Das Provisorium / Wolfgang Hilbig Werke Bd.6
Roman. Mit Nachwort von Julia Franck
Deutschland, Mitte der achtziger Jahre: Ein Schriftsteller aus Leipzig darf für ein Jahr die DDR verlassen. Obwohl ihm der Westen fremd bleibt und sich seine neue Lebensgefährtin wieder von ihm trennt, lässt er den Termin für seine Rückkehr verstreichen....
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Produktinformationen zu „Das Provisorium / Wolfgang Hilbig Werke Bd.6 “
Klappentext zu „Das Provisorium / Wolfgang Hilbig Werke Bd.6 “
Deutschland, Mitte der achtziger Jahre: Ein Schriftsteller aus Leipzig darf für ein Jahr die DDR verlassen. Obwohl ihm der Westen fremd bleibt und sich seine neue Lebensgefährtin wieder von ihm trennt, lässt er den Termin für seine Rückkehr verstreichen. Ohne echten Kontakt zu seiner Umwelt, weder zu seiner alten Heimat noch zu seiner neuen Umgebung, versinkt er in Alkoholexzessen und Schreibkrisen. Orientierungslos und ohne festen Boden unter den Füßen irrt er durch ein gespenstisches Land - es ist das seiner Seele, sein Leben.Ein Nachwort von Julia Franck und unveröffentlichtes Material zur Entstehungsgeschichte des Romans ergänzen diesen Band der Werkausgabe.
Lese-Probe zu „Das Provisorium / Wolfgang Hilbig Werke Bd.6 “
Das Provisorium von Wolfgang Hilbig In Nürnberg, in der zwiespältigen Beleuchtung einer Boutique, war ihm plötzlich etwas geschehen: als er die flach gestreckten Stufen zum Souterrain hinunterstieg, um eine enger werdende Windung der Treppe, die eine Art Wendeltreppe war, unhörbar auf dem Teppich und mit unrhythmischem Schritt, da die Stufen ungleich lang und irritierend waren, hatte er sich auf einmal von hinten angegriffen gefühlt. Ein matter Schatten überholte ihn, er ahnte einen gegen sich erhobenen Arm, bewaffnet oder nicht, und gedankenschnell wirbelte er auf den Absätzen herum. Im nächsten Moment war er erstaunt, wie prachtvoll seine Instinkte noch funktionierten. Automatisch flog ihm die Linke aus der Hüfte, übercrosste den drohend erhobenen Arm und knallte trocken auf einen Kinnwinkel, den er noch gar nicht recht im Auge gehabt hatte. Das hätte scheinbar schon gereicht, doch mit der Rechten, unterstützt durch einen leichten Kniefall, traf er den anderen gleich darauf in der Körpermitte, er spürte den Hornknopf einer leger geschlossenen Jacke, welcher der genaue Zielpunkt war, und mit dem restlichen Schwung zog er die Rechte nach oben, dicht am Körper des anderen, der Knopf flog ab, und die Jacke sprang auf, und dieser Aufwärtshaken hebelte den Kerl aus. Und indem er mit einem kleinen Step wieder auf beide Füße pendelte, traf er mit einem zweiten linken Cross den ungedeckten Kopf noch einmal voll; das erledigte den Typ, er brach auseinander.
... mehr
Mit einem Ächzen fiel der Kerl auf das Geländer, über dem er sich wie eine Schere schloß, dann wippte er zurück, setzte sich polternd auf die Treppe, wo er, ehe er auf dem Bauch liegenblieb, eine wenig elegante Rolle rückwärts vollführte und dabei eine Stehlampe umriß, die sofort erlosch. Dennoch war in dem Halbdunkel zu sehen, daß der Figur Stücke von zerbrochenen Gliedmaßen aus den Jackenärmeln rutschten, ihr Gesicht, das ins Genick gedreht war, zeigte ein vorwurfsvolles Grinsen. Durch die Staubwolke hindurch waren mehrere schrille Schreie von unten aus dem Verkaufsraum der Boutique zu hören; C. stieg, indem er sich den Gipsstaub abklopfte, über die zerstörte Schaufensterpuppe, von der er sich überfallen gefühlt hatte, hinweg und entfernte sich, das Durcheinander in seinem Rücken nicht achtend, und mit beschleunigten, aber gelassenen Schritten trat er wieder in die helle Nachmittagssonne auf der Breiten Gasse hinaus. Er schüttelte den Kopf und sah sich nervös nach allen Seiten um; dabei verschluckte er etwas wie ein merkwürdig schlechtes Gewissen: zweifellos war sein Gegenangriff viel zu massiert gewesen, wahrscheinlich hätte eine der beiden Doubletten schon ausgereicht.
Nichts war geschehen, der Nachmittag war normal, alles verhielt sich denkbar normal, auf der Breiten Gasse herrschte das alltägliche Gewühl der Konsumenten, in dem er ohne Aufsehen untertauchen konnte. Der Andrang war gerade jetzt, wenige Stunden vor dem Ende der Geschäftszeit, besonders stark; es gab niemanden, der in der glänzenden Ladenzeile langsam ging, alles eilte und eiferte, und alles trug in den Gesichtern die Überzeugung zur Schau, der gerechtesten Sache der Welt zu dienen: dem Shopping. Unten am Rand der Querstraße zur Breiten Gasse kamen die Taxis nicht zur Ruhe, kaum hielt eins von ihnen, wurden schon pralle Plastiksäcke auf die Rücksitze oder in den Kofferraum geworfen, ein Wagen nach dem anderen füllte sich mit Kundschaft, und einer nach dem andern glitten sie davon, weich und spielerisch, den nachrückenden Autos Platz machend, sie schnurrten auf das Weichbild der Stadt zu, oder hinaus in die Außenbezirke, wo die Taxis wieder neue, noch unbefriedete Käufer einluden und vor die Fußgängerzone fuhren. So ging es hin und her in stetem Handel und Wandel, wie dies irgendein Präsident, ein Bank- oder Bundespräsident ausgedrückt hatte, konservativ und geschmeidig im Handel und Wandel einer seiner Reden; und die Straßenbahnen, die vor dem Bahnhof anlangten, öffneten sich und spien Fluten von Käufern aus, die sich sofort in der Fußgängerzone verliefen. Und unter dem Pflaster jagten die U-Bahnen herbei, entließen unter den ordnenden Stimmen der Lautsprecheranlagen wiederum Scharen von Käufern, dirigierten sie auf die dicht bestandenen Rolltreppen, welche die Menschenströme direkt in die Helligkeit des Einkaufsviertels katapultierten. Und dort mischten sich die Zufriedenen mit den Unzufriedenen, und sie mischten sich umgekehrt; die Betrogenen vereinten sich mit den Unbetrogenen, und sie umarmten ihre Betrüger vor Glück, wenn sie in die Boutiquen eintraten, in die Shops und Drugstores und Galerien, und sie kauften und zahlten, und zahlten erneut und zeichneten ihre Schecks mit geflügelter Hand. Und wenn sie wieder auf der Breiten Gasse waren, strahlten sie im Glanz ihrer Liquidität, und jeder von ihnen war ausgezeichnet und bedeutsam genug, das Wohlwollen Gottes im Herzen zu tragen. So wandelten sie, überragt vom Getürm der nahen Kathedralen ...
