Das Leben ist ein listiger Kater
Roman. Prix des lecteur de L'Express 2012
Nach einem Sturz in die Seine kann sich der menschenscheue Rentner Jean-Pierre an nichts erinnern. Und dann hat er nicht einmal im Krankenhaus seine Ruhe. Die 14-jährige Maëva, der junge Polizist Maxime, die gutherzige Krankenschwester Myriam: Sie...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Das Leben ist ein listiger Kater “
Nach einem Sturz in die Seine kann sich der menschenscheue Rentner Jean-Pierre an nichts erinnern. Und dann hat er nicht einmal im Krankenhaus seine Ruhe. Die 14-jährige Maëva, der junge Polizist Maxime, die gutherzige Krankenschwester Myriam: Sie alle helfen Jean-Pierre, zurück ins Leben zu finden.
Klappentext zu „Das Leben ist ein listiger Kater “
Zum Leben ist es nie zu spätJean-Pierre wacht auf und kann sich an nichts erinnern. Er ist in die Seine gefallen, ein junger Mann hat ihm das Leben gerettet. Jetzt liegt er im Krankenhaus, ein Alptraum für den menschenscheuen Einzelgänger. Über zu viel Besuch kann sich der verwitwete Rentner "ohne Kinder oder Hund" eigentlich nicht beklagen. Aber alleine ist er trotzdem nie, ständig fällt ihm jemand auf die Nerven: Die vierzehnjährige Maëva hat es auf seinen Laptop abgesehen, um "schnell mal Facebook zu checken". Maxime, ein junger Polizist, versucht herauszufinden, wie Jean-Pierre in der Seine gelandet ist - und schon bald entdecken die beiden ihre gemeinsame Leidenschaft für Schwarzweißfilme. Der gutherzigen Krankenschwester Myriam wächst der alte Griesgram mit Galgenhumor so ans Herz, dass sie ihn zu ihrem Lieblingspatienten ernennt. Und dann ist da noch Camille, der Student, der Jean-Pierre aus der Seine gefischt hat. Allen zusammen gelingt es nach und nach, Jean-Pierre zurück ins Leben zu holen - und für einen Neuanfang ist es bekanntlich nie zu spät.
Lese-Probe zu „Das Leben ist ein listiger Kater “
Das Leben ist ein listiger Kater von Marie-Sabine RogerAus dem Französischen von Claudia Kalscheuer
Ich will ja nicht angeben, aber so mit sechs, sieben Jahren hatte ich in Sachen gesetzlich verbotene Straftaten schon einiges ausprobiert. Raubüberfall, Nötigung, Erpressung ...
In puncto Nötigung hatte ich versucht, Marie-José Blanc zu küssen. Sie biss die Zähne zusammen, deswegen kam ich nicht weit. Aber die Absicht zählt.
An die Raubüberfälle machte ich mich immer samstags nach dem Rugby-Spiel: Ich krallte mir den Proviant der Kleineren. Im Schutz der Umkleide klebte ich ihnen in aller Ruhe ein paar. Manchmal verschonte ich auch den einen oder anderen. Ich hab so eine Robin-Hood-Ader.
Was die Erpressung angeht, fragen Sie meinen Bruder. Als seine Kinder klein waren, benutzte er mich ihnen gegenüber immer als abschreckendes Beispiel: Werdet bloß nicht wie euer Onkel, sonst bekommt ihr's mit mir zu tun! Zu meiner Verteidigung sei aber gesagt: Wenn er sich nichts vorzuwerfen gehabt hätte, dann hätte er nicht sein Sparschwein geschlachtet, um zu blechen. Zu einer Erpressung gehören immer zwei.
Man nannte mich »den Schrecklichen«. Ich fand das toll. Ich glaubte fest, dass ich eine große Zukunft vor mir hatte.
Damals waren wir zu Hause fünf und ein Häufchen Asche: meine Eltern, mein Bruder und ich, Uropa Jean und dazu Uroma Ginou selig.
Meine Großeltern väterlicherseits waren auf ganz blöde Weise ums Leben gekommen, als mein Vater acht war, weil meine Großmutter, die den Sinn von Stoppschildern nicht recht einsah, eins ignoriert hatte.
... mehr
Mein Vater war dann von seinen Großeltern mütterlicherseits aufgezogen worden: Uropa Jean, der zu der Zeit, von der ich erzähle, noch quicklebendig war, und Uroma Ginou selig, die in ihrer Urne in der Garage stand.
Ich konnte mir schwer vorstellen, was er wohl empfunden hatte, als er am Tag des Unfalls aus der Schule kam und kapierte, dass seine Eltern nicht wiederkommen würden. Vielleicht hatte er im ersten Moment gedacht, dass er jetzt frei wäre: keine Ohrfeigen mehr bei der kleinsten Dummheit. Endlich Ruhe.
Ruhe, ja.
Aber wenn ich ihn von seiner Kindheit erzählen hörte, spürte ich genau, dass Ruhe einem das Leben gründlicher vermasseln kann als eine Menge Zwänge. Deshalb reizte es mich nicht besonders, Waise zu werden. Mir lag etwas an meinen Eltern, auch wenn es eben Eltern waren, mit allen Nachteilen, die das mit sich bringt, von wegen Autorität und Verboten. Vor allem lag mir etwas an meinem Vater. Ich fand ihn echt stark, nicht nur wegen seiner Bizepse, die dicker waren als manche Oberschenkel. Er war wirklich stark. Gerade und aufrecht wie ein Baum. Voller Überzeugungen, mangels anderer Besitztümer. Ein Hitzkopf, einer, der das Maul aufriss, aber bei Hochzeiten und Taufen sein Taschentuch nass heulte, der meine Mutter »Mein Schnuckelchen« nannte, ohne sich darum zu scheren, ob er sich lächerlich machte, und nie Angst hatte, ihr zu sagen: Ich liebe dich.
