang auf und umarmte mich.
»Alla! Du siehst toll aus! noch schöner als sonst!«
Er ist Gerds alter Freund und Partner, wir kennen uns seit über zwanzig Jahren, aber er redet immer so.
»Hör auf mit dem Quatsch.«
»Stimmt aber«, sagte Daniel, und Jonas nickte.
Gerd stellte die Pizza vor mich hin, und ich aß sie, obwohl ich keinen Hunger hatte.
»Wir wollten euch was sagen«, sagte Gregor und nahm Iris' Hand. »Wir bekommen ein Baby.«
Gerd seufzte: »Schon wieder?«
Die Jungs verdrehten die Augen und standen auf.
»Wir gehen dann mal.«
»Wohin?«, fragte ich.
»Dingolfing. Konzert. Vreni«, sagte Jonas.
»Passt auf euch auf!«
»You better take care of yourself, Mum«, sagte Daniel lässig und machte die Flurtür mit demonstrativer Behutsamkeit hinter sich zu.
»Ich mache mir Sorgen«, sagte ich.
»Alla! Was soll ihnen denn in Dingolfing passieren?«, fragte Gerd.
»nicht wegen Dingolfing. Wegen Vreni. Vreni ist Leadsängerin von Fanta Fabrik, und sie beten sie an. Wenn sie beide nicht will, ist alles gut. Wenn sie beide will? Grauenvoll. Aber wenn sie nur einen nimmt? Das wäre eine Katastrophe!«
Die drei lachten. Ich musste auch lachen.
»Und was ist mit unserem Baby?«, fragte Gregor. »Das interessiert hier anscheinend überhaupt niemanden.«
»Es ist schon das vierte«, sagte ich. »Und so schnell hintereinander. «
»Wir wissen auch nicht, wie das passiert ist«, sagte Gregor kokett.
»Wir können es euch erklären«, sagte Gerd. »Ich glaube, wir wissen noch, wie es geht.«
»Wollt ihr nicht auch noch mal? Kinder sind doch das Schönste. Ich weiß gar nicht, wie man ohne leben kann.«
Er war lange nicht besonders scharf darauf gewesen, mit ihnen zu leben, war jetzt umso begeisterter und verkündete die Vorzüge des Kinderkriegens, als hätte er es erfunden.
»Du spinnst«, sagte ich.
»Warum nicht?«, fragte Iris. »Das ist doch kein Problem. Du bist erst siebenundvierzig, Alla.«
»Kommt gar nicht infrage«, sagte Gerd. »Alles, was ich will, sind noch ein paar Enkelkinder. Aber auch nicht gleich.«
nachts lag ich lange wach. Die Jungs waren noch nicht zurück, und sie würden wahrscheinlich auch nicht mehr kommen. Sie übernachteten, wenn sie weggingen, meist woanders, bei Freunden, bei Leuten, die sie gerade kennengelernt hatten. Oder sie schliefen im Auto. Ich war froh, dass sie Jungs waren und zu zweit und bald neunzehn.
Ich sah auf die Uhr. Halb drei. Melanie war bestimmt um zwölf zu Hause gewesen. Er kam mir vor wie jemand, der schrecklich wütend werden konnte.
Gerd schlief neben mir, unbewegt, geräuschlos. Auch sonst war alles still, und das Haus um uns herum schien viel zu groß zu sein, groß, dunkel und kühl.
Ich hatte lange geduscht, aber das Gefühl in meinem Körper, das man hat, wenn man mit einem Mann geschlafen hat, war noch da, das lässt sich nicht wegduschen. Und neben mir lag mein Mann, und ich hatte nicht mit ihm geschlafen. Seit dreiundzwanzig Jahren hatte ich das Gefühl nur gehabt, wenn er es auch hatte. Jetzt hatte es irgendein wildfremder Mann.
Wie war das passiert? Und warum? Warum hatte ich mich auf einen wildfremden Mann geworfen, auf dem Dielenboden eines wildfremden Büros?