Unterdessen saß er schwitzend im Schatten eines der Schirme, von denen die Tische vor dem Eingang zu einer Konditorei überspannt wurden, und versuchte, einen lauwarmen Kaffee langsam zu trinken; das Glas Wasser, das er zum Kaffee bestellt hatte, war in einem einzigen Zug in ihn eingeflossen.
Hier wären nun also genug Leute! dachte er beleidigt und schaute dem Menschentreiben zu. Genug Figuren, es wäre eine Überzahl von Figuren selbst für einen dicken Roman. Und es müßte damit sogar die Kritik zufriedengestellt werden können, die Literaturkritik, die sich seit der seligen Postkutschenzeit immer wieder mit der Anzahl der Handlungsträger in Erzählwerken beschäftigt. Personen, Personen und nochmals Personen, es ist immer dasselbe Lied. Weshalb aber soll ich mich darauf noch einlassen ... ich muß zusehen, daß ich mich selbst wieder zu einer Person machen kann. Und ich habe meinen Kampf mit der Kritik schon aufgegeben, ehe er noch begonnen hat. - Es war dies eine etwas großmäulige Rede, wie sie zu seinen Gewohnheiten gehörte, wenn er mit sich allein war und mit einem schattenhaften Gegenüber Gedanken, zumeist über Literatur, austauschte, oft genug in Augenblicken, in denen er sich von vorangegangenen Aufregungen erholen mußte.
In einer ihm unbestimmbaren Richtung, in die er durch Zufall blickte, irgendwo über den hohen Gebäuden, die linkerhand des Bahnhofs standen, war die Sonne in den Dunst eingetaucht, der über der Stadt lag; in diesem Dunst entzündete sie noch einmal, wie mit letzter Kraft, ihr Gleißen, und erhitzte Farben schienen sich von schräg oben in die Straße zu ergießen. Es wurde Abend, die Geschäftigkeit ringsum zeigte erste Anzeichen von Ermüdung. Im gerade noch dicht geschlossenen Wall der Autos am Trottoirrand taten sich Parklücken auf, die nicht wieder besetzt wurden, die Menschenströmung in die Fußgängerzone hinein begann zu verebben, und dafür kamen immer mehr Leute heraus. An den Tischen vor der Konditorei gab es plötzlich freie Plätze, und gleich wurde das Geschirr nur noch saumselig abgeräumt, da der Hauptbetrieb vorbei war. Ein junges Paar, das bei ihm am Tisch gesessen hatte, war urplötzlich aufgebrochen, als hätte es in ihren Köpfen ein Klingelsignal gegeben. Zuvor hatten die beiden noch mit verbissenen Gesichtern große Brocken von Erdbeertorte mit Sahne in sich hineingestopft; mehr als ein Drittel davon hatten sie auf den Tellern zurückgelassen. Nicht ohne sie noch mit den Kuchengabeln zu zerstoßen und zu zerreißen, so daß sie nicht mehr weiterverwendet werden konnten. Hatten sie die Blicke C.s etwa für die eines Verhungernden gehalten, als er gebannt zusah, wie sie sich vollstopften? Falsch gedacht, es war der Durst, der in seinen Augen glänzte. Der Grund für den überstürzten Aufbruch war ein anderer, es war die Enttäuschung darüber, daß es achtzehnuhrdreißig war und damit an der Zeit, das Einkaufsviertel zu verlassen. Vor den Eingängen der großen Kaufhäuser standen die Männer mit den Schlüsseln und öffneten den letzten Kunden, die sich in dem Warenlabyrinth verspätet hatten, noch einmal die Glastüren, so daß diese mit hochroten Gesichtern auf die Straße entkamen: Es war vorbei! Leer der Abend, endlos nun die folgende Nacht. Zäh und lastend das kommende Dunkel, das nahe am Nichts lag, und kaum beantwortbar die Frage, ob morgen noch einmal ein so schöner Einkaufstag werden konnte. Wolkenbahnen zogen sich vielleicht in der Finsternis über der Stadt zusammen - o dieser unberechenbare September! Mit einem giftigen rotgelben Absud von Farbe hatte sich die Sonne in den Dunst verkrochen, ihre Resthitze war nicht mehr imstande, die Winkelgerüche der Stadt zu verbrennen. Und diese wagten sich nun hervor: der unerklärliche Geruch von altgewordenen Garfetten hob sich aus den Gossen und setzte sich wie seifiger Schweiß über die Muster der geflochtenen Plastiktischdecken vor dem Kaffeehaus. In der Wärme war die himbeerrote Geleemasse der übriggebliebenen Erdbeertorte zerschmolzen, und in den Pfützen auf den Tellern zappelten einige Wespen, die in die Falle der Farben und Düfte gegangen waren. Bis zwanzig Uhr sollte das Café geöffnet bleiben, doch dieser Mensch, der allein sitzen geblieben war, der seit einer Stunde vor einer halben Tasse Kaffee saß, auf dessen hellbrauner Oberfläche ein gelbes Fettauge schwamm, das sich nach dem Verrühren der Milch nicht aufgelöst hatte, dieser Mensch, der nichts mehr bestellen wollte, erntete längst die scheelen Blicke des Personals, das aus einer Blondine und einer Brünetten bestand, beide von unbestimmbarem Alter. Woran dachte dieser Mensch, der sich ganz offensichtlich ohne Wagen am Rand des Einkaufsviertels aufhielt? Er hatte allerdings nichts zu transportieren, denn seine Beute bestand lediglich aus dem dünnen quadratischen Inhalt einer einzigen Plastiktüte, in ihren Abmessungen etwa dreißig Zentimeter breit wie lang. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte er nur eine einzige Schallplatte gekauft, und hier am Tisch hatte er nur einen einzigen Kaffee bestellt, mit Mineralwasser, und nach dem Servieren sofort bezahlt. Ohne einen Pfennig Trinkgeld. Man konnte diesen Typus nicht einordnen, dem Dialekt nach kam er nicht aus Nürnberg. Eher vielleicht aus dem Osten, doch wie kam man aus dem Osten hierher nach Nürnberg, es paßte da etwas nicht ins Bild.