Ein Mann, wie ich sicher gern einer geworden wäre.
Schon als ganz kleiner Stöpsel spürte ich die Macht, die er über die Leute hatte, wenn die in diesem ganz speziellen Ton zu mir sagten: »Ja, dein Vater! Dein Vater! ... Das ist schon jemand!«
Er war so sehr jemand, dass ich mich ihm gegenüber fühlte wie niemand.
Letztlich hätte ich lieber einen gewöhnlicheren Vater gehabt. Dann wäre ich bestimmt schneller flügge geworden.
Und das Schlimmste dabei: Ich war der Älteste, der Vorreiter, von dem alles abhing. Mein Bruder zog sich alleine groß, ohne dass sich jemand an ihm störte, der Glückspilz. Er war der Zweitgeborene, das Nesthäkchen. Ewig Zweiter, wie der gerade deshalb so beliebte Radrennfahrer Poulidor.
Ich war derjenige, auf dem alle Hoffnungen ruhten.
Ich erinnere mich noch an den Blick der Nachbarn, der Cousins und aller anderen. An diesen Blick, der traurig von meinem Vater-dem-Helden zu der dickschädeligen, nichtsnutzigen kleinen Rotznase glitt. Ihre ungläubige, betrübte Miene, die schweigend sagte: »Wie kann das nur sein? Ein Kerl wie er, und so ein Bengel!«
Ich kapierte sehr früh, dass das Vorbild unerreichbar bleiben würde und ich andere Wege gehen musste, um zu bestehen. Also strengte ich mich an, so nervig wie möglich zu sein und den größtmöglichen Mist zu bauen. Unglücklicherweise hatte ich keine wahre verbrecherische Ader: Hinter meinen Gangster-Allüren verbarg sich ein netter Kerl.
Ich wäre gern ein Mafioso gewesen, ein echter Böser, ein Halunke. Aber ich war nur ein Möchtegern-Ganove. Eine kleine Knalltüte ohne jedes Format.
Und zu allem Überfluss pflegte mein Vater mir seine Pranke auf die Schulter zu legen und zu sagen: »Er ist ein sturer Esel, aber ein braver Junge. Ich bin mir sicher, er wird es doch noch weit bringen ...«
Das war wahrscheinlich seine Art, mir sein Vertrauen zu zeigen.
Aber dieses »doch noch« klang in meinen Ohren wie das schlimmste trotz allem.
Seitdem ist eine Menge Wasser unter den Brücken durchgeflossen. Und kürzlich wäre ich beinahe mit davongeflossen: Vor ein paar Tagen wurde ich in letzter Minute mitten aus der Seine gefischt.
Genauer gesagt war ich zwei Meter vom Ufer entfernt im Fluss gelandet, was völlig ausreichend ist, um im Schlamm zu versinken und erst Wochen später wieder aufzutauchen, aufgeweicht und schwammig wie die Brotstücke, die man den Enten zuwirft.
Ich wurde wieder zum Atmen gebracht, hier und da eingipst. Ich musste wohl am Brückenpfeiler abgeprallt sein. Misslungener Selbstmord, feuchtfröhlicher Abend, Überfall? Darüber konnte man nur Mutmaßungen anstellen.
Ich lag im Koma und hatte daher keine Meinung dazu.
Ich wachte auf der Intensivstation wieder auf, mit einem Polytrauma - das macht doch was her, oder? - und bewacht von einem besorgt wirkenden Polizisten. Ein Kerlchen von der Sorte, die mein Vater selbst in seinen größten Wutanfällen über die Gesellschaftsordnung hätte verschonen können. Er war noch sehr jung, mit einem gutmütigen Gesicht, großen, traurigen Antilopenaugen und einem Dreitagebart, der wahrscheinlich mehrere Monate alt war.
Er wirkte ganz eingeschüchtert. Von meinem Charisma natürlich. Aber vielleicht lag es auch ein bisschen an den Schläuchen, der Gasmaske und dem ganzen Hokuspokus, mit dem sie mich überwachten.
Der Polyp war jugendliche fünfunddreißig, trug eine schwarze Lederjacke und hatte ein altes Notizbuch mit einem Chewbacca-Aufdruck in der Hand. Er hätte mein Sohn sein können, wenn ich mich fortgepflanzt hätte.
Als ich die Augen öffnete, tat ich das wie ein Ertrinkender, der plötzlich wieder auftaucht und nach Luft schnappt. Aber ertrunken war ich ja auch, oder so gut wie, also passte das ganz gut.
Ich fragte mich, wo ich war und warum, mit einer wohl narkosebedingten dunklen Angst und dem unangenehmen Gefühl, nicht mehr genau zu wissen, wo mein Körper anfing und aufhörte. Ein Teil meines Geistes galoppierte panisch kreuz und quer herum, um sich ein Bild der Lage zu machen: Wo bin ich, verdammt? Bin ich noch ganz? Kann ich mich bewegen?
Der andere Teil konnte sich nicht vom Gesicht dieses unbekannten Typen losreißen, der sich zu dicht über mich beugte und so leise auf mich einredete, dass ich fast nichts hörte. Seine Worte schienen von sehr weit her zu kommen, seine Stimme war komisch, viel zu langsam.