So was passiert. Darüber stand gerade etwas in einer von den Frauenzeitschriften, die im coffeeshop ausliegen. Sex mit einem Fremden. Es passiert, und nun ist es dir passiert. Es kommt oft vor, viel öfter, als man denkt. Jede dritte Frau hatte schon Sex mit einem Fremden. Oder jede zweite? Es ist kein Beinbruch, und schon gar kein Verbrechen. Im Gegenteil. Es war schön und mit einem netten Mann. Und du hast nun auch deinen Sex mit einem Fremden gehabt, wie jede zweite oder dritte, und wirst irgendwann mal nicht als total brave und biedere Ehefrau ins Grab gesenkt.
Ich drehte mich auf den Bauch. Auf dem Bauch kann ich leichter aufhören zu denken und besser einschlafen.
Wir gingen nicht mehr in den Coffeeshop, Mama und ich. Wir gingen in das italienische Café, in das deutsche, in ein Retro-café, wir versuchten es mit den anderen Coffeeshops und mit der Cafeteria bei Karstadt, aber nirgends gefiel es ihr so, dass sie fragte: »Was ist das hier? Wie heißt das?« und sagte: »Interessant, originell!« und die Arme auf den Sessellehnen ausstreckte.
Dann traf ich die Frau aus dem Coffeeshop im Drogeriemarkt.
»Hallo«, sagte sie. »Hab Sie lange nicht gesehen. Wie geht es Ihrer Mutter?«
»Gut«, sagte ich.
»Herr Rosenfelder hat nach Ihnen gefragt. Sie haben was vergessen in seiner Werkstatt, sagt er. Muss was Wichtiges sein, er hat schon öfter gefragt. Vermissen Sie nichts?«
Doch. Viel.
Ab jetzt ging ich mit Mama in die Stadt zum Kaffee- trinken, aber ich wusste, dass es mir auf Dauer nicht helfen würde, denn je weiter man läuft, desto näher kommt man.
Als ich Ende November in der Buchhandlung nach Weihnachtsgeschenken suchte, spürte ich seine Hand auf der Schulter und hörte seine Stimme: »Alla.«
Ich drehte mich um.
»Ich habe dich gesucht«, sagte er.
»Ich schlafe nicht mit dir.«
»Brauchst du auch nicht. Gehst du mit mir spazieren?«
Ich nickte.
»Ich muss nur schnell telefonieren«, sagte er und ging raus, und ich kaufte das Buch, das ich in der Hand hatte, obwohl ich nicht wusste, wie es hieß und wovon es handelte.
Wir gingen in den Park. Die Sonne schien, ein paar gelbe und rote Blätter hingen noch an den Bäumen, das Gras war bereift.
Wir gingen schweigend nebeneinanderher, bemüht, uns nicht zu berühren, und beobachteten die Hunde der anderen Spaziergänger, als hätten wir noch nie einen Hund gesehen.
»Wie geht es Melanie?«, fragte ich schließlich.
»Gut.«
»Wo ist ihre Mutter?«
»In Augsburg, bei ihrem neuen Mann.«
»Ist das schlimm?«
»nein. Wir waren froh, als wir uns endlich getrennt hatten.«
Ich stolperte und wäre hingefallen, wenn er mich nicht festgehalten hätte. Er ließ mich gleich wieder los.
»Und du?«, fragte er. »Wie geht es dir?«
»Gut«, sagte ich. »Mir geht es gut.«
»Und deiner Mutter?«
»Auch.«
Irgendwer fing an, die »Marseillaise« zu spielen. Es war sein Handy. Ach je. Auf geht's, Kinder des Vaterlandes, der Tag des Ruhmes ist da, das Telefon klingelt!
»Ich muss zurück in die Werkstatt«, sagte er. »Sehen wir uns wieder?«
»nein.«
»Warum nicht?«
»Geht nicht.«
»Wir haben nichts getan. Wir haben uns nicht angefasst. nicht mal die Hand gegeben. Wir haben nur geredet.«
»Ja, heute. Aber das halten wir doch nicht durch, wenn wir uns wiedersehen.«
»Warum nicht?«
»Ich will dich anfassen.«
Er nickte und lächelte.