Seine Art war auch nicht der jener drei Biertrinker zu vergleichen, die an einem entfernteren Tisch, nahe der Trottoirkante, Platz genommen und ihre Autoschlüssel auf die Tischdecke geworfen hatten. Drei jüngere Männer, aber nicht zu jung, und drei verschiedene Wagenschlüssel, die mit den Firmensymbolen der Automarken und mit golden oder silbern blitzenden Schmuckanhängern versehen waren. Gelangweilt spielten sie mit dem klingelnden Metall, das nicht billig war, und ließen es ab und zu schwungvoll um die Finger wirbeln. Alle drei trugen sie bunt bedruckte Hemden, die bis knapp zum Gürtel offen gehalten waren, so daß sie solargebräunte Haut und das lockige helle oder dunkle Brusthaar zeigten: man konnte sehen, daß sie etwas taten für ihre Körper. Knapp saßen die kurzen Ärmel und spannten sich über der Muskulatur von Schultern und Oberarmen; zwei von ihnen trugen farbige Tätowierungen zur Schau, alle drei waren mit goldenen Armbanduhren und zusätzlich mit ebenfalls goldenen, feingliedrigen Gelenkketten geschmückt, und auch im Brusthaar schimmerte das Gold von Ketten. Sie gossen sich Bier nach, indem sie die Flaschen mit drei Fingern hielten, sie ließen den Gelenkschmuck in der Abendsonne blitzen und achteten konzentriert darauf, daß der Schaum den Rand der Stielgläser nicht überstieg ... C. spürte seinen Durst, als er ihnen beim Trinken zuschaute; sie tranken so abgezirkelt und wohlbemessen, das Attribut dieser Art zu trinken hieß: wohlbezahlt; C. hatte das nie gekonnt; sie beachteten ihn nicht, sie wußten sich von den beiden Damen der Bedienung mit gebührlichem Ernst beobachtet ... und dabei unterhielten sie sich aufmerksam und zugleich in einer etwas wegwerfenden Art. Stets sprach nur einer von ihnen, während die anderen zuhörten und dabei gelegentlich, wie im stummen Einverständnis, aus den Gläsern tranken. Einer, der Nicht-Tätowierte, dem C. ins Gesicht blicken konnte, wischte sich nach jedem Schluck sorgsam den Schaum aus dem Schnauzbart, worauf er die spitzen Enden dieses Barts zwirbelte, sehr präzise und scheinbar selbstvergessen; und die langen nach oben gebogenen Enden des Barts auf der etwas zu kurzen Oberlippe schaukelten, wenn er mit dem Sprechen an der Reihe war, und mit gebanntem Blick schaute C. diesem Schaukeln hinterher, es entfernte sich wie der Flug eines Geiers. Geschmeidig sich wiegend ließen die Damen der Bedienung ihre Hüften um die Tische gleiten, die noch nicht abgeräumt waren. Sie ordneten das Geschirr auf ein Tablett und fächelten die Krümel aus dem Geflecht der Tischdecken; von Zeit zu Zeit verschwanden sie im Innern des Cafés. Vor C. waren die Kuchenreste zurückgeblieben; er fühlte sich aller Aufmerksamkeit enthoben, und er dachte: Es ist vorbei ...
Vorbei! wiederholte er, und es war schon wie ein Nachhall aus dem Schlaf. Vorbei und zu spät, mich wieder zurückzumelden. In wenigen Augenblicken werde ich nach irgendeiner Richtung in diese Stadt verschwinden. Es ist etwas abgebrochen, etwas hat sich verschoben. Vielleicht werde ich plötzlich die Augen aufmachen und sehen, was es gewesen ist ...
Er war in Nürnberg, was er noch immer nicht recht begreifen wollte. Er war von anderswo gekommen, doch nun war er in Nürnberg, jener Stadt, in der sich eine bestimmte Sorte jüngerer männlicher Scheusale mit abgekupferten Kaiser-Wilhelm-Bärten zierte. Nürnberg war eine Stadt der Reminiszenzen, eine Stadt der Nachbildungen; er hatte den Eindruck, jedes Gran des menschlichen Wesens sei in dieser Stadt vervielfältigt worden, damit man es in den Boutiquen anbieten könne.
Er war also angekommen in einer Stadt, in der man mit absoluter Sicherheit spurlos verschwinden konnte. Verschwand er nach rechts hinten, nach dem alten Stadtzentrum zu, gelangte er bald, nach erneutem Durchqueren der Fußgängerzone, die nun fast ausgestorben war, vor den sogenannten Burgberg, wo alle Wege steil aufwärts führten. Hier wurde jeder Spaziergang zu einem beschwerlichen Aufstieg, nichts für das Volumen seiner Lunge, die einst eine Sportlerlunge gewesen war. Es gehörte dies zu einem anderen Leben. Vor der Abenddämmerung des Spätsommers lagerten sich auf den freien Plätzen vor dem Burggemäuer diejenigen, die man als Rucksacktouristen bezeichnete, gemeinsam mit beträchtlichen Gruppen jenes Teils der Nürnberger Jugend, der sich als unbürgerlich empfand. Es sah aus, es sollte so aussehen, als habe sich auf dem groben Pflaster der Plätze ein ganzes Heerlager von Abtrünnigen und Versprengten ausgebreitet; man sonnte sich in den letzten Strahlen der schon sinkenden Sonne. Alternatives Gebaren glaubte hier oben für die kurze Zeitspanne, in der es noch hell war, dem Konsumrausch zu trotzen, der eine Ebene tiefer, auf einer nicht so mühsam zu erklimmenden Stufe der Stadt, soeben erloschen war. Zwischen einem Pulk von Wein- und Biertrinkern versuchte jemand seine Gitarre und schien Aufmerksamkeit zu erringen. Und erreichte sogar, daß C. den Schritt verlangsamte ... Was hatte es auf sich mit dieser Vorzeigemusik? Im Moment nicht mehr, als daß C. wieder an seine Schallplatte dachte, die er, daheim angekommen, sofort abspielen wollte.
