Das Lieblingsspiel
Roman
Ein verwegenes und zartes Buch über das, was Liebende zu Liebenden macht...
Nach ersten literarischen Erfolgen und einer Reihe flüchtiger, aber intensiver sexueller Erlebnisse begegnet der junge Lawrence Breavman, der einzige Sohn wohlhabender...
Nach ersten literarischen Erfolgen und einer Reihe flüchtiger, aber intensiver sexueller Erlebnisse begegnet der junge Lawrence Breavman, der einzige Sohn wohlhabender...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Das Lieblingsspiel “
Ein verwegenes und zartes Buch über das, was Liebende zu Liebenden macht...
Nach ersten literarischen Erfolgen und einer Reihe flüchtiger, aber intensiver sexueller Erlebnisse begegnet der junge Lawrence Breavman, der einzige Sohn wohlhabender Eltern aus Montreal, in New York einem Mädchen namens Shell. Er entdeckt die Totalität der Liebe und muss sich entscheiden, wem er gehören soll - sich selbst oder ihr. Leonard Cohens autobiografisch gefärbter Debütroman, erschienen 1963, ist ein Klassiker der modernen Literatur und gilt als »einer der zehn besten kanadischen Romane des 20. Jahrhunderts « (Globe and Mail).
Nach ersten literarischen Erfolgen und einer Reihe flüchtiger, aber intensiver sexueller Erlebnisse begegnet der junge Lawrence Breavman, der einzige Sohn wohlhabender Eltern aus Montreal, in New York einem Mädchen namens Shell. Er entdeckt die Totalität der Liebe und muss sich entscheiden, wem er gehören soll - sich selbst oder ihr. Leonard Cohens autobiografisch gefärbter Debütroman, erschienen 1963, ist ein Klassiker der modernen Literatur und gilt als »einer der zehn besten kanadischen Romane des 20. Jahrhunderts « (Globe and Mail).
Klappentext zu „Das Lieblingsspiel “
Ein verwegenes und zartes Buch über das, was Liebende zu Liebenden macht...Nach ersten literarischen Erfolgen und einer Reihe flüchtiger, aber intensiver sexueller Erlebnisse begegnet der junge Lawrence Breavman, der einzige Sohn wohlhabender Eltern aus Montreal, in New York einem Mädchen namens Shell. Er entdeckt die Totalität der Liebe und muss sich entscheiden, wem er gehören soll - sich selbst oder ihr. Leonard Cohens autobiografisch gefärbter Debütroman, erschienen 1963, ist ein Klassiker der modernen Literatur und gilt als »einer der zehn besten kanadischen Romane des 20. Jahrhunderts « (Globe and Mail).
Lese-Probe zu „Das Lieblingsspiel “
Das Lieblingsspiel von Leonard CohenAus dem Englischen von Gregor Hens
Erstes Buch
1
Breavman kennt ein Mädchen namens Shell, das sich Ohrlöcher stechen ließ, weil es lange, filigrane Ohrringe tragen wollte. Die Einstiche entzündeten sich, eiterten und hinterließen winzige Narben, die er entdeckte, als er ihr einmal das Haar nach hinten strich.
Eine Kugel zerfetzte seinem Vater den Arm, als er sich im Schützengraben aufrichtete. Ein Mann, der an Herzkranz- Thrombose leidet, findet Trost in einer alten Kriegsverletzung.
An der rechten Schläfe trägt Breavman eine Narbe, die auf einen Schaufeleinsatz von Krantz zurückgeht. Ärger wegen eines Schneemanns. Krantz wollte Steinchen als Augen. Breavman hatte etwas gegen die Verwendung fremder Materialien beim Ausstatten von Schneemännern, damals wie heute. Bloß keine Wollschals, Hüte, Brillen. Genauso wenig kann er sich damit anfreunden, dass Halloweenkürbisse Ohren aus Gurken haben, Möhren zwischen den Lippen.
Seine Mutter hielt ihren Körper für eine einzige Narbe, die ihre frühere Vollkommenheit überwuchert hatte, eine Vollkommenheit, nach der sie immer noch suchte, wenn sie sich in Spiegeln, Schaufenstern, verchromten Radkappen betrachtete.
Kinder zeigen Narben wie Auszeichnungen vor, Liebende machen Geheimnisse daraus, die sie enthüllen. Eine Narbe entsteht, wenn das Wort Fleisch geworden ist.
Es macht einem Kriegshelden nichts aus, seine Wunden vorzuzeigen. Schwieriger ist es, wenn man nur einen Pickel hat.
2
Breavmans junge Mutter fahndete nach ihren Falten mit zwei Händen und einem Vergrößerungsspiegel.
... mehr
Hatte sie eine entdeckt, dann betrachtete sie die Öle und Cremes, die festungsartig auf einem Glastablett arrangiert waren, und stieß einen Seufzer aus. Sie vollzog die Salbung, aber ihr fehlte der Glaube.
»Das ist nicht mein Gesicht, nicht mein wahres.«
»Wo ist dein wahres Gesicht, Mutter?«
»Sieh mich nur an. Sehe ich wirklich so aus?«
»Wo ist es, wo ist dein wahres Gesicht?«
»Weiß nicht, in Russland, ich war noch so jung.«
Er zog den riesigen Atlas aus dem Regal und ließ sich damit fallen. Wie ein Goldsucher wischte er über die Seiten, bis er schließlich Russland fand, farblos und unermesslich groß. Er kniete über dem weiten Land und suchte, bis ihm die Augen schwammen, bis sich Seen und Flüsse und Städtenamen zu einem Gesicht zusammenfügten, das unglaublich schön war, zart und flüchtig.
Das Kindermädchen musste ihn zum Abendessen zerren. Über Silberbesteck und vollgeladenen Tellern schwebte das Gesicht einer Dame.
3
Sein Vater verbrachte seine Tage im Bett oder in einem Zelt im Krankenhaus. Wenn er sich einmal aufraffte, log er.
Er nahm den Spazierstock ohne Silberbeschlag und führte seinen Sohn über den Mount Royal, wo sich ein prähistorischer Krater befand. In der sanft abschüssigen, grasbewachsenen Senke, die einst mit brodelnder Lava gefüllt war, lagen zwei Kanonen, Geschütze für Eisen-oder Steinkugeln. Breavman hätte sich gern über Gewalt unterhalten.
»Wir kommen wieder her, wenn es mir besser geht.«
Eine seiner Lügen.
Er erklärte Breavman, wie man den Pferden, die neben dem Chalet angebunden waren, die Nasen tätschelt, wie man ihnen auf der flachen Hand Zuckerstückchen reicht.