Seine Lippen waren voll und rosig zwischen den roten Barthaaren. Wir hatten uns kaum geküsst im Büro. Schade. Wir waren nicht dazu gekommen.
»Aber ich tue es nicht. Ich bin verheiratet, ich liebe meinen Mann, uns geht es gut, meinem Mann und mir und den Jungs. Das mache ich nicht kaputt.«
»So gut geht es dir mit deinem Mann, dass du mich anfassen willst?«
»Ja! Das kann doch passieren! Ich tue es ja nicht! Bestimmt nicht!«, schrie ich.
Die Spaziergänger drehten sich nach mir um, und ein Hund fing an zu bellen.
»Verdammt«, sagte er und wandte sich mit einem Ruck ab.
»Matthias?«
Er drehte sich um, Hoffnung in den Augen.
»Du gehst nicht mehr in den Coffeeshop, oder?«
»Wieso?«
»Wenn du nicht mehr hingehst, kann ich wieder hin. Mit meiner Mutter. Das ist das einzige café, wo sie wirklich gerne ist.«
»Verdammt«, wiederholte er, »verdammt, verdammt«, und ging mit großen Schritten davon. Dann ging er immer langsamer und schob die Füße durchs Laub, wie Kinder es machen. Wo der Weg um die Kurve bog, blieb er stehen und sah in meine Richtung.
Ich wartete, bis er weitergegangen und in der Biegung verschwunden war, bevor ich auch zurückging, so langsam, dass ich ihn nicht einholen konnte.
Das Logo des Coffeeshops ist eine entflammte Kaffeebohne. Groß schwebt sie über dem Eingang und der Theke, und über die Wände läuft ein breiter Streifen aus vielen kleinen entflammten Kaffeebohnen. Zu Weihnachten dekorieren sie immer so üppig, dass man ihn nicht mehr sehen kann, aber jetzt ist Weihnachten vorbei und die Dekoration entfernt, und die Kaffeebohnen laufen wieder über die Wand.
Elisabeth wies mit dem Finger darauf.
»Was ist das denn? Bazillen? Viren? Darmbakterien?«
»Kaffeebohnen«, sagte ich. »Entflammte Kaffeebohnen. «
»Eklig«, sagte sie. »Widerlich.«
Anne und ich sahen uns an. Wir kennen uns schon so lange, seit dem Sandkasten im Kindergarten, und schon damals war Elisabeth gut im nörgeln, wegen allem und jedem, der Sand war nicht in Ordnung, die Schaufeln, die Förmchen, die Eimer.
Sie kratzte mit dem Fingernagel am Bezug des Sofas.
»Plastik. Tut so, als wäre es Leder. Geschmacklos. Alles so geschmacklos hier. Immerhin ist der Cappuccino trink bar. Bestellst du mir noch einen?«
Sie stand auf und stöckelte Richtung Toilette.
»Was ist los mit ihr?«
»Heiner hat sie verlassen«, sagte Anne.
»Aber das war die große Liebe! Die große Leidenschaft! «
»Schon. Aber mental stimmt es nicht, sagt er.«
»Was heißt das?«
»Mental heißt geistig.«
»Das weiß ich. Was meint er damit?«
Sie sah mich ungeduldig an mit ihren schmalen dunklen Augen unter dem schwarzen Prinz-Eisenherz-Pony.
»Ach, Alla! Der hat eine andere. Jünger, cooler, größere Titten, mehr Geld - such dir was aus. Und ist zu feige, es ihr zu sagen, und murmelt was von mental.«
Elisabeth kam zurück, und ich schob ihr die Tasse hin und legte den Arm um sie.
»Komm, Kleine. Trink was.«
Sie schlürfte den Schaum vom Cappuccino.
»Ihr habt es gut. Ihr habt eure Männer noch.«
»Da ist auch nicht alles Gold, was glänzt«, sagte Anne.
