Gute Nacht / Dave Gurney Bd.3
Thriller. Deutsche Erstausgabe
Ex-Ermittler David Gurney wird als Berater für eine TV-Serie über ungeklärte Mordfälle hinzugezogen: Der "Gute Hirte" brachte einst sechs Menschen um. Je mehr Gurney über ihn recherchiert, desto seltsamere Dinge passieren. Und bald gibt es neue Leichen.
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Produktinformationen zu „Gute Nacht / Dave Gurney Bd.3 “
Ex-Ermittler David Gurney wird als Berater für eine TV-Serie über ungeklärte Mordfälle hinzugezogen: Der "Gute Hirte" brachte einst sechs Menschen um. Je mehr Gurney über ihn recherchiert, desto seltsamere Dinge passieren. Und bald gibt es neue Leichen.
Klappentext zu „Gute Nacht / Dave Gurney Bd.3 “
Die Logik des VerbrechensDavid Gurney hat genug von Mord und Totschlag. Der geniale Ex-Ermittler erholt sich mit seiner Frau Madeleine auf seiner Farm in der Nähe New Yorks, als ihn eine befreundete Journalistin um seine Mithilfe bittet. Er soll ihre Tochter bei einem dokumentarischen TV-Mehrteiler über unaufgeklärte Mordfälle beraten. Im Zentrum des Films steht der Fall des "Guten Hirten", eines Serienkillers, der vor genau zehn Jahren sechs Menschen umbrachte. Je mehr sie recherchieren, desto seltsamere Dinge ereignen sich. Bald gibt es die nächsten Leichen.
Lese-Probe zu „Gute Nacht / Dave Gurney Bd.3 “
Gute Nacht von John Verdon Aus dem Amerikanischen von Friedrich Mader
Teil I
Die Mordwaisen
Prolog
Sie musste aufgehalten werden.
Hinweise hatten nichts gebracht. Sachte Andeutungen waren unbeachtet geblieben. Jetzt war entschlossenes Handeln erforderlich. Dramatisch und augenfällig, in Verbindung mit einer deutlichen Erklärung.
Die Deutlichkeit war dabei entscheidend. Sie durfte keinen Raum für Zweifel lassen, keinen Raum für Fragen. Die Polizei, die Medien und die naive kleine Wichtigtuerin mussten seine Botschaft begreifen und den Ernst der Lage erfassen.
Nachdenklich blickte er auf den gelben Block und begann zu schreiben:
Du musst deine unsinnigen Pläne sofort aufgeben. Dieses Vorhaben ist unerträglich. Es verherrlicht die destruktivsten Menschen der Welt. Es feiert die von mir hingerichteten Verbrecher und verhöhnt damit mein Streben nach Gerechtigkeit. Es weckt unverdientes Mitgefühl für den Abschaum der Menschheit. Das darf nicht sein. Ich werde es nicht zulassen. Zehn Jahre lang habe ich im Frieden meiner Taten geruht, im Frieden meiner Botschaft an die Welt, im Frieden meiner Gerechtigkeit. Zwing mich nicht, wieder zu den Waffen zu greifen, oder du wirst einen furchtbaren Preis zahlen.
Er las das Geschriebene. Langsam schüttelte er den Kopf. Er war nicht ganz zufrieden mit dem Ton. Er riss das Blatt vom Block und schob es in den Schlitz des Aktenvernichters neben seinem Stuhl.
Brich dein Projekt ab. Brich es auf der Stelle ab, dann kommst du ungeschoren davon. Sonst wird wieder Blut fließen und noch mehr Blut. Sei gewarnt. Störe meinen Frieden nicht.
Schon besser. Aber noch nicht gut genug. Er musste daran feilen, bis jedes Wort saß. Bis kein Zweifel mehr blieb. Bis es perfekt war. Und dabei lief ihm schon die Zeit davon.
1
Frühling
... mehr
Die Terrassentür stand offen.
Von seinem Platz neben dem Frühstückstisch konnte Dave Gurney erkennen, dass sich die letzten Schneeflecken wie Gletscher aus der offenen Wiese zurückgezogen hatten und sich nur noch in besonders schattigen Winkeln der umliegenden Wälder hielten.
Die würzigen Aromen der feuchten Erde und des ungemähten Grases vom letzten Sommer wehten in die Küche des Bauernhauses. Magische Gerüche, die ihn früher in ihren Bann gezogen hatten. Doch jetzt berührten sie ihn kaum.
»Geh doch raus«, meinte Madeleine, die gerade an der Spüle ihre Müslischüssel abwusch. »Raus in die Sonne. Es ist einfach herrlich.«
»Ja, das seh ich.« Er bewegte sich nicht.
»Setz dich auf einen von den Adirondacks und trink dort deinen Kaffee.« Sie stellte die Schüssel in das Abtropfgestell. »Ein bisschen Sonne würde dir sicher guttun.«
»Hm.« Nach einem unbestimmten Nicken nahm er wieder einen Schluck aus seinem Becher. »Ist das der gleiche Kaffee, den wir immer haben?«
»Ist was damit?«
»Hab ich nicht gesagt.«
»Ja, es ist die gleiche Sorte.«
Er seufzte. »Ich glaube, ich krieg eine Erkältung. Seit zwei Tagen schmecken die Sachen nach fast gar nichts mehr.«
Sie legte die Hände auf die Kante der Kücheninsel und musterte ihn. »Du musst einfach mehr rauskommen. Du musst was tun.«
»Stimmt.«
»Im Ernst. Du kannst nicht den ganzen Tag im Haus hocken und die Wand anstarren. Das macht dich krank. Klar, dass du da nichts mehr schmeckst. Hast du Connie Clarke schon zurückgerufen?«
»Mach ich später.«
»Wann?«
»Wenn mir danach ist.«
Er konnte sich nicht vorstellen, dass ihm in absehbarer Zeit danach sein würde. So fühlte er sich einfach im Augenblick - seit einem halben Jahr bereits. Als hätte er sich nach den Verletzungen, die er am Ende des bizarren Mordfalls Jillian Perry davongetragen hatte, völlig aus dem normalen Leben zurückgezogen: Er mied alltägliche Aufgaben, Pläne, Menschen, Telefonanrufe, Vereinbarungen jeder Art. Es war so weit mit ihm gekommen, dass ihm nichts so lieb war wie der Anblick einer leeren Kalenderseite für den kommenden Monat - keine Verabredungen, keine Zusagen. Rückzug war für ihn inzwischen gleichbedeutend mit Freiheit.
Immerhin reichte seine Objektivität noch aus, um zu erkennen, dass diese Entwicklung nicht gut für ihn war, dass ihm diese Freiheit keinen Frieden brachte. Nicht Gelassenheit prägte seinen Gemütszustand, sondern Feindseligkeit.
Bis zu einem gewissen Grad verstand er die seltsame Entropie, die das Gewebe seines Lebens zersetzte und ihn immer mehr isolierte. Zumindest konnte er aufzählen, worin er ihre Ursachen sah. Ganz oben siedelte er den Tinnitus an, an dem er seit dem Erwachen aus dem Koma litt. Sehr wahrscheinlich hatte dieser schon zwei Wochen davor eingesetzt, als in einem kleinen Zimmer drei Schüsse aus nächster Entfernung auf ihn abgegeben worden waren.
Das beharrliche Geräusch in seinen Ohren (das nach Auskunft des Facharztes eigentlich eine vom Gehirn fälschlicherweise als Geräusch gedeutete neuronale Anomalie war) ließ sich am ehesten als hohes, leises Zischen beschreiben. Die bei Rockmusikern und Kriegsveteranen stark verbreitete Erscheinung stellte ein anatomisches Rätsel dar und war abgesehen von einigen Fällen, bei denen es spontan wieder verschwand, meistens unheilbar. »Offen gestanden, Detective Gurney«, lautete das Fazit des Arztes, »wenn man bedenkt, dass Sie ein schweres Trauma und Koma hinter sich haben, dann können Sie von Glück sagen, dass Sie mit einem leisen Klingeln in den Ohren davongekommen sind.«
Gegen diese Einschätzung ließ sich wenig einwenden. Doch das machte es auch nicht leichter für ihn, sich an das schwache Fiepen zu gewöhnen, das ihn plagte, sobald es um ihn herum still wurde. Vor allem nachts war es ein Problem. Was untertags dem harmlosen Pfeifen eines Teekessels in einem entfernten Zimmer glich, gewann in der Dunkelheit eine unheimliche Dimension, die ihn umschloss wie eine kalte, metallische Atmosphäre.
Dazu kamen die Träume - klaustrophobische Träume über seine Erlebnisse im Krankenhaus, Erinnerungen an die beengende Manschette, die seinen Arm ruhiggestellt hatte, und an seine Atemprobleme -, die nach dem Erwachen ein anhaltendes Gefühl der Panik in ihm hinterließen.
Noch immer war da eine taube Stelle an seinem rechten Unterarm, wo die erste Kugel des Angreifers das Handgelenk zerschmettert hatte. Diese Stelle prüfte er regelmäßig, manchmal sogar stündlich, in der Hoffnung, dass die Taubheit allmählich nachließ - oder, an düsteren Tagen, in der Furcht, sie könnte sich ausbreiten. Gelegentlich und völlig unvorhersehbar spürte er einen stechenden Schmerz in der Seite, wo die zweite Kugel seinen Körper durchschlagen hatte. Außerdem trat in ungleichmäßigen Abständen ein Prickeln - wie eine Art Juckreiz, gegen den selbst Kratzen nicht half - im Zentrum seines Haaransatzes auf, wo die dritte Kugel in seinen Schädelknochen eingedrungen war.
Die wohl quälendste Folge dieser Verletzungen war sein Wunsch nach Bewaffnung. Früher in der Arbeit hatte er eine Pistole getragen, weil es Vorschrift war, doch im Gegensatz zu den meisten Polizisten nie eine Vorliebe für Schusswaffen gehabt. Und als er nach fünfundzwanzig Jahren aus dem aktiven Dienst ausschied, legte er zusammen mit der goldenen Marke des Detective auch die Notwendigkeit ab, bewaffnet zu sein.
Aber nach den Schüssen auf ihn war es damit vorbei.
Wenn er sich jetzt am Morgen anzog, war der unvermeidliche, letzte Gegenstand, den er umschnallte, ein Knöchelhalfter, in dem eine Beretta Kaliber .32 steckte. Er hasste das emotionale Verlangen danach. Hasste die Veränderung in ihm, die ihn dazu zwang, das blöde Ding ständig mit sich herumzuschleppen. Eigentlich hatte er gehofft, dass dieses Bedürfnis allmählich schwinden würde, doch bisher hatte sich diese Erwartung als trügerisch erwiesen.
Zu allem anderen kam hinzu, dass ihn Madeleine seit einigen Wochen anscheinend mit einer neuen Art von Sorge in den Augen betrachtete - nicht der flüchtige Ausdruck von Schmerz und Panik, den er im Krankenhaus gesehen hatte, und auch nicht der Wechsel von Hoffen und Bangen, der ihn in der ersten Genesungszeit begleitet hatte, sondern etwas Stilleres, Tieferes: eine halb verborgene, chronische Angst, als würde sie Zeugin eines schrecklichen Geschehens.
Immer noch am Frühstückstisch sitzend, trank er seinen Kaffee mit zwei großen Schlucken leer. Dann trug er den Becher zur Spüle und ließ heißes Wasser hineinlaufen. Nebenan im Vorraum reinigte Madeleine das Katzenklo. Auf ihr Drängen hin war das Tier vor Kurzem angeschafft worden. Warum, war Gurney ein Rätsel. Um ihn aufzumuntern? Damit er sich nicht immer nur mit sich selbst beschäftigte? Wenn ja, funktionierte es nicht. Die Katze interessierte ihn genauso wenig wie alles andere.
»Ich geh duschen«, verkündete er.
Aus dem Vorraum kam eine Antwort von Madeleine, die nach »gut« klang. Er war nicht sicher, ob er richtig gehört hatte, aber er fand es sinnlos nachzufragen. Er ging ins Bad und drehte das warme Wasser auf.
Eine lange, dampfend heiße Dusche - der starke Strahl, der Minute um Minute vom Halsansatz bis zum Ende der Wirbelsäule gegen seinen Rücken prasselte, Muskeln entspannte, Kapillargefäße erweiterte, Kopf und Nebenhöhlen freiblies -, das erzeugte ein Gefühl des Wohlbehagens in ihm, das ebenso wunderbar wie flüchtig war.
Bereits als er angezogen erneut zur Glastür trat, machte sich in ihm wieder ein lähmendes Gefühl von Anspannung breit. Madeleine war jetzt draußen auf der mit Bluestone- Platten ausgelegten Terrasse. Dahinter lag der schmale Streifen Wiese, der nach zwei Jahren häufigen Mähens endlich einem Rasen glich. In grober Jacke, orangefarbener Trainingshose und grünen Gummistiefeln arbeitete sie sich am Rand der Steinplatten entlang und trat eifrig alle fünfzehn Zentimeter den Spaten in den Boden, um die vordringenden Wurzeln des wilden Grases hinter eine klare Grenzlinie zu verbannen. Ihr Gesicht schien die Einladung auszudrücken, sich zu ihr zu gesellen, um sogleich einen enttäuschten Ausdruck anzunehmen, weil er keinerlei Anstalten machte.
Irritiert schaute er weg, den Hang hinunter zu seinem grünen Traktor neben der Scheune.
Sie folgte seinem Blick. »Ich hab mir überlegt, vielleicht könntest du mit dem Traktor die Furchen einebnen?«
»Furchen?«
»Wo wir die Autos parken.«
»Klar ...« Er zögerte. »Glaub schon.«
»Muss auch nicht gleich sein.«
»Hm.« Damit waren auch die letzten Reste von Gleichmut nach der Dusche verflogen, weil seine Gedanken jetzt um ein merkwürdiges Traktorproblem kreisten, das er vor einem Monat entdeckt und danach weitgehend verdrängt hatte - mit Ausnahme der paranoiden Momente, wenn es ihn in den Wahnsinn trieb.
Madeleine hatte ihn nicht aus den Augen gelassen. »Mir reicht's fürs Erste mit dem Graben.« Lächelnd legte sie den Spaten weg und ging um die Hausecke zur Seitentür, um vor dem Betreten der Küche im Vorraum die Stiefel auszuziehen.
Tief einatmend starrte er auf den Traktor und dachte ungefähr zum zwanzigsten Mal über das Rätsel der klemmenden Bremse nach. Wie in boshafter Harmonie schob sich langsam eine dunkle Wolke vor die Sonne. Der Frühling hatte sich anscheinend schon wieder verabschiedet.
2
Ein Riesengefallen für Connie Clarke
Das Anwesen der Gurneys lag an einem Höhenzug am Ende einer Landstraße außerhalb der Catskill-Ortschaft Walnut Crossing. Das alte Bauernhaus stand oberhalb der sanften Südhangseite. Eine verwilderte Wiese trennte es von einer großen roten Scheune und einem tiefen, von Rohrkolben umgebenen Weiher, hinter dem sich ein Wald aus Buchen, Ahornbäumen und Traubenkirschen hinzog. Nach Norden erstreckte sich eine zweite Wiese an der aufsteigenden Kammlinie entlang bis zu einem Kiefernwald und einer Reihe kleiner, verlassener Bluestone- Steinbrüche, die über das Nachbartal blickten.