»Später einmal gehen wir reiten.«
»Du kriegst doch kaum Luft.«
An jenem Abend brach der Vater über einer mit Fähnchen besteckten Landkarte zusammen, auf der er den Krieg nachspielte. Er hatte es nicht mehr geschafft, die Kapseln aufzubrechen und zu inhalieren.
4
Ein Film, in dem seine Familie zu sehen ist, zumindest ihre Körper.
Sein Vater richtet die Kamera auf seine Onkel, die, groß und würdevoll, Blumen an dunklen Revers tragen. Sie kommen auf die Kamera zu und treten in die Unschärfe.
Ihre Frauen sehen steif und traurig aus. Seine Mutter tritt, während sie die Tanten ins Bild nötigt, einen Schritt zurück. Sie steht im Hintergrund, ihr Lächeln und ihre Schultern erschlaffen. Sie glaubt, im unscharfen Bereich zu sein.
Breavman hält den Film an, um sie genauer zu betrachten. Als der Film zu schmelzen beginnt, wird ihr Gesicht von einem Flecken zerfressen, dessen orangefarbener Rand sich immer weiter ausbreitet.
Seine Großmutter sitzt im Schatten des steinernen Balkons und lässt sich von den Tanten die Babys zeigen. Ein silbernes Teeservice glänzt prächtig in frühem Technicolor.
Sein Großvater schreitet eine Reihe von Kindern ab. Als er gerade anerkennend nicken will, richtet die technisch bedingte orangefarbene Flamme Verheerendes an.
Breavman sucht seine Geschichte und zerstört dabei den Film.
Breavman und seine Cousins tragen kurze, ritterliche Kämpfe aus. Die Mädchen machen Knickse. Ein Kind nach dem anderen wird aufgefordert, über den Plattenweg zu hüpfen.
Ein schüchterner, dankbarer Gärtner wird ins Helle geführt, um mit den besseren Ständen verewigt zu werden.
Dicht an dicht steht ein ganzes Bataillon von Ehefrauen, dezimiert vom Rand des Bildes. Zu den Ersten, die fallen, gehört seine Mutter.
Dann sieht er Schuhe und unscharfes Gras. Sein Vater hat einen seiner Anfälle.
»Hilfe!«
An seinen Füßen flackert gewundenes Zelluloid. Er tanzt, bis er von Nursie und dem Kindermädchen gerettet und von seiner Mutter bestraft wird.
Der Film läuft Tag und Nacht. Sei vorsichtig, mein Blut, sei vorsichtig.
5
Die Breavmans haben beinahe alle Einrichtungen gestiftet und geleitet, die die jüdische Gemeinde von Montreal zu einer der einflussreichsten der Welt gemacht haben.
In der Stadt erzählt man sich diesen Witz: dass die Juden das Gewissen der Welt sind und die Breavmans das Gewissen der Juden. »Und ich bin das Gewissen der Breavmans«, fügt Lawrence Breavman hinzu. »Wir sind tatsächlich die letzten Juden; eigentlich sind wir Überchristen, erste Bürger mit gestutzten Zacken.«
Inzwischen hört man, wenn sich jemand die Mühe macht, eine Meinung zu äußern, dass es mit den Breavmans bergab geht. »Nehmt euch in Acht«, warnt Breavman seine geschäftstüchtigen Cousins, »sonst sprechen eure Kinder bald mit Akzent.«
Vor zehn Jahren hat Breavman den Kodex der Breavmans zusammengetragen:
Wir sind viktorianische Herrschaften hebräischen Glaubens.
Wenn wir es auch nicht beweisen können, so sind wir doch überzeugt, dass alle anderen Juden, die es zu etwas gebracht haben, ihr Geld auf dem Schwarzmarkt verdient haben.
Wir suchen keinen Zutritt zu christlichen Vereinigungen und wünschen nicht, dass unser Blut durch Mischehen geschwächt wird. Wir möchten als Angehörige der Oberschicht wahrgenommen zu werden, vereint durch Stand, Bildung und Macht. Was uns besonders macht, sind die häuslichen Rituale.
Jeder Kontakt mit Unbeschnittenen gilt als Übertretung.
Wir trinken weniger als ihr und haben die Zivilisation lange vor euch entdeckt, ihr mieses, blutrünstiges Säufer- pack.
6
Eine Ratte ist lebendiger als eine Schildkröte.
Eine Schildkröte ist langsam, kalt, wie eine Maschine oder ein Spielzeug, ein Panzer mit Beinen. Es macht nichts, wenn sie stirbt. Aber eine weiße Ratte ist flink und warm unter der dünnen Haut.
Krantz hielt seine in einem Radiogehäuse. Breavmans hielt seine in einem hohen Honigeimer. Als Krantz über die Feiertage wegfuhr, bat er Breavman, auf seine aufzupassen. Breavman warf sie zu seiner eigenen.
Ratten füttern macht richtig Arbeit. Man muss in den Keller hinuntergehen. Er vergaß das eine Zeit lang. Bald wollte er gar nicht mehr an den Honigeimer denken und mied die Kellertreppe.
Schließlich ging er doch hinunter. Aus dem Eimer drang ein übler Gestank. Er wünschte, es wäre noch Honig drin. Er sah hinein. Die eine Ratte hatte fast den ganzen Bauch der anderen gefressen. Es spielte keine Rolle mehr, welche von den beiden ihm gehörte. Die überlebende Ratte sprang ihn an. Keine Frage, sie war verrückt geworden.
Weil es so stank, trug er den Eimer mit ausgestreckten Armen vor sich her und füllte ihn mit Wasser. Die tote Ratte schwamm obenauf, sodass das Loch zwischen Rippen und Hinterbeinen zu sehen waren. Die überlebende kratzte am Blech.
Er wurde zum Mittagessen gerufen. Als Vorspeise gab es Mark. Sein Vater löste es aus dem hohlen Knochen. Es kam aus dem Inneren eines Tiers.
Als er wieder in den Keller ging, trieben beide Ratten an der Oberfläche. Er schüttete den Eimer an der Einfahrt aus und bedeckte sie mit Schnee. Er erbrach sich und bedeckte auch das mit Schnee.
Krantz war sauer. Er wollte zumindest ein richtiges Begräbnis veranstalten, aber sie fanden die Leichen nicht, es hatte so stark geschneit.
Im Frühjahr machten sie sich über die dreckigen Schneehaufen her, die wie Inseln in der Einfahrt lagen. Nichts. Krantz meinte, da die Dinge nun so lägen, schulde Breavman ihm Geld für eine weiße Ratte. Er habe ihm seine geliehen und nichts zurückerhalten, nicht einmal ein Skelett. Breavman sagte, dass ein Krankenhaus auch nicht zahle, wenn jemand dort gestorben sei. Krantz sagte, wenn man jemandem eine Sache leihe, dann müsse die Person, die sie verloren habe, dafür bezahlen. Breavman sagte, wenn es aber lebe, dann sei es keine Sache, außerdem habe er ihm einen Gefallen getan, als er die Ratte zu sich genommen habe. Krantz meinte, eine Ratte umzubringen sei kein Gefallen. Sie fochten es im nassen Kies aus, dann gingen sie in die Stadt und kauften neue Ratten.