Unter denen, die auf dem Pflaster hockten oder lagen, wandelten auch die anderen, welche die Szene nur zu besichtigen dachten, und auch zu denen gehörte C. nicht. Sie waren besser oder teurer angezogene Leute, jedenfalls solche, die nicht mehr die Verpflichtung spürten, sich standesgemäß in Jeansanzüge oder abgeschabtes Lederzeug zu hüllen, oder denen gerade nicht danach war, sich in diese ideologisch verknappten Konfektionsmaße zu zwängen, diejenigen also, die ihre Einkäufe zur Zufriedenheit erledigt und die Beute zuhaus abgestellt hatten. Und diese schritten nun aufrecht über den Burgberg, Toleranz verströmend aus jeder Pore und eine ebensolche unzweifelhaft für sich in Anspruch nehmend, in Form von Nichtbeachtung, und diese wurde ihnen freizügig entboten. So gingen sie erhobenen Hauptes durch den Bratwurstrauch, der in Nasenhöhe auf dem Bierdunst schwamm und im Kreis um den Burgberg zog. Alle Verkaufsstände rundum waren geöffnet, und man wartete an diesem Spätsommerabend nicht vergeblich auf Kundschaft. C. wollte heim und seine Schallplatte abhören, das wiederholte er sich eindringlich. Und er wollte nicht an einem der Bierkioske stehenbleiben. Er gehörte weder zu den einen hier, noch zu den anderen, weder zu denen, die hier herumlagen, noch zu denen, die dazwischen umhergingen und das Ganze besichtigten. Die Freiheit hier war nichts für ihn, denn er war viel freier. Er war unfrei aufgrund einer viel größeren Freiheit, denn er gehörte weder auf diese Seite der Welt, auf der man hier lag und flanierte, noch auf jene andere Seite, auf der man sich danach sehnte, hier zu liegen ...
Er bewegte sich nun eilig, die kürzesten Wege zwischen den Sitzgruppen suchend; nur einmal hielt er an, als vor seinen Füßen eine leere Weinflasche laut klirrend das Kopfsteinpflaster abwärts rollte, bis sie von irgendwem gestoppt wurde. Die Schallplatte pendelte an seinen linken Oberschenkel, er hatte die Griffschlaufen der Plastiktüte übers Handgelenk gestreift und die Hand in der Hosentasche; mit der freien Hand rauchte er, was gut zu seinem zielstrebigen Gesicht paßte. Als er den Burgberg verlassen hatte, konnte er nicht mehr leugnen, daß sein vorherrschendes Empfinden ein starker Durst war. Zwei- oder dreimal blieb er vor einer der Gaststätten stehen, deren Türen weit geöffnet waren, offenbar, um die frische Abendluft hineinzulassen. Er zwang sich, weiterzugehen, und fand endlich ein Taxi, in das er einstieg.
Der Fahrer brauchte ihn nur ein kurzes Stück zu chauffieren, und schon war er da. Er einnerte sich - es war nun schon eine Weile her - , eine Zeitlang hatte er sich fast jeden Abend im Taxi zu seiner Wohnung bringen lassen, völlig orientierungslos, wie er war. Und wie oft war es geschehen, daß der grinsende Fahrer nur um zwei Ecken kurvte, durch eine winzige Nebenstraße, und nach einer Minute vor seiner Haustür anhielt. Er wäre vielleicht auch ohne jene Unmengen von Alkohol, die er trank, orientierungslos geblieben, er fand sich in den westdeutschen Städten nicht zurecht. Lange, monatelang hatte er sich in Nürnberg nicht im geringsten ausgekannt, ebenso wenig wie die Monate zuvor in Hanau bei Frankfurt am Main, obwohl die Stadt klein war und geradlinig wirkte. Westdeutsche Straßen waren nie finster, und sie waren von einer inflationären Menge von Schriftzeichen, Sinnbildern, Piktogrammen und anderen Symbolen überschwemmt, unmöglich, aus diesem Überfluß an Zeichen ein paar Anhaltspunkte zu entnehmen und sie sich zu merken. Es herrschte eine Inflation von Anhaltspunkten, demzufolge war jeder Anhalt gleichzeitig richtig und falsch, das Schriftsystem hatte sich in ein Medium des Analphabetismus zurückverwandelt.
Er kannte sich auch jetzt noch nicht richtig in Nürnberg aus ... jetzt, wo es an der Zeit war, sich auszukennen. Denn es war damit zu rechnen, daß er hier allein auskommen mußte. Aber er hatte schon mehrmals damit rechnen müssen, und es war nicht so geblieben. Und er kannte sich auch nicht in der Zeit aus, er war orientierungslos in bezug auf die Zeit, die er schon hier war. Doch das war auch weniger interessant, er war hier, das stand fest, und er war hier in einer gegenwärtigen Zeit, in einer täglich aufs Neue gegenwärtigen Zeit, mit der er klarkommen mußte. Wenn ihn jemand fragte, hatte er oft genug erwidert, er sei seit einem guten Jahr hier ... und gleich darauf war ihm aufgefallen, daß es schon zwei Jahre waren. Oder gar mehr ...
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Mit einem Ächzen fiel der Kerl auf das Geländer, über dem er sich wie eine Schere schloß, dann wippte er zurück, setzte sich polternd auf die Treppe, wo er, ehe er auf dem Bauch liegenblieb, eine wenig elegante Rolle rückwärts vollführte und dabei eine Stehlampe umriß, die sofort erlosch. Dennoch war in dem Halbdunkel zu sehen, daß der Figur Stücke von zerbrochenen Gliedmaßen aus den Jackenärmeln rutschten, ihr Gesicht, das ins Genick gedreht war, zeigte ein vorwurfsvolles Grinsen. Durch die Staubwolke hindurch waren mehrere schrille Schreie von unten aus dem Verkaufsraum der Boutique zu hören; C. stieg, indem er sich den Gipsstaub abklopfte, über die zerstörte Schaufensterpuppe, von der er sich überfallen gefühlt hatte, hinweg und entfernte sich, das Durcheinander in seinem Rücken nicht achtend, und mit beschleunigten, aber gelassenen Schritten trat er wieder in die helle Nachmittagssonne auf der Breiten Gasse hinaus. Er schüttelte den Kopf und sah sich nervös nach allen Seiten um; dabei verschluckte er etwas wie ein merkwürdig schlechtes Gewissen: zweifellos war sein Gegenangriff viel zu massiert gewesen, wahrscheinlich hätte eine der beiden Doubletten schon ausgereicht.