Das Wetter hatte eine dramatische Kehrtwende gemacht, die in den Catskill-Bergen weitaus häufiger war als in New York, wo Dave und Madeleine herkamen. Wie eine amorphe schiefergraue Decke hing der Himmel über den Hügeln. Die Temperatur schien in nur zehn Minuten um ebenso viele Grad gesunken zu sein.
Sprühfeiner Schneeregen setzte ein. Gurney schloss die Terrassentür. Als er fest daran zog, um den Riegel vorzulegen, spürte er in der rechten Magenseite ein starkes Stechen. Kurz darauf folgte das nächste. Das war nichts Neues für ihn, und er wusste, dass er den Schmerz mit drei Ibuprofen bändigen konnte. Auf dem Weg zum Medizinschränkchen im Bad sann er darüber nach, dass das Schlimmste an der ganzen Sache nicht die körperlichen Beschwerden waren, sondern das Gefühl von Verletzlichkeit - die Erkenntnis, dass er nur durch großes Glück mit dem Leben davongekommen war.
Glück war eine Vorstellung, von der er nicht viel hielt. Etwas für Dummköpfe ohne Hirn. Blinder Zufall hatte ihm das Leben gerettet, aber der Zufall war kein verlässlicher Verbündeter. Er kannte jüngere Männer, die an Glück glaubten und so blind darauf vertrauten, als hätten sie es gepachtet. Doch mit seinen achtundvierzig Jahren wusste Gurney ganz genau, dass Glück nur Glück ist und dass die unsichtbare Hand, die die Münze wirft, so kalt ist wie die einer Leiche.
Der Schmerz in seinem Bauch erinnerte ihn auch daran, dass er den bevorstehenden Termin bei seinem Neurologen in Binghamton absagen wollte. In den letzten vier Monaten hatte er den Mann viermal aufgesucht, und das Ganze kam ihm zunehmend sinnlos vor - außer der Sinn bestand darin, Rechnungen an Gurneys Versicherung zu schicken.
Die Telefonnummer bewahrte er zusammen mit seinen medizinischen Unterlagen in seinem Schreibtisch auf. Statt sich Ibuprofen aus dem Bad zu holen, ging er ins Arbeitszimmer, um den Anruf zu erledigen. Während er die Nummer eintippte, malte er sich den Arzt aus: einen viel beschäftigten Mann Ende dreißig mit schwarzem, bereits zurückweichendem Haar, kleinen Augen, mädchenhaftem Mund, schwachem Kinn, glatten Händen, manikürten Fingernägeln, teuren Slippern, abweisendem Gebaren und ohne erkennbares Interesse für Gurneys Gedanken oder Gefühle. Die drei Frauen in seinem durchgestylten Empfangsbereich wirkten chronisch verwirrt und irritiert: durch den Doktor, die Patienten und die Daten auf ihren Computerbildschirmen.
Nach dem vierten Klingelton meldete sich eine Stimme mit an Verachtung grenzender Ungeduld. »Praxis Dr. Huffbarger.«
»Hier spricht David Gurney. Ich habe demnächst einen Termin bei Ihnen, den ich ...«
In scharfem Ton wurde er unterbrochen. »Bleiben Sie bitte dran.«
Im Hintergrund hörte er eine resolute Männerstimme, und einen Moment lang dachte er, es handle sich um einen verärgerten Patienten, der sich lang und breit beschwerte. Doch dann stellte eine andere Stimme eine Frage, und eine dritte ging im gleichen Ton hastig vorgetragener Entrüstung dazwischen. Es war der Nachrichtensender, der das Sitzen in Huffbargers Wartezimmer zur Qual machte.
»Hallo?« Gurney machte keinen Hehl aus seiner Gereiztheit. »Ist da jemand? Hallo?«
»Nur eine Minute, bitte.«
Die Stimmen, die er so aggressiv hohlköpfig fand, plapperten weiter, und er war kurz davor aufzulegen.
Da meldete sich die Arzthelferin. »Praxis Dr. Huffbarger. Was kann ich für Sie tun?«
»Hier ist David Gurney. Ich hab einen Termin, den ich absagen möchte.«
»Datum?«
»Heute in einer Woche um 11.40 Uhr.«
»Buchstabieren Sie bitte Ihren Namen.«
Er verkniff sich die Frage, wie viele Leute an diesem Tag um 11.40 Uhr einen Termin hatten, und buchstabierte seinen Namen.
»Und auf wann wollen Sie ihn verlegen?«
»Gar nicht. Ich sage einfach ab.«
»Sie müssen ihn aber verlegen.«
»Was?«
»Ich kann Dr. Huffbargers Termine nur verlegen, nicht streichen.«
»Aber es ist ...«
Unwirsch unterbrach sie ihn. »Ein bestehender Termin kann nicht aus dem System gelöscht werden, ohne ein neues Datum einzugeben. Das ist ein Grundsatz von Dr. Huffbarger.«
Gurney spürte, wie er die Lippen vor Zorn zusammenkniff. Viel zu viel Zorn. »Mich interessieren weder sein System noch seine Grundsätze. Betrachten Sie meinen Termin als abgesagt.«
»Dann wird die Gebühr für einen versäumten Termin fällig.«
»Nein, das wird sie nicht. Und wenn Huffbarger ein Problem damit hat, dann soll er mich anrufen.« Er beendete das Gespräch - aufgebracht, aber auch ein wenig verlegen, weil er sich derart hatte gehen lassen.
Er starrte durch das Fenster hinaus auf die obere Wiese, ohne sie wahrzunehmen.
Verdammt, was ist nur los mit mir?
Ein Stechen in seiner rechten Seite bot zumindest eine Teilantwort. Außerdem erinnerte es ihn daran, dass er auf dem Weg zum Medizinschränkchen gewesen war, bevor er den Schlenker zum Terminabsagen gemacht hatte.
Er steuerte aufs Bad zu. Der Mann, der ihn aus dem Spiegel anstarrte, gefiel ihm überhaupt nicht. Über die Stirn zogen sich Sorgenfalten, die Haut war farblos, die Augen blickten trüb und müde.
O Gott.
Er wusste, dass er sein tägliches Training wieder aufnehmen musste - die Einheiten mit Liegestützen, Klimmzügen und Rumpfbeugen, durch die er früher besser in Form gewesen war als viele andere, die nur halb so alt waren wie er. Doch jetzt sah er dem Mann im Spiegel jedes seiner achtundvierzig Jahre an und freute sich nicht unbedingt darüber. Nicht über die täglichen Symptome von Sterblichkeit, die sein Körper zeigte, und auch nicht über seinen Absturz aus bloßer Introvertiertheit in weitestgehende Isolation. Er freute sich ... über gar nichts mehr.
Er nahm das Fläschchen Ibuprofen aus dem Regal, schüttete drei kleine Pillen in die Hand und schob sie sich stirnrunzelnd in den Mund. Während er darauf wartete, dass das fließende Wasser kalt wurde, klingelte im Arbeitszimmer das Telefon. Huffbarger, dachte er. Oder seine Praxis. Er rührte sich nicht von der Stelle. Die können mich mal.
Dann kam Madeleine von oben herunter. Kurz darauf ging sie ans Telefon, gerade als der uralte Anrufbeantworter ansprang. Er hörte ihre Stimme, ohne ihre Worte zu verstehen, füllte einen kleinen Plastikbecher zur Hälfte mit Wasser und spülte schnell die drei Tabletten hinunter, die sich auf seiner Zunge schon teilweise aufgelöst hatten.
Offenbar kümmerte sich Madeleine um die Sache mit Huffbarger. Ihm war das ganz recht. Doch dann hörte er ihre Schritte im Flur und im Schlafzimmer. Sie trat durch die offene Badtür und streckte ihm das Telefon entgegen.
»Für dich.« Sie reichte es ihm und verließ den Raum.
In Erwartung eines unangenehmen Gesprächs mit Huffbarger oder einer seiner verbissenen Helferinnen schlug Gurney einen abweisend brüsken Ton an. »Ja?«
Am anderen Ende der Leitung herrschte eine Sekunde lang Schweigen.
»David?« Die klare Frauenstimme kam ihm zwar vertraut vor, ohne dass sein Gedächtnis ihm den passenden Namen oder ein Gesicht dazu liefern konnte.
»Ja?« Er klang jetzt freundlicher. »Tut mir leid, mit wem ...?«
»Ach, wie kannst du das vergessen? Jetzt bin ich aber beleidigt, Detective Gurney!«, rief die Unbekannte in gespielter Empörung. Plötzlich beschwor der Tonfall ein Bild herauf: eine drahtige, kluge, energiegeladene Blondine mit Queens-Akzent und den hohen Wangenknochen eines Models.
»Connie! Meine Güte, Connie Clarke. Schon eine Weile her.«
»Sechs Jahre, um genau zu sein.«
»Sechs Jahre, unglaublich.« Eigentlich bedeutete ihm die Zahl nicht viel und überraschte ihn auch nicht, doch er wusste nicht, was er sonst sagen sollte.
Er erinnerte sich mit gemischten Gefühlen an die Verbindung zu ihr. In ihrer Eigenschaft als selbstständige Journalistin hatte Connie Clarke für die Zeitschrift New York einen wohlwollenden Artikel über ihn geschrieben, nachdem er den Serienmörder Jason Strunk zur Strecke gebracht hatte - gerade einmal drei Jahre nach seiner Ernennung zum Detective First Grade, die ihm für die Lösung des Serienmordfalls Peter Piggert zuteil geworden war. Allerdings war dieser Artikel ein wenig zu wohlwollend gewesen; er verbreitete sich über seine außerordentlichen Erfolge bei der Klärung von Mordfällen und bezeichnete ihn sogar als Supercop des New York Police Department - ein Beiname, der seine fantasievolleren Kollegen zu einer endlosen Reihe amüsanter Varianten inspirierte.
»Und, wie lebt es sich so im friedlichen Rentnerland da oben?«
Das hörbare Grinsen in ihrer Stimme ließ ihn vermuten, dass sie von seiner inoffiziellen Teilnahme an den Ermittlungen in den Fällen Mellery und Perry wusste. »Manchmal friedlich, manchmal auch weniger.«
»O Mann, David, so kann man es wohl ausdrücken. Nach fünfundzwanzig Jahren beim NYPD gehst du in den Ruhestand, und nach ungefähr zehn Minuten in den verschlafenen Catskills steckst du plötzlich in einem Mordfall nach dem anderen. Anscheinend ziehst du Schwerverbrecher an wie ein Magnet. Nicht zu fassen! Und was sagt Madeleine dazu?«
»Du hast gerade mit ihr gesprochen. Du hättest sie selbst fragen sollen.«
Connie lachte wie über eine unglaublich geistreiche Bemerkung. »Und? Mal abgesehen von Mordermittlungen, wie sieht dein normaler Tag so aus?«
»Da gibt's nicht viel zu erzählen. Ziemlich geruhsam. Madeleine ist um einiges aktiver als ich.«
»Ich kann mir einfach nicht vorstellen, was du in so einem Postkartenidyll treibst. Dave, wie er Ahornsirup einkocht. Dave, wie er Apfelwein abfüllt. Dave, wie er im Hühnerstall Eier einsammelt.«
»Leider nicht. Kein Sirup, kein Apfelwein, keine Eier.« Zur Beschreibung des vergangenen halben Jahres fiel ihm ein ganz anderes Szenario ein. Dave, wie er den Helden spielt. Dave, wie er niedergeschossen wird. Dave, wie er viel zu langsam gesund wird. Dave, wie er immer depressiver, feindseliger und einsamer wird. Dave, wie er jede vorgeschlagene Unternehmung als empörenden Anschlag auf sein Recht empfindet, in seiner lähmenden Angst zu verharren. Dave, wie er mit nichts mehr zu tun haben will.
»Und was hast du zum Beispiel heute vor?«
»Um ganz ehrlich zu sein, Connie, verdammt wenig. Ich mache höchstens einen Rundgang um die Wiesen, klaube vielleicht ein paar Zweige auf, die im Winter runtergeweht worden sind, oder harke ein bisschen Dünger in die Gartenbeete. So was in der Richtung.«
»Klingt gar nicht so schlecht. Ich kenn Leute, die viel dafür geben würden, wenn sie mit dir tauschen könnten.«
Stumm wartete er, während sich die Stille in die Länge zog, damit sie endlich den Grund ihres Anrufs nannte. Denn es musste einen Grund geben. Er erinnerte sich noch gut an Connies Herzlichkeit und Redseligkeit, aber sie war eine Frau, die immer auf etwas hinauswollte. Unter der windzerzausten blonden Mähne verbarg sich ein stets hellwacher Verstand.
»Bestimmt möchtest du wissen, warum ich anrufe. Richtig?«
»Die Frage ist mir in den Sinn gekommen.«
»Ich ruf an, weil ich dich um einen Gefallen bitten möchte. Einen Riesengefallen.«
Nach kurzer Überlegung musste Gurney lachen.
»Was ist daran so lustig?« Sie klang ein wenig verunsichert.
»Du hast mir mal erklärt, es ist immer besser, um einen richtig großen Gefallen zu bitten, weil man bei kleinen leichter ablehnen kann.«
»Nein, das kann ich unmöglich gesagt haben. Es klingt so manipulativ. Einfach schrecklich. Das hast du dir ausgedacht, oder?« Sie war voll fröhlicher Entrüstung. Verunsicherung hielt bei Connie nie lange an.
»Schön, was kann ich für dich tun?«
»Du hast es dir also ausgedacht! Ich wusste es!«
»Wie gesagt, was kann ich für dich tun?«
»Jetzt macht es mich ganz verlegen, es auszusprechen, es ist nämlich wirklich ein Riesengefallen.« Sie legte eine Pause ein. »Erinnerst du dich an Kim?«
»Deine Tochter?«
»Meine Tochter, die dich verehrt.«
»Wie bitte?«
»Erzähl mir nicht, das hast du nicht gewusst.«
»Wovon redest du überhaupt?«
»Ach, David, David, David. Alle Frauen lieben dich, und du merkst es nicht mal.«
»Ich glaube, ich war einmal mit deiner Tochter im gleichen Zimmer, da war sie - was weiß ich - vielleicht fünfzehn. « Er erinnerte sich an ein Mittagessen in Connies Haus, an ein hübsches, sehr ernst wirkendes Mädchen, das mit ihnen am Tisch saß und kaum ein Wort sagte.