Die von Breavman entkam und lebte eine Weile in einem Einbauschrank unter der Treppe. Im Schein der Taschenlampe sah er ihre Augen. Ein paar Mal legte er morgens Puffreis vor der Tür aus, der angeknabbert wurde. Dann kümmerte er sich nicht mehr darum.
Als am Sommeranfang die Fensterläden verstaut wurden, fand einer der Männer das kleine Skelett. Ein bisschen Fell klebte noch daran. Er warf es in den Mülleimer.
Als der Mann weg war, fischte Breavman es aus dem Müll und rannte zu Krantz. Er behauptete, es sei das Skelett der ersten Ratte, Krantz könne jetzt das Begräbnis veranstalten. Krantz meinte, er könne auf ein stinkendes altes Skelett verzichten, er habe ja eine lebende Ratte. Breavman sagte, das sei in Ordnung, aber er müsse zugeben, dass sie jetzt quitt seien. Krantz war einverstanden.
Breavman begrub es unter den Stiefmütterchen, von denen sich sein Vater jeden Morgen eine Blüte für das Knopfloch pflückte. Breavman interessierte sich mehr als zuvor für ihren Geruch.
7
Kehr zurück, gestrenge Bertha, kehr zurück und lock mich noch einmal auf deinen Folterbaum. Zerr mich aus den Betten der leichten Frauen und nimm, was dir gebührt. Mein Mädchen von heute Nacht betrügt den Mann, der ihr die Miete bezahlt.
Oft beschwor Breavman in seinem dritten Jahrzehnt den Geist von Bertha, wenn er morgens aufwachte.
Seine Knochen sind wieder hühnerdünn. Die mächtige semitische Nase schrumpft auf kindliches Maß, als wäre er überhaupt kein Jude. Mit den Jahren fliegt seine Körperbehaarung davon, wie Gräser in einer austrocknenden Oase. Er ist so leicht, dass er sich an Schubkarrengriffen und Apfelzweigen halten kann. Japaner und Deutsche sind wieder im Unrecht.
»Bertha, spielst du es mir jetzt vor?«
Er ist ihr in die heiklen Bereiche des Baums gefolgt.
»Noch höher!«, befiehlt sie.
Sogar die Äpfel zittern. Auf ihrer Flöte blitzt die Sonne, ein metallischer Augenblick auf einem polierten Holzinstrument.
»Jetzt gleich?«
»Erst musst du etwas über Gott sagen.«
»Gott ist ein Wichser.«
»Schwach. Dafür spiele ich nicht.«
Der Himmel ist blau, die Wolken ziehen vorüber. Kilometerweit unten verfault das Fallobst.
»Fisch dich, Gott.«
»Zieh jetzt nicht den Schwanz ein! Sag etwas Schreckliches, etwas furchtbar Schmutziges. Sag das richtige Wort.«
»Fick dich, Gott.«
Er wartet auf den feurigen Wind, der ihn aus seinem hohen Sitz heraushebt, um seine Gliedmaßen einzeln auf die Wiese hinabzuschleudern.
»Mein GOTT, fick dich!«
Breavman entdeckt Krantz, der neben einem aufgerollten Schlauch liegt und einen Baseball auseinandernimmt.
»Hör dir das an, Krantz. FICK DICH, GOTT!«
Noch nie hat seine Stimme so rein geklungen. Die Luft wie ein Verstärker.
Bertha ändert vorsichtig ihre Stellung und schlägt ihm mit der Flöte ins Gesicht.
»Schmutziges Mundwerk.«
»Es war deine Idee.«
Weil sie fromm ist, schlägt sie ihn noch einmal auf die Wange. Sie stürzt zwischen den Ästen hindurch, reißt Äpfel mit. Kein Laut von ihr, als sie fällt.
Krantz und Breavman können nur ganz kurz hinsehen. Sie liegt in einer Position, die sie im Turnunterricht nie zustande gebracht hat. Durch die Drahtbrille, die heil geblieben ist, wirkt ihr schlichtes angelsächsisches Gesicht erst recht betäubt. Am Arm hat ein scharfer Knochen die Haut durchbohrt.
Als der Krankenwagen weg war, flüsterte Breavman.
»Meine Stimme hat eine besondere Kraft, Krantz.«
»Nein, das hat sie nicht.«
»Doch. Ich kann damit Dinge bewegen.«
»Du spinnst doch.«
»Willst du hören, was ich mir vorgenommen habe?«
»Nein.«
»Ich werde eine Woche lang nicht sprechen. Und ich gelobe, dass ich versuche, ihr Instrument zu lernen, damit die Zahl der Menschen, die es spielen können, unverändert bleibt.«
»Und was soll das?«
»Aber Krantz, das liegt doch auf der Hand.«
8
Sein Vater beschloss, sich aus dem Sessel zu erheben.
»Ich rede mit dir, Lawrence!«
»Dein Vater redet mit dir, Lawrence«, übersetzte seine Mutter.
Breavman versuchte es mit einer letzten, verzweifelten Pantomime.
»Hör doch nur, wie schwer dein Vater atmet.«
Der ältere Breavman überschlug, wie viel Kraft es ihn kosten würde, nahm das Risiko auf sich und schlug seinem Sohn mit dem Handrücken ins Gesicht.
Er konnte sogar noch »Old BlackJoe«üben, seine Lippen waren kaum geschwollen.
Dann hieß es, sie würde überleben. Trotzdem gab er nicht auf. Dann war es eben einer zu viel.
9
Es gab keine schöneren Feinde als Japaner und Deutsche. Sie hatten Überbisse oder grausame Monokel und bellten in schlechtem Englisch ihre feuchten Befehle. Sie hatten den Krieg angefangen, weil es in ihrer Natur lag.
Die Schiffe des Roten Kreuzes gehörten versenkt. Alle Fallschirmspringer mussten durchlöchert werden. Ihre Uniformen waren steif und mit Schädeln dekoriert. Sie lachten und legten nicht einmal das Besteck hin, wenn um Gnade gebettelt wurde.
Bei keiner ihrer Kriegshandlungen fehlte die Nahaufnahme von ihrem perversen Grinsen.
Am besten war, dass sie folterten, um an geheime Informationen heranzukommen, um Seife herzustellen, um ein Exempel zu statuieren in Städten, die voller Helden waren. Meistens allerdings folterten sie, weil es ihnen Spaß machte. Es lag in ihrer Natur.