Schließlich drangen ein paar Fetzen zu mir durch: »Haben Sie vielleicht eine Ahnung, was Ihnen passiert ist? Wir treten nämlich mit unserer Untersuchung im Moment auf der Stelle ...«
Mit einem Blick auf die Sauerstoffmaske fügte er noch hinzu: »Antworten Sie mit Ja oder Nein, das wird vorerst genügen. Können Sie sich erinnern, was passiert ist?«
Ich drehte den Kopf leicht hin und her, nur eine Spur, aber genug, dass sich die Zimmerdecke drehte und die Matratze schwankte. Tut mir leid. Keine Ahnung, wie ich hierhergeraten bin.
Er stellte mir eine weitere Frage, die eine Weile brauchte, bis sie bei mir ankam. Bevor mir die Augen wieder zufielen, schüttelte ich noch einmal den Kopf. Nein: Ich hatte nicht versucht, mir das Leben zu nehmen.
Ich bin nicht selbstmordgefährdet.
Das erledigt sich mit der Zeit von selbst.
Nach meinen letzten Schätzungen bin ich seit acht Ta
gen hier. Die Zeit ist verflogen wie nichts.
Aber lang war sie doch.
Tagsüber schlafe ich zu viel, nachts sehr schlecht, ich bin benommen von diversen Drogen, von der Untätigkeit, alles verschwimmt zu einer einzigen grauen Sauce, Montag, Dienstag, Mittwoch. Ich erinnere mich nicht, wie ich im Wasser gelandet bin, da ist nichts zu machen. Genauso wenig erinnere ich mich daran, wie man mich herausgefischt hat oder wie ich hierhergekommen bin.
Es heißt, man habe mich sediert, weil ich unruhig und verwirrt war.
Nicht verwirrt im Sinne von erstaunt, ich bin nie erstaunt, wenn mir komische Sachen passieren.
Nein, verwirrt, also durcheinander, verstört.
Man hat mich in einen Zustand versetzt, in dem ich außerstande war zu denken, mich zu bewegen, mir zu schaden und die Arbeit des Pflegepersonals zu behindern. Der Vorteil dabei: Ich habe ein paar Tage in einer Art dichtem Nebel verbracht - der Rausch des Jahrhunderts -, mit dem Gefühl, alle fünf Minuten aufzuwachen und dazwischen jedes Mal für zehn Stunden einzuschlafen, das Ganze ohne zu große Schmerzen.
Jetzt fühle ich mich viel lädierter. Alles tut weh.
Und wenn es mal nicht mehr wehtut, habe ich trotzdem das Gefühl, ein einziger Muskelkater zu sein.
Man hat mich hier und da aufgeschnitten, um ein paar Brüche zu richten, und mich wieder zusammengeflickt. Ich bin voller Drähte, Platten und Schrauben, der reinste Eisenwarenladen. Meine Identität besteht aus dem Haufen Röntgenaufnahmen, den die Ärzte mit zufriedener Miene studieren, allen voran mein Chirurg: Darmbeinstachel, Darmbeinschaufel, Schambein, Oberschenkelhals, Oberschenkelknochen, Schienbein und Wadenbein.
Bewegen kommt nicht in Frage, das ist strengstens verboten.
Normalerweise drehe ich mich ewig von einer Seite auf die andere, um in den Schlaf zu finden, und jetzt bin ich zum Stillliegen verurteilt, zu allem Übel auch noch auf dem Rücken.
Da ziehen sich die Nächte in die Länge wie früher die Schulstunden.
Ich lerne das Krankenhausleben kennen. Man hatte mir davon erzählt, jetzt erlebe ich es selbst.
Kaum ist man hier drin, möchte man am liebsten sofort wieder nach Hause, wie die Hunde, die an der Leine zerren, um kehrtzumachen, sobald sie beim Tierarzt ankommen. Ich fühle mich wie ein Köter, geduckt und mit glanzlosem Fell. Ich will meinen Fressnapf, meine Decke, meinen Kauknochen, mein Körbchen.
Ich will nach Hause.
Außerdem kann ich die Krankenhausgerüche nicht ertragen.
Es riecht nicht sauber, sondern nach Desinfektionslösung, nach heuchlerisch parfümierten Putzmitteln, um den Gestank von Eiter, Inkontinenzen aller Art und anderen Scheußlichkeiten zu überdecken.
Es riecht nicht nach Küche, nach vor sich hin köcheln- den Eintöpfen, sondern nach Kantinenfraß. Nicht einmal der Kaffee riecht so, wie er soll. Seine Dünste drücken sich die Wände entlang wie Verräter im Schatten, dringen durch die Flure bis in die Zimmer vor, nicht klar, nicht ehrlich, voller Heimtücke. Und in der Tasse bekennt er dann eindeutig seine Schwäche, ein verwässertes Schwarz, eine undefinierbare Brühe, aufgewärmt, enttäuschend.
Und in Sachen Kräutertee keinerlei Auswahl: nur die grässliche Kamille.
Die Tage beginnen früh, um sechs Uhr morgens, was einem danach reichlich Zeit lässt, Trübsal zu blasen. Die Krankenschwester vom Frühdienst reißt die Tür auf, etwa so, wie ein Cowboy einen Saloon betritt, knipst die grelle Deckenbeleuchtung an, ruft mit einer Stimme, die für meine schläfrigen Ohren viel zu laut ist, »Guten Mooorgen!« und misst mir dann, ohne abzuwarten, ob ich auch wach bin (aber danke, ich bin es), den Blutdruck und die Temperatur.
