Das Orakel von Port-Nicolas
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Auch ihr neuer Krimi lebt von der "Magie Vargas", die schon über 100.000 deutsche Leser in Bann gezogen hat. Wieder dabei: Kommissar Kehlweiler und die drei Historiker
Ex-Inspektor Louis Kehlweiler sitzt auf Bank 102 an der Pariser Place de la Contrescarpe - um sich die Arbeit zu erleichtern, haben er und seine langjährige Freundin, die alte Hure Marthe, die wichtigsten Bänke der Stadt numeriert - und beobachtet ein Haus. Das heißt, eigentlich sitzt er da und beantwortet Marthes Kreuzworträtselfragen, als sein Blick auf einen winzigen weißen Gegenstand fällt: ein blankgewaschenes Knöchelchen, wie es scheint. Doch man muß schon Kehlweilers blühende Phantasie haben, um daran etwas Ungewöhnliches zu finden. Nachwenigen Tagen hat er dank seiner alten, nicht immer ganz legalen Beziehungen heraus, daß es sich um den kleinen Zeh einer Frau handelt, der von einem Hund verdaut worden ist. Doch eine dazugehörige Leiche gibt es nicht im ganzen Arrondissement - dafür jede Menge Hundehalter, die zu beobachten und deren Gewohnheiten herauszufinden Kehlweiler sich vornimmt. Für eine so unspektakuläre Langzeitbeobachtung braucht man Leute. Die hat Kehlweiler (und sie sind für den begeisterten Vargas-Leser keine Unbekannten): drei wissenschaftlich tätige, wenn auch arbeitslose junge Historiker, Mathias, Marc und Lucien. So stößt Kehlweiler schließlich auf einen Pitbullbesitzer, der seine Wochenenden in der Bretagne verbringt. In Port-Nicolas, einem trostlosen Hafenstädtchen, wo in der Tat vor wenigen Tagen eine alte Frau von der Steilküste stürzte ...
DasOrakel von Port-Nicolas von FredVargas
LESEPROBE
»Was machstdu denn hier im Viertel?«
Die alte Marthe schwatzte gern ein bißchen. An diesemAbend hatte sie wenig Gelegenheit dazu gehabt und sich daher am Tresen auf einKreuzworträtsel gestürzt, zusammen mit dem Wirt. Der Wirt war ein braver Mann,aber bei Kreuzworträtseln konnte er einen rasend machen. Seine Antworten lagenimmer daneben, er hielt die Regeln nicht ein, er achtete nicht auf die Anzahlder Felder. Dabei hätte er von Nutzen sein können, er kannte sich in Geographieaus, was komisch war, weil er Paris nie verlassen hatte, genausowenigwie Marthe. Für Fluß in Rußlandmit zwei Buchstaben, senkrecht, hatte er »Jenissej« vorgeschlagen.
Na ja, das war besser, als überhaupt nicht zu reden.
Gegen elf hatte Louis Kehlweiler das Café betreten. Zwei Monate hatte Martheihn jetzt schon nicht mehr gesehen, und im Grunde hatte er ihr gefehlt.Kehlweiler hatte eine Münze in den Flipper geworfen, und Marthe verfolgte denLauf der dicken Kugel. Dieses Idiotenspiel, mit einem Spalt, der extra dazu dawar, die Kugel zu verlieren, mit einer Schräge, die es mit unaufhörlichen Bemühungenzu überwinden galt und die man, kaum war sie erklommen, geradewegs wiederhinunterstürzte, um sich in dem Spalt zu verlieren, der extra dazu da war, -dieses Spiel hatte sie schon immer verdrossen. Es schien ihr, daß die Maschine im Grunde ständig Moralpredigten hielt,eine strenge, ungerechte und deprimierende Moral. Und wenn man ihr mal ausberechtigtem Zorn einen Fausthieb versetzte, tiltetesie, und man wurde bestraft. Und dafür mußte man auchnoch zahlen. Man hatte durchaus versucht, ihr zu erklären, daßes sich dabei um ein Vergnügungsspiel handele, aber da war nichts zu machen, eserinnerte sie an ihren Religionsunterricht.
»Also? Was machst du hier im Viertel?«
»Ich bin gekommen, um nach was zu sehen«, sagte Louis. »Vincent ist wasaufgefallen.«
»Etwas, das sich lohnt?«
Louis antwortete nicht, er mußte sich konzentrieren,die Flipperkugel rollte geradewegs auf das Nichts zu. Er er-wischte sie mit einer Klappe, und sie bewegte sich träge klackernd wiederhinauf.
»Du spielst lahm«, bemerkte Marthe.