In Comics, Filmen und Radioprogrammen drehte sich alles um die unterhaltsame Tatsache, dass gefoltert wurde.
Nichts faszinierte die Kinder so wie eine gute Foltergeschichte. Mit reinem Gewissen und patriotischem Mut träumten die Kinder von Folter, unterhielten sich darüber und führten Orgienspiele körperlicher Peinigung auf. Die Fantasie wurde geweckt und lud zu einer Erkundungsreise vom Kalvarienberg bis nach Dachau ein.
In Europa verhungerten die Kinder und sahen zu, wie ihre Eltern Kriegspläne schmiedeten und untergingen. Wir dagegen wuchsen mit Spielzeugpeitschen auf. Irgendwann werden sie an die Macht kommen, die Kriegsbabys. Das nur zur Warnung.
10
Sie hatten Lisa, sie hatten eine Garage. Was sie brauchten, war eine rote Kordel, wegen des Bluts. Ohne die rote Kordel hatte es keinen Sinn, in die tiefe
Garage zu gehen.
Breavman erinnerte sich, dass da ein Knäuel war.
Von der Schublade in der Küche ist es nur ein kurzer Weg zum Abfalleimer, von dort zur großen Mülltonne draußen, weiter zu den großen, automatischen Müllwagen mit ihren Gürteltierpanzern, weiter zu den geheimnisvollen, stinkenden Müllhalden am Ufer des St.-Lorenz- Stroms.
»Wie wär es mit einem Glas Kakao?«
Wenn seine Mutter doch ein Gespür dafür hätte, was gerade wichtig ist.
Selbst wenn man in größter Eile ist, kann man nicht umhin, die perfekte Unordnung in der Küchenschublade zu bewundern.
Es befinden sich darin, nebst einer Schachtel mit wirrer Kordel, die Stummel von Sabbatkerzen, die seit Jahren auf ihren Einsatz warten, denn der nächste Orkan kommt bestimmt; und Messingschlüssel zu Schlössern, die längst ausgewechselt worden sind (schwierig, etwas wegzuwerfen, das so genau und kunstvoll gearbeitet ist); und wunderbar gerade Stifte mit tintenverklebten Spitzen, die man durchaus hätte säubern können (so befand die Mutter dem Hausmädchen gegenüber); Zahnstocher, die nie zum Einsatz kamen (zumindest nicht zwischen den Zähnen); eine kaputte Schere (die gute lag in einer anderen Schublade und war auch nach zehn Jahren noch »die neue Schere«); ausgeleierte Gummibänder von Einmachgläsern (eingelegte Tomaten, grün, prall und bösartig); Knäufe, Schraubenmuttern und der ganze häusliche Rest, den nur der Geiz vor dem Untergang schützt.
Blind wühlte er in der Schachtel, denn die Lade ging nicht ganz auf.
»Wie wär es mit einem Plätzchen, einem Stück Honigkuchen? Da ist noch eine ganze Büchse Makronen.«
Na endlich! Knallig rot.
In seiner Fantasie beginnen die roten Flecken auf Lisas Haut bereits zu tanzen.
»Erdbeeren«, ruft ihm die Mutter hinterher, und es klingt nach Abschied.
Kinder haben eine bestimmte Art, Garagen, Scheunen und Dachböden zu betreten, die gleiche Art, in der sie auch Säle und Hauskapellen betreten. Garagen, Scheunen und Dachböden sind immer älter als die Gebäude, zu denen sie gehören. In ihnen herrscht die schummrige, Ehrfurcht einflößende Atmosphäre von riesigen Küchenschubladen. Sie sind wie Museen, nur einladender.
Es war dunkel und roch nach Öl und dem Laub des vergangenen Jahres, das in dünne Splitter zerfiel, wenn man es anrührte. Feuchter Glanz schimmerte auf Blechresten, Dosen und Schaufelkanten.
»Du bist der Amerikaner«, sagte Krantz.
»Nein, bin ich nicht«, sagte Lisa.
»Du bist der Amerikaner«, sagte auch Breavman. »Zwei gegen einen.«
Breavman und Krantz legten ein schweres Ratter-Ratter hin. Lisa stürzte in einem waghalsigen Manöver durch die Dunkelheit, die Arme ausgestreckt.
»Ä-ä-ä-ä-ä-ä«, stotterten ihre Maschinengewehre.
Sie ist getroffen.
Sie ging in einen spektakulären Sturzflug und betätigte im letzten Moment den Schleudersitz. Von einem Fuß auf den anderen wankend, trudelte sie vom Himmel herab, sah in die Tiefe und wusste, dass es um sie geschehen war.
Wunderschön, wie sie tanzt, dachte Breavman.
Lisa sah die Deutschen kommen.
»Achtung, Heil Hitler! Sie sind Gefangener des Dritten Reiches.«
»Ich habe die Pläne verschluckt.«
»Wirrr chaben unserrre Methoden.«
Sie wird zur Liege abgeführt, muss sich auf den Bauch legen.
»Nur auf den Po.«
Oh Mann, sind die weiß, so durch und durch weiß.
Schmerzlos fuhren die Peitschenhiebe auf ihre Po- backen hinab, die rote Kordel.
»Umdrehen«, befahl Breavman.
»Aber wir haben doch gesagt: nur auf den Po!«, protestierte Lisa.
»Das war letztes Mal«, sagte Krantz, der alles sehr genau nahm.
Also musste sie ihr Hemd ausziehen, und die Liege war nicht mehr zu sehen, sie schwebte in herbstlicher Düsternis, einen knappen Meter über dem Plattenboden der Garage.
O ja, ja, ja.
Das Auspeitschen überließ Breavman seinem Freund. Aus ihren Poren wuchsen weiße Blüten.
»Was hat er denn? Ich ziehe mich wieder an.«
»Das Dritte Reich duldet keine Verweigerung des Gehorsams«, sagte Krantz.
»Wollen wir sie festhalten?«, fragte Breavman.
»Dann schreit sie bestimmt los.«
Da das Spiel vorbei war, mussten sie sich umdrehen, während sie ihr Kleid überzog. Sonnenstrahlen fielen herein, als sie das Tor öffnete, und die Garage war wieder eine Garage. Schweigend saßen sie da. Die rote Peitsche war verschwunden.
»Gehen wir, Breavman.«
»Sie ist makellos, findest du nicht?«
»Was soll makellos an ihr sein?«
»Du hast sie doch gesehen. Sie ist makellos.«
»Wir sehen uns, Breavman.«
Breavman lief ihm durch den Garten hinterher.
