Das schwarze Haus
20 Jahre nach ''Der Talismann'' haben sich die beiden Meister erneut zusammengetan, um die Geschichte von Jack weiterzuspinnen:
Um einen Serienmörder zu stellen, muss er das schwarze Haus betreten. Es ist der Eingang zu einer anderen Welt.
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20 Jahre nach ''Der Talismann'' haben sich die beiden Meister erneut zusammengetan, um die Geschichte von Jack weiterzuspinnen:
Um einen Serienmörder zu stellen, muss er das schwarze Haus betreten. Es ist der Eingang zu einer anderen Welt.
Das schwarze Haus von Stephen King
LESEPROBE
Genau hier und jetzt, wieein alter Freund zu sagen pflegte, sind wir in der ungewissen Gegenwart, in derHellsichtigkeit keineswegs vollkommene Sehschärfe garantiert. Hier: etwasechzig Meter, der Flughöhe eines kreisenden Adlers, über dem äußersten Westenvon Wisconsin, wo die Launen des Mississippis eine natürliche Grenze habenentstehen lassen. Jetzt: ein früher Freitagmorgen Mitte Juli, einige Jahre nachBeginn eines neuen Jahrhunderts und eines neuen Jahrtausends, derenverschlungene Pfade so verborgen sind, dass ein Blinder bessere Chancen hat,das Zukünftige zu sehen als jeder gewöhnliche Mensch. Genau hier und jetzt, esist kurz nach sechs Uhr morgens, und die Sonne steht im Osten tief amwolkenlosen Himmel: eine pralle, selbstbewusst gelblich weiße Kugel, die wiejeden Morgen scheinbar jungfräulich der Zukunft entgegensteigt und in ihremGefolge eine stetig wachsende Vergangenheit hinterlässt, die sichzurückweichend verfinstert und uns alle zu Blinden macht.
Unter uns übergießt dieMorgensonne die weiten, sanften Wellen des Flusses mit rotgoldenenGlanzlichtern. Sonnenlicht glitzert auf den Gleisen der Burlington NorthernSanta Fe Railroad, die zwischen dem Flussufer und den Rückseiten der schäbigeneinstöckigen Häuser entlang der als Nailhouse Row bekannten Country Road Ooverlaufen; dies ist der tiefste Punkt der behaglich aussehenden Kleinstadt, diesich unter uns hügelaufwärts und nach Osten erstreckt. In diesem Augenblickscheint das Leben im Coulee Country den Atem anzuhalten. Die unbewegte Luft umuns herum ist so bemerkenswert klar und rein, dass man einen in einer MeileEntfernung aus dem Erdboden gezogenen Rettich riechen könnte.
Wir schweben in RichtungSonne vom Fluss weg, über die glitzernden Schienen, die Gärten und Dächer derNailhouse Row, dann über eine Reihe Harley-Davidsons, die schräg auf ihrenSeitenständern stehen. Diese schlichten kleinen Häuser wurden zu Beginn desjüngst vergangenen Jahrhunderts für die in der Fabrik der Pederson Nailbeschäftigten Eisengießer, Formenbauer und Packer errichtet. Da nicht zuerwarten war, dass einfache Arbeiter sich über die Mängel ihrer subventioniertenBehausungen beschweren würden, wurden diese so billig wie nur möglich gebaut.(Die Firma Pederson Nail, die schon in den Fünfzigerjahren mehrfach unterBlutungen gelitten hatte, verblutete schließlich im Jahr 1963 endgültig.) Diewartenden Harleys legen den Schluss nahe, dass die Fabrikarbeiter durch eineBikergang abgelöst worden sind. Das einheitlich wilde Aussehen derHarley-Besitzer - struppige, vollbärtige, schmerbäuchige Männer, die Ohrringe,schwarze Lederjacken und Zahnlücken zur Schau tragen - scheint diese Annahme zubestätigen. Wie die meisten Annahmen enthält auch diese eine unbehaglicheHalbwahrheit.
