Das weiße Land der Seele
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Das weiße Land der Seele von Olga Kharitidi
LESEPROBE
Wenn ich gewußt hätte, wie kalt und anstrengend der Weg zuUmajs Dorf werden würde, wäre ich nicht mitgegangen. Wir stapften endlos durchtiefen Schnee, auf einer kleinen Bergstraße, die eigentlich nicht mehr war alsein schmaler Pfad, der manchmal fast unter der Schneedecke verschwand. MeineLederstiefel waren dafür nicht geeignet, und nach kurzer Zeit hatte ichklitschnasse Füße.
Nach einer Stunde sagte Nikolaj immer noch nichts, und allmählichzweifelten wir daran, ob wir überhaupt fähig sein würden, unser Ziel zuerreichen. Ganz am Anfang lachten wir noch, aber bald setzten uns Kälte undHöhe zu, und die ersten Anzeichen von Erschöpfung machten sich bemerkbar. DieSchönheit unserer Umgebung konnte uns nicht mehr aufmuntern. UnsereSpekulationen darüber, wie es wohl wäre, auf diesem unwegsamen Bergpfad zusterben, und ob man in diesem Fall unsere Leichen überhaupt finden würde, warennur halb scherzhaft gemeint. Der Gedanke, daß man unseren Tod in der Stilledieses schneebedeckten, von riesigen Nadelbäumen gesäumten Bergsträßchens vielleichtnicht einmal bemerken würde, ernüchterte und half uns weiterzugehen, obwohljeder Schritt schmerzte.
Anna sah als erste den Rauch, der über einem kleinen Hausaufstieg. Sie machte einen Freudensprung und umarmte und küßte mich vorAufregung.
Nikolaj bestätigte uns, daß wir Kubija erreicht hatten, undwir waren froh, daß er sein irritierendes Schweigen endlich gebrochen hatte.Während wir auf das Dorf zugingen, freuten Anna und ich uns darauf, demnächstin einem Haus vor einem warmen Feuer zu sitzen und nicht mehr in der Kältedurch den endlosen Schnee wandern zu müssen. Allerdings fiel mir auf, daßNikolaj plötzlich nervös wurde.
»Ich muß euch etwas sagen«, meinte er schließlich. »Ich mußeuch warnen: Ich weiß nicht genau, wie die Menschen hier auf euch reagierenwerden.«
Wir starrten ihn an. Uns fehlten die Worte.
»Wir sind hier, um Umaj zu besuchen, die eine Kam ist. Wir selbst verwenden das WortSchamane nicht. Es ist nicht unser Wort. Schamane ist ein Begriff, den dieRussen geprägt haben. Wir nennen solche Menschen Kams. Das Problem ist, daß ihr Russinnen seid. Unser Volk hatein gutes Verhältnis zu den Weißen, aber es ist oberflächlich. Vielleicht wirdeuch in Kubija niemand etwas über die Kamsund ihre Riten und Rituale erzählen. Und sogar noch wahrscheinlicher ist es,daß niemand euch erlauben wird, zu beobachten, was bei den Heilungentatsächlich passiert. Das habe ich nicht gewußt, als wir herkamen. Meine Mutterhat es mir erst heute morgen gesagt. Sie meinte, es könnte schwierig für euchwerden, Umaj zu treffen.«
Nach all den Mühen, die wir auf uns genommen hatten, um andiesen unwirtlichen Ort zu gelangen, klang es einfach absurd, daß man Anna dieHeilung, wegen der sie hierher gereist war, vielleicht verweigern würde. Ichmußte lachen, aber Anna wurde zornig. »Das ist nicht lustig, das ist verrückt«,rief sie. »Ich bin schwer krank, und ich bin mit Olga in dieses gottverlassene,abgelegene Nest gekommen, weil ich mir davon Hilfe erhofft habe. Du warst es,Nikolaj, der uns eingeladen hat. Du warst es, der uns heute auf diese lange undgefährliche Wanderung durch die Kälte mitgenommen hat. Und jetzt erzählst duuns, daß wir vielleicht aus dem Dorf vertrieben werden? Und was dann? Sollenwir im Schnee erfrieren?«
»Warum hast du das getan?« fragte ich Nikolaj fassungslos.»Sind die Menschen eures Volkes alle so verantwortungslos wie du?«
Ohne zu zögern erwiderte Nikolaj: »Mein Onkel Mamusch hat mirgesagt, ich soll euch mitnehmen.« Während der junge Mann diese Worte sprach,legte sich seine Nervosität, und er wirkte ruhiger und selbstsicherer.
»Hervorragend!« spottete Anna. »Hier stehe ich, mitten inder tiefgefrorenen Wildnis, mit einem Geisteskranken und einer Freundin, dieangeblich Psychiaterin ist. Olga, hast du Nikolaj denn im Krankenhaus nichtuntersucht?« Sie sah mich vorwurfsvoll an. »Selbst ich, die ich keineFachärztin für Psychiatrie bin, könnte dir sagen, daß er offensichtliche Symptomevon Geisteskrankheit aufweist.«
Es war mit unangenehm, daß Anna das gesagt hatte, und nochunangenehmer war mir die Erkenntnis, daß etwas Wahres an ihren Worten war.Nikolaj stand schweigend neben uns, und es tat mir leid, daß wir ihn so sehr inVerlegenheit gebracht hatten. Endlich sagte ich: »Anna, jetzt sind wir schoneinmal hier. Wir haben uns darauf eingelassen. Jetzt umzukehren ist Unsinn, wirmüssen uns erst einmal ausruhen. Uns bleibt nichts anderes übrig, als ins Dorfzu gehen.« Ich war gelassener geworden und hoffte, daß meine Worte auch Annahelfen würden, sich zu beruhigen.