»Aber es glänzt wenigstens. Ich muss jetzt wieder suchen gehen.«
Dabei hatte sie als Erste einen Ehemann gehabt - nick. Sie hatte nick kennengelernt und fast sofort geheiratet. Mit dreiundzwanzig. Sie hatte nicht mal zu Ende studiert. nick war Betriebswirt und im Aufstieg begriffen bei einer Privatbank. Sie bekam zwei Kinder und begleitete seine Karriere perfekt, aber als er vor acht Jahren das Angebot kriegte, in den Vorstand einer New Yorker Bank zu wechseln, verließ er nicht nur Europa, sondern auch Elisabeth. Er hatte da schon so viel Geld, dass eine Scheidung ziemlich teuer gewesen wäre. Sie blieben verheiratet, Elisabeth bekam jeden Monat eine ansehnliche Überweisung und suchte seither nach einem neuen Mann.
»Vielleicht musst du nicht suchen«, sagte Anne. »Da drüben sitzt einer, der sieht schon die ganze Zeit rüber. Roter Bart, schmuddeliger Pullover, leicht übergewichtig, gar nicht dein Typ, aber rasiere ihn, lass ihn abnehmen und zieh ihm was Ordentliches an, dann sieht der richtig gut aus. Schau doch mal, Alla.«
»Brauch ich nicht«, sagte ich aufgeregt. »Der ist nichts für sie, bestimmt nicht. Bleib hier, Elisabeth!«
Aber sie war schon aufgestanden und stöckelte hinüber, die Hüften schwingend und das blonde Haar werfend, dezent, elegant und doch offensichtlich.
Ich zog den Kopf ein und sah in Annes Gesicht.
»Der will sie nicht«, murmelte sie. »Überhaupt nicht. Aber sie lässt nicht locker. Scheiße. Gib auf, Elisabeth. Lass es.«
Es schien endlos lange zu dauern, bis Elisabeth wieder da war. Sie ließ sich neben mich aufs Sofa fallen und seufzte.
»Toller Mann! Schade.«
»Wieso schade?«
»Er hat nicht mich angestarrt, sondern Alla. Sie sieht aus wie die Frau, die er liebt, sagt er. Er hat diese Frau nur zweimal getroffen und nur einmal mit ihr geschlafen, aber er liebt sie. Ich habe gefragt, ob er es nicht mal mit einer anderen probieren will, ganz unverbindlich, vielleicht funktioniert es ja, aber er sagt, das hat keinen Sinn, er kennt sich, wenn er liebt, dann liebt er. Toll, nicht? Und die Frau, die muss ja auch toll sein. Sie hat nur einmal mit ihm geschlafen, und er ist verzaubert fürs Leben ...«
»Ja, toll«, sagte Anne spöttisch. »Er so toll, sie so toll. Die große Liebe. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Wahrscheinlich fickt sie schon woanders rum, und er ist morgen mit einer neuen hier.«
»Also, Anne, wirklich«, sagte Elisabeth.
Anne ist so. Wenn sie sich ärgert, zum Beispiel weil jemand in sentimentales Schwärmen gerät, wird sie grob, besonders, wenn es Elisabeth ist, die schwärmt.
Elisabeth sagt dann immer so was wie »Also, Anne, wirklich«, und mit diesem Hin und Her haben sie schon angefangen, als wir noch im Sandkasten spielten, so ungefähr jedenfalls.
Ich spürte Matthias' Gegenwart hinter mir und war froh, als ich extralautes Stuhlrücken hörte und er ziemlich dicht an mir vorbeiging und ich seinen Rücken im grünen Parka mit dem Rot seiner Haare darüber sah und die Tür hinter ihm zufiel. Mir wurde heiß, die Glut stieg bis in mein Gesicht.
Die beiden sahen mich gerade nicht an, Gott sei Dank. Sie stritten über die große Liebe, ob es sie gab, und wenn ja, wie man sie definieren konnte. Es war ein behaglicher Streit, weil beide fest daran glaubten, auch wenn Anne dagegen sprach und Elisabeths große Liebe schrecklich gescheitert war und sie seither nicht mal eine kleine gefunden hatte.