»Stimmt, aber du redest ja auch die ganze Zeit.«
»Muß man ja. Wenn du deinen Religionsunterricht dabetreibst, verstehst du nicht, was man dir sagt. Du hast mir nicht geantwortet.Etwas, das sich lohnt?«
»Kann sein. Wird sich zeigen.«
»Was ist es? Politisch, zwielichtig, unbestimmt?«
»Gröl nicht so rum, Marthe. Eines Tages kriegst du noch Schwierigkeiten. Sagenwir, was Ultrareaktionäres an - einem Ort, wo man es nicht vermuten würde. Dasbeschäftigt mich.«
»Was Richtiges?«
»Ja, Marthe. Was Richtiges, mit Siegel und allem Drum und Dran. Natürlich muß man s noch überprüfen.«
»Wo ist das? Bei welcher Bank?«
»Bank 102.«
Louis lächelte und startete eine Kugel. Marthe dachte nach. Sie fand sich nichtmehr zurecht, sie war aus der Übung. Sie verwechselte Bank 102 mit den Bänken107 und 98. Louis hatte es einfacher gefunden, den öffent-lichen Bänken in Paris, die ihm alsBeobachtungsstationen dienten, Nummern zuzuteilen. Den interessanten Bänken,versteht sich. Tatsächlich war das praktischer, als ihre genaue topographischeLage im einzelnen aufzulisten, um so mehr, als dieLage von Bänken im allgemeinen ungenau ist. Aber im Laufe von zwanzig Jahrenhatte es Veränderungen gegeben, Bänke, die in Ruhestand geschickt wurden, undneue, um die man sich kümmern mußte. Man hatte auchBäume numerieren müssen, wenn an Schlüsselstellen derHauptstadt keine Bänke vorhanden waren. Es gab auch vorübergehende Bänke fürkleinere Geschichten. So war man schließlich bei Nr. 137 angekommen, weil eine frü- here Nummer nie wiederverwendet wurde, und das vermischte sich nun in ihremKopf. Aber Louis war dagegen, daß man sich Notizenmachte.
»Ist 102 die mit dem Blumenhändler dahinter?« fragteMarthe stirnrunzelnd.
»Nein, das ist die 107.«
»Mist«, bemerkte Marthe. »Gib mir wenigstens einen aus.«
»Hol dir an der Bar, was du willst. Ich hab noch drei Kugeln zu spielen.«
Marthe war nicht mehr so leistungsfähig. Mit siebzig Jahren konnte sie nichtmehr so wie früher zwischen zwei Kunden in der Stadt umherstreifen. Und außerdemverwechselte sie die Bänke. Aber sie war eben Marthe. Sie brachte nicht mehrviele Informationen, aber sie hatteein hervorragendes Gespür. Ihr letzter Tip warbestimmt zehn Jahre her. Er hatte einen ordentlich heilsamen Schock ausgelöst,und das war ja das Wichtigste.
»Du trinkst zuviel, meine Liebe«, bemerkte Louis, während er am Abzug desFlippers zog.
»Kümmer dich um deine Kugel, Ludwig.«
Marthe nannte ihn Ludwig, und andere nannten ihn Louis. Jeder, wie er wollte,das war er gewohnt. Fünfzig Jahre schwankten die Leute jetzt von einem Vornamenzum anderen. Es gab sogar welche, die nannten ihn Louis-Ludwig. Er fand dasidiotisch, niemand heißt Ludwig-Ludwig.
»Hast du Bufo mitgebracht?«fragte Marthe, als sie mit einem Glas zurückkam.
»Du weißt genau, daß ihr Cafés Angst einjagen.«
»Geht s ihr gut? Klappt s immer noch mit euch beiden?«
»Es ist die große Liebe, Marthe.«
Für einen Moment herrschte Schweigen.
»Man sieht deine Freundin gar nicht mehr«, begann Marthe dann und stützte sichmit dem Ellbogen auf den Flipper.
»Sie ist abgehauen. Nimm deinen Ellbogen da weg, ich sehnichts mehr.«
»Wann?«
»Nimm deinen Ellbogen da weg, verdammt! Heute nachmittag, sie hat ihre Sachen gepackt, als ich wegwar, und hat einen Brief auf dem Bett dagelassen. Na bitte, wegen dir ist jetztdie Kugel weg.«
»Das liegt an deinem lahmen Spiel. Hast du heute mittag wenigstens was gegessen? Wie war der Brief?«
»Erbärmlich. Ja, ich hab gegessen.«
»Es ist nicht leicht, großartige Briefe zu schreiben, wenn man abhaut.«
»Warum? Man braucht bloß zu reden, anstatt zu schreiben.«
Louis lächelte Marthe zu und schlug mit der flachen Hand gegen die Seite desFlippers. Wirklich ein erbärm- licherBrief. O. k., Sonia war gegangen, das war ihr gutes Recht, da brauchte manjetzt nicht ständig drauf zurückzukommen. Sie war gegangen, er war traurig, unddas war alles. Die Welt war wüst genug, da mußte ersich nicht wegen einer Frau aufregen, die gegangen war. Obwohl Traurig wardas natürlich schon.