»Siebzehn war sie damals. Und verehren ist vielleicht ein bisschen übertrieben ausgedrückt. Aber sie fand dich wirklich unglaublich intelligent - und bei Kim bedeutet das eine Menge. Jetzt ist sie dreiundzwanzig, und ich weiß zufällig, dass sie immer noch eine sehr hohe Meinung von Dave Gurney, dem Supercop hat.«
»Das freut mich, aber ... irgendwie kann ich dir noch immer nicht ganz folgen.«
»Natürlich! Weil ich wirres Zeug rede, statt endlich zur Sache zu kommen. Vielleicht setzt du dich besser hin - es könnte ein bisschen dauern, bis ich es erklärt habe.«
Gurney stand nach wie vor am Waschbecken im Bad. Er ging hinüber ins Arbeitszimmer. Anstatt sich auf einem Stuhl niederzulassen, trat er zum hinteren Fenster. »Okay, Connie, ich sitze. Was hast du auf dem Herzen?«
»Nichts Schlimmes. Im Gegenteil, sogar was Fantastisches. Kim hat ein unglaubliches Angebot bekommen. Hab ich dir schon erzählt, dass sie sich für Journalismus interessiert?«
»Sie will in die Fußstapfen ihrer Mutter treten?«
»O Gott, sag das bloß nicht zu ihr, sonst wechselt sie über Nacht den Beruf! Ich glaube, ihr größtes Ziel ist Unabhängigkeit von ihrer Mutter. Und im Moment hat sie die Chance zu einem großen Karrieresprung. Aber vielleicht erklär ich dir das Ganze zumindest mal in Grundzügen, damit du weißt, worum es geht. Sie studiert Journalismus in Syracuse und steht kurz vor ihrem Master-Abschluss. Der Ort ist doch nicht weit von dir entfernt, oder?«
»Nicht direkt in der Nähe. Eindreiviertel Stunden mit dem Auto vielleicht.«
»Okay, also nicht so wahnsinnig weit weg. Nicht viel mehr als meine Pendelstrecke in die Stadt. Jedenfalls, für ihre Abschlussarbeit hatte sie die Idee zu einer Art Miniserie über Mordopfer. Nein, eigentlich nicht über die Opfer, sondern über die Familien, die Kinder. Sie will untersuchen, welche Langzeitauswirkungen es hat, wenn ein Elternteil ohne Aufklärung ermordet wurde.«
»Ohne ...«
»Genau, es soll nur um Fälle gehen, wo der Mörder nie gefasst wurde. Wo die Wunde nie richtig verheilt ist. Egal, wie viel Zeit vergangen ist, es bleibt der wichtigste emotionale Faktor in ihrem Leben - ein gigantisches Kraftfeld, das alles verändert. Sie hat auch schon einen Titel für die Serie: Die Mordwaisen. Klingt das nicht toll?«
»Interessante Idee.«
»Sehr interessant! Aber das Wichtigste hab ich noch gar nicht erwähnt. Es ist nicht bloß eine Idee. Es wird tatsächlich realisiert! Das Ganze hat als akademisches Projekt angefangen, doch ihr Betreuer war so beeindruckt, dass er ihr geholfen hat, den Entwurf zu einem richtigen Angebot auszuarbeiten. Er hat sie sogar bewogen, mit mehreren potenziellen Teilnehmern Ausschließlichkeitsvereinbarungen zu treffen, damit sie geschützt ist. Dann hat er ihr Angebot bei einem Bekannten in der Produktion von RAM TV eingereicht. Und stell dir vor: Der Typ von RAM will es machen! Über Nacht ist aus dieser kleinen Abschlussarbeit eine Karrierechance geworden, für die Leute mit zwanzig Jahren Berufserfahrung ihre rechte Hand hergeben würden. RAM ist zurzeit der heißeste Sender überhaupt.«
Aus Gurneys Sicht trug RAM die Hauptverantwortung dafür, dass Nachrichtenprogramme im Fernsehen zu einem lärmenden, grellen, rechthaberischen, alarmistischen Zirkus verkommen waren, er widerstand aber der Versuchung, seiner Meinung Ausdruck zu verleihen.
»Und jetzt fragst du dich natürlich«, fuhr Connie aufgeregt fort, »was das alles mit meinem Lieblingsermittler zu tun hat.«
»Ich warte.«
»Zwei Dinge. Erstens sollst du ihr über die Schulter schauen.«
»Und das heißt?«
»Dich mit ihr treffen. Ein Gespür dafür kriegen, was sie macht. Um zu sehen, ob das die Welt der Mordopfer widerspiegelt, die du kennst. Sie hat da eine große Chance. Wenn sie nicht zu viele Fehler begeht, kann sie ganz groß rauskommen.«
»Hm.«
»Bedeutet dieses Ächzen, dass du es machst? Kannst du es bitte machen, David?«
»Connie, ich hab keinen blassen Schimmer von Journalismus. « Und das Wenige, das er wusste, stieß ihn zum größten Teil ab. Doch wieder hielt er den Mund.
»Das Journalistische hat sie voll im Griff. Und sie ist wirklich intelligent. Nur eben immer noch ein Kind.«
»Und was ist mein Beitrag? Hohes Alter?«
»Realismus. Wissen. Routine. Perspektive. Die unglaubliche Erfahrung nach ... wie vielen Mordfällen?«
Er hatte den Eindruck, dass das keine echte Frage war, und schenkte sich die Antwort.
Connies Ton wurde noch intensiver. »Sie ist superbegabt, aber Begabung ist nicht das Gleiche wie Lebenserfahrung. Sie ist gerade dabei, Leute zu befragen, die durch einen Mord einen Elternteil oder einen anderen nahestehenden Menschen verloren haben. Dafür braucht sie eine realistische Herangehensweise. Einen breiten Überblick über das Terrain, verstehst du? Im Grunde geht es schlicht darum, dass einfach wahnsinnig viel auf dem Spiel steht. Und deswegen sollte sie so viel wie nur möglich wissen.«
Gurney seufzte. »Es gibt doch tonnenweise Material über Trauer, Tod, Verlust von nahestehenden ...«
Sie schnitt ihm das Wort ab. »Ja, ja, ich weiß - der populärpsychologische Quatsch mit den fünf Trauerphasen, klar. Das braucht sie nicht. Sie muss mit jemandem reden, der sich mit Mord auskennt, der die Opfer gesehen, der mit den Hinterbliebenen geredet, der ihnen in die Augen geschaut hat - jemand, der Bescheid weiß, nicht jemand, der ein Buch geschrieben hat.« Lange blieb sie still. »Also, machst du es? Du bräuchtest dich nur einmal mit ihr zu treffen, um zu sehen, was sie vorhat und ob das Ganze in deinen Augen einen Sinn ergibt.«
Als er so durchs Fenster hinaus auf die hintere Wiese starrte, erschien ihm die Aussicht auf ein Treffen mit Connies Tochter, um ihr Zutritt zur Welt des Müllfernsehens zu verschaffen, alles andere als verlockend. »Du hast von zwei Dingen gesprochen, Connie. Was ist der andere Punkt?«
»Also ...« Ihre Stimme wurde leiser. »Es gibt da vielleicht ein Problem mit einem Exfreund.«
»Was für ein Problem?«
»Das ist die Frage. Kim gibt sich gern unangreifbar, weißt du. Als hätte sie vor nichts und niemandem Angst.«
»Aber ...?«
»Aber es ist zumindest so, dass ihr dieses Arschloch fiese Streiche gespielt hat.«
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel geht er in ihre Wohnung und stellt Sachen um. Sie hat Andeutungen über ein Messer gemacht, das verschwunden und später wieder aufgetaucht ist, doch als ich nachgefragt habe, wollte sie nichts Genaueres erzählen. «
»Warum hat sie es dann deiner Meinung nach überhaupt erwähnt?«
»Vielleicht sucht sie einerseits Hilfe und andererseits nicht, kann sich nicht entscheiden.«
»Hat das Arschloch einen Namen?«
»Robert Meese ist der richtige Name. Er nennt sich aber Robert Montague.«
»Besteht da ein Zusammenhang mit ihrem TV-Projekt? «
»Keine Ahnung. Ich hab bloß so ein Gefühl, dass die Sache schlimmer ist, als sie zugeben will. Zumindest mir gegenüber.Also ..., David. Kannst du es bitte machen? Ich weiß nicht, wen ich sonst fragen soll.«
Als er nicht antwortete, fuhr sie fort. »Vielleicht ist es nur eine Überreaktion von mir. Vielleicht seh ich Gespenster, und es gibt gar kein Problem. Aber selbst dann wäre es toll, wenn du dir anhören könntest, was sie über ihr Projekt mit den Hinterbliebenen von Mordopfern zu sagen hat. Es bedeutet so viel für sie. So eine Chance kriegt sie nie wieder. Und sie ist so entschlossen, so überzeugt.«
»Du klingst aufgewühlt.«
»Ich weiß auch nicht. Ich ... mach mir einfach Sorgen.«
»Um ihr Projekt oder wegen ihrem Exfreund?«
»Vielleicht beides. Ich meine, irgendwie ist es fantastisch, oder? Aber zugleich bricht es mir das Herz, wenn ich mir vorstelle, dass sie vor lauter Entschlossenheit und Überzeugung und Selbstständigkeit in eine Klemme rein schlittert, aus der ich ihr nicht raushelfen kann. Mein Gott, David, du hast doch auch einen Sohn. Da kannst du meine Gefühle sicher verstehen.«
Zehn Minuten nach dem Ende des Gesprächs stand Gurney noch immer vor dem großen Nordfenster des Arbeitszimmers und rätselte über Connies völlig untypischen verunsicherten Tonfall. Vor allem aber überlegte er, warum er sich letztlich bereit erklärt hatte, mit Kim zu reden, und warum er sich bei der ganzen Sache so unwohl fühlte.
Vermutlich hatte es etwas mit Connies Bemerkung über seinen Sohn zu tun. Das war für ihn immer ein heikles Thema - aus Gründen, mit denen er sich jetzt nicht befassen wollte.
Das Telefon klingelte erneut. Erstaunt stellte er fest, dass er es in seiner Zerstreutheit die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte. Diesmal ist es bestimmt Huffbarger, dachte er, der seine idiotischen Grundsätze zur Absage von Terminen rechtfertigen will. Er war versucht, es läuten zu lassen, bis der Anrufbeantworter ansprang. Huffbarger konnte warten. Doch er wollte es auch hinter sich bringen, um nicht mehr daran denken zu müssen.
Er drückte auf die Sprechtaste. »Dave Gurney hier.«
Eine junge Frauenstimme meldete sich, hoch und klar. »Hallo Dave, vielen, vielen Dank! Connie hat mich gerade angerufen und mir gesagt, dass Sie bereit sind, mit mir zu reden.«
Einen Augenblick lang war er verwirrt. Er fand es immer merkwürdig, wenn ein Kind seine Eltern beim Vornamen nannte. »Kim?«
»Natürlich! Was dachten Sie denn?« Bevor er antworten konnte, sprudelte sie schon weiter. »Also, das passt super, einfach cool. Ich bin nämlich unterwegs aus der Stadt nach Syracuse und im Moment gerade am Kreuz von Route 18 und I-81. Das heißt, ich könnte schnell rüber auf die I-88 düsen und ungefähr in fünfunddreißig Minuten in Walnut Crossing sein. Wäre das okay für Sie? Ich weiß, das kommt total plötzlich, aber es trifft sich einfach so gut! Und ich freu mich schon so, Sie wiederzusehen!«
3
Mord verändert alles
Die Highways 17, 81 und 88 laufen in der Nähe von Binghamton zusammen, das eine gute Stunde von Walnut Crossing entfernt liegt. Gurney wusste nicht, ob Kims optimistische Schätzung auf fehlende Informationen oder überbordende Begeisterung zurückzuführen war. Doch das war die geringste Sorge, die ihn beschäftigte, als er den flotten roten Miata beobachtete, der sich auf dem Wiesenweg dem Haus näherte.
Er öffnete die Seitentür und trat hinaus aufs Gras zu seinem geparkten Outback. Der Miata stoppte gleich daneben, und eine junge Frau mit einer schmalen Aktentasche stieg aus. Sie trug Jeans, ein T-Shirt und einen modischen Blazer mit hochgekrempelten Ärmeln.
»Hätten Sie mich erkannt«, fragte sie mit einem offenen Lächeln, »wenn ich Ihnen nicht gesagt hätte, dass ich komme?«
»Vielleicht, wenn ich Zeit gehabt hätte, Sie genauer in Augenschein zu nehmen.« Er musterte ihr Gesicht, das von glänzendem braunem, in der Mitte gescheiteltem Haar umrahmt war. »Es ist das gleiche Gesicht, aber fröhlicher und glücklicher als bei dem Mittagessen mit Ihnen und Ihrer Mutter.«
Nachdenklich runzelte sie die Stirn, dann lachte sie. »Das war nicht bloß bei diesem Mittagessen so, sondern viele Jahre. Ich war damals wirklich nicht besonders glücklich. Ich habe lang gebraucht, um rauszufinden, was ich mit meinem Leben anfangen will.«
»Anscheinend haben Sie es schneller rausgefunden als die meisten Leute.«
Achselzuckend ließ sie den Blick über die Wiesen und Wälder streifen. »Wirklich schön hier. Sie lieben es bestimmt. Die Luft ist so sauber und kühl.«
»Vielleicht ein bisschen zu kühl für den ersten Frühlingstag. «
»O Gott, Sie haben recht! Ich hab so viel um die Ohren, dass ich nichts mehr mitkriege. Erster Frühlingstag. Wie konnte ich das vergessen?«
»Nicht weiter schwer bei den Temperaturen«, sagte er. »Kommen Sie rein. Drinnen ist es wärmer.«
Eine halbe Stunde später saßen Kim und Dave einander an dem kleinen Frühstückstisch in der Nische bei der Terrassentür gegenüber und beendeten die Mahlzeit aus Omeletts, Toast und Kaffee, die Madeleine serviert hatte, als sie erfuhr, dass Kim drei Stunden gefahren war, ohne etwas zu essen. Madeleine war schon fertig und machte jetzt den Herd sauber. Nachdem sie sich darauf geeinigt hatten, sich der Einfachheit halber zu duzen, erzählte Kim die Geschichte, die hinter ihrem Besuch steckte.
»Diese Idee trage ich schon seit Jahren mit mir rum - zu untersuchen, welche Folgen ein Mord für die Familie eines Opfers hat, und dadurch das Grauenvolle eines Mordes zu beleuchten. Ich wusste bloß nicht, was ich damit anfangen sollte. Manchmal habe ich einige Zeit nicht daran gedacht, aber dann kam es wieder zurück, stärker als zuvor. Ich war ganz besessen davon, ich musste einfach was damit machen. Zuerst dachte ich, es soll was Wissenschaftliches werden - vielleicht ein soziologisches oder psychologisches Werk. Also habe ich Anfragen an soundso viele Universitätsverlage verschickt, aber ich hatte nicht mal einen Bachelor, da waren sie nicht interessiert. Mein nächster Plan war ein normales Sachbuch. Natürlich braucht man für ein Buch einen Agenten, also wieder haufenweise Anfragen. Und Überraschung: null Interesse. Ich bin doch erst einundzwanzig, zweiundzwanzig, was ich mir überhaupt vorstelle? Was habe ich bereits geschrieben? Was kann ich vorweisen? Eigentlich bin ich für die nur ein Kind. Alles, was ich habe, ist eine Idee. Aber dann dämmert es mir auf einmal: na klar! Das ist kein Buch, das ist Fernsehen! Ab da hat eins zum anderen geführt. Mir schwebt eine Serie von intimen Interviews vor - Reality-TV im besten Sinne des Wortes. Sicher, inzwischen verbindet man damit eher was Schmieriges, doch das muss nicht so sein, nicht wenn es mit emotionaler Wahrheit gemacht wird!«
Sie unterbrach sich und ließ ein verlegenes Lächeln aufblitzen, ehe sie fortfuhr. »Jedenfalls, ich habe das alles in Form eines detaillierten Entwurfs zu einer Master-Arbeit zusammengebastelt und meinem Betreuer Dr. Wilson vorgelegt. Er fand die Idee großartig, mit echtem Potenzial. Er hat mir geholfen, ein kommerzielles Angebot daraus zu machen, und dafür gesorgt, dass ich nicht ganz ohne rechtliche Absicherung in die Realität reinstolpere. Dann hat er was getan, was er sonst nie macht. Nämlich das Ganze einem Produktionsmanager von RAM TV gegeben, den er persönlich kennt - Rudy Getz heißt der Typ. Und Getz hat sich ungefähr eine Woche später bei uns gemeldet und gesagt: ›Okay, das machen wir.‹«
»Einfach so?«, fragte Gurney.