»Ich möchte euch etwas erzählen«, sagte Nikolaj. »Vor fasthundert Jahren haben sich hier Dinge zugetragen, die die Einstellung unseresVolkes zu Fremden stark beeinflußt haben. Menschen, die uns und unserem Landfremd waren, beschlossen, ihre Religion hier einzuführen. Eines Tages riefensie die Kams von nah und fern zueinem Ritual zusammen. Sie sagten ihnen, sie wollten Frieden zwischen ihrerReligion und unserer. Etwa dreißig Kamskamen. Sie brachten nur ihre Trommeln mit. Die Fremden steckten alle Kams in ein kleines Holzhaus. Dannübergossen sie das Haus mit Kerosin und zündeten es an.
Das Haus, in dem die Kamswaren, brannte stundenlang, keiner der Dorfbewohner konnte etwas tun. Als esbis auf den Boden niedergebrannt war, standen drei Kams auf und stiegen lebendig aus der Asche. Die Fremdenwaren zu Tode erschrocken. Sie versuchten nicht, die Kams aufzuhalten, sondern liefen fort und sahen schockiertzu, wie die Kams davongingen. Diedrei Kams wanderten inverschiedene Richtungen und übten weiter Kamlanieaus. Doch seitdem vollziehen die Kamsihre Rituale heimlich. Umaj ist eine Nachfahrin von einem der drei Kams, die dem Feuer entstiegen.«
»Waren die Fremden Christen?« wollte Anna wissen. »Nein«,erwiderte Nikolaj, »die Christen kamen später und nach ihnen die Kommunisten.«
Ohne weiteren Wortwechsel schritten wir auf das still voruns liegende Dorf zu.
Ich sah, wie Anna sanft Nikolajs Hand berührte, und hörtesie fragen: »Verzeihst du mir?« Ich wußte, daß sie von den Worten sprach, diesie wenige Minuten zuvor in ihrer Wut gesagt hatte. Nikolaj nickte und entzogihr schnell seine Hand.
Das Dorf ähnelte Schuranak, aber die Häuser waren kleiner,und die Menschen hier schienen nochärmer zu sein. Wir näherten uns einer alten Hütte, aus deren Schornstein Rauchaufstieg. Auf der Straße waren keine Menschen zu sehen; kein Hund bellte, umunsere Ankunft zu melden.
»Ich glaube, sie ist da«, sagte Nikolaj, als wir vor der Türstehenblieben. »Am besten wartet ihr hier auf mich«, fügte er hinzu, als er dieunverschlossene Tür aufschob und im Inneren des Häuschens verschwand.
Meine Füße wurden allmählich zu Eisklumpen. Anna holte eineZigarette aus der Tasche und rauchte. Nervös warteten wir eine Weile, die unswie eine Ewigkeit erschien. Endlich kam Nikolaj aus dem Haus und trat sofortauf Anna zu.
»Umaj heilt dich heute abend.« Seine Worte schienen einenAugenblick in der Luft zu schweben, bis wir sie, besorgt wie wir waren, aufgenommenhatten. »Umaj hat gesagt, ich soll dich in ein anderes Haus bringen, wo du aufsie warten sollst. Sie hat gesagt, sie hätte deinen Wunsch gespürt, deinenKörper zu heilen und dein normales Leben wieder aufzunehmen.« Nikolaj nahm Annaan der Hand und führte sie zu dem Haus auf der anderen Straßenseite.
»Warte, Nikolaj. Was ist mit mir?« rief ich.
»Umaj hat gesagt, ich soll dich fragen, warum du hergekommenbist. Warte hier auf mich, ich bin gleich wieder da.«
Ich war sprachlos und verwirrt. Diese einfache Frage hättemich eigentlich nicht beunruhigen dürfen, aber sie tat es. Warum war ich hier?Das konnte alles nur ein seltsamer Traum sein. Auf der Reise hierher hatte ichdas undeutliche Gefühl gehabt, daß ich mich auf eine Art mystische Erfahrungzubewege, aber zu keinem Zeitpunkt hatte ich versucht, mir dieses Gefühlrational zu erklären. Ich konnte behaupten, ich sei als Touristin gekommen,hätte meine Freundin begleitet, um die Berge zu sehen. Aber das entsprach nichtder Wahrheit, und ich wußte, daß die Frau dort im Haus diese Antwort nichtakzeptieren würde. Wieder einmal war ich mit den Konsequenzen einer unbewußtgetroffenen Entscheidung konfrontiert, und ich tat mir selbst leid.
Als Nikolaj plötzlich auftauchte und meine Hand berührte,fuhr ich zusammen. Ich sagte ihm, was mir als erstes in den Sinn kam: »Ich binhergekommen, weil ich von ihr lernen will." (...)
© List Verlag
Übersetzung: Sabine Schulte
- Autor: Olga Kharitidi
- 2011, 11. Aufl., 304 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Sabine Schulte
- Verlag: List TB.
- ISBN-10: 3548605974
- ISBN-13: 9783548605975
- Erscheinungsdatum: 10.11.2005
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