»Krantz, hast du denn nicht gesehen, wie makellos sie ist?«
Krantz steckte sich die Finger in die Ohren. Sie kamen an Berthas Baum vorbei. Krantz fing an zu rennen.
»Gib zu, Krantz, sie ist wirklich makellos.«
Aber Krantz war schneller.
11
Eine von Breavmans frühen Sünden bestand darin, einen Blick auf die Pistole zu werfen, die sein Vater im Nachttisch aufbewahrte, zwischen sich und seiner Frau.
Es war eine schwere 38er in einem dicken Lederetui. Auf der Trommel waren Name, Rang und Regiment eingraviert. Die tödliche, kantige Waffe, scharf und gefährlich, lag wie ein Schwelbrand in der Schublade. Das Metall war immer kalt.
Wenn Breavman sie spannte, entstand ein wunderbarer, mörderischer Laut höchsten technischen Anspruchs. Klick! Wie das Schmatzen eines Zahnrads.
Man konnte die kleinen stumpfen Patronen mit dem Fingernagel anritzen.
Wenn jetzt die Deutschen die Straße heraufkämen ...
Als sein Vater heiratete, schwor er, jeden zu töten, der es wagen würde, sich an seine Frau heranzumachen. Wenn seine Mutter die Geschichte erzählte, hörte sie sich wie ein Witz an. Breavman aber nahm es ihm ab. Er konnte den Haufen förmlich sehen, auf dem die Leichen all jener Männer lagen, die ihr jemals zugelächelt hatten.
Copyright der deutschsprachigen Originalausgabe © 2009 by Blumenbar Verlag, München
Hatte sie eine entdeckt, dann betrachtete sie die Öle und Cremes, die festungsartig auf einem Glastablett arrangiert waren, und stieß einen Seufzer aus. Sie vollzog die Salbung, aber ihr fehlte der Glaube.
»Das ist nicht mein Gesicht, nicht mein wahres.«
»Wo ist dein wahres Gesicht, Mutter?«
»Sieh mich nur an. Sehe ich wirklich so aus?«
»Wo ist es, wo ist dein wahres Gesicht?«
»Weiß nicht, in Russland, ich war noch so jung.«
Er zog den riesigen Atlas aus dem Regal und ließ sich damit fallen. Wie ein Goldsucher wischte er über die Seiten, bis er schließlich Russland fand, farblos und unermesslich groß. Er kniete über dem weiten Land und suchte, bis ihm die Augen schwammen, bis sich Seen und Flüsse und Städtenamen zu einem Gesicht zusammenfügten, das unglaublich schön war, zart und flüchtig.
Das Kindermädchen musste ihn zum Abendessen zerren. Über Silberbesteck und vollgeladenen Tellern schwebte das Gesicht einer Dame.
3
Sein Vater verbrachte seine Tage im Bett oder in einem Zelt im Krankenhaus. Wenn er sich einmal aufraffte, log er.
Er nahm den Spazierstock ohne Silberbeschlag und führte seinen Sohn über den Mount Royal, wo sich ein prähistorischer Krater befand. In der sanft abschüssigen, grasbewachsenen Senke, die einst mit brodelnder Lava gefüllt war, lagen zwei Kanonen, Geschütze für Eisen-oder Steinkugeln. Breavman hätte sich gern über Gewalt unterhalten.
»Wir kommen wieder her, wenn es mir besser geht.«
Eine seiner Lügen.
Er erklärte Breavman, wie man den Pferden, die neben dem Chalet angebunden waren, die Nasen tätschelt, wie man ihnen auf der flachen Hand Zuckerstückchen reicht.
»Später einmal gehen wir reiten.«
»Du kriegst doch kaum Luft.«
An jenem Abend brach der Vater über einer mit Fähnchen besteckten Landkarte zusammen, auf der er den Krieg nachspielte. Er hatte es nicht mehr geschafft, die Kapseln aufzubrechen und zu inhalieren.
4
Ein Film, in dem seine Familie zu sehen ist, zumindest ihre Körper.
Sein Vater richtet die Kamera auf seine Onkel, die, groß und würdevoll, Blumen an dunklen Revers tragen. Sie kommen auf die Kamera zu und treten in die Unschärfe.
Ihre Frauen sehen steif und traurig aus. Seine Mutter tritt, während sie die Tanten ins Bild nötigt, einen Schritt zurück. Sie steht im Hintergrund, ihr Lächeln und ihre Schultern erschlaffen. Sie glaubt, im unscharfen Bereich zu sein.
Breavman hält den Film an, um sie genauer zu betrachten. Als der Film zu schmelzen beginnt, wird ihr Gesicht von einem Flecken zerfressen, dessen orangefarbener Rand sich immer weiter ausbreitet.
Seine Großmutter sitzt im Schatten des steinernen Balkons und lässt sich von den Tanten die Babys zeigen. Ein silbernes Teeservice glänzt prächtig in frühem Technicolor.
Sein Großvater schreitet eine Reihe von Kindern ab. Als er gerade anerkennend nicken will, richtet die technisch bedingte orangefarbene Flamme Verheerendes an.
Breavman sucht seine Geschichte und zerstört dabei den Film.
Breavman und seine Cousins tragen kurze, ritterliche Kämpfe aus. Die Mädchen machen Knickse. Ein Kind nach dem anderen wird aufgefordert, über den Plattenweg zu hüpfen.
Ein schüchterner, dankbarer Gärtner wird ins Helle geführt, um mit den besseren Ständen verewigt zu werden.
Dicht an dicht steht ein ganzes Bataillon von Ehefrauen, dezimiert vom Rand des Bildes. Zu den Ersten, die fallen, gehört seine Mutter.
Dann sieht er Schuhe und unscharfes Gras. Sein Vater hat einen seiner Anfälle.
»Hilfe!«
An seinen Füßen flackert gewundenes Zelluloid. Er tanzt, bis er von Nursie und dem Kindermädchen gerettet und von seiner Mutter bestraft wird.
Der Film läuft Tag und Nacht. Sei vorsichtig, mein Blut, sei vorsichtig.
5
Die Breavmans haben beinahe alle Einrichtungen gestiftet und geleitet, die die jüdische Gemeinde von Montreal zu einer der einflussreichsten der Welt gemacht haben.
In der Stadt erzählt man sich diesen Witz: dass die Juden das Gewissen der Welt sind und die Breavmans das Gewissen der Juden. »Und ich bin das Gewissen der Breavmans«, fügt Lawrence Breavman hinzu. »Wir sind tatsächlich die letzten Juden; eigentlich sind wir Überchristen, erste Bürger mit gestutzten Zacken.«
Inzwischen hört man, wenn sich jemand die Mühe macht, eine Meinung zu äußern, dass es mit den Breavmans bergab geht. »Nehmt euch in Acht«, warnt Breavman seine geschäftstüchtigen Cousins, »sonst sprechen eure Kinder bald mit Akzent.«
Vor zehn Jahren hat Breavman den Kodex der Breavmans zusammengetragen:
Wir sind viktorianische Herrschaften hebräischen Glaubens.