Ich hörte nicht hin und sah ihnen nur zu. Elisabeth hatte Prosecco geholt, wie sie das früher oder später immer tut, wenn wir zusammen sind, lehnte sich zufrieden zurück, schlug die Beine übereinander und trank. Anne blickte in ihr Glas, als ob sie die Perlen zählte, die im Prosecco hochstiegen, nahm einen Schluck und schüttelte ihren Pony zurecht.
Die große Liebe. Ich dachte daran, wie wir geheiratet hatten, jede von uns. Elisabeth in Weiß, mit Polterabend, Kirche, großer Hochzeitsfeier und Anne und mir als Brautjungfern, was wir beide teils komisch, teils sehr bewegend fanden. Anne auf dem Standesamt, und abends ein Gartenfest mit Bier vom Fass und einem Buffet, zu dem jeder etwas mitbrachte. Gerd und ich in New York, ohne dass jemand davon wusste, und später zu Hause eine Just-Married-Überraschungsparty. Unsere Eltern trugen es mit Fassung, Anne und Elisabeth brauchten lange, um mir die heimliche Hochzeit zu verzeihen.
Und wir waren so überzeugt, dass es die einzig wahre große Liebe ist, dachte ich, fest und zweifelsfrei überzeugt. Es war ja auch die große Liebe, für jede von uns. Aber die einzige?
»Vielleicht gibt es nicht nur eine große Liebe im Leben «, sagte ich. »Vielleicht gibt es mehrere?«
Elisabeth zog die Augenbrauen hoch, Anne blickte spöttisch.
»Ach ja«, sagte sie, »wie einfach. Das Glück im Sechser- pack. Man wirft das alte weg und nimmt sich ein neues. «
»Entweder oder«, sagte Elisabeth. »Die große Liebe gibt es nur einmal. Sonst ist es keine.«
»Eben. Wenn überhaupt, dann gibt's nur eine«, sagte Anne.
Gerade hatten sie noch gestritten, jetzt waren sie gegen mich verbündet. Solche Wechsel gehen schnell bei uns, und keine nimmt sie furchtbar ernst. Vielleicht sind wir auch deshalb noch zusammen.
»Aber wonach suchst du dann?«, fragte ich Elisabeth. »nicht nach der großen Liebe?«
»natürlich nicht«, sagte sie in dem entrüsteten Ton, der vermuten lässt, dass es doch so ist. »nach Liebe, nach Beziehung, ja ...«
In Annes Rucksack piepte das Handy. Sie zog er heraus und ging damit in die stille Ecke neben dem Tresen.
Sie ist Internistin und hat eine Praxis zusammen mit ihrem Mann Ludwig. Dies ist ihr freier Nachmittag, an dem wir uns oft treffen. Aber fast immer ruft die Sprechstundenhilfe an, weil es irgendetwas gibt, was nur Anne weiß und kann, und niemand sonst.
Wir warteten. Anne kam zurück.
»Das war ...«
»... die Sprechstundenhilfe«, sagten wir einstimmig, Elisabeth und ich.
»Was macht Ludwig eigentlich so in der Praxis?«, fragte Elisabeth, wie immer.
»Ein Nickerchen auf dem Röntgentisch«, antwortete ich, auch wie immer.
»Ihr seid blöd«, sagte Anne. »Ich muss weg. Aber ich hätte sowieso bald gehen müssen. Es ist halb fünf.«
»Dann muss ich auch gehen«, sagte ich. »Essen machen. Arbeiten.«
»Und was ist mit mir?«, fragte Elisabeth.
Sie hat so viel Zeit und Geld und Freiheit. Ihre Tochter ist in England verheiratet, ihr Sohn lebt in new York, wie nick, und macht Karriere wie nick. Sie besucht sie oft, aber es gibt nichts, was sie tun und niemanden, um den sie sich unbedingt kümmern muss. Wir haben es besser, Anne und ich.
»Du wirst dich doch allein nicht fürchten«, sagte Anne. »Du bist ein großes Mädchen.«
»Außerdem sitzt da drüben ein Mann, der dich anstarrt, als hätte er in seinem Leben noch keine Frau gesehen«, sagte ich. »Und schon gar keine so schöne.«
»Wo?«, fragte Elisabeth.