Nichts war geschehen, der Nachmittag war normal, alles verhielt sich denkbar normal, auf der Breiten Gasse herrschte das alltägliche Gewühl der Konsumenten, in dem er ohne Aufsehen untertauchen konnte. Der Andrang war gerade jetzt, wenige Stunden vor dem Ende der Geschäftszeit, besonders stark; es gab niemanden, der in der glänzenden Ladenzeile langsam ging, alles eilte und eiferte, und alles trug in den Gesichtern die Überzeugung zur Schau, der gerechtesten Sache der Welt zu dienen: dem Shopping. Unten am Rand der Querstraße zur Breiten Gasse kamen die Taxis nicht zur Ruhe, kaum hielt eins von ihnen, wurden schon pralle Plastiksäcke auf die Rücksitze oder in den Kofferraum geworfen, ein Wagen nach dem anderen füllte sich mit Kundschaft, und einer nach dem andern glitten sie davon, weich und spielerisch, den nachrückenden Autos Platz machend, sie schnurrten auf das Weichbild der Stadt zu, oder hinaus in die Außenbezirke, wo die Taxis wieder neue, noch unbefriedete Käufer einluden und vor die Fußgängerzone fuhren. So ging es hin und her in stetem Handel und Wandel, wie dies irgendein Präsident, ein Bank- oder Bundespräsident ausgedrückt hatte, konservativ und geschmeidig im Handel und Wandel einer seiner Reden; und die Straßenbahnen, die vor dem Bahnhof anlangten, öffneten sich und spien Fluten von Käufern aus, die sich sofort in der Fußgängerzone verliefen. Und unter dem Pflaster jagten die U-Bahnen herbei, entließen unter den ordnenden Stimmen der Lautsprecheranlagen wiederum Scharen von Käufern, dirigierten sie auf die dicht bestandenen Rolltreppen, welche die Menschenströme direkt in die Helligkeit des Einkaufsviertels katapultierten. Und dort mischten sich die Zufriedenen mit den Unzufriedenen, und sie mischten sich umgekehrt; die Betrogenen vereinten sich mit den Unbetrogenen, und sie umarmten ihre Betrüger vor Glück, wenn sie in die Boutiquen eintraten, in die Shops und Drugstores und Galerien, und sie kauften und zahlten, und zahlten erneut und zeichneten ihre Schecks mit geflügelter Hand. Und wenn sie wieder auf der Breiten Gasse waren, strahlten sie im Glanz ihrer Liquidität, und jeder von ihnen war ausgezeichnet und bedeutsam genug, das Wohlwollen Gottes im Herzen zu tragen. So wandelten sie, überragt vom Getürm der nahen Kathedralen ...
Unterdessen saß er schwitzend im Schatten eines der Schirme, von denen die Tische vor dem Eingang zu einer Konditorei überspannt wurden, und versuchte, einen lauwarmen Kaffee langsam zu trinken; das Glas Wasser, das er zum Kaffee bestellt hatte, war in einem einzigen Zug in ihn eingeflossen.
Hier wären nun also genug Leute! dachte er beleidigt und schaute dem Menschentreiben zu. Genug Figuren, es wäre eine Überzahl von Figuren selbst für einen dicken Roman. Und es müßte damit sogar die Kritik zufriedengestellt werden können, die Literaturkritik, die sich seit der seligen Postkutschenzeit immer wieder mit der Anzahl der Handlungsträger in Erzählwerken beschäftigt. Personen, Personen und nochmals Personen, es ist immer dasselbe Lied. Weshalb aber soll ich mich darauf noch einlassen ... ich muß zusehen, daß ich mich selbst wieder zu einer Person machen kann. Und ich habe meinen Kampf mit der Kritik schon aufgegeben, ehe er noch begonnen hat. - Es war dies eine etwas großmäulige Rede, wie sie zu seinen Gewohnheiten gehörte, wenn er mit sich allein war und mit einem schattenhaften Gegenüber Gedanken, zumeist über Literatur, austauschte, oft genug in Augenblicken, in denen er sich von vorangegangenen Aufregungen erholen mußte.
In einer ihm unbestimmbaren Richtung, in die er durch Zufall blickte, irgendwo über den hohen Gebäuden, die linkerhand des Bahnhofs standen, war die Sonne in den Dunst eingetaucht, der über der Stadt lag; in diesem Dunst entzündete sie noch einmal, wie mit letzter Kraft, ihr Gleißen, und erhitzte Farben schienen sich von schräg oben in die Straße zu ergießen. Es wurde Abend, die Geschäftigkeit ringsum zeigte erste Anzeichen von Ermüdung. Im gerade noch dicht geschlossenen Wall der Autos am Trottoirrand taten sich Parklücken auf, die nicht wieder besetzt wurden, die Menschenströmung in die Fußgängerzone hinein begann zu verebben, und dafür kamen immer mehr Leute heraus. An den Tischen vor der Konditorei gab es plötzlich freie Plätze, und gleich wurde das Geschirr nur noch saumselig abgeräumt, da der Hauptbetrieb vorbei war. Ein junges Paar, das bei ihm am Tisch gesessen hatte, war urplötzlich aufgebrochen, als hätte es in ihren Köpfen ein Klingelsignal gegeben. Zuvor hatten die beiden noch mit verbissenen Gesichtern große Brocken von Erdbeertorte mit Sahne in sich hineingestopft; mehr als ein Drittel davon hatten sie auf den Tellern zurückgelassen. Nicht ohne sie noch mit den Kuchengabeln zu zerstoßen und zu zerreißen, so daß sie nicht mehr weiterverwendet werden konnten. Hatten sie die Blicke C.s etwa für die eines Verhungernden gehalten, als er gebannt zusah, wie sie sich vollstopften? Falsch gedacht, es war der Durst, der in seinen Augen glänzte. Der Grund für den überstürzten Aufbruch war ein anderer, es war die Enttäuschung darüber, daß es achtzehnuhrdreißig war und damit an der Zeit, das Einkaufsviertel zu verlassen. Vor den Eingängen der großen Kaufhäuser standen die Männer mit den Schlüsseln und öffneten den letzten Kunden, die sich in dem Warenlabyrinth verspätet