»Ich war auch überrascht. Aber Getz meint, das ist die Arbeitsweise von RAM. Warum sollte ich ihm nicht glauben? Tatsache ist, dass ich diese Idee verwirklichen kann. Endlich kann ich dieses Thema erforschen ...« Sie schüttelte den Kopf, wie um eine Gefühlsaufwallung abzuwehren.
Madeleine kam herüber und setzte sich an den Tisch. Sie sprach aus, was Gurney dachte: »Die Sache ist wichtig für dich, oder? Ich meine, wirklich wichtig, nicht nur ein Karrieresprungbrett. «
»O Gott, ja!«
Madeleine lächelte sanft. »Und der Kern der Idee ..., der Teil, der so wichtig für dich ist ...?«
»Die Familien, die Kinder ...« Wieder stockte sie, offenbar überwältigt von einem Bild, das ihre Worte heraufbeschworen hatten. Sie schob ihren Stuhl zurück, stand auf und ging um den Tisch herum zur Glastür, durch die man über die Terrasse auf den Garten, die Wiese und den Wald dahinter sah.
»Irgendwie albern, ich kann es nicht erklären.« Sie hatte ihnen den Rücken zugekehrt. »Im Stehen fällt es mir leichter, darüber zu reden.« Sie räusperte sich zweimal, ehe sie mit kaum hörbarer Stimme begann. »Ich glaube, Mord verändert alles, für immer. Er stiehlt etwas, das sich nicht ersetzen lässt. Er hat Folgen, die weit über das hinausgehen, was mit dem Opfer passiert. Das Opfer verliert sein Leben, das ist schrecklich, es ist unfair, aber für den Betroffenen ist es vorbei, das Ende. Er hat alles verloren, was vielleicht hätte sein können, doch er weiß es nicht. Er kann keinen Verlust empfinden und sich nicht vorstellen, was möglich gewesen wäre.« Sie hob die Arme und drückte die Handflächen an die Fensterscheiben, eine Geste, die zugleich Gefühl und Beherrschung ausdrückte.
Ihre Stimme klang noch dringlicher, als sie weiterzureden begann. »Nicht der Ermordete erwacht in einem halb leeren Bett, einem halb leeren Haus. Nicht er träumt davon, dass er noch lebt, nur um mit der Erkenntnis aus dem Schlaf zu fahren, dass es nicht so ist. Er spürt nicht den verzehrenden Zorn und den Kummer, die sein Tod auslöst. Er sieht nicht ständig den leeren Stuhl am Tisch und den Schrank, der voll ist mit seinen Kleidern, er glaubt nicht ständig, seine Stimme zu hören ...« Sie wurde immer heiserer. Erneut räusperte sie sich. »Er spürt nicht die Qualen - als wäre einem das Herz aus dem Leib gerissen worden.«
Mehrere Sekunden lang lehnte sie am Glas, dann schob sie sich langsam zurück. Mit Tränen auf den Wangen wandte sie sich dem Tisch zu. »Ihr kennt doch Phantomschmerzen. Dieses Phänomen, das nach Amputationen auftritt. Man spürt Schmerzen an der Stelle, wo früher der Arm oder das Bein war. So ist Mord für die hinterbliebene Familie. Wie das Ziehen in einer Phantomextremität - ein unerträglicher Schmerz an einer leeren Stelle.«
Eine Weile stand sie völlig reglos, versunken in den Anblick ihrer inneren Landschaft. Dann wischte sie sich heftig mit den Händen übers Gesicht und hob mit einem plötzlichen Ausdruck der Entschlossenheit in den Augen den Kopf. Ihre Stimme wurde leidenschaftlich. »Um zu begreifen, was Mord in Wahrheit bedeutet, muss man mit den Familien sprechen. Das ist meine Theorie, mein Projekt, mein Plan. Und das ist auch das, wofür sich Rudy Getz begeistert.« Sie holte tief Luft und atmete langsam aus. »Wenn es nicht zu viel Mühe ist, könnte ich bitte noch eine Tasse Kaffee haben?«
»Das kriegen wir sicher hin.« Freundlich lächelnd trat Madeleine zur Kücheninsel und füllte die Kaffeemaschine nach.
Die gestreckten Finger nachdenklich ans Kinn gedrückt, lehnte sich Gurney zurück. Ein, zwei Minuten lang herrschte Schweigen. Nur das Gluckern der Kaffeemaschine war zu hören.
Kim blickte sich in der großen Küche um. »Wirklich nett bei euch. So anheimelnd und warm. Eigentlich perfekt. Das Haus auf dem Land, von dem alle träumen.«
Nachdem Madeleine Kim den Kaffee hingestellt hatte, ergriff Gurney als Erster das Wort. »Mir ist jetzt klar, dass du mit viel Leidenschaft an dieses Thema herangehst, dass es dir viel bedeutet. Leider ist mir noch nicht so klar, wie ich dir helfen soll.«
»Hat Connie es dir nicht erklärt?«
»Schau ihr über die Schulter - ich glaube, so hat sie es ausgedrückt.«
»Von anderen ... Problemen hat sie kein Wort fallen lassen? «
Gurney war erstaunt über diesen kindlich durchsichtigen Versuch, beiläufig zu klingen. »Zählt zu diesen Problemen auch dein Exfreund?«
»Sie hat Robby erwähnt?«
»Einen gewissen Robert Meese ... oder Montague.«
»Meese. Der Name Montague ist ...« Kopfschüttelnd verstummte sie. »Connie glaubt, ich brauche Schutz. Ich bin anderer Meinung. Robby ist ein Blödmann und extrem nervig, aber ich werd schon mit ihm fertig.«
»Steht er in Verbindung mit dem TV-Projekt?«
»Nicht mehr. Warum?«
»Nur aus Neugier.«
Neugier worauf? Worauf lasse ich mich da überhaupt ein, verdammt? Weshalb sitze ich überhaupt hier und höre zu, wie sich eine überspannte Studentin, die einen verrückten Freund am Hals hat, über ihre sentimentalen Vorstellungen von Mord und ihre große Chance auf Ruhm beim größten Schundsender Amerikas verbreitet? Höchste Zeit, dass ich einen Rückzieher mache, sonst lande ich im Treibsand.
Kim starrte ihn an, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »So kompliziert ist es gar nicht. Und da du mir so großzügig deine Hilfe angeboten hast, möchte ich auch ganz offen sein.«
»Wir kommen immer wieder darauf zurück, dass ich dir helfen soll, aber ich sehe nicht ...«
Madeleine, die nach dem Abwaschen der Omelettteller über der Spüle einen Schwamm ausdrückte, unterbrach ihn sanft: »Warum hören wir uns nicht einfach an, was Kim zu sagen hat?«
Gurney nickte. »Gute Idee.«
»Ich hab Robby vor knapp einem Jahr in der Theatergruppe kennengelernt. Er war bestimmt der attraktivste Typ auf dem ganzen Campus. Ein junger Johnny Depp. Vor ungefähr sechs Monaten sind wir zusammengezogen. Eine Zeit lang war ich überglücklich. Als ich mich ganz auf mein Mord-Projekt konzentriert habe, hat er mich unterstützt. Als ich die Familien aussuchte, die ich interviewen wollte, hat er mich sogar begleitet, mitgemacht und sich in das Ganze eingefügt. Und genau da hat er allmählich ... sein hässliches Gesicht gezeigt.« Sie trank einen Schluck Kaffee.
»Je mehr er sich beteiligt hat, desto mehr fing er an, die Sache an sich zu reißen. Er hat mir nicht mehr bei meinem Projekt geholfen, es war auf einmal unser Projekt, und schließlich führte er sich auf, als wäre es sein Projekt. Nach unserem Treffen mit einer Familie hat er den Leuten seine Karte mit seinen Kontaktdaten gegeben und ihnen versichert, dass sie ihn jederzeit erreichen können. Das war auch die Zeit, wo diese lächerliche Montague-Geschichte anfing. Er hat sich neue Karten drucken lassen mit der Aufschrift: Robert Montague, Dokumentarfilmproduktion & Kreativ-Consulting.«
Gurney blinzelte skeptisch. »Er wollte dich rausbugsieren und das Projekt kapern?«
»Nein, es war noch viel kränker. Robby Meese sieht aus wie ein junger Gott, aber er stammt aus einem zerrütteten Elternhaus, wo schlimme Dinge passiert sind, und er hat fast seine ganze Kindheit bei genauso verkorksten Pflegefamilien verbracht. Ganz tief drinnen ist er der unsicherste Mensch, den man sich vorstellen kann. Wir haben mit einigen Familien geredet und wollten, dass sie einen Vertrag für offizielle Interviews unterschreiben. Robby hat verzweifelt versucht, sie zu beeindrucken. Ich glaube, er hätte alles getan, um gut bei ihnen anzukommen und von ihnen akzeptiert zu werden. Er wollte ihre Zuneigung. Es war irgendwie widerlich.«
»Wie hast du dich verhalten?«
»Zuerst war ich ratlos. Dann hat es sich zugespitzt, als ich rausfand, dass er auf eigene Faust Gespräche mit jemandem aus einer wichtigen Familie geführt hatte, einem Mann, an den ich wirklich rankommen wollte. Ich habe Robby zur Rede gestellt, und das Ganze endete in einem Schreiduell. Daraufhin hab ich ihn aus unserer Wohnung geworfen - aus meiner Wohnung. Und mir außerdem von Connies Anwalt einen netten Drohbrief aufsetzen lassen, damit er die Finger von dem Projekt lässt - von meinem Projekt.«
»Wie hat er reagiert?«
»Zuerst wurde er furchtbar freundlich, schleimig-freundlich, doch ich bin hart geblieben. Dann fing er davon an, dass das Herumstochern in alten Mordfällen gefährlich sein kann, dass ich vorsichtig sein soll, dass ich vielleicht nicht weiß, worauf ich mich da einlasse. Spätnachts hat er mich angerufen und mir Nachrichten hinterlassen, dass er mich beschützen kann und dass viele Leute, mit denen ich zu tun habe - unter anderem mein Master-Betreuer -, nicht das sind, was sie scheinen.«
Gurney richtete sich ein wenig gerader in seinem Stuhl auf. »Und dann?«
»Dann? Ich hab ihm gesagt, dass ich eine einstweilige Verfügung beantrage und ihn als Stalker verhaften lasse, wenn er mich nicht in Ruhe lässt.«
»Hat das gewirkt?«
»Kommt ganz darauf an, wie man es sieht. Angerufen hat er nicht mehr. Aber auf einmal sind komische Sachen passiert.«
Madeleine hörte auf, an der Spüle herumzuhantieren, und trat zum Tisch. »Das wird ja immer heftiger. Darf ich mich dazusetzen?«
»Klar, gern«, antwortete Kim. Als Madeleine Platz genommen hatte, fuhr sie fort. »Zuerst sind Küchenmesser verschwunden. Eines Tages, als ich von der Uni heimkam, konnte ich meinen Kater nicht finden. Schließlich hab ich sein leises Miauen gehört. Er war in einem Wandschrank und die Tür abgeschlossen - ein Wandschrank, den ich nicht benutze. Und einmal hab ich verschlafen, weil die Zeit auf meinem Wecker verstellt worden war.«
»Unangenehm, aber noch relativ harmlos«, konstatierte Gurney. Madeleines Miene ließ keinen Zweifel daran, dass sie völlig anderer Meinung war, daher fügte er hinzu: »Ich möchte hier nicht die emotionale Wirkung von gemeinen Streichen dieser Art runterspielen. Ich wollte nur darauf hinaus, ab wann so eine Belästigung strafbar ist.«
Kim nickte. »Verstehe. Also, die Streiche wurden noch gemeiner. Eines Abends kam ich spät nach Hause, und im Bad auf dem Boden war ein Blutstropfen - ungefähr so groß wie ein Zehn-Cent-Stück. Und daneben lag eines
meiner verschwundenen Küchenmesser.«
»O Gott«, entfuhr es Madeleine.
»Einige Nächte darauf haben auf einmal diese unheimlichen Geräusche angefangen. Irgendwas hat mich aufgeweckt, was, weiß ich nicht, und plötzlich höre ich eine knarrende Diele, dann nichts mehr, darauf eine Art Atmen, bevor es wieder still wird.«
Madeleine starrte sie erschrocken an.
»Du lebst in einer Wohnung?«, fragte Gurney.
»Einem kleinen Haus, aufgeteilt in eine Wohnung im Erdgeschoss und eine im ersten Stock, dazu ein Keller. Solche abgestürzten Hütten, die für Studenten in billige Wohnungen unterteilt sind, gibt es viele in der Umgebung der Uni. Im Moment bin ich in meinem Haus die einzige Bewohnerin. «
»Du bist allein dort?« Madeleine machte große Augen. »Da bist du viel mutiger als ich. Ich würde da so schnell verschwinden ...«
Kims Augen blitzten zornig. »Vor diesem kleinen Scheißer lauf ich nicht davon!«
»Hast du diese Vorfälle bei der Polizei gemeldet?«
Sie stieß ein bitteres, kleines Lachen aus. »Klar. Das Blut, die Messer, die Geräusche in der Nacht. Die Cops kommen ins Haus, sie schauen sich um, sie prüfen die Fenster, sie langweilen sich tödlich. Kann mir lebhaft vorstellen, wie sie die Augen verdrehen, wenn ich anrufe und ihnen meinen Namen und meine Adresse nenne. Ist doch klar, dass sie mich für eine paranoide Nervensäge halten. Süchtig nach Aufmerksamkeit. Die blöde kleine Schlampe, die immer übertreibt mit ihren Exfreund-Problemen.«
»Ich nehme an, dass du die Schlösser ausgewechselt hast?« Gurney blieb äußerlich gelassen.
»Zweimal. Hat nichts geholfen.«
»Glaubst du, Robby Meese ist verantwortlich für diese ... Einschüchterungsversuche?«
»Das glaube ich nicht, ich weiß es.«
»Wieso bist du da so sicher?«
»Wenn du seine Anrufe gehört hättest, nachdem ich ihn rausgeworfen habe - seine Stimme. Oder wenn du sein Gesicht gesehen hättest, wenn wir uns auf dem Campus über den Weg gelaufen sind. Dann wärst du dir auch sicher. Die gleiche Seltsamkeit. Ich kann es nicht erklären, aber was da passierte, ist auf die gleiche Weise unheimlich wie Robby selbst.«
In der folgenden Stille presste Kim die Hände um ihre Kaffeetasse. Gurney fühlte sich daran erinnert, wie sie vorhin an der Tür gestanden und die Handflächen ans Glas gedrückt hatte. Gefühl und Beherrschung.