Die jetzigen Bewohner derNailhouse Row, denen misstrauische Einheimische bald nach dem Einzug in dieHäuser am Fluss den Spitznamen Thunder Five gegeben haben, lassen sich nicht soleicht einordnen. Sie sind qualifizierte Angestellte der Brauerei KingslandBrewing Company, die am Südrand der Stadt einen Straßenzug östlich desMississippis steht. Rechterhand kann man »den größten Sechserpack der Welt«sehen: Lagertanks, die mit gigantischen Etiketten der Biersorte KingslandOld-Time Lager bemalt sind. Die Männer, die jetzt in der Nailhouse Row leben,haben sich auf dem Campus der University of Illinois in Urbana-Champaign kennengelernt, wo sie alle bis auf einen im Hauptfach Englisch oder Philosophiestudierten. (Die Ausnahme war Assistenzarzt an der chirurgischen Abteilung derUniversitätsklinik gewesen.) Ihr Spitzname Thunder Five bereitet ihnen nichtwenig Vergnügen: Irgendwie könnte er einem Comicheft entsprungen sein. Sieselbst bezeichnen sich als »den hegelianischen Abschaum«. Diese Gentlemenbilden eine illustre Mannschaft, später werden wir genauer mit ihnenBekanntschaft machen. Im Augenblick haben wir nur Zeit, die handgemalten Posterzu bemerken, die an mehreren Hausfassaden, zwei Laternenmasten und einigen leerstehenden Gebäuden kleben. Auf den Postern steht: FISHERMAN, BETE LIEBER ZUDEINEM STINKENDEN GOTT, DASS WIR DICH NICHT ALS ERSTE ERWISCHEN! DENK AN AMY!
Von der Nailhouse Row ausführt die Chase Street steil bergauf zwischen schief stehenden Gebäuden mitverwitterten, ungestrichenen, nebelgrauen Fassaden hindurch: das alte HotelNelson, in dem einige verarmte Dauergäste im Schlaf liegen; eine gesichtsloseKneipe; ein Schuhgeschäft, das schon bessere Zeiten gesehen hat und hinterseiner schlierigen Schaufensterscheibe Arbeitsstiefel der Marke Red Wingausstellt; und ein paar weitere düstere Gebäude, deren Zweck nicht erkennbarist, die aber eigenartig traumhaft und melancholisch wirken. Diese Bauten habenetwas von fehlgeschlagener Wiederauferstehung an sich, als wären sie vor demdunklen Gebiet im Westen errettet worden, obwohl sie eigentlich schon totwaren. In gewisser Weise ist ihnen auch genau das widerfahren. Ein ockergelberwaagrechter Streifen - drei Meter über dem Gehsteig an der Fassade des HotelsNelson und einen halben Meter über dem ansteigenden Gelände an den aschgrauenFassaden der beiden letzten Gebäude gegenüber - bezeichnet die Hochwassermarkeder Überschwemmung des Jahres 1965. Damals war der Mississippi über die Ufergetreten und hatte die Bahngleise und die Nailhouse Row überflutet, wobei erbis fast zum oberen Ende der Chase Street gestiegen war.
An der Stelle, wo dieChase Street sich über die Hochwassermarke erhebt, um dann flachweiterzuführen, wird sie breiter und erlebt eine Umwandlung zur Hauptstraße vonFrench Landing, so der Name der Kleinstadt unter uns. Das Agincourt Theater,das Lokal Taproom Bar & Grille, die First Farmer State Bank, das SamuelStutz Photography Studio (das mit Porträts zur Schulentlassung, Hochzeitsfotosund Kinderporträts ein stetiges Geschäft macht) und Läden, die nicht wie diegeisterhaften Relikte in der Chase Street wirken, säumen hier die unebenenGehsteige: Bentons Rexall Drugstore, das Eisenwarengeschäft Reliable Hardware,Saturday Night Video, Regal Clothing, Schmitts Allsorts Emporium, aber auchGeschäfte, die Unterhaltungselektronik, Zeitschriften und Grußkarten,Spielwaren und Sportkleidung mit den Logos der Brewers, der Twins, der Packers,der Vikings und der University of Wisconsin verkaufen. Einige Häuserzeilenweiter wird die Straße zur Lyall Road. Hier rücken die Gebäude auseinander undschrumpfen zu eingeschossigen Holzbauten, vor denen Firmenschilder Reisebürosund Versicherungsagenturen anpreisen; danach geht die Straße in einen Highwayüber, der an einem 7-Eleven, der Reinhold T. Grauerhammer Hall derVeteranenvereinigung und einem hier als Goltzs bekannten großenLandmaschinenhändler vorbei nach Osten in eine Landschaft aus ebenen, durchnichts unterbrochenen Feldern gleitet. Steigen wir in der kristallklaren Luftweitere dreißig Meter hoch und suchen ab, was unter und vor uns liegt, sehenwir Karsttrichter, Felsenschluchten, kegelförmige Hügel mit einem Pelz ausKiefern, lößreiche Täler, die zu ebener Erde erst richtig sichtbar sind, wennman unvermutet auf sie stößt, mäandernde Flüsse, meilenweiteFlickenteppichfelder und kleine Ansiedlungen - darunter auch Centralia, das ausein paar verstreuten Häusern an der Kreuzung zweier schmaler Highways mit denNummern 35 und 93 besteht.