hatten, noch einmal die Glastüren, so daß diese mit hochroten Gesichtern auf die Straße entkamen: Es war vorbei! Leer der Abend, endlos nun die folgende Nacht. Zäh und lastend das kommende Dunkel, das nahe am Nichts lag, und kaum beantwortbar die Frage, ob morgen noch einmal ein so schöner Einkaufstag werden konnte. Wolkenbahnen zogen sich vielleicht in der Finsternis über der Stadt zusammen - o dieser unberechenbare September! Mit einem giftigen rotgelben Absud von Farbe hatte sich die Sonne in den Dunst verkrochen, ihre Resthitze war nicht mehr imstande, die Winkelgerüche der Stadt zu verbrennen. Und diese wagten sich nun hervor: der unerklärliche Geruch von altgewordenen Garfetten hob sich aus den Gossen und setzte sich wie seifiger Schweiß über die Muster der geflochtenen Plastiktischdecken vor dem Kaffeehaus. In der Wärme war die himbeerrote Geleemasse der übriggebliebenen Erdbeertorte zerschmolzen, und in den Pfützen auf den Tellern zappelten einige Wespen, die in die Falle der Farben und Düfte gegangen waren. Bis zwanzig Uhr sollte das Café geöffnet bleiben, doch dieser Mensch, der allein sitzen geblieben war, der seit einer Stunde vor einer halben Tasse Kaffee saß, auf dessen hellbrauner Oberfläche ein gelbes Fettauge schwamm, das sich nach dem Verrühren der Milch nicht aufgelöst hatte, dieser Mensch, der nichts mehr bestellen wollte, erntete längst die scheelen Blicke des Personals, das aus einer Blondine und einer Brünetten bestand, beide von unbestimmbarem Alter. Woran dachte dieser Mensch, der sich ganz offensichtlich ohne Wagen am Rand des Einkaufsviertels aufhielt? Er hatte allerdings nichts zu transportieren, denn seine Beute bestand lediglich aus dem dünnen quadratischen Inhalt einer einzigen Plastiktüte, in ihren Abmessungen etwa dreißig Zentimeter breit wie lang. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte er nur eine einzige Schallplatte gekauft, und hier am Tisch hatte er nur einen einzigen Kaffee bestellt, mit Mineralwasser, und nach dem Servieren sofort bezahlt. Ohne einen Pfennig Trinkgeld. Man konnte diesen Typus nicht einordnen, dem Dialekt nach kam er nicht aus Nürnberg. Eher vielleicht aus dem Osten, doch wie kam man aus dem Osten hierher nach Nürnberg, es paßte da etwas nicht ins Bild.
Seine Art war auch nicht der jener drei Biertrinker zu vergleichen, die an einem entfernteren Tisch, nahe der Trottoirkante, Platz genommen und ihre Autoschlüssel auf die Tischdecke geworfen hatten. Drei jüngere Männer, aber nicht zu jung, und drei verschiedene Wagenschlüssel, die mit den Firmensymbolen der Automarken und mit golden oder silbern blitzenden Schmuckanhängern versehen waren. Gelangweilt spielten sie mit dem klingelnden Metall, das nicht billig war, und ließen es ab und zu schwungvoll um die Finger wirbeln. Alle drei trugen sie bunt bedruckte Hemden, die bis knapp zum Gürtel offen gehalten waren, so daß sie solargebräunte Haut und das lockige helle oder dunkle Brusthaar zeigten: man konnte sehen, daß sie etwas taten für ihre Körper. Knapp saßen die kurzen Ärmel und spannten sich über der Muskulatur von Schultern und Oberarmen; zwei von ihnen trugen farbige Tätowierungen zur Schau, alle drei waren mit goldenen Armbanduhren und zusätzlich mit ebenfalls goldenen, feingliedrigen Gelenkketten geschmückt, und auch im Brusthaar schimmerte das Gold von Ketten. Sie gossen sich Bier nach, indem sie die Flaschen mit drei Fingern hielten, sie ließen den Gelenkschmuck in der Abendsonne blitzen und achteten konzentriert darauf, daß der Schaum den Rand der Stielgläser nicht überstieg ... C. spürte seinen Durst, als er ihnen beim Trinken zuschaute; sie tranken so abgezirkelt und wohlbemessen, das Attribut dieser Art zu trinken hieß: wohlbezahlt; C. hatte das nie gekonnt; sie beachteten ihn nicht, sie wußten sich von den beiden Damen der Bedienung mit gebührlichem Ernst beobachtet ... und dabei unterhielten sie sich aufmerksam und zugleich in einer etwas wegwerfenden Art. Stets sprach nur einer von ihnen, während die anderen zuhörten und dabei gelegentlich, wie im stummen Einverständnis, aus den Gläsern tranken. Einer, der Nicht-Tätowierte, dem C. ins Gesicht blicken konnte, wischte sich nach jedem Schluck sorgsam den Schaum aus dem Schnauzbart, worauf er die spitzen Enden dieses Barts zwirbelte, sehr präzise und scheinbar selbstvergessen; und die langen nach oben gebogenen Enden des Barts auf der etwas zu kurzen Oberlippe schaukelten, wenn er mit dem Sprechen an der Reihe war, und mit gebanntem Blick schaute C. diesem Schaukeln hinterher, es entfernte sich wie der Flug eines Geiers. Geschmeidig sich wiegend ließen die Damen der Bedienung ihre Hüften um die Tische gleiten, die noch nicht abgeräumt waren. Sie ordneten das Geschirr auf ein Tablett und fächelten die Krümel aus dem Geflecht der Tischdecken; von Zeit zu Zeit verschwanden sie im Innern des Cafés. Vor C. waren die Kuchenreste zurückgeblieben; er fühlte sich aller Aufmerksamkeit enthoben, und er dachte: Es ist vorbei ...
Vorbei! wiederholte er, und es war schon wie ein Nachhall aus dem Schlaf. Vorbei und zu spät, mich wieder zurückzumelden. In wenigen Augenblicken werde ich nach irgendeiner Richtung in diese Stadt verschwinden. Es ist etwas abgebrochen, etwas hat sich verschoben. Vielleicht werde ich plötzlich die Augen aufmachen und sehen, was es gewesen ist ...