Ich bekomme zwei weiße Tabletten verabreicht, von denen mir weder Name noch Wirkung bekannt sind, dann füllt sie die Kurve am Fußende meines Betts aus, löscht endlich die gleißende Neonleuchte und geht wieder - ohne die Tür hinter sich zu schließen -, wobei sie mir ohne jede Ironie noch einen schönen Tag wünscht.
Dann kommt eine der stets gutgelaunten Stationshelferinnen und bringt das Frühstück: zwei eingeschweißte Scheiben Zwieback, ein blässliches Kompott, eine Portionspackung Marmelade, die in ihrem Leben nicht vielen Früchten begegnet sein dürfte, und ein Naturjoghurt.
Und unweigerlich, auch wenn sie mich schon am vorigen und vorvorigen Tag gesehen hat, fragt sie: »Was möchten wir denn heute Morgen gern?«
Raus hier, Herrgott, nichts wie raus!
»Kaffee, Tee, Milch?«
Sie zieht die Jalousien hoch, klopft mein Kopfkissen auf, stellt das Tablett etwas zu weit weg ab, sodass ich zu schmerzhaften, von meinem Chirurgen verbotenen Verrenkungen gezwungen bin, um dranzukommen.
Dann fängt der Tag an, mit seinen zehnmal so vielen Stunden, wie sie Tage draußen haben. Die offene Tür erlaubt es mir, die Leute vorbeigehen zu sehen, worauf ich verzichten könnte, und erlaubt es ihnen, mich ebenfalls zu sehen, was mich rasend macht.
Das Fernsehen habe ich aufgegeben. Ich glaube, die Programme werden an höherer Stelle eigens mit dem Ziel gestaltet, Krankenhausbetten frei werden zu lassen und das Problem der zu langen Rentenzeiten zu regeln. All die hochspannenden europäischen Krimiserien, die mitreißenden Quizsendungen und die Live-Mitschnitte aus der Nationalversammlung sollen wohl alten Leuten wirksam den Rest geben und Kranke dazu treiben, sich den Tropf herauszureißen.
Ich sehe mir nur die Nachrichten an, die sich immer so schön auf die guten Neuigkeiten konzentrieren - Krieg, Umweltverschmutzung, Tsunamis, arme Alte, die von jungen Rowdys überfallen werden, kindliche Depression und Lungenkrebs bei Rauchern - wirklich löblich, wie sie sich um positives Denken bemühen.
Oder ich ziehe mir abends mal einen Film rein, aber selten.
Die ganze übrige Zeit habe ich Zeit übrig. Was zur Folge hat, dass ich denke.
Denken ist eine ungesunde Beschäftigung, die ich in der Regel lieber vermeide. Zumal meine Gedanken hier, mangels anderer Aussichten, um meinen Bauchnabel kreisen, etwa so wie ein durchgeknallter Hamster in seinem Rädchen herumrast. Ich, ich, ich, mein Leben, mein Werk.
Zurückgelegte Wegstrecke, Laufbahn, Bestandsaufnahme.
Bilanz. Bei dem bloßen Wort kommt mir das Kotzen.
»Bilanz«, das riecht nach buchmäßigem Bankrott.
Mittagessen gibt es um halb zwölf, Abendessen um zwanzig nach sechs.
Da mein Zimmer am Ende des Flurs liegt, esse ich lauwarm oder kalt, je nach Schnelligkeit oder Beinlänge der Stationshelferin. Die meisten von ihnen kommen aus Madagaskar, was einen Gewinn an Freundlichkeit, aber einen Verlust an Kalorien bedeutet.
Vor ein paar Tagen habe ich eine der Krankenschwestern gefragt, warum man nicht alle Mahlzeiten um ein oder zwei Stunden verschieben könne. Sie erklärte mir, das sei so, weil die Nachtschicht sich vor der Übergabe noch um das Frühstück kümmert, und »wenn man das verschieben würde, würde sich alles verschieben«. Ich habe geantwortet, sicher, aber in dem Fall könnte doch die Nachtschicht das Abendessen übernehmen, für das bisher die Tagschicht zuständig sei, die sich dann ihrerseits ums Frühstück kümmern würde - und wenn meine Berechnungen richtig seien, bliebe die Arbeitsbelastung letztlich für alle gleich.
Als Antwort steckte sie mir nur das Thermometer ins Ohr - übrigens eine gewöhnungsbedürftige Methode.
Auf der Station heiße ich »der Mann aus der Seine«. An dem Tag muss sonst nicht viel passiert sein, denn in den Lokalblättern war ein bisschen von mir die Rede.
Mehr hat es nicht gebraucht, um mir eine geheimnisvolle Aura zu verschaffen, die ich mühsam aufrechtzuerhalten versuche, aber das ist gar nicht so einfach. Ich finde es ziemlich verdienstvoll von mir, ein Rätsel bleiben zu wollen, während ich dazu verdammt bin, mir den Hintern abwischen zu lassen wie ein Riesenbaby, und die gesamte Ärzteschaft, ganz gleich welchen Ranges und Faches, von mir wissen will, ob ich auch ordentlich pisse - und so weiter -, noch bevor sie mich begrüßt.
Diese Art von zwischenmenschlichen Beziehungen ist übrigens ganz erstaunlich. Kein Tag vergeht, ohne dass man mich mit einem Interesse, das nicht geheuchelt wirkt, fragt, ob ich an diesem Morgen schon Darmwinde hatte. Instinktiv weiß ich, dass es unpassend wäre zu antworten: »Ja, danke, und Sie?«
Halt! Jeder hat seinen Platz. Der Patient bin ich.