Wenn wir es auch nicht beweisen können, so sind wir doch überzeugt, dass alle anderen Juden, die es zu etwas gebracht haben, ihr Geld auf dem Schwarzmarkt verdient haben.
Wir suchen keinen Zutritt zu christlichen Vereinigungen und wünschen nicht, dass unser Blut durch Mischehen geschwächt wird. Wir möchten als Angehörige der Oberschicht wahrgenommen zu werden, vereint durch Stand, Bildung und Macht. Was uns besonders macht, sind die häuslichen Rituale.
Jeder Kontakt mit Unbeschnittenen gilt als Übertretung.
Wir trinken weniger als ihr und haben die Zivilisation lange vor euch entdeckt, ihr mieses, blutrünstiges Säufer- pack.
6
Eine Ratte ist lebendiger als eine Schildkröte.
Eine Schildkröte ist langsam, kalt, wie eine Maschine oder ein Spielzeug, ein Panzer mit Beinen. Es macht nichts, wenn sie stirbt. Aber eine weiße Ratte ist flink und warm unter der dünnen Haut.
Krantz hielt seine in einem Radiogehäuse. Breavmans hielt seine in einem hohen Honigeimer. Als Krantz über die Feiertage wegfuhr, bat er Breavman, auf seine aufzupassen. Breavman warf sie zu seiner eigenen.
Ratten füttern macht richtig Arbeit. Man muss in den Keller hinuntergehen. Er vergaß das eine Zeit lang. Bald wollte er gar nicht mehr an den Honigeimer denken und mied die Kellertreppe.
Schließlich ging er doch hinunter. Aus dem Eimer drang ein übler Gestank. Er wünschte, es wäre noch Honig drin. Er sah hinein. Die eine Ratte hatte fast den ganzen Bauch der anderen gefressen. Es spielte keine Rolle mehr, welche von den beiden ihm gehörte. Die überlebende Ratte sprang ihn an. Keine Frage, sie war verrückt geworden.
Weil es so stank, trug er den Eimer mit ausgestreckten Armen vor sich her und füllte ihn mit Wasser. Die tote Ratte schwamm obenauf, sodass das Loch zwischen Rippen und Hinterbeinen zu sehen waren. Die überlebende kratzte am Blech.
Er wurde zum Mittagessen gerufen. Als Vorspeise gab es Mark. Sein Vater löste es aus dem hohlen Knochen. Es kam aus dem Inneren eines Tiers.
Als er wieder in den Keller ging, trieben beide Ratten an der Oberfläche. Er schüttete den Eimer an der Einfahrt aus und bedeckte sie mit Schnee. Er erbrach sich und bedeckte auch das mit Schnee.
Krantz war sauer. Er wollte zumindest ein richtiges Begräbnis veranstalten, aber sie fanden die Leichen nicht, es hatte so stark geschneit.
Im Frühjahr machten sie sich über die dreckigen Schneehaufen her, die wie Inseln in der Einfahrt lagen. Nichts. Krantz meinte, da die Dinge nun so lägen, schulde Breavman ihm Geld für eine weiße Ratte. Er habe ihm seine geliehen und nichts zurückerhalten, nicht einmal ein Skelett. Breavman sagte, dass ein Krankenhaus auch nicht zahle, wenn jemand dort gestorben sei. Krantz sagte, wenn man jemandem eine Sache leihe, dann müsse die Person, die sie verloren habe, dafür bezahlen. Breavman sagte, wenn es aber lebe, dann sei es keine Sache, außerdem habe er ihm einen Gefallen getan, als er die Ratte zu sich genommen habe. Krantz meinte, eine Ratte umzubringen sei kein Gefallen. Sie fochten es im nassen Kies aus, dann gingen sie in die Stadt und kauften neue Ratten.
Die von Breavman entkam und lebte eine Weile in einem Einbauschrank unter der Treppe. Im Schein der Taschenlampe sah er ihre Augen. Ein paar Mal legte er morgens Puffreis vor der Tür aus, der angeknabbert wurde. Dann kümmerte er sich nicht mehr darum.
Als am Sommeranfang die Fensterläden verstaut wurden, fand einer der Männer das kleine Skelett. Ein bisschen Fell klebte noch daran. Er warf es in den Mülleimer.
Als der Mann weg war, fischte Breavman es aus dem Müll und rannte zu Krantz. Er behauptete, es sei das Skelett der ersten Ratte, Krantz könne jetzt das Begräbnis veranstalten. Krantz meinte, er könne auf ein stinkendes altes Skelett verzichten, er habe ja eine lebende Ratte. Breavman sagte, das sei in Ordnung, aber er müsse zugeben, dass sie jetzt quitt seien. Krantz war einverstanden.
Breavman begrub es unter den Stiefmütterchen, von denen sich sein Vater jeden Morgen eine Blüte für das Knopfloch pflückte. Breavman interessierte sich mehr als zuvor für ihren Geruch.
7
Kehr zurück, gestrenge Bertha, kehr zurück und lock mich noch einmal auf deinen Folterbaum. Zerr mich aus den Betten der leichten Frauen und nimm, was dir gebührt. Mein Mädchen von heute Nacht betrügt den Mann, der ihr die Miete bezahlt.
Oft beschwor Breavman in seinem dritten Jahrzehnt den Geist von Bertha, wenn er morgens aufwachte.
Seine Knochen sind wieder hühnerdünn. Die mächtige semitische Nase schrumpft auf kindliches Maß, als wäre er überhaupt kein Jude. Mit den Jahren fliegt seine Körperbehaarung davon, wie Gräser in einer austrocknenden Oase. Er ist so leicht, dass er sich an Schubkarrengriffen und Apfelzweigen halten kann. Japaner und Deutsche sind wieder im Unrecht.
»Bertha, spielst du es mir jetzt vor?«
Er ist ihr in die heiklen Bereiche des Baums gefolgt.
»Noch höher!«, befiehlt sie.
Sogar die Äpfel zittern. Auf ihrer Flöte blitzt die Sonne, ein metallischer Augenblick auf einem polierten Holzinstrument.
»Jetzt gleich?«
»Erst musst du etwas über Gott sagen.«
»Gott ist ein Wichser.«
»Schwach. Dafür spiele ich nicht.«
Der Himmel ist blau, die Wolken ziehen vorüber. Kilometerweit unten verfault das Fallobst.