Er dachte über ihre Idee nach, die in den Mittelpunkt stellte, welche Schmerzen ein Mord auslöste. Was sie geschildert hatte, entsprach der Wahrheit. In manchen Fällen riss die Tat eines Mörders ein Loch in eine Familie - Ehepartner, Kinder, Eltern blieben verzweifelt zurück, das ganze Leben erfüllt von Trauer und Wut.
In anderen Fällen hingegen gab es kaum Trauer oder Emotionen irgendwelcher Art. Gurney hatte zu viele solcher Fälle erlebt. Männer, die ein hässliches Leben führten und einen hässlichen Tod starben. Drogenhändler, Zuhälter, Berufsverbrecher, halbwüchsige Vergewaltiger, die mit echten Waffen Videospiele nachspielten. Der menschlichen Zerstörungswut waren keine Grenzen gesetzt. Manchmal hatte er diesen Traum, stets den gleichen, mit einem Bild aus den Konzentrationslagern: Ein Bulldozer, der skelettartige Leichen in einen breiten Graben schob wie Gliederpuppen. Wie Schutt.
Er musterte die junge Frau mit den intensiven dunklen Augen, die noch immer ihre lauwarme Tasse umklammerte. Sie hatte sich nach vorn gebeugt, das Gesicht halb verborgen hinter ihrem glänzenden Haar.
Verstohlen blickte er mit einer Frage in den Augen zu Madeleine.
Sie zuckte leicht die Achseln und deutete ein Lächeln an. Eine sachte Aufforderung zum Handeln.
Er wandte sich wieder Kim zu. »Also gut. Dann kommen wir noch mal auf die Grundfrage zurück. Wie kann ich dir helfen?«
Copyright © 2013 by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Die Terrassentür stand offen.
Von seinem Platz neben dem Frühstückstisch konnte Dave Gurney erkennen, dass sich die letzten Schneeflecken wie Gletscher aus der offenen Wiese zurückgezogen hatten und sich nur noch in besonders schattigen Winkeln der umliegenden Wälder hielten.
Die würzigen Aromen der feuchten Erde und des ungemähten Grases vom letzten Sommer wehten in die Küche des Bauernhauses. Magische Gerüche, die ihn früher in ihren Bann gezogen hatten. Doch jetzt berührten sie ihn kaum.
»Geh doch raus«, meinte Madeleine, die gerade an der Spüle ihre Müslischüssel abwusch. »Raus in die Sonne. Es ist einfach herrlich.«
»Ja, das seh ich.« Er bewegte sich nicht.
»Setz dich auf einen von den Adirondacks und trink dort deinen Kaffee.« Sie stellte die Schüssel in das Abtropfgestell. »Ein bisschen Sonne würde dir sicher guttun.«
»Hm.« Nach einem unbestimmten Nicken nahm er wieder einen Schluck aus seinem Becher. »Ist das der gleiche Kaffee, den wir immer haben?«
»Ist was damit?«
»Hab ich nicht gesagt.«
»Ja, es ist die gleiche Sorte.«
Er seufzte. »Ich glaube, ich krieg eine Erkältung. Seit zwei Tagen schmecken die Sachen nach fast gar nichts mehr.«
Sie legte die Hände auf die Kante der Kücheninsel und musterte ihn. »Du musst einfach mehr rauskommen. Du musst was tun.«
»Stimmt.«
»Im Ernst. Du kannst nicht den ganzen Tag im Haus hocken und die Wand anstarren. Das macht dich krank. Klar, dass du da nichts mehr schmeckst. Hast du Connie Clarke schon zurückgerufen?«
»Mach ich später.«
»Wann?«
»Wenn mir danach ist.«
Er konnte sich nicht vorstellen, dass ihm in absehbarer Zeit danach sein würde. So fühlte er sich einfach im Augenblick - seit einem halben Jahr bereits. Als hätte er sich nach den Verletzungen, die er am Ende des bizarren Mordfalls Jillian Perry davongetragen hatte, völlig aus dem normalen Leben zurückgezogen: Er mied alltägliche Aufgaben, Pläne, Menschen, Telefonanrufe, Vereinbarungen jeder Art. Es war so weit mit ihm gekommen, dass ihm nichts so lieb war wie der Anblick einer leeren Kalenderseite für den kommenden Monat - keine Verabredungen, keine Zusagen. Rückzug war für ihn inzwischen gleichbedeutend mit Freiheit.
Immerhin reichte seine Objektivität noch aus, um zu erkennen, dass diese Entwicklung nicht gut für ihn war, dass ihm diese Freiheit keinen Frieden brachte. Nicht Gelassenheit prägte seinen Gemütszustand, sondern Feindseligkeit.
Bis zu einem gewissen Grad verstand er die seltsame Entropie, die das Gewebe seines Lebens zersetzte und ihn immer mehr isolierte. Zumindest konnte er aufzählen, worin er ihre Ursachen sah. Ganz oben siedelte er den Tinnitus an, an dem er seit dem Erwachen aus dem Koma litt. Sehr wahrscheinlich hatte dieser schon zwei Wochen davor eingesetzt, als in einem kleinen Zimmer drei Schüsse aus nächster Entfernung auf ihn abgegeben worden waren.
Das beharrliche Geräusch in seinen Ohren (das nach Auskunft des Facharztes eigentlich eine vom Gehirn fälschlicherweise als Geräusch gedeutete neuronale Anomalie war) ließ sich am ehesten als hohes, leises Zischen beschreiben. Die bei Rockmusikern und Kriegsveteranen stark verbreitete Erscheinung stellte ein anatomisches Rätsel dar und war abgesehen von einigen Fällen, bei denen es spontan wieder verschwand, meistens unheilbar. »Offen gestanden, Detective Gurney«, lautete das Fazit des Arztes, »wenn man bedenkt, dass Sie ein schweres Trauma und Koma hinter sich haben, dann können Sie von Glück sagen, dass Sie mit einem leisen Klingeln in den Ohren davongekommen sind.«
Gegen diese Einschätzung ließ sich wenig einwenden. Doch das machte es auch nicht leichter für ihn, sich an das schwache Fiepen zu gewöhnen, das ihn plagte, sobald es um ihn herum still wurde. Vor allem nachts war es ein Problem. Was untertags dem harmlosen Pfeifen eines Teekessels in einem entfernten Zimmer glich, gewann in der Dunkelheit eine unheimliche Dimension, die ihn umschloss wie eine kalte, metallische Atmosphäre.
Dazu kamen die Träume - klaustrophobische Träume über seine Erlebnisse im Krankenhaus, Erinnerungen an die beengende Manschette, die seinen Arm ruhiggestellt hatte, und an seine Atemprobleme -, die nach dem Erwachen ein anhaltendes Gefühl der Panik in ihm hinterließen.
Noch immer war da eine taube Stelle an seinem rechten Unterarm, wo die erste Kugel des Angreifers das Handgelenk zerschmettert hatte. Diese Stelle prüfte er regelmäßig, manchmal sogar stündlich, in der Hoffnung, dass die Taubheit allmählich nachließ - oder, an düsteren Tagen, in der Furcht, sie könnte sich ausbreiten. Gelegentlich und völlig unvorhersehbar spürte er einen stechenden Schmerz in der Seite, wo die zweite Kugel seinen Körper durchschlagen hatte. Außerdem trat in ungleichmäßigen Abständen ein Prickeln - wie eine Art Juckreiz, gegen den selbst Kratzen nicht half - im Zentrum seines Haaransatzes auf, wo die dritte Kugel in seinen Schädelknochen eingedrungen war.
Die wohl quälendste Folge dieser Verletzungen war sein Wunsch nach Bewaffnung. Früher in der Arbeit hatte er eine Pistole getragen, weil es Vorschrift war, doch im Gegensatz zu den meisten Polizisten nie eine Vorliebe für Schusswaffen gehabt. Und als er nach fünfundzwanzig Jahren aus dem aktiven Dienst ausschied, legte er zusammen mit der goldenen Marke des Detective auch die Notwendigkeit ab, bewaffnet zu sein.
Aber nach den Schüssen auf ihn war es damit vorbei.
Wenn er sich jetzt am Morgen anzog, war der unvermeidliche, letzte Gegenstand, den er umschnallte, ein Knöchelhalfter, in dem eine Beretta Kaliber .32 steckte. Er hasste das emotionale Verlangen danach. Hasste die Veränderung in ihm, die ihn dazu zwang, das blöde Ding ständig mit sich herumzuschleppen. Eigentlich hatte er gehofft, dass dieses Bedürfnis allmählich schwinden würde, doch bisher hatte sich diese Erwartung als trügerisch erwiesen.
Zu allem anderen kam hinzu, dass ihn Madeleine seit einigen Wochen anscheinend mit einer neuen Art von Sorge in den Augen betrachtete - nicht der flüchtige Ausdruck von Schmerz und Panik, den er im Krankenhaus gesehen hatte, und auch nicht der Wechsel von Hoffen und Bangen, der ihn in der ersten Genesungszeit begleitet hatte, sondern etwas Stilleres, Tieferes: eine halb verborgene, chronische Angst, als würde sie Zeugin eines schrecklichen Geschehens.
Immer noch am Frühstückstisch sitzend, trank er seinen Kaffee mit zwei großen Schlucken leer. Dann trug er den Becher zur Spüle und ließ heißes Wasser hineinlaufen. Nebenan im Vorraum reinigte Madeleine das Katzenklo. Auf ihr Drängen hin war das Tier vor Kurzem angeschafft worden. Warum, war Gurney ein Rätsel. Um ihn aufzumuntern? Damit er sich nicht immer nur mit sich selbst beschäftigte? Wenn ja, funktionierte es nicht. Die Katze interessierte ihn genauso wenig wie alles andere.
»Ich geh duschen«, verkündete er.
Aus dem Vorraum kam eine Antwort von Madeleine, die nach »gut« klang. Er war nicht sicher, ob er richtig gehört hatte, aber er fand es sinnlos nachzufragen. Er ging ins Bad und drehte das warme Wasser auf.
Eine lange, dampfend heiße Dusche - der starke Strahl, der Minute um Minute vom Halsansatz bis zum Ende der Wirbelsäule gegen seinen Rücken prasselte, Muskeln entspannte, Kapillargefäße erweiterte, Kopf und Nebenhöhlen freiblies -, das erzeugte ein Gefühl des Wohlbehagens in ihm, das ebenso wunderbar wie flüchtig war.
Bereits als er angezogen erneut zur Glastür trat, machte sich in ihm wieder ein lähmendes Gefühl von Anspannung breit. Madeleine war jetzt draußen auf der mit Bluestone- Platten ausgelegten Terrasse. Dahinter lag der schmale Streifen Wiese, der nach zwei Jahren häufigen Mähens endlich einem Rasen glich. In grober Jacke, orangefarbener Trainingshose und grünen Gummistiefeln arbeitete sie sich am Rand der Steinplatten entlang und trat eifrig alle fünfzehn Zentimeter den Spaten in den Boden, um die vordringenden Wurzeln des wilden Grases hinter eine klare Grenzlinie zu verbannen. Ihr Gesicht schien die Einladung auszudrücken, sich zu ihr zu gesellen, um sogleich einen enttäuschten Ausdruck anzunehmen, weil er keinerlei Anstalten machte.
Irritiert schaute er weg, den Hang hinunter zu seinem grünen Traktor neben der Scheune.
Sie folgte seinem Blick. »Ich hab mir überlegt, vielleicht könntest du mit dem Traktor die Furchen einebnen?«
»Furchen?«
»Wo wir die Autos parken.«
»Klar ...« Er zögerte. »Glaub schon.«
»Muss auch nicht gleich sein.«
»Hm.« Damit waren auch die letzten Reste von Gleichmut nach der Dusche verflogen, weil seine Gedanken jetzt um ein merkwürdiges Traktorproblem kreisten, das er vor einem Monat entdeckt und danach weitgehend verdrängt hatte - mit Ausnahme der paranoiden Momente, wenn es ihn in den Wahnsinn trieb.
Madeleine hatte ihn nicht aus den Augen gelassen. »Mir reicht's fürs Erste mit dem Graben.« Lächelnd legte sie den Spaten weg und ging um die Hausecke zur Seitentür, um vor dem Betreten der Küche im Vorraum die Stiefel auszuziehen.
Tief einatmend starrte er auf den Traktor und dachte ungefähr zum zwanzigsten Mal über das Rätsel der klemmenden Bremse nach. Wie in boshafter Harmonie schob sich langsam eine dunkle Wolke vor die Sonne. Der Frühling hatte sich anscheinend schon wieder verabschiedet.
2
Ein Riesengefallen für Connie Clarke
Das Anwesen der Gurneys lag an einem Höhenzug am Ende einer Landstraße außerhalb der Catskill-Ortschaft Walnut Crossing. Das alte Bauernhaus stand oberhalb der sanften Südhangseite. Eine verwilderte Wiese trennte es von einer großen roten Scheune und einem tiefen, von Rohrkolben umgebenen Weiher, hinter dem sich ein Wald aus Buchen, Ahornbäumen und Traubenkirschen hinzog. Nach Norden erstreckte sich eine zweite Wiese an der aufsteigenden Kammlinie entlang bis zu einem Kiefernwald und einer Reihe kleiner, verlassener Bluestone- Steinbrüche, die über das Nachbartal blickten.
Das Wetter hatte eine dramatische Kehrtwende gemacht, die in den Catskill-Bergen weitaus häufiger war als in New York, wo Dave und Madeleine herkamen. Wie eine amorphe schiefergraue Decke hing der Himmel über den Hügeln. Die Temperatur schien in nur zehn Minuten um ebenso viele Grad gesunken zu sein.
Sprühfeiner Schneeregen setzte ein. Gurney schloss die Terrassentür. Als er fest daran zog, um den Riegel vorzulegen, spürte er in der rechten Magenseite ein starkes Stechen. Kurz darauf folgte das nächste. Das war nichts Neues für ihn, und er wusste, dass er den Schmerz mit drei Ibuprofen bändigen konnte. Auf dem Weg zum Medizinschränkchen im Bad sann er darüber nach, dass das Schlimmste an der ganzen Sache nicht die körperlichen Beschwerden waren, sondern das Gefühl von Verletzlichkeit - die Erkenntnis, dass er nur durch großes Glück mit dem Leben davongekommen war.
Glück war eine Vorstellung, von der er nicht viel hielt. Etwas für Dummköpfe ohne Hirn. Blinder Zufall hatte ihm das Leben gerettet, aber der Zufall war kein verlässlicher Verbündeter. Er kannte jüngere Männer, die an Glück glaubten und so blind darauf vertrauten, als hätten sie es gepachtet. Doch mit seinen achtundvierzig Jahren wusste Gurney ganz genau, dass Glück nur Glück ist und dass die unsichtbare Hand, die die Münze wirft, so kalt ist wie die einer Leiche.
Der Schmerz in seinem Bauch erinnerte ihn auch daran, dass er den bevorstehenden Termin bei seinem Neurologen in Binghamton absagen wollte. In den letzten vier Monaten hatte er den Mann viermal aufgesucht, und das Ganze kam ihm zunehmend sinnlos vor - außer der Sinn bestand darin, Rechnungen an Gurneys Versicherung zu schicken.