Er war in Nürnberg, was er noch immer nicht recht begreifen wollte. Er war von anderswo gekommen, doch nun war er in Nürnberg, jener Stadt, in der sich eine bestimmte Sorte jüngerer männlicher Scheusale mit abgekupferten Kaiser-Wilhelm-Bärten zierte. Nürnberg war eine Stadt der Reminiszenzen, eine Stadt der Nachbildungen; er hatte den Eindruck, jedes Gran des menschlichen Wesens sei in dieser Stadt vervielfältigt worden, damit man es in den Boutiquen anbieten könne.
Er war also angekommen in einer Stadt, in der man mit absoluter Sicherheit spurlos verschwinden konnte. Verschwand er nach rechts hinten, nach dem alten Stadtzentrum zu, gelangte er bald, nach erneutem Durchqueren der Fußgängerzone, die nun fast ausgestorben war, vor den sogenannten Burgberg, wo alle Wege steil aufwärts führten. Hier wurde jeder Spaziergang zu einem beschwerlichen Aufstieg, nichts für das Volumen seiner Lunge, die einst eine Sportlerlunge gewesen war. Es gehörte dies zu einem anderen Leben. Vor der Abenddämmerung des Spätsommers lagerten sich auf den freien Plätzen vor dem Burggemäuer diejenigen, die man als Rucksacktouristen bezeichnete, gemeinsam mit beträchtlichen Gruppen jenes Teils der Nürnberger Jugend, der sich als unbürgerlich empfand. Es sah aus, es sollte so aussehen, als habe sich auf dem groben Pflaster der Plätze ein ganzes Heerlager von Abtrünnigen und Versprengten ausgebreitet; man sonnte sich in den letzten Strahlen der schon sinkenden Sonne. Alternatives Gebaren glaubte hier oben für die kurze Zeitspanne, in der es noch hell war, dem Konsumrausch zu trotzen, der eine Ebene tiefer, auf einer nicht so mühsam zu erklimmenden Stufe der Stadt, soeben erloschen war. Zwischen einem Pulk von Wein- und Biertrinkern versuchte jemand seine Gitarre und schien Aufmerksamkeit zu erringen. Und erreichte sogar, daß C. den Schritt verlangsamte ... Was hatte es auf sich mit dieser Vorzeigemusik? Im Moment nicht mehr, als daß C. wieder an seine Schallplatte dachte, die er, daheim angekommen, sofort abspielen wollte.
Unter denen, die auf dem Pflaster hockten oder lagen, wandelten auch die anderen, welche die Szene nur zu besichtigen dachten, und auch zu denen gehörte C. nicht. Sie waren besser oder teurer angezogene Leute, jedenfalls solche, die nicht mehr die Verpflichtung spürten, sich standesgemäß in Jeansanzüge oder abgeschabtes Lederzeug zu hüllen, oder denen gerade nicht danach war, sich in diese ideologisch verknappten Konfektionsmaße zu zwängen, diejenigen also, die ihre Einkäufe zur Zufriedenheit erledigt und die Beute zuhaus abgestellt hatten. Und diese schritten nun aufrecht über den Burgberg, Toleranz verströmend aus jeder Pore und eine ebensolche unzweifelhaft für sich in Anspruch nehmend, in Form von Nichtbeachtung, und diese wurde ihnen freizügig entboten. So gingen sie erhobenen Hauptes durch den Bratwurstrauch, der in Nasenhöhe auf dem Bierdunst schwamm und im Kreis um den Burgberg zog. Alle Verkaufsstände rundum waren geöffnet, und man wartete an diesem Spätsommerabend nicht vergeblich auf Kundschaft. C. wollte heim und seine Schallplatte abhören, das wiederholte er sich eindringlich. Und er wollte nicht an einem der Bierkioske stehenbleiben. Er gehörte weder zu den einen hier, noch zu den anderen, weder zu denen, die hier herumlagen, noch zu denen, die dazwischen umhergingen und das Ganze besichtigten. Die Freiheit hier war nichts für ihn, denn er war viel freier. Er war unfrei aufgrund einer viel größeren Freiheit, denn er gehörte weder auf diese Seite der Welt, auf der man hier lag und flanierte, noch auf jene andere Seite, auf der man sich danach sehnte, hier zu liegen ...
Er bewegte sich nun eilig, die kürzesten Wege zwischen den Sitzgruppen suchend; nur einmal hielt er an, als vor seinen Füßen eine leere Weinflasche laut klirrend das Kopfsteinpflaster abwärts rollte, bis sie von irgendwem gestoppt wurde. Die Schallplatte pendelte an seinen linken Oberschenkel, er hatte die Griffschlaufen der Plastiktüte übers Handgelenk gestreift und die Hand in der Hosentasche; mit der freien Hand rauchte er, was gut zu seinem zielstrebigen Gesicht paßte. Als er den Burgberg verlassen hatte, konnte er nicht mehr leugnen, daß sein vorherrschendes Empfinden ein starker Durst war. Zwei- oder dreimal blieb er vor einer der Gaststätten stehen, deren Türen weit geöffnet waren, offenbar, um die frische Abendluft hineinzulassen. Er zwang sich, weiterzugehen, und fand endlich ein Taxi, in das er einstieg.
Der Fahrer brauchte ihn nur ein kurzes Stück zu chauffieren, und schon war er da. Er einnerte sich - es war nun schon eine Weile her - , eine Zeitlang hatte er sich fast jeden Abend im Taxi zu seiner Wohnung bringen lassen, völlig orientierungslos, wie er war. Und wie oft war es geschehen, daß der grinsende Fahrer nur um zwei Ecken kurvte, durch eine winzige Nebenstraße, und nach einer Minute vor seiner Haustür anhielt. Er wäre vielleicht auch ohne jene Unmengen von Alkohol, die er trank, orientierungslos geblieben, er fand sich in den westdeutschen Städten nicht zurecht. Lange, monatelang hatte er sich in Nürnberg nicht im geringsten ausgekannt, ebenso wenig wie die Monate zuvor in Hanau bei Frankfurt am Main, obwohl die Stadt klein war und geradlinig wirkte. Westdeutsche Straßen waren nie finster, und sie waren von einer inflationären Menge von Schriftzeichen, Sinnbildern, Piktogrammen und anderen Symbolen überschwemmt, unmöglich, aus diesem Überfluß an Zeichen ein paar Anhaltspunkte zu entnehmen und sie sich zu merken. Es herrschte eine Inflation von Anhaltspunkten, demzufolge war jeder Anhalt gleichzeitig richtig und falsch, das Schriftsystem hatte sich in ein Medium des Analphabetismus zurückverwandelt.