Der Patient heißt der Erduldende, und ich brauche tatsächlich eine Menge Geduld, um diese Untätigkeit zu ertragen, die unbequemen Gipse, die stickige Hitze im Zimmer, die fehlende Privatsphäre.
Kurz, ich fühle mich äußerst reduziert. Mir scheint, in den Augen der Welt bestehe ich nur aus einer zu entleerenden Blase und Blähungen, aus Knochenbrüchen und Schläuchen.
Ganz zu schweigen von dieser merkwürdigen Art, mit mir zu reden: »Wie geht es uns denn heute?«
Ich beiße mir auf die Zunge, um nicht zu antworten: »Uns geht es gut, wir danken.«
»Wir« haben einen Namen und einen Vornamen, ja einen ganzen Personenstand, falls es jemanden interessiert.
Jean-Pierre Fabre, Witwer, kinderlos, Rentner, geboren in Perpignan am 4. Oktober 1945, am selben Tag wie die französische Sozialversicherung - was vielleicht meinen ständigen Haushaltsdefizit erklärt -, Vater Robert Fabre, Eisenbahner, geboren am 17. November 1922 in Marseille, Mutter Odette Augier, ohne Beruf, geboren am 25. Juni 1924 in Avignon.
Ich habe einen Sprung im Becken, nicht in der Schüssel.
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Mein Vater war dann von seinen Großeltern mütterlicherseits aufgezogen worden: Uropa Jean, der zu der Zeit, von der ich erzähle, noch quicklebendig war, und Uroma Ginou selig, die in ihrer Urne in der Garage stand.
Ich konnte mir schwer vorstellen, was er wohl empfunden hatte, als er am Tag des Unfalls aus der Schule kam und kapierte, dass seine Eltern nicht wiederkommen würden. Vielleicht hatte er im ersten Moment gedacht, dass er jetzt frei wäre: keine Ohrfeigen mehr bei der kleinsten Dummheit. Endlich Ruhe.
Ruhe, ja.
Aber wenn ich ihn von seiner Kindheit erzählen hörte, spürte ich genau, dass Ruhe einem das Leben gründlicher vermasseln kann als eine Menge Zwänge. Deshalb reizte es mich nicht besonders, Waise zu werden. Mir lag etwas an meinen Eltern, auch wenn es eben Eltern waren, mit allen Nachteilen, die das mit sich bringt, von wegen Autorität und Verboten. Vor allem lag mir etwas an meinem Vater. Ich fand ihn echt stark, nicht nur wegen seiner Bizepse, die dicker waren als manche Oberschenkel. Er war wirklich stark. Gerade und aufrecht wie ein Baum. Voller Überzeugungen, mangels anderer Besitztümer. Ein Hitzkopf, einer, der das Maul aufriss, aber bei Hochzeiten und Taufen sein Taschentuch nass heulte, der meine Mutter »Mein Schnuckelchen« nannte, ohne sich darum zu scheren, ob er sich lächerlich machte, und nie Angst hatte, ihr zu sagen: Ich liebe dich.
Ein Mann, wie ich sicher gern einer geworden wäre.
Schon als ganz kleiner Stöpsel spürte ich die Macht, die er über die Leute hatte, wenn die in diesem ganz speziellen Ton zu mir sagten: »Ja, dein Vater! Dein Vater! ... Das ist schon jemand!«
Er war so sehr jemand, dass ich mich ihm gegenüber fühlte wie niemand.
Letztlich hätte ich lieber einen gewöhnlicheren Vater gehabt. Dann wäre ich bestimmt schneller flügge geworden.
Und das Schlimmste dabei: Ich war der Älteste, der Vorreiter, von dem alles abhing. Mein Bruder zog sich alleine groß, ohne dass sich jemand an ihm störte, der Glückspilz. Er war der Zweitgeborene, das Nesthäkchen. Ewig Zweiter, wie der gerade deshalb so beliebte Radrennfahrer Poulidor.
Ich war derjenige, auf dem alle Hoffnungen ruhten.
Ich erinnere mich noch an den Blick der Nachbarn, der Cousins und aller anderen. An diesen Blick, der traurig von meinem Vater-dem-Helden zu der dickschädeligen, nichtsnutzigen kleinen Rotznase glitt. Ihre ungläubige, betrübte Miene, die schweigend sagte: »Wie kann das nur sein? Ein Kerl wie er, und so ein Bengel!«
Ich kapierte sehr früh, dass das Vorbild unerreichbar bleiben würde und ich andere Wege gehen musste, um zu bestehen. Also strengte ich mich an, so nervig wie möglich zu sein und den größtmöglichen Mist zu bauen. Unglücklicherweise hatte ich keine wahre verbrecherische Ader: Hinter meinen Gangster-Allüren verbarg sich ein netter Kerl.
Ich wäre gern ein Mafioso gewesen, ein echter Böser, ein Halunke. Aber ich war nur ein Möchtegern-Ganove. Eine kleine Knalltüte ohne jedes Format.
Und zu allem Überfluss pflegte mein Vater mir seine Pranke auf die Schulter zu legen und zu sagen: »Er ist ein sturer Esel, aber ein braver Junge. Ich bin mir sicher, er wird es doch noch weit bringen ...«
Das war wahrscheinlich seine Art, mir sein Vertrauen zu zeigen.
Aber dieses »doch noch« klang in meinen Ohren wie das schlimmste trotz allem.