»Am Fenster. Breite Schultern, geschorener Schädel. Tolle Waden.«
»Mhm«, machte Anne.
»Und er sieht aus, als ob er auch Verstand hat, nicht nur Muskeln.«
»Geht nur«, sagte Elisabeth.
Als ich nach Hause kam, war es halb sechs, und ich war verwirrt und beschwipst, obwohl ich von dem Prosecco nur einen Schluck getrunken und den Rest hatte stehen lassen. Ich tat die doppelte Menge Kaffee in den Filter der Kaffeemaschine, und während das Wasser durchlief, bereitete ich Tomatensoße vor, legte die Spaghettipackung neben einen Topf mit Wasser und deckte den Tisch.
Ich füllte die Thermoskanne und einen Becher mit der schwarzen Brühe und trank, während ich die Treppe hinaufging, und als ich am Schreibtisch ankam, hatte ich Herzrasen, aber ich war wieder wach.
Ich machte den Laptop an und schlug das Buch an der Stelle auf, wo ich aufgehört hatte. Ich bin Übersetzerin. Das Buch heißt The Collector und handelt von einer Frau, die fünfzehn Jahre nach der großen Weltkatastrophe auf dem Weg durch Amerika ist. Die Zivilisation ist zerstört, die Städte sind verwüstet, die Menschen, die es noch gibt, leben in Wäldern und Höhlen.
»Kombination aus Endzeitstory und Roadmovie«, hatte die Lektorin gesagt. »Roadmovie geht immer, und Endzeit ist gerade so angesagt. Wir ziehen es im Programm vor, weiß man, wie lange Endzeit noch angesagt ist? Du musst schnell machen, Alla, geht das?«
Es gibt keine Bücher mehr, und die Frau ist unterwegs, um zu sammeln, was im Gedächtnis der Menschen überlebt hat: Bibelstellen, Sätze aus Romanen, Gedichtverse, Liedzeilen, Sprechblasen aus comic-Heften. Es gibt auch kein Papier mehr, also lernt sie es auswendig, und wo immer sie hinkommt, trägt sie es vor und sammelt neues.
Ich hatte an der Stelle aufgehört, wo ein alter Mann der Sammlerin Strophen eines Liebesliedes vorsagt. Es war schön, zur Abwechslung Verse zu übersetzen, es brachte mich in Schwung, und als Daniel die Tür öffnete, war es halb neun, und ich hatte viel geschafft.
»Hi, Mum.«
»Hi, Sweetheart.«
»Es wäre dann serviert.«
»Habt ihr alles gefunden?«
»Nein, wir haben einen Blindenhund engagiert.«
Gerd und Jonas hatten die Teller schon gefüllt, ich setzte mich neben Gerd, und wir aßen, während die Jungs vom Dienst erzählten - Jonas war in einer psychiatrischen Tagesklinik, Daniel fuhr Krankentransporte. Aber dann begann der Refrain des Liedes, das ich übersetzt hatte, sich in meinem Kopf zu drehen. Farewell, my lovely, see you again, tomorrow, my lovely, or when? Next week, my lovely, next year, or when? When will we meet again? Ich konnte mich nicht mehr konzentrieren auf das, was sie erzählten, und aß nur noch mechanisch zu Ende.
Jonas murmelte nach dem letzten Bissen: »Basketball, Mum«, und verschwand im Wohnzimmer, und Gerd und Daniel folgten, als sie den Anpfiff hörten. Ich räumte den Tisch ab, stellte das Geschirr nur schnell in die Spüle und zog meinen Mantel an.
»Ich muss noch mal weg«, rief ich ins Wohnzimmer, und die drei nickten, ohne den Blick vom Bildschirm zu lösen.
Ich fuhr in den Hof der Werkstatt. Alles war dunkel bis auf ein Licht in einem Fenster im Erdgeschoss. Das Büro vermutlich.
Ich machte den Motor aus, blieb sitzen und hoffte auf den Impuls, ihn wieder anzumachen und nach Hause zu fahren.