Die Telefonnummer bewahrte er zusammen mit seinen medizinischen Unterlagen in seinem Schreibtisch auf. Statt sich Ibuprofen aus dem Bad zu holen, ging er ins Arbeitszimmer, um den Anruf zu erledigen. Während er die Nummer eintippte, malte er sich den Arzt aus: einen viel beschäftigten Mann Ende dreißig mit schwarzem, bereits zurückweichendem Haar, kleinen Augen, mädchenhaftem Mund, schwachem Kinn, glatten Händen, manikürten Fingernägeln, teuren Slippern, abweisendem Gebaren und ohne erkennbares Interesse für Gurneys Gedanken oder Gefühle. Die drei Frauen in seinem durchgestylten Empfangsbereich wirkten chronisch verwirrt und irritiert: durch den Doktor, die Patienten und die Daten auf ihren Computerbildschirmen.
Nach dem vierten Klingelton meldete sich eine Stimme mit an Verachtung grenzender Ungeduld. »Praxis Dr. Huffbarger.«
»Hier spricht David Gurney. Ich habe demnächst einen Termin bei Ihnen, den ich ...«
In scharfem Ton wurde er unterbrochen. »Bleiben Sie bitte dran.«
Im Hintergrund hörte er eine resolute Männerstimme, und einen Moment lang dachte er, es handle sich um einen verärgerten Patienten, der sich lang und breit beschwerte. Doch dann stellte eine andere Stimme eine Frage, und eine dritte ging im gleichen Ton hastig vorgetragener Entrüstung dazwischen. Es war der Nachrichtensender, der das Sitzen in Huffbargers Wartezimmer zur Qual machte.
»Hallo?« Gurney machte keinen Hehl aus seiner Gereiztheit. »Ist da jemand? Hallo?«
»Nur eine Minute, bitte.«
Die Stimmen, die er so aggressiv hohlköpfig fand, plapperten weiter, und er war kurz davor aufzulegen.
Da meldete sich die Arzthelferin. »Praxis Dr. Huffbarger. Was kann ich für Sie tun?«
»Hier ist David Gurney. Ich hab einen Termin, den ich absagen möchte.«
»Datum?«
»Heute in einer Woche um 11.40 Uhr.«
»Buchstabieren Sie bitte Ihren Namen.«
Er verkniff sich die Frage, wie viele Leute an diesem Tag um 11.40 Uhr einen Termin hatten, und buchstabierte seinen Namen.
»Und auf wann wollen Sie ihn verlegen?«
»Gar nicht. Ich sage einfach ab.«
»Sie müssen ihn aber verlegen.«
»Was?«
»Ich kann Dr. Huffbargers Termine nur verlegen, nicht streichen.«
»Aber es ist ...«
Unwirsch unterbrach sie ihn. »Ein bestehender Termin kann nicht aus dem System gelöscht werden, ohne ein neues Datum einzugeben. Das ist ein Grundsatz von Dr. Huffbarger.«
Gurney spürte, wie er die Lippen vor Zorn zusammenkniff. Viel zu viel Zorn. »Mich interessieren weder sein System noch seine Grundsätze. Betrachten Sie meinen Termin als abgesagt.«
»Dann wird die Gebühr für einen versäumten Termin fällig.«
»Nein, das wird sie nicht. Und wenn Huffbarger ein Problem damit hat, dann soll er mich anrufen.« Er beendete das Gespräch - aufgebracht, aber auch ein wenig verlegen, weil er sich derart hatte gehen lassen.
Er starrte durch das Fenster hinaus auf die obere Wiese, ohne sie wahrzunehmen.
Verdammt, was ist nur los mit mir?
Ein Stechen in seiner rechten Seite bot zumindest eine Teilantwort. Außerdem erinnerte es ihn daran, dass er auf dem Weg zum Medizinschränkchen gewesen war, bevor er den Schlenker zum Terminabsagen gemacht hatte.
Er steuerte aufs Bad zu. Der Mann, der ihn aus dem Spiegel anstarrte, gefiel ihm überhaupt nicht. Über die Stirn zogen sich Sorgenfalten, die Haut war farblos, die Augen blickten trüb und müde.
O Gott.
Er wusste, dass er sein tägliches Training wieder aufnehmen musste - die Einheiten mit Liegestützen, Klimmzügen und Rumpfbeugen, durch die er früher besser in Form gewesen war als viele andere, die nur halb so alt waren wie er. Doch jetzt sah er dem Mann im Spiegel jedes seiner achtundvierzig Jahre an und freute sich nicht unbedingt darüber. Nicht über die täglichen Symptome von Sterblichkeit, die sein Körper zeigte, und auch nicht über seinen Absturz aus bloßer Introvertiertheit in weitestgehende Isolation. Er freute sich ... über gar nichts mehr.
Er nahm das Fläschchen Ibuprofen aus dem Regal, schüttete drei kleine Pillen in die Hand und schob sie sich stirnrunzelnd in den Mund. Während er darauf wartete, dass das fließende Wasser kalt wurde, klingelte im Arbeitszimmer das Telefon. Huffbarger, dachte er. Oder seine Praxis. Er rührte sich nicht von der Stelle. Die können mich mal.
Dann kam Madeleine von oben herunter. Kurz darauf ging sie ans Telefon, gerade als der uralte Anrufbeantworter ansprang. Er hörte ihre Stimme, ohne ihre Worte zu verstehen, füllte einen kleinen Plastikbecher zur Hälfte mit Wasser und spülte schnell die drei Tabletten hinunter, die sich auf seiner Zunge schon teilweise aufgelöst hatten.
Offenbar kümmerte sich Madeleine um die Sache mit Huffbarger. Ihm war das ganz recht. Doch dann hörte er ihre Schritte im Flur und im Schlafzimmer. Sie trat durch die offene Badtür und streckte ihm das Telefon entgegen.
»Für dich.« Sie reichte es ihm und verließ den Raum.
In Erwartung eines unangenehmen Gesprächs mit Huffbarger oder einer seiner verbissenen Helferinnen schlug Gurney einen abweisend brüsken Ton an. »Ja?«
Am anderen Ende der Leitung herrschte eine Sekunde lang Schweigen.
»David?« Die klare Frauenstimme kam ihm zwar vertraut vor, ohne dass sein Gedächtnis ihm den passenden Namen oder ein Gesicht dazu liefern konnte.
»Ja?« Er klang jetzt freundlicher. »Tut mir leid, mit wem ...?«
»Ach, wie kannst du das vergessen? Jetzt bin ich aber beleidigt, Detective Gurney!«, rief die Unbekannte in gespielter Empörung. Plötzlich beschwor der Tonfall ein Bild herauf: eine drahtige, kluge, energiegeladene Blondine mit Queens-Akzent und den hohen Wangenknochen eines Models.
»Connie! Meine Güte, Connie Clarke. Schon eine Weile her.«
»Sechs Jahre, um genau zu sein.«
»Sechs Jahre, unglaublich.« Eigentlich bedeutete ihm die Zahl nicht viel und überraschte ihn auch nicht, doch er wusste nicht, was er sonst sagen sollte.
Er erinnerte sich mit gemischten Gefühlen an die Verbindung zu ihr. In ihrer Eigenschaft als selbstständige Journalistin hatte Connie Clarke für die Zeitschrift New York einen wohlwollenden Artikel über ihn geschrieben, nachdem er den Serienmörder Jason Strunk zur Strecke gebracht hatte - gerade einmal drei Jahre nach seiner Ernennung zum Detective First Grade, die ihm für die Lösung des Serienmordfalls Peter Piggert zuteil geworden war. Allerdings war dieser Artikel ein wenig zu wohlwollend gewesen; er verbreitete sich über seine außerordentlichen Erfolge bei der Klärung von Mordfällen und bezeichnete ihn sogar als Supercop des New York Police Department - ein Beiname, der seine fantasievolleren Kollegen zu einer endlosen Reihe amüsanter Varianten inspirierte.
»Und, wie lebt es sich so im friedlichen Rentnerland da oben?«
Das hörbare Grinsen in ihrer Stimme ließ ihn vermuten, dass sie von seiner inoffiziellen Teilnahme an den Ermittlungen in den Fällen Mellery und Perry wusste. »Manchmal friedlich, manchmal auch weniger.«
»O Mann, David, so kann man es wohl ausdrücken. Nach fünfundzwanzig Jahren beim NYPD gehst du in den Ruhestand, und nach ungefähr zehn Minuten in den verschlafenen Catskills steckst du plötzlich in einem Mordfall nach dem anderen. Anscheinend ziehst du Schwerverbrecher an wie ein Magnet. Nicht zu fassen! Und was sagt Madeleine dazu?«
»Du hast gerade mit ihr gesprochen. Du hättest sie selbst fragen sollen.«
Connie lachte wie über eine unglaublich geistreiche Bemerkung. »Und? Mal abgesehen von Mordermittlungen, wie sieht dein normaler Tag so aus?«
»Da gibt's nicht viel zu erzählen. Ziemlich geruhsam. Madeleine ist um einiges aktiver als ich.«
»Ich kann mir einfach nicht vorstellen, was du in so einem Postkartenidyll treibst. Dave, wie er Ahornsirup einkocht. Dave, wie er Apfelwein abfüllt. Dave, wie er im Hühnerstall Eier einsammelt.«
»Leider nicht. Kein Sirup, kein Apfelwein, keine Eier.« Zur Beschreibung des vergangenen halben Jahres fiel ihm ein ganz anderes Szenario ein. Dave, wie er den Helden spielt. Dave, wie er niedergeschossen wird. Dave, wie er viel zu langsam gesund wird. Dave, wie er immer depressiver, feindseliger und einsamer wird. Dave, wie er jede vorgeschlagene Unternehmung als empörenden Anschlag auf sein Recht empfindet, in seiner lähmenden Angst zu verharren. Dave, wie er mit nichts mehr zu tun haben will.
»Und was hast du zum Beispiel heute vor?«
»Um ganz ehrlich zu sein, Connie, verdammt wenig. Ich mache höchstens einen Rundgang um die Wiesen, klaube vielleicht ein paar Zweige auf, die im Winter runtergeweht worden sind, oder harke ein bisschen Dünger in die Gartenbeete. So was in der Richtung.«
»Klingt gar nicht so schlecht. Ich kenn Leute, die viel dafür geben würden, wenn sie mit dir tauschen könnten.«
Stumm wartete er, während sich die Stille in die Länge zog, damit sie endlich den Grund ihres Anrufs nannte. Denn es musste einen Grund geben. Er erinnerte sich noch gut an Connies Herzlichkeit und Redseligkeit, aber sie war eine Frau, die immer auf etwas hinauswollte. Unter der windzerzausten blonden Mähne verbarg sich ein stets hellwacher Verstand.
»Bestimmt möchtest du wissen, warum ich anrufe. Richtig?«
»Die Frage ist mir in den Sinn gekommen.«
»Ich ruf an, weil ich dich um einen Gefallen bitten möchte. Einen Riesengefallen.«
Nach kurzer Überlegung musste Gurney lachen.
»Was ist daran so lustig?« Sie klang ein wenig verunsichert.
»Du hast mir mal erklärt, es ist immer besser, um einen richtig großen Gefallen zu bitten, weil man bei kleinen leichter ablehnen kann.«
»Nein, das kann ich unmöglich gesagt haben. Es klingt so manipulativ. Einfach schrecklich. Das hast du dir ausgedacht, oder?« Sie war voll fröhlicher Entrüstung. Verunsicherung hielt bei Connie nie lange an.
»Schön, was kann ich für dich tun?«
»Du hast es dir also ausgedacht! Ich wusste es!«
»Wie gesagt, was kann ich für dich tun?«
»Jetzt macht es mich ganz verlegen, es auszusprechen, es ist nämlich wirklich ein Riesengefallen.« Sie legte eine Pause ein. »Erinnerst du dich an Kim?«
»Deine Tochter?«
»Meine Tochter, die dich verehrt.«
»Wie bitte?«
»Erzähl mir nicht, das hast du nicht gewusst.«
»Wovon redest du überhaupt?«
»Ach, David, David, David. Alle Frauen lieben dich, und du merkst es nicht mal.«
»Ich glaube, ich war einmal mit deiner Tochter im gleichen Zimmer, da war sie - was weiß ich - vielleicht fünfzehn. « Er erinnerte sich an ein Mittagessen in Connies Haus, an ein hübsches, sehr ernst wirkendes Mädchen, das mit ihnen am Tisch saß und kaum ein Wort sagte.
»Siebzehn war sie damals. Und verehren ist vielleicht ein bisschen übertrieben ausgedrückt. Aber sie fand dich wirklich unglaublich intelligent - und bei Kim bedeutet das eine Menge. Jetzt ist sie dreiundzwanzig, und ich weiß zufällig, dass sie immer noch eine sehr hohe Meinung von Dave Gurney, dem Supercop hat.«
»Das freut mich, aber ... irgendwie kann ich dir noch immer nicht ganz folgen.«
»Natürlich! Weil ich wirres Zeug rede, statt endlich zur Sache zu kommen. Vielleicht setzt du dich besser hin - es könnte ein bisschen dauern, bis ich es erklärt habe.«
Gurney stand nach wie vor am Waschbecken im Bad. Er ging hinüber ins Arbeitszimmer. Anstatt sich auf einem Stuhl niederzulassen, trat er zum hinteren Fenster. »Okay, Connie, ich sitze. Was hast du auf dem Herzen?«
»Nichts Schlimmes. Im Gegenteil, sogar was Fantastisches. Kim hat ein unglaubliches Angebot bekommen. Hab ich dir schon erzählt, dass sie sich für Journalismus interessiert?«
»Sie will in die Fußstapfen ihrer Mutter treten?«
»O Gott, sag das bloß nicht zu ihr, sonst wechselt sie über Nacht den Beruf! Ich glaube, ihr größtes Ziel ist Unabhängigkeit von ihrer Mutter. Und im Moment hat sie die Chance zu einem großen Karrieresprung. Aber vielleicht erklär ich dir das Ganze zumindest mal in Grundzügen, damit du weißt, worum es geht. Sie studiert Journalismus in Syracuse und steht kurz vor ihrem Master-Abschluss. Der Ort ist doch nicht weit von dir entfernt, oder?«
»Nicht direkt in der Nähe. Eindreiviertel Stunden mit dem Auto vielleicht.«
»Okay, also nicht so wahnsinnig weit weg. Nicht viel mehr als meine Pendelstrecke in die Stadt. Jedenfalls, für ihre Abschlussarbeit hatte sie die Idee zu einer Art Miniserie über Mordopfer. Nein, eigentlich nicht über die Opfer, sondern über die Familien, die Kinder. Sie will untersuchen, welche Langzeitauswirkungen es hat, wenn ein Elternteil ohne Aufklärung ermordet wurde.«
»Ohne ...«
»Genau, es soll nur um Fälle gehen, wo der Mörder nie gefasst wurde. Wo die Wunde nie richtig verheilt ist. Egal, wie viel Zeit vergangen ist, es bleibt der wichtigste emotionale Faktor in ihrem Leben - ein gigantisches Kraftfeld, das alles verändert. Sie hat auch schon einen Titel für die Serie: Die Mordwaisen. Klingt das nicht toll?«
»Interessante Idee.«
»Sehr interessant! Aber das Wichtigste hab ich noch gar nicht erwähnt. Es ist nicht bloß eine Idee. Es wird tatsächlich realisiert! Das Ganze hat als akademisches Projekt angefangen, doch ihr Betreuer war so beeindruckt, dass er ihr geholfen hat, den Entwurf zu einem richtigen Angebot auszuarbeiten. Er hat sie sogar bewogen, mit mehreren potenziellen Teilnehmern Ausschließlichkeitsvereinbarungen zu treffen, damit sie geschützt ist. Dann hat er ihr Angebot bei einem Bekannten in der Produktion von RAM TV eingereicht. Und stell dir vor: Der Typ von RAM will es machen! Über Nacht ist aus dieser kleinen Abschlussarbeit eine Karrierechance geworden, für die Leute mit zwanzig Jahren Berufserfahrung ihre rechte Hand hergeben würden. RAM ist zurzeit der heißeste Sender überhaupt.«
Aus Gurneys Sicht trug RAM die Hauptverantwortung dafür, dass Nachrichtenprogramme im Fernsehen zu einem lärmenden, grellen, rechthaberischen, alarmistischen Zirkus verkommen waren, er widerstand aber der Versuchung, seiner Meinung Ausdruck zu verleihen.