Seitdem ist eine Menge Wasser unter den Brücken durchgeflossen. Und kürzlich wäre ich beinahe mit davongeflossen: Vor ein paar Tagen wurde ich in letzter Minute mitten aus der Seine gefischt.
Genauer gesagt war ich zwei Meter vom Ufer entfernt im Fluss gelandet, was völlig ausreichend ist, um im Schlamm zu versinken und erst Wochen später wieder aufzutauchen, aufgeweicht und schwammig wie die Brotstücke, die man den Enten zuwirft.
Ich wurde wieder zum Atmen gebracht, hier und da eingipst. Ich musste wohl am Brückenpfeiler abgeprallt sein. Misslungener Selbstmord, feuchtfröhlicher Abend, Überfall? Darüber konnte man nur Mutmaßungen anstellen.
Ich lag im Koma und hatte daher keine Meinung dazu.
Ich wachte auf der Intensivstation wieder auf, mit einem Polytrauma - das macht doch was her, oder? - und bewacht von einem besorgt wirkenden Polizisten. Ein Kerlchen von der Sorte, die mein Vater selbst in seinen größten Wutanfällen über die Gesellschaftsordnung hätte verschonen können. Er war noch sehr jung, mit einem gutmütigen Gesicht, großen, traurigen Antilopenaugen und einem Dreitagebart, der wahrscheinlich mehrere Monate alt war.
Er wirkte ganz eingeschüchtert. Von meinem Charisma natürlich. Aber vielleicht lag es auch ein bisschen an den Schläuchen, der Gasmaske und dem ganzen Hokuspokus, mit dem sie mich überwachten.
Der Polyp war jugendliche fünfunddreißig, trug eine schwarze Lederjacke und hatte ein altes Notizbuch mit einem Chewbacca-Aufdruck in der Hand. Er hätte mein Sohn sein können, wenn ich mich fortgepflanzt hätte.
Als ich die Augen öffnete, tat ich das wie ein Ertrinkender, der plötzlich wieder auftaucht und nach Luft schnappt. Aber ertrunken war ich ja auch, oder so gut wie, also passte das ganz gut.
Ich fragte mich, wo ich war und warum, mit einer wohl narkosebedingten dunklen Angst und dem unangenehmen Gefühl, nicht mehr genau zu wissen, wo mein Körper anfing und aufhörte. Ein Teil meines Geistes galoppierte panisch kreuz und quer herum, um sich ein Bild der Lage zu machen: Wo bin ich, verdammt? Bin ich noch ganz? Kann ich mich bewegen?
Der andere Teil konnte sich nicht vom Gesicht dieses unbekannten Typen losreißen, der sich zu dicht über mich beugte und so leise auf mich einredete, dass ich fast nichts hörte. Seine Worte schienen von sehr weit her zu kommen, seine Stimme war komisch, viel zu langsam.
Schließlich drangen ein paar Fetzen zu mir durch: »Haben Sie vielleicht eine Ahnung, was Ihnen passiert ist? Wir treten nämlich mit unserer Untersuchung im Moment auf der Stelle ...«
Mit einem Blick auf die Sauerstoffmaske fügte er noch hinzu: »Antworten Sie mit Ja oder Nein, das wird vorerst genügen. Können Sie sich erinnern, was passiert ist?«
Ich drehte den Kopf leicht hin und her, nur eine Spur, aber genug, dass sich die Zimmerdecke drehte und die Matratze schwankte. Tut mir leid. Keine Ahnung, wie ich hierhergeraten bin.
Er stellte mir eine weitere Frage, die eine Weile brauchte, bis sie bei mir ankam. Bevor mir die Augen wieder zufielen, schüttelte ich noch einmal den Kopf. Nein: Ich hatte nicht versucht, mir das Leben zu nehmen.
Ich bin nicht selbstmordgefährdet.
Das erledigt sich mit der Zeit von selbst.
Nach meinen letzten Schätzungen bin ich seit acht Ta
gen hier. Die Zeit ist verflogen wie nichts.
Aber lang war sie doch.
Tagsüber schlafe ich zu viel, nachts sehr schlecht, ich bin benommen von diversen Drogen, von der Untätigkeit, alles verschwimmt zu einer einzigen grauen Sauce, Montag, Dienstag, Mittwoch. Ich erinnere mich nicht, wie ich im Wasser gelandet bin, da ist nichts zu machen. Genauso wenig erinnere ich mich daran, wie man mich herausgefischt hat oder wie ich hierhergekommen bin.
Es heißt, man habe mich sediert, weil ich unruhig und verwirrt war.
Nicht verwirrt im Sinne von erstaunt, ich bin nie erstaunt, wenn mir komische Sachen passieren.
Nein, verwirrt, also durcheinander, verstört.
Man hat mich in einen Zustand versetzt, in dem ich außerstande war zu denken, mich zu bewegen, mir zu schaden und die Arbeit des Pflegepersonals zu behindern. Der Vorteil dabei: Ich habe ein paar Tage in einer Art dichtem Nebel verbracht - der Rausch des Jahrhunderts -, mit dem Gefühl, alle fünf Minuten aufzuwachen und dazwischen jedes Mal für zehn Stunden einzuschlafen, das Ganze ohne zu große Schmerzen.
Jetzt fühle ich mich viel lädierter. Alles tut weh.
Und wenn es mal nicht mehr wehtut, habe ich trotzdem das Gefühl, ein einziger Muskelkater zu sein.