Direkt unter uns machtFrench Landing den Eindruck, als wäre es mitten in der Nacht geräumt worden.Niemand ist auf den Gehsteigen unterwegs oder in gebückter Haltung dabei, denSchlüssel in eine der Ladentüren entlang der Chase Street zu stecken. Auf denschräg angeordneten Parkflächen steht noch keiner der Personenwagen undPickups, die in ein, zwei Stunden allmählich auftauchen werden: erst alleinoder paarweise, dann in einem wohl geordneten kleinen Strom. Hinter denFenstern der Bürogebäude oder der unprätentiösen Häuser in den umliegendenStraßen brennt kein Licht. In der Sumner Street, eine Häuserzeile nördlich derChase Street, stehen vier baugleiche zweistöckige Klinkergebäude, in denen vonWest nach Ost untergebracht sind: die Stadtbibliothek von French Landing; diePraxis von Dr. med. Patrick J. Skarda, des hiesigen Arztes fürAllgemeinmedizin; Bell & Holland, eine Anwaltssozietät, die heute vonGarland Bell und Julius Holland, den Söhnen ihrer Gründer, geführt wird; dasBestattungsunternehmen Heartfield & Son, das jetzt einem weit verzweigtenBestattungskonzern mit Zentrale in St. Louis gehört; sowie das Postamt vonFrench Landing.
Das Gebäude am Ende derStraße, wo Sumner Street und Third Street sich kreuzen - ebenfalls einzweigeschossiger Klinkerbau, der sich jedoch länger hinstreckt als seineunmittelbaren Nachbarn -, wird von diesen durch eine breit angelegte Einfahrtgetrennt, die zu einem geräumigen Parkplatz hinter dem Haus führt.Ungestrichene Eisenstäbe versperren die nach hinten hinausführenden Fenster imersten Stock, und zwei der vier Fahrzeuge auf dem Parkplatz sind Streifenwagenmit paarweise angeordneten Blinkleuchten auf dem Dach und den Buchstaben FLPDauf den Türen. Das Vorhandensein von Streifenwagen und vergitterten Fensternwirkt in diesem Hort ländlichen Friedens fehl am Platz - welche Art Verbrechenkönnte es hier wohl geben? Bestimmt nichts Ernstliches; sicher nichtsSchlimmeres als ein paar Ladendiebstähle, Trunkenheit am Steuer undgelegentlich eine Schlägerei in einer Bar.
Wie um die Friedlichkeitund Rechtschaffenheit des Kleinstadtlebens zu bezeugen, rollt ein roterLieferwagen mit der Aufschrift LA RIVIERE HERALD an den Seiten langsam dieThird Street entlang und hält an fast allen Briefkastensäulen, damit derZusteller die in einer blauen Plastikhülle steckenden Tageszeitung in diegrauen Metallzylinder mit derselben Aufschrift stecken kann. Als derLieferwagen in die Sumner Street abbiegt, wo die Häuser Einwurfschlitze stattBriefkasten aufweisen, wirft der Zusteller die verpackten Zeitungen einfachgegen die Haustüren. Blaue Pakete klatschen an die Türen der Polizeistation,des Bestattungsunternehmens und des Bürogebäudes. Das Postamt bekommt keineZeitung.
© Verlagsgruppe RandomHouse
Übersetzung: Wulf Bergner
Autoren-Porträt von Stephen King
Stephen King, 1947 in Portland, Maine, geboren, ist einerder erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Schon als Studentveröffentlichte er Kurzgeschichten. Die ersten erschienen 1967 bei "StartlingMystery Stories". Später arbeitete er tagsüber als Lehrer und schrieb nachtsund am Wochenende an seinen Kurzgeschichten und Romanen. Sein ersterRomanerfolg, "Carrie", erlaubte ihm, sich nur noch dem Schreiben zu widmen.Danach folgten Weltbestseller wie "Sie", "Es", "Shining" oder "Drei".Inzwischen hat Stephen King weltweit 300 Millionen Bücher in 33 Sprachenverkauft. Im November 2003 erhielt er den Sonderpreis der National BookFoundation für sein Lebenswerk.
Stephen King ist seit 1971 mit der Autorin Tabithaverheiratet, mit der zusammen er drei Kinder hat. Sie haben mehrere Stipendienins Leben gerufen und engagieren sich für zahlreiche wohltätige Zwecke.
- Autoren: Stephen King , Peter Straub
- 2004, 848 Seiten, Maße: 12 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Wulf Bergner
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 345387370X
- ISBN-13: 9783453873704
- Erscheinungsdatum: 01.04.2004
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