»Mach dir deswegen keinen Kopf«, sagte Marthe.
»Es tut weh. Und dann gab es dieses Experiment, erinnerst du dich? Es ist schiefgegangen.«
»Was hast du dir erhofft? Daß sie nur wegen deinerVisage bleiben würde? Ich sag nicht, daß du häßlich bist, leg mir nicht in den Mund, was ich nichtgesagt habe.«
»Ich mach ja gar nichts.«
»Aber grüne Augen und all so was reichen nicht aus, Ludwig. Ich hatte auchwelche. Und dein steifes Knie ist offengestanden einHandicap. Es gibt Mädchen, die mögen keine hinkenden Männer. Das nervt sie,merk dir das.«
»Schon geschehen.«
»Mach dir keinen Kopf.«
Louis lachte und strich zärtlich über Marthes alte Hand.
»Ich mach mir keinen Kopf.«
»Wenn du es sagst Willst du, daß ich zur Bank 102gehe?«
»Mach, wie du willst, Marthe. Ich bin nicht der Eigentümer der Pariser Bänke.«
»Du könntest nicht zufällig von Zeit zu Zeit mal Anweisungen erteilen?«
»Nein.«
»Na, da schadest du dir selbst. Das Erteilen von Anweisungen verleiht einemMann ein gewisses Flair. Aber, natürlich, da du schon nicht gehorchen kannst, wüßte ich nicht, wie du befehlen können solltest.«
»Natürlich.«
»Hab ich dir das nicht schon mal gesagt? Diese Methode?«
»Hundertmal, Marthe.«
»Gute Methoden sind unverwüstlich.«
Natürlich hätte er Sonias Weggang verhindern können. Aber er hatte sich auf dasidiotische Experiment »Der Mann, wie er ist« eingelassen, und das Ergebnis lagnun vor ihm, sie war nach fünf Monaten abgehauen. O. k., es reichte jetzt, erhatte genug daran gedacht, er war traurig genug, die Welt war wüst genug, er hattezu tun, in den kleinen Angelegenheiten dieser Welt genau wie in den großen, dakonnte man nicht stundenlang an Sonia und ihren erbärmlichen Brief denken, da mußte anderes getan werden. Aber da oben, in diesemverdammten Ministerium, wo er sich so lange als begehrtes, gehaßtes,unentbehrliches und teuer bezahltes freies Elektron herumgetrieben hatte, warfman ihn raus. Neue Köpfe saßen dort, neue Köpfe von alten Idioten - übrigensnicht alles Idioten, das war das Ärgerliche daran -, die auf die Hilfe vonjemandem, der ein bißchen zu gut Bescheid wußte, nicht mehr scharf waren. Sie entließen ihn, siehegten Miß- trauen, zu Recht. Aber ihre Reaktion warabsurd.
Nehmen wir zum Beispiel eine Fliege.
»Nimm zum Beispiel eine Fliege«, sagte Louis.
Louis war mit seinem Spiel fertig. Ein durchschnittliches Ergebnis. Diese neuenGeräte, bei denen man zugleich den Schirm und die Kugel beobachten mußte, waren nerv- tötend. Aber manchmal begannen dieKugeln in Dreier- oder Vierergruppen gleichzeitig zu rollen, und das war -interessant, was immer Marthe auch dazu sagte. Er stützte sich auf die Theke,während er darauf wartete, daß Marthe ihr Bierausgetrunken hatte.
Als bei Sonia die ersten Zeichen des Aufbruchs erkennbar wurden, war erversucht gewesen, ihr zu erzählen, was er in den Ministerien, auf den Straßen,bei den Gerichten, in den Cafés, in der Provinz und in den Büros der Bullen sogemacht hatte. Fünfundzwanzig Jahre Minenräumung nannte er das, Treibjagd aufsteinerne Männer und widerliche Gedanken. Zwanzig Jahre Wachsamkeit und zuviele Begegnungen mit Männern mit steinigen Hirnen, die als Einzelgängerumherstreiften, in Gruppen operierten, als Horde gröhlten,dieselben Steine in den Köpfen, dieselben Gemetzel an den Händen, Scheiße. AlsMinenräumer hätte Sonia ihn geliebt. Sie wäre vielleicht geblieben, sogar trotzseines steifen Knies, das er sich beim Brand eines vomorganisierten Verbrechen betriebenen Hotels in der Nähe von Antibes versengthatte. Das verleiht einem Mann ein gewisses Flair. Aber er hatte widerstandenund hatte nicht das geringste erzählt. Als einzigenReiz hatte er nur seine Knochen und sein Wort geboten, als Test. Was das Knieanging, so glaubte Sonia, er sei eine Metrotreppe hinuntergefallen. SolcheSachen machen einen Mann kaputt. Marthe hatte ihn gewarnt, er werde nochenttäuscht werden, Frauen seien nicht besser als alle anderen, da solle mankeine Wunder erwarten. Vermutlich hatte auch Bufo dieSache nicht gerade leichter gemacht.