Man hat mich hier und da aufgeschnitten, um ein paar Brüche zu richten, und mich wieder zusammengeflickt. Ich bin voller Drähte, Platten und Schrauben, der reinste Eisenwarenladen. Meine Identität besteht aus dem Haufen Röntgenaufnahmen, den die Ärzte mit zufriedener Miene studieren, allen voran mein Chirurg: Darmbeinstachel, Darmbeinschaufel, Schambein, Oberschenkelhals, Oberschenkelknochen, Schienbein und Wadenbein.
Bewegen kommt nicht in Frage, das ist strengstens verboten.
Normalerweise drehe ich mich ewig von einer Seite auf die andere, um in den Schlaf zu finden, und jetzt bin ich zum Stillliegen verurteilt, zu allem Übel auch noch auf dem Rücken.
Da ziehen sich die Nächte in die Länge wie früher die Schulstunden.
Ich lerne das Krankenhausleben kennen. Man hatte mir davon erzählt, jetzt erlebe ich es selbst.
Kaum ist man hier drin, möchte man am liebsten sofort wieder nach Hause, wie die Hunde, die an der Leine zerren, um kehrtzumachen, sobald sie beim Tierarzt ankommen. Ich fühle mich wie ein Köter, geduckt und mit glanzlosem Fell. Ich will meinen Fressnapf, meine Decke, meinen Kauknochen, mein Körbchen.
Ich will nach Hause.
Außerdem kann ich die Krankenhausgerüche nicht ertragen.
Es riecht nicht sauber, sondern nach Desinfektionslösung, nach heuchlerisch parfümierten Putzmitteln, um den Gestank von Eiter, Inkontinenzen aller Art und anderen Scheußlichkeiten zu überdecken.
Es riecht nicht nach Küche, nach vor sich hin köcheln- den Eintöpfen, sondern nach Kantinenfraß. Nicht einmal der Kaffee riecht so, wie er soll. Seine Dünste drücken sich die Wände entlang wie Verräter im Schatten, dringen durch die Flure bis in die Zimmer vor, nicht klar, nicht ehrlich, voller Heimtücke. Und in der Tasse bekennt er dann eindeutig seine Schwäche, ein verwässertes Schwarz, eine undefinierbare Brühe, aufgewärmt, enttäuschend.
Und in Sachen Kräutertee keinerlei Auswahl: nur die grässliche Kamille.
Die Tage beginnen früh, um sechs Uhr morgens, was einem danach reichlich Zeit lässt, Trübsal zu blasen. Die Krankenschwester vom Frühdienst reißt die Tür auf, etwa so, wie ein Cowboy einen Saloon betritt, knipst die grelle Deckenbeleuchtung an, ruft mit einer Stimme, die für meine schläfrigen Ohren viel zu laut ist, »Guten Mooorgen!« und misst mir dann, ohne abzuwarten, ob ich auch wach bin (aber danke, ich bin es), den Blutdruck und die Temperatur.
Ich bekomme zwei weiße Tabletten verabreicht, von denen mir weder Name noch Wirkung bekannt sind, dann füllt sie die Kurve am Fußende meines Betts aus, löscht endlich die gleißende Neonleuchte und geht wieder - ohne die Tür hinter sich zu schließen -, wobei sie mir ohne jede Ironie noch einen schönen Tag wünscht.
Dann kommt eine der stets gutgelaunten Stationshelferinnen und bringt das Frühstück: zwei eingeschweißte Scheiben Zwieback, ein blässliches Kompott, eine Portionspackung Marmelade, die in ihrem Leben nicht vielen Früchten begegnet sein dürfte, und ein Naturjoghurt.
Und unweigerlich, auch wenn sie mich schon am vorigen und vorvorigen Tag gesehen hat, fragt sie: »Was möchten wir denn heute Morgen gern?«
Raus hier, Herrgott, nichts wie raus!
»Kaffee, Tee, Milch?«
Sie zieht die Jalousien hoch, klopft mein Kopfkissen auf, stellt das Tablett etwas zu weit weg ab, sodass ich zu schmerzhaften, von meinem Chirurgen verbotenen Verrenkungen gezwungen bin, um dranzukommen.
Dann fängt der Tag an, mit seinen zehnmal so vielen Stunden, wie sie Tage draußen haben. Die offene Tür erlaubt es mir, die Leute vorbeigehen zu sehen, worauf ich verzichten könnte, und erlaubt es ihnen, mich ebenfalls zu sehen, was mich rasend macht.
Das Fernsehen habe ich aufgegeben. Ich glaube, die Programme werden an höherer Stelle eigens mit dem Ziel gestaltet, Krankenhausbetten frei werden zu lassen und das Problem der zu langen Rentenzeiten zu regeln. All die hochspannenden europäischen Krimiserien, die mitreißenden Quizsendungen und die Live-Mitschnitte aus der Nationalversammlung sollen wohl alten Leuten wirksam den Rest geben und Kranke dazu treiben, sich den Tropf herauszureißen.
Ich sehe mir nur die Nachrichten an, die sich immer so schön auf die guten Neuigkeiten konzentrieren - Krieg, Umweltverschmutzung, Tsunamis, arme Alte, die von jungen Rowdys überfallen werden, kindliche Depression und Lungenkrebs bei Rauchern - wirklich löblich, wie sie sich um positives Denken bemühen.
Oder ich ziehe mir abends mal einen Film rein, aber selten.
Die ganze übrige Zeit habe ich Zeit übrig. Was zur Folge hat, dass ich denke.