»Fisch dich, Gott.«
»Zieh jetzt nicht den Schwanz ein! Sag etwas Schreckliches, etwas furchtbar Schmutziges. Sag das richtige Wort.«
»Fick dich, Gott.«
Er wartet auf den feurigen Wind, der ihn aus seinem hohen Sitz heraushebt, um seine Gliedmaßen einzeln auf die Wiese hinabzuschleudern.
»Mein GOTT, fick dich!«
Breavman entdeckt Krantz, der neben einem aufgerollten Schlauch liegt und einen Baseball auseinandernimmt.
»Hör dir das an, Krantz. FICK DICH, GOTT!«
Noch nie hat seine Stimme so rein geklungen. Die Luft wie ein Verstärker.
Bertha ändert vorsichtig ihre Stellung und schlägt ihm mit der Flöte ins Gesicht.
»Schmutziges Mundwerk.«
»Es war deine Idee.«
Weil sie fromm ist, schlägt sie ihn noch einmal auf die Wange. Sie stürzt zwischen den Ästen hindurch, reißt Äpfel mit. Kein Laut von ihr, als sie fällt.
Krantz und Breavman können nur ganz kurz hinsehen. Sie liegt in einer Position, die sie im Turnunterricht nie zustande gebracht hat. Durch die Drahtbrille, die heil geblieben ist, wirkt ihr schlichtes angelsächsisches Gesicht erst recht betäubt. Am Arm hat ein scharfer Knochen die Haut durchbohrt.
Als der Krankenwagen weg war, flüsterte Breavman.
»Meine Stimme hat eine besondere Kraft, Krantz.«
»Nein, das hat sie nicht.«
»Doch. Ich kann damit Dinge bewegen.«
»Du spinnst doch.«
»Willst du hören, was ich mir vorgenommen habe?«
»Nein.«
»Ich werde eine Woche lang nicht sprechen. Und ich gelobe, dass ich versuche, ihr Instrument zu lernen, damit die Zahl der Menschen, die es spielen können, unverändert bleibt.«
»Und was soll das?«
»Aber Krantz, das liegt doch auf der Hand.«
8
Sein Vater beschloss, sich aus dem Sessel zu erheben.
»Ich rede mit dir, Lawrence!«
»Dein Vater redet mit dir, Lawrence«, übersetzte seine Mutter.
Breavman versuchte es mit einer letzten, verzweifelten Pantomime.
»Hör doch nur, wie schwer dein Vater atmet.«
Der ältere Breavman überschlug, wie viel Kraft es ihn kosten würde, nahm das Risiko auf sich und schlug seinem Sohn mit dem Handrücken ins Gesicht.
Er konnte sogar noch »Old BlackJoe«üben, seine Lippen waren kaum geschwollen.
Dann hieß es, sie würde überleben. Trotzdem gab er nicht auf. Dann war es eben einer zu viel.
9
Es gab keine schöneren Feinde als Japaner und Deutsche. Sie hatten Überbisse oder grausame Monokel und bellten in schlechtem Englisch ihre feuchten Befehle. Sie hatten den Krieg angefangen, weil es in ihrer Natur lag.
Die Schiffe des Roten Kreuzes gehörten versenkt. Alle Fallschirmspringer mussten durchlöchert werden. Ihre Uniformen waren steif und mit Schädeln dekoriert. Sie lachten und legten nicht einmal das Besteck hin, wenn um Gnade gebettelt wurde.
Bei keiner ihrer Kriegshandlungen fehlte die Nahaufnahme von ihrem perversen Grinsen.
Am besten war, dass sie folterten, um an geheime Informationen heranzukommen, um Seife herzustellen, um ein Exempel zu statuieren in Städten, die voller Helden waren. Meistens allerdings folterten sie, weil es ihnen Spaß machte. Es lag in ihrer Natur.
In Comics, Filmen und Radioprogrammen drehte sich alles um die unterhaltsame Tatsache, dass gefoltert wurde.
Nichts faszinierte die Kinder so wie eine gute Foltergeschichte. Mit reinem Gewissen und patriotischem Mut träumten die Kinder von Folter, unterhielten sich darüber und führten Orgienspiele körperlicher Peinigung auf. Die Fantasie wurde geweckt und lud zu einer Erkundungsreise vom Kalvarienberg bis nach Dachau ein.
In Europa verhungerten die Kinder und sahen zu, wie ihre Eltern Kriegspläne schmiedeten und untergingen. Wir dagegen wuchsen mit Spielzeugpeitschen auf. Irgendwann werden sie an die Macht kommen, die Kriegsbabys. Das nur zur Warnung.
10
Sie hatten Lisa, sie hatten eine Garage. Was sie brauchten, war eine rote Kordel, wegen des Bluts. Ohne die rote Kordel hatte es keinen Sinn, in die tiefe
Garage zu gehen.
Breavman erinnerte sich, dass da ein Knäuel war.
Von der Schublade in der Küche ist es nur ein kurzer Weg zum Abfalleimer, von dort zur großen Mülltonne draußen, weiter zu den großen, automatischen Müllwagen mit ihren Gürteltierpanzern, weiter zu den geheimnisvollen, stinkenden Müllhalden am Ufer des St.-Lorenz- Stroms.
»Wie wär es mit einem Glas Kakao?«
Wenn seine Mutter doch ein Gespür dafür hätte, was gerade wichtig ist.
Selbst wenn man in größter Eile ist, kann man nicht umhin, die perfekte Unordnung in der Küchenschublade zu bewundern.
Es befinden sich darin, nebst einer Schachtel mit wirrer Kordel, die Stummel von Sabbatkerzen, die seit Jahren auf ihren Einsatz warten, denn der nächste Orkan kommt bestimmt; und Messingschlüssel zu Schlössern, die längst ausgewechselt worden sind (schwierig, etwas wegzuwerfen, das so genau und kunstvoll gearbeitet ist); und wunderbar gerade Stifte mit tintenverklebten Spitzen, die man durchaus hätte säubern können (so befand die Mutter dem Hausmädchen gegenüber); Zahnstocher, die nie zum Einsatz kamen (zumindest nicht zwischen den Zähnen); eine kaputte Schere (die gute lag in einer anderen Schublade und war auch nach zehn Jahren noch »die neue Schere«); ausgeleierte Gummibänder von Einmachgläsern (eingelegte Tomaten, grün, prall und bösartig); Knäufe, Schraubenmuttern und der ganze häusliche Rest, den nur der Geiz vor dem Untergang schützt.
Blind wühlte er in der Schachtel, denn die Lade ging nicht ganz auf.
»Wie wär es mit einem Plätzchen, einem Stück Honigkuchen? Da ist noch eine ganze Büchse Makronen.«
Na endlich! Knallig rot.