»Und jetzt fragst du dich natürlich«, fuhr Connie aufgeregt fort, »was das alles mit meinem Lieblingsermittler zu tun hat.«
»Ich warte.«
»Zwei Dinge. Erstens sollst du ihr über die Schulter schauen.«
»Und das heißt?«
»Dich mit ihr treffen. Ein Gespür dafür kriegen, was sie macht. Um zu sehen, ob das die Welt der Mordopfer widerspiegelt, die du kennst. Sie hat da eine große Chance. Wenn sie nicht zu viele Fehler begeht, kann sie ganz groß rauskommen.«
»Hm.«
»Bedeutet dieses Ächzen, dass du es machst? Kannst du es bitte machen, David?«
»Connie, ich hab keinen blassen Schimmer von Journalismus. « Und das Wenige, das er wusste, stieß ihn zum größten Teil ab. Doch wieder hielt er den Mund.
»Das Journalistische hat sie voll im Griff. Und sie ist wirklich intelligent. Nur eben immer noch ein Kind.«
»Und was ist mein Beitrag? Hohes Alter?«
»Realismus. Wissen. Routine. Perspektive. Die unglaubliche Erfahrung nach ... wie vielen Mordfällen?«
Er hatte den Eindruck, dass das keine echte Frage war, und schenkte sich die Antwort.
Connies Ton wurde noch intensiver. »Sie ist superbegabt, aber Begabung ist nicht das Gleiche wie Lebenserfahrung. Sie ist gerade dabei, Leute zu befragen, die durch einen Mord einen Elternteil oder einen anderen nahestehenden Menschen verloren haben. Dafür braucht sie eine realistische Herangehensweise. Einen breiten Überblick über das Terrain, verstehst du? Im Grunde geht es schlicht darum, dass einfach wahnsinnig viel auf dem Spiel steht. Und deswegen sollte sie so viel wie nur möglich wissen.«
Gurney seufzte. »Es gibt doch tonnenweise Material über Trauer, Tod, Verlust von nahestehenden ...«
Sie schnitt ihm das Wort ab. »Ja, ja, ich weiß - der populärpsychologische Quatsch mit den fünf Trauerphasen, klar. Das braucht sie nicht. Sie muss mit jemandem reden, der sich mit Mord auskennt, der die Opfer gesehen, der mit den Hinterbliebenen geredet, der ihnen in die Augen geschaut hat - jemand, der Bescheid weiß, nicht jemand, der ein Buch geschrieben hat.« Lange blieb sie still. »Also, machst du es? Du bräuchtest dich nur einmal mit ihr zu treffen, um zu sehen, was sie vorhat und ob das Ganze in deinen Augen einen Sinn ergibt.«
Als er so durchs Fenster hinaus auf die hintere Wiese starrte, erschien ihm die Aussicht auf ein Treffen mit Connies Tochter, um ihr Zutritt zur Welt des Müllfernsehens zu verschaffen, alles andere als verlockend. »Du hast von zwei Dingen gesprochen, Connie. Was ist der andere Punkt?«
»Also ...« Ihre Stimme wurde leiser. »Es gibt da vielleicht ein Problem mit einem Exfreund.«
»Was für ein Problem?«
»Das ist die Frage. Kim gibt sich gern unangreifbar, weißt du. Als hätte sie vor nichts und niemandem Angst.«
»Aber ...?«
»Aber es ist zumindest so, dass ihr dieses Arschloch fiese Streiche gespielt hat.«
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel geht er in ihre Wohnung und stellt Sachen um. Sie hat Andeutungen über ein Messer gemacht, das verschwunden und später wieder aufgetaucht ist, doch als ich nachgefragt habe, wollte sie nichts Genaueres erzählen. «
»Warum hat sie es dann deiner Meinung nach überhaupt erwähnt?«
»Vielleicht sucht sie einerseits Hilfe und andererseits nicht, kann sich nicht entscheiden.«
»Hat das Arschloch einen Namen?«
»Robert Meese ist der richtige Name. Er nennt sich aber Robert Montague.«
»Besteht da ein Zusammenhang mit ihrem TV-Projekt? «
»Keine Ahnung. Ich hab bloß so ein Gefühl, dass die Sache schlimmer ist, als sie zugeben will. Zumindest mir gegenüber.Also ..., David. Kannst du es bitte machen? Ich weiß nicht, wen ich sonst fragen soll.«
Als er nicht antwortete, fuhr sie fort. »Vielleicht ist es nur eine Überreaktion von mir. Vielleicht seh ich Gespenster, und es gibt gar kein Problem. Aber selbst dann wäre es toll, wenn du dir anhören könntest, was sie über ihr Projekt mit den Hinterbliebenen von Mordopfern zu sagen hat. Es bedeutet so viel für sie. So eine Chance kriegt sie nie wieder. Und sie ist so entschlossen, so überzeugt.«
»Du klingst aufgewühlt.«
»Ich weiß auch nicht. Ich ... mach mir einfach Sorgen.«
»Um ihr Projekt oder wegen ihrem Exfreund?«
»Vielleicht beides. Ich meine, irgendwie ist es fantastisch, oder? Aber zugleich bricht es mir das Herz, wenn ich mir vorstelle, dass sie vor lauter Entschlossenheit und Überzeugung und Selbstständigkeit in eine Klemme rein schlittert, aus der ich ihr nicht raushelfen kann. Mein Gott, David, du hast doch auch einen Sohn. Da kannst du meine Gefühle sicher verstehen.«
Zehn Minuten nach dem Ende des Gesprächs stand Gurney noch immer vor dem großen Nordfenster des Arbeitszimmers und rätselte über Connies völlig untypischen verunsicherten Tonfall. Vor allem aber überlegte er, warum er sich letztlich bereit erklärt hatte, mit Kim zu reden, und warum er sich bei der ganzen Sache so unwohl fühlte.
Vermutlich hatte es etwas mit Connies Bemerkung über seinen Sohn zu tun. Das war für ihn immer ein heikles Thema - aus Gründen, mit denen er sich jetzt nicht befassen wollte.
Das Telefon klingelte erneut. Erstaunt stellte er fest, dass er es in seiner Zerstreutheit die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte. Diesmal ist es bestimmt Huffbarger, dachte er, der seine idiotischen Grundsätze zur Absage von Terminen rechtfertigen will. Er war versucht, es läuten zu lassen, bis der Anrufbeantworter ansprang. Huffbarger konnte warten. Doch er wollte es auch hinter sich bringen, um nicht mehr daran denken zu müssen.
Er drückte auf die Sprechtaste. »Dave Gurney hier.«
Eine junge Frauenstimme meldete sich, hoch und klar. »Hallo Dave, vielen, vielen Dank! Connie hat mich gerade angerufen und mir gesagt, dass Sie bereit sind, mit mir zu reden.«
Einen Augenblick lang war er verwirrt. Er fand es immer merkwürdig, wenn ein Kind seine Eltern beim Vornamen nannte. »Kim?«
»Natürlich! Was dachten Sie denn?« Bevor er antworten konnte, sprudelte sie schon weiter. »Also, das passt super, einfach cool. Ich bin nämlich unterwegs aus der Stadt nach Syracuse und im Moment gerade am Kreuz von Route 18 und I-81. Das heißt, ich könnte schnell rüber auf die I-88 düsen und ungefähr in fünfunddreißig Minuten in Walnut Crossing sein. Wäre das okay für Sie? Ich weiß, das kommt total plötzlich, aber es trifft sich einfach so gut! Und ich freu mich schon so, Sie wiederzusehen!«
3
Mord verändert alles
Die Highways 17, 81 und 88 laufen in der Nähe von Binghamton zusammen, das eine gute Stunde von Walnut Crossing entfernt liegt. Gurney wusste nicht, ob Kims optimistische Schätzung auf fehlende Informationen oder überbordende Begeisterung zurückzuführen war. Doch das war die geringste Sorge, die ihn beschäftigte, als er den flotten roten Miata beobachtete, der sich auf dem Wiesenweg dem Haus näherte.
Er öffnete die Seitentür und trat hinaus aufs Gras zu seinem geparkten Outback. Der Miata stoppte gleich daneben, und eine junge Frau mit einer schmalen Aktentasche stieg aus. Sie trug Jeans, ein T-Shirt und einen modischen Blazer mit hochgekrempelten Ärmeln.
»Hätten Sie mich erkannt«, fragte sie mit einem offenen Lächeln, »wenn ich Ihnen nicht gesagt hätte, dass ich komme?«
»Vielleicht, wenn ich Zeit gehabt hätte, Sie genauer in Augenschein zu nehmen.« Er musterte ihr Gesicht, das von glänzendem braunem, in der Mitte gescheiteltem Haar umrahmt war. »Es ist das gleiche Gesicht, aber fröhlicher und glücklicher als bei dem Mittagessen mit Ihnen und Ihrer Mutter.«
Nachdenklich runzelte sie die Stirn, dann lachte sie. »Das war nicht bloß bei diesem Mittagessen so, sondern viele Jahre. Ich war damals wirklich nicht besonders glücklich. Ich habe lang gebraucht, um rauszufinden, was ich mit meinem Leben anfangen will.«
»Anscheinend haben Sie es schneller rausgefunden als die meisten Leute.«
Achselzuckend ließ sie den Blick über die Wiesen und Wälder streifen. »Wirklich schön hier. Sie lieben es bestimmt. Die Luft ist so sauber und kühl.«
»Vielleicht ein bisschen zu kühl für den ersten Frühlingstag. «
»O Gott, Sie haben recht! Ich hab so viel um die Ohren, dass ich nichts mehr mitkriege. Erster Frühlingstag. Wie konnte ich das vergessen?«
»Nicht weiter schwer bei den Temperaturen«, sagte er. »Kommen Sie rein. Drinnen ist es wärmer.«
Eine halbe Stunde später saßen Kim und Dave einander an dem kleinen Frühstückstisch in der Nische bei der Terrassentür gegenüber und beendeten die Mahlzeit aus Omeletts, Toast und Kaffee, die Madeleine serviert hatte, als sie erfuhr, dass Kim drei Stunden gefahren war, ohne etwas zu essen. Madeleine war schon fertig und machte jetzt den Herd sauber. Nachdem sie sich darauf geeinigt hatten, sich der Einfachheit halber zu duzen, erzählte Kim die Geschichte, die hinter ihrem Besuch steckte.
»Diese Idee trage ich schon seit Jahren mit mir rum - zu untersuchen, welche Folgen ein Mord für die Familie eines Opfers hat, und dadurch das Grauenvolle eines Mordes zu beleuchten. Ich wusste bloß nicht, was ich damit anfangen sollte. Manchmal habe ich einige Zeit nicht daran gedacht, aber dann kam es wieder zurück, stärker als zuvor. Ich war ganz besessen davon, ich musste einfach was damit machen. Zuerst dachte ich, es soll was Wissenschaftliches werden - vielleicht ein soziologisches oder psychologisches Werk. Also habe ich Anfragen an soundso viele Universitätsverlage verschickt, aber ich hatte nicht mal einen Bachelor, da waren sie nicht interessiert. Mein nächster Plan war ein normales Sachbuch. Natürlich braucht man für ein Buch einen Agenten, also wieder haufenweise Anfragen. Und Überraschung: null Interesse. Ich bin doch erst einundzwanzig, zweiundzwanzig, was ich mir überhaupt vorstelle? Was habe ich bereits geschrieben? Was kann ich vorweisen? Eigentlich bin ich für die nur ein Kind. Alles, was ich habe, ist eine Idee. Aber dann dämmert es mir auf einmal: na klar! Das ist kein Buch, das ist Fernsehen! Ab da hat eins zum anderen geführt. Mir schwebt eine Serie von intimen Interviews vor - Reality-TV im besten Sinne des Wortes. Sicher, inzwischen verbindet man damit eher was Schmieriges, doch das muss nicht so sein, nicht wenn es mit emotionaler Wahrheit gemacht wird!«
Sie unterbrach sich und ließ ein verlegenes Lächeln aufblitzen, ehe sie fortfuhr. »Jedenfalls, ich habe das alles in Form eines detaillierten Entwurfs zu einer Master-Arbeit zusammengebastelt und meinem Betreuer Dr. Wilson vorgelegt. Er fand die Idee großartig, mit echtem Potenzial. Er hat mir geholfen, ein kommerzielles Angebot daraus zu machen, und dafür gesorgt, dass ich nicht ganz ohne rechtliche Absicherung in die Realität reinstolpere. Dann hat er was getan, was er sonst nie macht. Nämlich das Ganze einem Produktionsmanager von RAM TV gegeben, den er persönlich kennt - Rudy Getz heißt der Typ. Und Getz hat sich ungefähr eine Woche später bei uns gemeldet und gesagt: ›Okay, das machen wir.‹«
»Einfach so?«, fragte Gurney.
»Ich war auch überrascht. Aber Getz meint, das ist die Arbeitsweise von RAM. Warum sollte ich ihm nicht glauben? Tatsache ist, dass ich diese Idee verwirklichen kann. Endlich kann ich dieses Thema erforschen ...« Sie schüttelte den Kopf, wie um eine Gefühlsaufwallung abzuwehren.
Madeleine kam herüber und setzte sich an den Tisch. Sie sprach aus, was Gurney dachte: »Die Sache ist wichtig für dich, oder? Ich meine, wirklich wichtig, nicht nur ein Karrieresprungbrett. «
»O Gott, ja!«
Madeleine lächelte sanft. »Und der Kern der Idee ..., der Teil, der so wichtig für dich ist ...?«
»Die Familien, die Kinder ...« Wieder stockte sie, offenbar überwältigt von einem Bild, das ihre Worte heraufbeschworen hatten. Sie schob ihren Stuhl zurück, stand auf und ging um den Tisch herum zur Glastür, durch die man über die Terrasse auf den Garten, die Wiese und den Wald dahinter sah.
»Irgendwie albern, ich kann es nicht erklären.« Sie hatte ihnen den Rücken zugekehrt. »Im Stehen fällt es mir leichter, darüber zu reden.« Sie räusperte sich zweimal, ehe sie mit kaum hörbarer Stimme begann. »Ich glaube, Mord verändert alles, für immer. Er stiehlt etwas, das sich nicht ersetzen lässt. Er hat Folgen, die weit über das hinausgehen, was mit dem Opfer passiert. Das Opfer verliert sein Leben, das ist schrecklich, es ist unfair, aber für den Betroffenen ist es vorbei, das Ende. Er hat alles verloren, was vielleicht hätte sein können, doch er weiß es nicht. Er kann keinen Verlust empfinden und sich nicht vorstellen, was möglich gewesen wäre.« Sie hob die Arme und drückte die Handflächen an die Fensterscheiben, eine Geste, die zugleich Gefühl und Beherrschung ausdrückte.