Denken ist eine ungesunde Beschäftigung, die ich in der Regel lieber vermeide. Zumal meine Gedanken hier, mangels anderer Aussichten, um meinen Bauchnabel kreisen, etwa so wie ein durchgeknallter Hamster in seinem Rädchen herumrast. Ich, ich, ich, mein Leben, mein Werk.
Zurückgelegte Wegstrecke, Laufbahn, Bestandsaufnahme.
Bilanz. Bei dem bloßen Wort kommt mir das Kotzen.
»Bilanz«, das riecht nach buchmäßigem Bankrott.
Mittagessen gibt es um halb zwölf, Abendessen um zwanzig nach sechs.
Da mein Zimmer am Ende des Flurs liegt, esse ich lauwarm oder kalt, je nach Schnelligkeit oder Beinlänge der Stationshelferin. Die meisten von ihnen kommen aus Madagaskar, was einen Gewinn an Freundlichkeit, aber einen Verlust an Kalorien bedeutet.
Vor ein paar Tagen habe ich eine der Krankenschwestern gefragt, warum man nicht alle Mahlzeiten um ein oder zwei Stunden verschieben könne. Sie erklärte mir, das sei so, weil die Nachtschicht sich vor der Übergabe noch um das Frühstück kümmert, und »wenn man das verschieben würde, würde sich alles verschieben«. Ich habe geantwortet, sicher, aber in dem Fall könnte doch die Nachtschicht das Abendessen übernehmen, für das bisher die Tagschicht zuständig sei, die sich dann ihrerseits ums Frühstück kümmern würde - und wenn meine Berechnungen richtig seien, bliebe die Arbeitsbelastung letztlich für alle gleich.
Als Antwort steckte sie mir nur das Thermometer ins Ohr - übrigens eine gewöhnungsbedürftige Methode.
Auf der Station heiße ich »der Mann aus der Seine«. An dem Tag muss sonst nicht viel passiert sein, denn in den Lokalblättern war ein bisschen von mir die Rede.
Mehr hat es nicht gebraucht, um mir eine geheimnisvolle Aura zu verschaffen, die ich mühsam aufrechtzuerhalten versuche, aber das ist gar nicht so einfach. Ich finde es ziemlich verdienstvoll von mir, ein Rätsel bleiben zu wollen, während ich dazu verdammt bin, mir den Hintern abwischen zu lassen wie ein Riesenbaby, und die gesamte Ärzteschaft, ganz gleich welchen Ranges und Faches, von mir wissen will, ob ich auch ordentlich pisse - und so weiter -, noch bevor sie mich begrüßt.
Diese Art von zwischenmenschlichen Beziehungen ist übrigens ganz erstaunlich. Kein Tag vergeht, ohne dass man mich mit einem Interesse, das nicht geheuchelt wirkt, fragt, ob ich an diesem Morgen schon Darmwinde hatte. Instinktiv weiß ich, dass es unpassend wäre zu antworten: »Ja, danke, und Sie?«
Halt! Jeder hat seinen Platz. Der Patient bin ich.
Der Patient heißt der Erduldende, und ich brauche tatsächlich eine Menge Geduld, um diese Untätigkeit zu ertragen, die unbequemen Gipse, die stickige Hitze im Zimmer, die fehlende Privatsphäre.
Kurz, ich fühle mich äußerst reduziert. Mir scheint, in den Augen der Welt bestehe ich nur aus einer zu entleerenden Blase und Blähungen, aus Knochenbrüchen und Schläuchen.
Ganz zu schweigen von dieser merkwürdigen Art, mit mir zu reden: »Wie geht es uns denn heute?«
Ich beiße mir auf die Zunge, um nicht zu antworten: »Uns geht es gut, wir danken.«
»Wir« haben einen Namen und einen Vornamen, ja einen ganzen Personenstand, falls es jemanden interessiert.
Jean-Pierre Fabre, Witwer, kinderlos, Rentner, geboren in Perpignan am 4. Oktober 1945, am selben Tag wie die französische Sozialversicherung - was vielleicht meinen ständigen Haushaltsdefizit erklärt -, Vater Robert Fabre, Eisenbahner, geboren am 17. November 1922 in Marseille, Mutter Odette Augier, ohne Beruf, geboren am 25. Juni 1924 in Avignon.
Ich habe einen Sprung im Becken, nicht in der Schüssel.
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Autoren-Porträt von Marie-Sabine Roger
Roger, Marie-Sabine Marie-Sabine Roger wurde 1957 in Bordeaux geboren und lebt heute im Département Charente. Ihre Romane Das Labyrinth der Wörter (2010), Das Leben ist ein listiger Kater (2014) und Wenn das Schicksal anklopft, mach auf (2020) waren in Frankreich und Deutschland Bestseller. Kalscheuer, Claudia Claudia Kalscheuer, geboren 1964, überträgt u.a. Marie NDiaye, Marie-Sabine Roger und Sylvain Prudhomme aus dem Französischen. 2010 wurde sie zusammen mit Marie NDiaye mit dem Internationalen Literaturpreis ausgezeichnet.
Bibliographische Angaben
- Autor: Marie-Sabine Roger
- 2014, 224 Seiten, Maße: 13,4 x 20,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Claudia Kalscheuer
- Verlag: Atlantik Verlag
- ISBN-10: 3455600026
- ISBN-13: 9783455600025
- Erscheinungsdatum: 11.03.2014
Pressezitat
» Humorvoll, bewegend, zärtlich, menschlich und warmherzig dieser Roman mit Tiefgang lässt einen jubeln.« L'Express
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