Er kannte sich auch jetzt noch nicht richtig in Nürnberg aus ... jetzt, wo es an der Zeit war, sich auszukennen. Denn es war damit zu rechnen, daß er hier allein auskommen mußte. Aber er hatte schon mehrmals damit rechnen müssen, und es war nicht so geblieben. Und er kannte sich auch nicht in der Zeit aus, er war orientierungslos in bezug auf die Zeit, die er schon hier war. Doch das war auch weniger interessant, er war hier, das stand fest, und er war hier in einer gegenwärtigen Zeit, in einer täglich aufs Neue gegenwärtigen Zeit, mit der er klarkommen mußte. Wenn ihn jemand fragte, hatte er oft genug erwidert, er sei seit einem guten Jahr hier ... und gleich darauf war ihm aufgefallen, daß es schon zwei Jahre waren. Oder gar mehr ...
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Autoren-Porträt von Wolfgang Hilbig
Wolfgang Hilbig, geboren 1941 in Meuselwitz bei Leipzig, gestorben 2007 in Berlin, übersiedelte 1985 aus der DDR in die Bundesrepublik. Er erhielt zahlreiche literarische Auszeichnungen, darunter den Georg-Büchner-Preis, den Ingeborg-Bachmann-Preis, den Bremer Literaturpreis, den Berliner Literaturpreis, den Literaturpreis des Landes Brandenburg, den Lessing-Preis, den Fontane-Preis, den Stadtschreiberpreis von Frankfurt-Bergen-Enkheim, den Peter-Huchel-Preis und den Erwin-Strittmatter-Preis. Im S. Fischer Verlag erscheint die siebenbändige Ausgabe seiner Werke, »eine der wichtigsten Werkausgaben der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur« (Uwe Schütte, Wiener Zeitung).Wolfgang HilbigWERKEBand I GEDICHTEBand II ERZÄHLUNGEN UND KURZPROSABand III DIE WEIBER - ALTE ABDECKEREI - DIE KUNDE VON DEN BÄUMEN (Erzählungen)Band IV EINE ÜBERTRAGUNG (Roman)Band V »ICH« (Roman)Band VI DAS PROVISORIUM (Roman)Band VII ESSAYS, REDEN, INTERVIEWSLiteraturpreise:1983 Brüder-Grimm-Preis1985 Förderpreis der Akademie der Künste, Berlin1987 Kranichsteiner Literaturpreis1989 Ingeborg-Bachmann-Preis1992 Berliner Literaturpreis1993 Brandenburgischer Literaturpreis1994 Bremer Literaturpreis1996 Literaturpreis der Deutschen Schillerstiftung, Dresden 1997 Lessingpreis des Freistaates Sachsen1997 Fontane-Preis der Berliner Akademie der Künste1997 Hans-Erich-Nossack-Preis (Kulturkreis d. dt. Wirtschaft)2001 Stadtschreiberpreis von Frankfurt-Bergen-Enkheim2002 Peter-Huchel-Preis für deutschsprachige Lyrik2002 Georg-Büchner-Preis2002 Walter-Bauer-Literaturpreis der Stadt Merseburg2007 Erwin-Strittmatter-Preis des Landes Brandenburg Jürgen Hosemann, geboren 1967, arbeitet nach einer Ausbildung zum Verlagskaufmann und einem Studium der Germanistik als Lektor für den S. Fischer Verlag in Frankfurt am Main. Er ist Herausgeber zahlreicher Anthologien, Mitherausgeber der Werke Wolfgang Hilbigs sowie Autor von »Das Meer am 31. August« und »Papierkorb«. Julia Franck wurde 1970 in Berlin geboren. Sie
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studierte Altamerikanistik, Philosophie und Neuere Deutsche Literatur an der FU Berlin. 1997 erschien ihr Debüt 'Der neue Koch', danach 'Liebediener' (1999), 'Bauchlandung. Geschichten zum Anfassen' (2000) und 'Lagerfeuer' (2003). Sie verbrachte das Jahr 2005 in der Villa Massimo in Rom. Für ihren Roman 'Die Mittagsfrau' erhielt Julia Franck den Deutschen Buchpreis 2007. Der Roman wurde in 40 Sprachen übersetzt und fürs Kino verfilmt (2023, Regie: Barbara Albert). Nach 'Rücken an Rücken' (2011) erschien zuletzt 'Welten auseinander' (Platz 1 der SWR-Bestenliste). Für ihr Werk wurde sie 2022 mit dem Schiller-Gedächtnis-Preis ausgezeichnet.Literaturpreise:1995 Siegerin beim Open Mike-Wettbewerb1998 Alfred-Döblin-Stipendium der Akademie der Künste1999 Stipendium der Stiftung Niedersachsen2000 3sat-Preis in Klagenfurt2004 Marie Luise Kaschnitz Preis2005 "Roswitha Preis" der Stadt Bad Gandersheim2007 Deutscher Buchpreis2010 war die englische Ausgabe der 'Mittagsfrau' auf der Shortlist des Independent Foreign Fiction Prize und auf der Shortlist des 'Jewish Quaterly' sowie für den internationalen IMPAC nominiert.2022 Schiller-Gedächtnis-Preis
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Bibliographische Angaben
- Autor: Wolfgang Hilbig
- 2013, 1. Auflage, 336 Seiten, Maße: 14,6 x 21,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Herausgegeben: Jörg Bong, Jürgen Hosemann, Oliver Vogel
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100338464
- ISBN-13: 9783100338464
- Erscheinungsdatum: 24.07.2013
Rezension zu „Das Provisorium / Wolfgang Hilbig Werke Bd.6 “
Nun ist 'Das Provisorium' neu erschienen, als sechster Band der verdienstvollen Hilbig-Gesamtausgabe. So besteht die Chance einer Wiederbegegnung mit Hilbigs wohl brillantestem Roman. Stefan Seidel Der Sonntag 20130908
Pressezitat
Nun ist 'Das Provisorium' neu erschienen, als sechster Band der verdienstvollen Hilbig-Gesamtausgabe. So besteht die Chance einer Wiederbegegnung mit Hilbigs wohl brillantestem Roman. Stefan Seidel Der Sonntag 20130908
Kommentar zu "Das Provisorium / Wolfgang Hilbig Werke Bd.6"
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