»Genehmigen wir uns einen, Ludwig?«
»Du hast genug getrunken, ich begleite dich nach Hause.«
Nicht, daß Marthe irgendwas riskieren würde, da siekeinen Sou besaß und in ihrem Leben schon viel erlebthatte, aber wenn es nachts regnete und sie ein bißchenbetrunken war, neigte sie dazu, auf die Schnauze zu fallen.
»Was ist nun mit deiner Fliege?« fragte Marthe, alssie die Bar verließen und sie sich mit einer Hand eine Plastiktüte über denKopf hielt.
»Du hast von einer Fliege gesprochen.«
»Hast du neuerdings Angst vor dem Regen?«
»Das ist wegen meiner Tönung. Wie seh ich aus, wenndas alles rausläuft?«
»Wie eine alte Nutte.«
»Die ich bin.«
»Die du bist.«
Marthe lachte. Ihr Lachen war seit einem halben Jahrhundert im ganzen Viertelbekannt. Ein Mann drehte sich um und deutete vage einen Gruß an.
»Du kannst dir nicht vorstellen«, bemerkte Marthe, »wie der vor dreißig Jahrenausgesehen hat. Ich sag dir nicht, wer das ist, das mache ich nie.«
»Ich weiß, wer er ist«, erwiderte Louis lächelnd.
»Sag mal, Ludwig, ich hoffe, du schnüffelst nicht in meinem Adreßbuchrum? Du weißt, daß ich die Regeln meines Berufsrespektiere.«
»Und ich hoffe, daß du das nur sagst, um zuschwatzen.«
»Ja, um zu schwatzen.«
»Trotzdem könnte das Adreßbuch Typen interessieren,die weniger gewissenhaft sind als ich, Marthe. Du solltest es vernichten, dashab ich dir schon hundertmal gesagt.«
»Das sind zu viele Erinnerungen. Diese ganze Hautevolee, die an meine Türgeklopft hat, das mußt du dir mal vorstellen «
»Vernichte es, sag ich dir. Das ist riskant.«
»Was denkst du denn! Die sind alle alt geworden Wen sollten die Alten dennnoch interessieren?«
»Eine Menge Leute. Wenn du wenigstens nur die Namen hättest, aber du hast dochauch deine kleinen Notizen dazu gemacht, nicht wahr, Marthe?«
»Sag mal, Ludwig, machst du nicht auch hier und da kleine Notizen?«
»Red doch leiser, Marthe, wir sind nicht auf dem flachen Land.«
Marthe hatte schon immer zu laut geredet.
»Na? Kleine Notizbücher? Untersuchungen? Erinnerungen an Minenräumungen? Hastdu das vielleicht alles weggeworfen, nachdem sie dich da oben rausgeschmissenhaben? Übrigens, bist du wirklich rausgeschmissen worden?«
»Sieht so aus. Aber ich habe noch Beziehungen. Sie werden Schwierigkeitenhaben, mich loszuwerden. Nimm zum Beispiel eine Fliege.«
»Meinetwegen, aber ich bin völlig k. o. Kann ich dich was fragen? Dieserverdammte Fluß in Rußland,der immer wieder kommt, mit zwei Buchstaben, sagt dir das was?«
»Der Ob, Marthe, das hab ich dir schon hundertmal gesagt.«
Kehlweiler setzte Marthe vor ihrem Haus ab, hörte, wie sie die Treppehinaufging, und betrat das Café an der Avenue. Es war fast ein Uhr nachts, eswaren nicht mehr viele Leute da. Nachzügler wie er. Er kannte sie alle, seinGedächtnis dürstete immer nach Gesichtern und Namen, dauernd verlangte undbettelte es nach mehr. Was im Ministerium übrigens mit Sorge betrachtet wurde.
© AufbauVerlag
Übersetzung:Tobias Scheffel
- Autor: Fred Vargas
- 2001, 285 Seiten, Maße: 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Scheffel, Tobias
- Verlag: Aufbau-Verlag
- ISBN-10: 3351029284
- ISBN-13: 9783351029289
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