Ihre Stimme klang noch dringlicher, als sie weiterzureden begann. »Nicht der Ermordete erwacht in einem halb leeren Bett, einem halb leeren Haus. Nicht er träumt davon, dass er noch lebt, nur um mit der Erkenntnis aus dem Schlaf zu fahren, dass es nicht so ist. Er spürt nicht den verzehrenden Zorn und den Kummer, die sein Tod auslöst. Er sieht nicht ständig den leeren Stuhl am Tisch und den Schrank, der voll ist mit seinen Kleidern, er glaubt nicht ständig, seine Stimme zu hören ...« Sie wurde immer heiserer. Erneut räusperte sie sich. »Er spürt nicht die Qualen - als wäre einem das Herz aus dem Leib gerissen worden.«
Mehrere Sekunden lang lehnte sie am Glas, dann schob sie sich langsam zurück. Mit Tränen auf den Wangen wandte sie sich dem Tisch zu. »Ihr kennt doch Phantomschmerzen. Dieses Phänomen, das nach Amputationen auftritt. Man spürt Schmerzen an der Stelle, wo früher der Arm oder das Bein war. So ist Mord für die hinterbliebene Familie. Wie das Ziehen in einer Phantomextremität - ein unerträglicher Schmerz an einer leeren Stelle.«
Eine Weile stand sie völlig reglos, versunken in den Anblick ihrer inneren Landschaft. Dann wischte sie sich heftig mit den Händen übers Gesicht und hob mit einem plötzlichen Ausdruck der Entschlossenheit in den Augen den Kopf. Ihre Stimme wurde leidenschaftlich. »Um zu begreifen, was Mord in Wahrheit bedeutet, muss man mit den Familien sprechen. Das ist meine Theorie, mein Projekt, mein Plan. Und das ist auch das, wofür sich Rudy Getz begeistert.« Sie holte tief Luft und atmete langsam aus. »Wenn es nicht zu viel Mühe ist, könnte ich bitte noch eine Tasse Kaffee haben?«
»Das kriegen wir sicher hin.« Freundlich lächelnd trat Madeleine zur Kücheninsel und füllte die Kaffeemaschine nach.
Die gestreckten Finger nachdenklich ans Kinn gedrückt, lehnte sich Gurney zurück. Ein, zwei Minuten lang herrschte Schweigen. Nur das Gluckern der Kaffeemaschine war zu hören.
Kim blickte sich in der großen Küche um. »Wirklich nett bei euch. So anheimelnd und warm. Eigentlich perfekt. Das Haus auf dem Land, von dem alle träumen.«
Nachdem Madeleine Kim den Kaffee hingestellt hatte, ergriff Gurney als Erster das Wort. »Mir ist jetzt klar, dass du mit viel Leidenschaft an dieses Thema herangehst, dass es dir viel bedeutet. Leider ist mir noch nicht so klar, wie ich dir helfen soll.«
»Hat Connie es dir nicht erklärt?«
»Schau ihr über die Schulter - ich glaube, so hat sie es ausgedrückt.«
»Von anderen ... Problemen hat sie kein Wort fallen lassen? «
Gurney war erstaunt über diesen kindlich durchsichtigen Versuch, beiläufig zu klingen. »Zählt zu diesen Problemen auch dein Exfreund?«
»Sie hat Robby erwähnt?«
»Einen gewissen Robert Meese ... oder Montague.«
»Meese. Der Name Montague ist ...« Kopfschüttelnd verstummte sie. »Connie glaubt, ich brauche Schutz. Ich bin anderer Meinung. Robby ist ein Blödmann und extrem nervig, aber ich werd schon mit ihm fertig.«
»Steht er in Verbindung mit dem TV-Projekt?«
»Nicht mehr. Warum?«
»Nur aus Neugier.«
Neugier worauf? Worauf lasse ich mich da überhaupt ein, verdammt? Weshalb sitze ich überhaupt hier und höre zu, wie sich eine überspannte Studentin, die einen verrückten Freund am Hals hat, über ihre sentimentalen Vorstellungen von Mord und ihre große Chance auf Ruhm beim größten Schundsender Amerikas verbreitet? Höchste Zeit, dass ich einen Rückzieher mache, sonst lande ich im Treibsand.
Kim starrte ihn an, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »So kompliziert ist es gar nicht. Und da du mir so großzügig deine Hilfe angeboten hast, möchte ich auch ganz offen sein.«
»Wir kommen immer wieder darauf zurück, dass ich dir helfen soll, aber ich sehe nicht ...«
Madeleine, die nach dem Abwaschen der Omelettteller über der Spüle einen Schwamm ausdrückte, unterbrach ihn sanft: »Warum hören wir uns nicht einfach an, was Kim zu sagen hat?«
Gurney nickte. »Gute Idee.«
»Ich hab Robby vor knapp einem Jahr in der Theatergruppe kennengelernt. Er war bestimmt der attraktivste Typ auf dem ganzen Campus. Ein junger Johnny Depp. Vor ungefähr sechs Monaten sind wir zusammengezogen. Eine Zeit lang war ich überglücklich. Als ich mich ganz auf mein Mord-Projekt konzentriert habe, hat er mich unterstützt. Als ich die Familien aussuchte, die ich interviewen wollte, hat er mich sogar begleitet, mitgemacht und sich in das Ganze eingefügt. Und genau da hat er allmählich ... sein hässliches Gesicht gezeigt.« Sie trank einen Schluck Kaffee.
»Je mehr er sich beteiligt hat, desto mehr fing er an, die Sache an sich zu reißen. Er hat mir nicht mehr bei meinem Projekt geholfen, es war auf einmal unser Projekt, und schließlich führte er sich auf, als wäre es sein Projekt. Nach unserem Treffen mit einer Familie hat er den Leuten seine Karte mit seinen Kontaktdaten gegeben und ihnen versichert, dass sie ihn jederzeit erreichen können. Das war auch die Zeit, wo diese lächerliche Montague-Geschichte anfing. Er hat sich neue Karten drucken lassen mit der Aufschrift: Robert Montague, Dokumentarfilmproduktion & Kreativ-Consulting.«
Gurney blinzelte skeptisch. »Er wollte dich rausbugsieren und das Projekt kapern?«
»Nein, es war noch viel kränker. Robby Meese sieht aus wie ein junger Gott, aber er stammt aus einem zerrütteten Elternhaus, wo schlimme Dinge passiert sind, und er hat fast seine ganze Kindheit bei genauso verkorksten Pflegefamilien verbracht. Ganz tief drinnen ist er der unsicherste Mensch, den man sich vorstellen kann. Wir haben mit einigen Familien geredet und wollten, dass sie einen Vertrag für offizielle Interviews unterschreiben. Robby hat verzweifelt versucht, sie zu beeindrucken. Ich glaube, er hätte alles getan, um gut bei ihnen anzukommen und von ihnen akzeptiert zu werden. Er wollte ihre Zuneigung. Es war irgendwie widerlich.«
»Wie hast du dich verhalten?«
»Zuerst war ich ratlos. Dann hat es sich zugespitzt, als ich rausfand, dass er auf eigene Faust Gespräche mit jemandem aus einer wichtigen Familie geführt hatte, einem Mann, an den ich wirklich rankommen wollte. Ich habe Robby zur Rede gestellt, und das Ganze endete in einem Schreiduell. Daraufhin hab ich ihn aus unserer Wohnung geworfen - aus meiner Wohnung. Und mir außerdem von Connies Anwalt einen netten Drohbrief aufsetzen lassen, damit er die Finger von dem Projekt lässt - von meinem Projekt.«
»Wie hat er reagiert?«
»Zuerst wurde er furchtbar freundlich, schleimig-freundlich, doch ich bin hart geblieben. Dann fing er davon an, dass das Herumstochern in alten Mordfällen gefährlich sein kann, dass ich vorsichtig sein soll, dass ich vielleicht nicht weiß, worauf ich mich da einlasse. Spätnachts hat er mich angerufen und mir Nachrichten hinterlassen, dass er mich beschützen kann und dass viele Leute, mit denen ich zu tun habe - unter anderem mein Master-Betreuer -, nicht das sind, was sie scheinen.«
Gurney richtete sich ein wenig gerader in seinem Stuhl auf. »Und dann?«
»Dann? Ich hab ihm gesagt, dass ich eine einstweilige Verfügung beantrage und ihn als Stalker verhaften lasse, wenn er mich nicht in Ruhe lässt.«
»Hat das gewirkt?«
»Kommt ganz darauf an, wie man es sieht. Angerufen hat er nicht mehr. Aber auf einmal sind komische Sachen passiert.«
Madeleine hörte auf, an der Spüle herumzuhantieren, und trat zum Tisch. »Das wird ja immer heftiger. Darf ich mich dazusetzen?«
»Klar, gern«, antwortete Kim. Als Madeleine Platz genommen hatte, fuhr sie fort. »Zuerst sind Küchenmesser verschwunden. Eines Tages, als ich von der Uni heimkam, konnte ich meinen Kater nicht finden. Schließlich hab ich sein leises Miauen gehört. Er war in einem Wandschrank und die Tür abgeschlossen - ein Wandschrank, den ich nicht benutze. Und einmal hab ich verschlafen, weil die Zeit auf meinem Wecker verstellt worden war.«
»Unangenehm, aber noch relativ harmlos«, konstatierte Gurney. Madeleines Miene ließ keinen Zweifel daran, dass sie völlig anderer Meinung war, daher fügte er hinzu: »Ich möchte hier nicht die emotionale Wirkung von gemeinen Streichen dieser Art runterspielen. Ich wollte nur darauf hinaus, ab wann so eine Belästigung strafbar ist.«
Kim nickte. »Verstehe. Also, die Streiche wurden noch gemeiner. Eines Abends kam ich spät nach Hause, und im Bad auf dem Boden war ein Blutstropfen - ungefähr so groß wie ein Zehn-Cent-Stück. Und daneben lag eines
meiner verschwundenen Küchenmesser.«
»O Gott«, entfuhr es Madeleine.
»Einige Nächte darauf haben auf einmal diese unheimlichen Geräusche angefangen. Irgendwas hat mich aufgeweckt, was, weiß ich nicht, und plötzlich höre ich eine knarrende Diele, dann nichts mehr, darauf eine Art Atmen, bevor es wieder still wird.«
Madeleine starrte sie erschrocken an.
»Du lebst in einer Wohnung?«, fragte Gurney.
»Einem kleinen Haus, aufgeteilt in eine Wohnung im Erdgeschoss und eine im ersten Stock, dazu ein Keller. Solche abgestürzten Hütten, die für Studenten in billige Wohnungen unterteilt sind, gibt es viele in der Umgebung der Uni. Im Moment bin ich in meinem Haus die einzige Bewohnerin. «
»Du bist allein dort?« Madeleine machte große Augen. »Da bist du viel mutiger als ich. Ich würde da so schnell verschwinden ...«
Kims Augen blitzten zornig. »Vor diesem kleinen Scheißer lauf ich nicht davon!«
»Hast du diese Vorfälle bei der Polizei gemeldet?«
Sie stieß ein bitteres, kleines Lachen aus. »Klar. Das Blut, die Messer, die Geräusche in der Nacht. Die Cops kommen ins Haus, sie schauen sich um, sie prüfen die Fenster, sie langweilen sich tödlich. Kann mir lebhaft vorstellen, wie sie die Augen verdrehen, wenn ich anrufe und ihnen meinen Namen und meine Adresse nenne. Ist doch klar, dass sie mich für eine paranoide Nervensäge halten. Süchtig nach Aufmerksamkeit. Die blöde kleine Schlampe, die immer übertreibt mit ihren Exfreund-Problemen.«
»Ich nehme an, dass du die Schlösser ausgewechselt hast?« Gurney blieb äußerlich gelassen.
»Zweimal. Hat nichts geholfen.«
»Glaubst du, Robby Meese ist verantwortlich für diese ... Einschüchterungsversuche?«
»Das glaube ich nicht, ich weiß es.«
»Wieso bist du da so sicher?«
»Wenn du seine Anrufe gehört hättest, nachdem ich ihn rausgeworfen habe - seine Stimme. Oder wenn du sein Gesicht gesehen hättest, wenn wir uns auf dem Campus über den Weg gelaufen sind. Dann wärst du dir auch sicher. Die gleiche Seltsamkeit. Ich kann es nicht erklären, aber was da passierte, ist auf die gleiche Weise unheimlich wie Robby selbst.«
In der folgenden Stille presste Kim die Hände um ihre Kaffeetasse. Gurney fühlte sich daran erinnert, wie sie vorhin an der Tür gestanden und die Handflächen ans Glas gedrückt hatte. Gefühl und Beherrschung.
Er dachte über ihre Idee nach, die in den Mittelpunkt stellte, welche Schmerzen ein Mord auslöste. Was sie geschildert hatte, entsprach der Wahrheit. In manchen Fällen riss die Tat eines Mörders ein Loch in eine Familie - Ehepartner, Kinder, Eltern blieben verzweifelt zurück, das ganze Leben erfüllt von Trauer und Wut.
In anderen Fällen hingegen gab es kaum Trauer oder Emotionen irgendwelcher Art. Gurney hatte zu viele solcher Fälle erlebt. Männer, die ein hässliches Leben führten und einen hässlichen Tod starben. Drogenhändler, Zuhälter, Berufsverbrecher, halbwüchsige Vergewaltiger, die mit echten Waffen Videospiele nachspielten. Der menschlichen Zerstörungswut waren keine Grenzen gesetzt. Manchmal hatte er diesen Traum, stets den gleichen, mit einem Bild aus den Konzentrationslagern: Ein Bulldozer, der skelettartige Leichen in einen breiten Graben schob wie Gliederpuppen. Wie Schutt.
Er musterte die junge Frau mit den intensiven dunklen Augen, die noch immer ihre lauwarme Tasse umklammerte. Sie hatte sich nach vorn gebeugt, das Gesicht halb verborgen hinter ihrem glänzenden Haar.
Verstohlen blickte er mit einer Frage in den Augen zu Madeleine.
Sie zuckte leicht die Achseln und deutete ein Lächeln an. Eine sachte Aufforderung zum Handeln.
Er wandte sich wieder Kim zu. »Also gut. Dann kommen wir noch mal auf die Grundfrage zurück. Wie kann ich dir helfen?«
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Autoren-Porträt von John Verdon
Verdon, JohnJohn Verdon wurde in New York City als Sohn irischer Einwanderer geboren. Er studierte Journalismus, bevor er als Werbetexter und später als Geschäftsführer einer großen Agentur tätig war. Mit 53 Jahren kehrte er der Werbung den Rücken und widmete sich dem Design von Kirschholzmöbeln. Mit seiner Frau Naomi lebt er in in der Gegend von New York.
Bibliographische Angaben
- Autor: John Verdon
- 2013, 608 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Mader, Friedrich
- Übersetzer: Friedrich Mader
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453437373
- ISBN-13: 9783453437371
- Erscheinungsdatum: 13.05.2013
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