In seiner Fantasie beginnen die roten Flecken auf Lisas Haut bereits zu tanzen.
»Erdbeeren«, ruft ihm die Mutter hinterher, und es klingt nach Abschied.
Kinder haben eine bestimmte Art, Garagen, Scheunen und Dachböden zu betreten, die gleiche Art, in der sie auch Säle und Hauskapellen betreten. Garagen, Scheunen und Dachböden sind immer älter als die Gebäude, zu denen sie gehören. In ihnen herrscht die schummrige, Ehrfurcht einflößende Atmosphäre von riesigen Küchenschubladen. Sie sind wie Museen, nur einladender.
Es war dunkel und roch nach Öl und dem Laub des vergangenen Jahres, das in dünne Splitter zerfiel, wenn man es anrührte. Feuchter Glanz schimmerte auf Blechresten, Dosen und Schaufelkanten.
»Du bist der Amerikaner«, sagte Krantz.
»Nein, bin ich nicht«, sagte Lisa.
»Du bist der Amerikaner«, sagte auch Breavman. »Zwei gegen einen.«
Breavman und Krantz legten ein schweres Ratter-Ratter hin. Lisa stürzte in einem waghalsigen Manöver durch die Dunkelheit, die Arme ausgestreckt.
»Ä-ä-ä-ä-ä-ä«, stotterten ihre Maschinengewehre.
Sie ist getroffen.
Sie ging in einen spektakulären Sturzflug und betätigte im letzten Moment den Schleudersitz. Von einem Fuß auf den anderen wankend, trudelte sie vom Himmel herab, sah in die Tiefe und wusste, dass es um sie geschehen war.
Wunderschön, wie sie tanzt, dachte Breavman.
Lisa sah die Deutschen kommen.
»Achtung, Heil Hitler! Sie sind Gefangener des Dritten Reiches.«
»Ich habe die Pläne verschluckt.«
»Wirrr chaben unserrre Methoden.«
Sie wird zur Liege abgeführt, muss sich auf den Bauch legen.
»Nur auf den Po.«
Oh Mann, sind die weiß, so durch und durch weiß.
Schmerzlos fuhren die Peitschenhiebe auf ihre Po- backen hinab, die rote Kordel.
»Umdrehen«, befahl Breavman.
»Aber wir haben doch gesagt: nur auf den Po!«, protestierte Lisa.
»Das war letztes Mal«, sagte Krantz, der alles sehr genau nahm.
Also musste sie ihr Hemd ausziehen, und die Liege war nicht mehr zu sehen, sie schwebte in herbstlicher Düsternis, einen knappen Meter über dem Plattenboden der Garage.
O ja, ja, ja.
Das Auspeitschen überließ Breavman seinem Freund. Aus ihren Poren wuchsen weiße Blüten.
»Was hat er denn? Ich ziehe mich wieder an.«
»Das Dritte Reich duldet keine Verweigerung des Gehorsams«, sagte Krantz.
»Wollen wir sie festhalten?«, fragte Breavman.
»Dann schreit sie bestimmt los.«
Da das Spiel vorbei war, mussten sie sich umdrehen, während sie ihr Kleid überzog. Sonnenstrahlen fielen herein, als sie das Tor öffnete, und die Garage war wieder eine Garage. Schweigend saßen sie da. Die rote Peitsche war verschwunden.
»Gehen wir, Breavman.«
»Sie ist makellos, findest du nicht?«
»Was soll makellos an ihr sein?«
»Du hast sie doch gesehen. Sie ist makellos.«
»Wir sehen uns, Breavman.«
Breavman lief ihm durch den Garten hinterher.
»Krantz, hast du denn nicht gesehen, wie makellos sie ist?«
Krantz steckte sich die Finger in die Ohren. Sie kamen an Berthas Baum vorbei. Krantz fing an zu rennen.
»Gib zu, Krantz, sie ist wirklich makellos.«
Aber Krantz war schneller.
11
Eine von Breavmans frühen Sünden bestand darin, einen Blick auf die Pistole zu werfen, die sein Vater im Nachttisch aufbewahrte, zwischen sich und seiner Frau.
Es war eine schwere 38er in einem dicken Lederetui. Auf der Trommel waren Name, Rang und Regiment eingraviert. Die tödliche, kantige Waffe, scharf und gefährlich, lag wie ein Schwelbrand in der Schublade. Das Metall war immer kalt.
Wenn Breavman sie spannte, entstand ein wunderbarer, mörderischer Laut höchsten technischen Anspruchs. Klick! Wie das Schmatzen eines Zahnrads.
Man konnte die kleinen stumpfen Patronen mit dem Fingernagel anritzen.
Wenn jetzt die Deutschen die Straße heraufkämen ...
Als sein Vater heiratete, schwor er, jeden zu töten, der es wagen würde, sich an seine Frau heranzumachen. Wenn seine Mutter die Geschichte erzählte, hörte sie sich wie ein Witz an. Breavman aber nahm es ihm ab. Er konnte den Haufen förmlich sehen, auf dem die Leichen all jener Männer lagen, die ihr jemals zugelächelt hatten.
Copyright der deutschsprachigen Originalausgabe © 2009 by Blumenbar Verlag, München
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Autoren-Porträt von Leonard Cohen
Leonard Cohen, geboren 1934 in Montreal als Sohn jüdischer Eltern, ist einer der populärsten Dichter, Sänger und Songwriter der Gegenwart und gilt als lebende Legende. Er veröffentlichte siebzehn Schallplatten und elf Bücher. Hens, GregorGregor Hens wurde 1965 in Köln geboren, studierte Sprach- und Literaturwissenschaften in Bonn, Missouri und Kalifornien (Berkeley). Er lebt in Columbus/Ohio, wo er Germanistik lehrt, und in Berlin. Sein erster Roman, "Himmelssturz", wurde als "Meisterwerk" (Süddeutsche Zeitung) gefeiert.
Bibliographische Angaben
- Autor: Leonard Cohen
- 2011, 318 Seiten, Maße: 11,9 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Gregor Hens
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442742226
- ISBN-13: 9783442742226
- Erscheinungsdatum: 07.04.2011
Rezension zu „Das Lieblingsspiel “
»Wer aus Cohens federleicht-raffinierten Roman wieder auftaucht, hat den Eindruck, die Welt sei nicht so genussvoll zu bewältigen, wie in diesem Buch.« Hans-Peter Kunisch, Die Weltwoche
Pressezitat
»Wer aus Cohens federleicht-raffinierten Roman wieder auftaucht, hat den Eindruck, die Welt sei nicht so genussvoll zu bewältigen, wie in diesem Buch.« Hans-Peter Kunisch, Die Weltwoche
Kommentar zu "Das Lieblingsspiel"
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