Er kam nicht. Ich stieg aus, ging auf das Licht zu und klopfte an die Fensterscheibe. Ich musste lange klopfen, bis der Vorhang zurückgezogen und das Fenster aufgerissen wurde.
»Wer zum Teufel - was machst du denn hier?«
Sein Gesicht war rot und gedunsen, und er roch nach Alkohol.
»Bist du betrunken?«
»noch nicht. Bald.«
Ich zögerte.
»Warum verschwindest du nicht einfach wieder?«
»Hab ich versucht«, sagte ich. »Geht nicht.«
»Dann komm rein.«
»Durchs Fenster?«
Er nickte.
Ich kletterte durchs Fenster.
Drinnen verbreitete ein grün glasierter kleiner Ofen Wärme. Auf dem Schreibtisch standen eine Flasche Whisky und ein halb volles Glas neben einem Laptop, auf dem ein Film mit Humphrey Bogart lief. Er und Lauren Bacall rauchten und sahen besorgt aus.
»Kaffee oder Whisky?«
Ich schüttelte den Kopf.
Er goss aus der Kanne der Kaffeemaschine einen Becher voll und setzte sich auf das altmodisch geschwungene Sofa an der Rückwand des Büros.
»Wo ist Melanie?«, fragte ich.
Er machte eine Kopfbewegung nach links oben.
»In der Wohnung.«
»Und warum bist du nicht da?«, fragte ich. »Warum sitzt du hier rum?«
»Geht dich das was an?«
»Ja.«
»Sie braucht nicht zu sehen, wie ich mich volllaufen lasse.«
Er trank den Kaffee in großen Schlucken und sah auf den Bildschirm.
Bacall und Bogart rauchten immer noch, aber sie sahen nicht mehr so besorgt aus. Sie trug einen gestreiften Morgenmantel und redete, und er saß da und sah sie an. Plötzlich setzte sie sich auf seinen Schoß, legte den Kopf zur Seite, sodass ihr schön frisiertes Haar wie ein Vorhang herabfiel, und küsste ihn. Sie stand auf, sie redeten, dann setzte sie sich wieder auf seinen Schoß und küsste ihn, und diesmal erwiderte er ihren Kuss.
Ich drehte mich um, setzte mich auf seinen Schoß und küsste ihn, und er war viel schneller als Bogart, er ließ den Kaffeebecher fallen, der laut über den Boden rollte, legte die Arme um mich und küsste mich wieder.
Irgendwann löste ich mich von ihm, hob den Kopf und sah auf die Wanduhr über dem Schreibtisch. nach zwölf.
»Ich muss gehen.«
Er sah mich genau an.
»Du hast einen roten Kreis um den Mund. Ich habe dich wund gerieben. Mit dem Bart.«
»Macht nichts.«
»Doch. Wenn du mich öfter küsst, rasiere ich mich.«
»Wäre vielleicht nicht schlecht.«
»Gut.«
Er hob mich von seinem Schoß, stand auf und nahm mich in die Arme. Ich hätte für immer so bleiben wollen, seine Arme um mich, meine Arme um seinen Rücken, aber ich machte mich los.
»Wenn ich jetzt nicht gehe, bleibe ich.«
Er brachte mich durch die dunkle, kalte Werkstatt und öffnete das Tor. Es hatte geschneit, und der Hof lag unter einer unberührten Schneedecke. Ich rannte zum Auto.
Zu Hause war schon alles dunkel, nur das Flurlicht brannte und das in meinem Arbeitszimmer. Sie hatten bestimmt gedacht, ich wäre bei Elisabeth. Sie rief manchmal abends an, wenn sie Liebeskummer hatte, und dann fuhr ich noch hinüber, und es wurde meistens spät.
Ich ging die Treppe hinauf und machte das Licht im Arbeitszimmer aus. An Daniels Tür blieb ich stehen, öffnete sie einen Spalt und sagte leise: »Dani, Jon?«
Sie haben jeder ein Zimmer für sich, aber dazwischen gibt es eine Schiebetür, und die steht fast immer offen.
Sie schliefen. Daniel lag wie immer schräg und verkrampft im Bett, die Decke verrutscht, Schultern und Füße frei, Jonas dagegen ruhte entspannt auf dem Rücken, die Decke ordentlich über sich gelegt, und genau so würde er morgen früh aufwachen. Wie Gerd. Ich deckte Daniel zu und machte Jonas' Computer aus.
Im Badezimmerspiegel sah ich den roten Kreis aus wunder Haut um meinen Mund. Ich wühlte die Wundcreme aus der Medizinschublade und tupfte sie dick auf, damit das Weiß das Rot verdeckte, aber es half nicht viel.
Der scharlachrote Buchstabe, das Mal der Schuld auf der Brust der Ehebrecherin. Der rote Kreis im Gesicht der Ehebrecherin.
Ach komm, Alla, das ist Kitsch, schräges Drama.
Lass Kitsch und Drama weg, Ehebruch bleibt. Das klingt so altmodisch. nenn es Betrug, Seitensprung, es ändert nichts. Beim ersten Mal ist es dir passiert, so was kommt vor, da waren wir uns einig, aber dieses Mal bist du hingegangen und hast es gewollt, und du wirst es wieder wollen, das ist sicher.
Und dann? Wie soll das weitergehen?
»Keine Ahnung«, sagte ich zu meinem Spiegelbild, machte das Licht aus, damit ich mich nicht mehr sehen musste, und putzte mir die Zähne im Dunkeln.
Ich ging durch den dunklen Flur, öffnete leise die Tür zum Schlafzimmer und schlüpfte behutsam ins Bett, um Gerd nicht zu wecken.
»Alla«, sagte er.
»Du bist ja wach.«
»Alles wieder in Ordnung?«
»Was meinst du?«
»Du warst doch bei Elisabeth.«
»Ach so. Ja. Es war nicht so schlimm.«
Er beugte sich herüber und wollte mich küssen.
»Nein«, sagte ich. »Ich habe Wundcreme um den Mund.«
»Warum?«
»Die Haut ist ganz rot.«
»Warum?«
»Keine Ahnung.«
Er tastete nach dem Lichtschalter der nachttischlampe.
»Mach das Licht nicht an. Ich sehe scheußlich aus.«
Er schob sich näher, bis wir uns berührten, murmelte: »Du hast ganz kalte Füße«, und schlief ein.
Ich drückte mich an ihn und legte meine Füße an seine warmen Waden, wie ich es sonst immer tat. Aber diesmal ging es nicht. Ich hatte gerade zwei Stunden auf dem Schoß eines anderen Mannes gesessen und seinen Geruch noch an mir, ich konnte mich jetzt nicht an meinen Mann kuscheln. Ich konnte auch meine Füße nicht an ihm wärmen, denn sie waren deshalb so kalt, weil ich mit einem anderen Mann in dessen schlecht geheiztem Büro auf dem Sofa geknutscht hatte wie eine Vierzehnjährige.
Ich rückte von ihm weg, rieb die Füße aneinander und sah auf den Vorhang, auf den die Straßenbeleuchtung das Fensterkreuz warf.
Wie soll das bloß weitergehen?
© 2013 by Diana Verlag, München
... weniger
Autoren-Porträt von Franziska Stalmann
Stalmann, FranziskaFranziska Stalmann eroberte mit ihrem Roman "Champagner und Kamillentee", verfilmt mit Andrea Sawatzki, ein Millionenpublikum. Es folgten weitere erfolgreiche Bücher zuletzt "Das Herz hat viele Zimmer" und "Helenas Männer". Die Autorin und Psychologin lebt in München.
Bibliographische Angaben
- Autor: Franziska Stalmann
- 2013, 320 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Diana
- ISBN-10: 3453357396
- ISBN-13: 9783453357396
- Erscheinungsdatum: 08.07.2013
Rezension zu „Das Herz hat viele Zimmer “
"Bewegend. (...) Herrlich heiter erzählt!" Frauenmagazin MEINS
Kommentar zu "Das Herz hat viele Zimmer"
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Das Herz hat viele Zimmer".
Kommentar verfassen