Der Duft der Eukalyptusblüte
Roman
Südaustralien, 1866: Die mittellose Abigail wird gegen ihren Willen mit einem reichen Landbesitzer verheiratet. Doch als in der Hochzeitsnacht etwas Schreckliches passiert, flieht Abigail nach Martindale Hall. Wird sie ihr Glück finden?
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Produktinformationen zu „Der Duft der Eukalyptusblüte “
Südaustralien, 1866: Die mittellose Abigail wird gegen ihren Willen mit einem reichen Landbesitzer verheiratet. Doch als in der Hochzeitsnacht etwas Schreckliches passiert, flieht Abigail nach Martindale Hall. Wird sie ihr Glück finden?
Klappentext zu „Der Duft der Eukalyptusblüte “
Abbey versuchte, ihre ganze Aufmerksamkeit auf die unvergleichlichen Geräusche des Buschs zu richten, der sich auf die Nacht vorzubereiten schien. Der endlose Himmel mit den flammend rosarot und orange gebänderten Wolkenschleiern bildete einen prachtvollen Hintergrund für das dichte Dach der majestätischen Eukalyptusbäume. Ein friedliches Bild, doch übertrug sich dieser Frieden nicht auf Abbey. Etwas nagte an ihr, sodass sie innerlich nicht zur Ruhe kam. Sie hatte ein furchtbares Gefühl ... Sie durfte ihre Erinnerungen nicht länger verdrängen. Doch was würde aus ihrem Leben werden, jetzt da sie womöglich sein Kind unter ihrem Herzen trug?
Lese-Probe zu „Der Duft der Eukalyptusblüte “
Der Duft der Eukalyptusblüte von Elizabeth Haran Aus dem australischen Englisch von Sylvia Strasser
South Australia,
Ende November 1866
Von der Blyth Street aus sah das ausgetrocknete Flussbett, das
sich durch Burra schlängelte, wie jedes andere aus. Erst bei näherem
Hinsehen konnte man den Rauch von Eukalyptusholzfeuern
erkennen, der aus unzähligen Löchern entlang des Ufers aufstieg.
Die Öffnungen dienten als Rauchabzug für die vielen hundert
Erdwohnungen in den Uferböschungen des knapp hundert Meilen
von Adelaide entfernten Bergwerksstädtchens Burra im Gil-
bert Valley, in denen um die zweitausend Menschen hausten.
Die Sonne ging unter an diesem außergewöhnlich heißen Novembertag.
Kein Lüftchen regte sich, und über dem Flussbett, in
dem sich seit Monaten kein Wasser mehr befand, sondern nur
noch unverwüstliches Unkraut im Staub wucherte, hing ein stechender
Gestank nach Fäkalien und Abfall.
Während die Frauen in den Erdwohnungen sich anschickten,
ein einfaches Abendessen zuzubereiten, war ihnen bewusst, dass
etwas Unheilvolles über der Creek Street, wie das Flussbett genannt
wurde, lag. Plötzlich zerriss ein unheimlicher, herzerweichender
Schrei, der einem das Blut in den Adern gefrieren ließ,
die angespannte Stille. Alle erstarrten. Eine Sekunde später erhob
sich lautes Wehklagen.
Tränen kullerten über Abbey Scottsdales sonnengebräunte
Wangen. Sie trat aus der zwei Räume umfassenden Behausung,
die sie mit ihrem Vater teilte, auf die Straße hinaus, wo sich bereits
etliche Frauen versammelt hatten. Wie Bäume in einem engen Tal,
stumme, statuenhafte Wächter, sahen sie in der hereinbrechenden
Dämmerung aus.
... mehr
Alle wussten, was die herzzerreißenden Schreie bedeuteten:
Der kleine Ely Dugan hatte den Kampf gegen den Typhus verloren.
Ihre Gebete waren umsonst gewesen. Der schmächtige
Vierjährige hatte keine Chance gehabt. Das gramerfüllte Klagen
und Schluchzen seiner Mutter brach den draußen Versammelten
beinah das Herz.
Obwohl Abbey mit ihren achtzehn Jahren weder Ehefrau
noch Mutter war, konnte sie Evelyn Dugans Schmerz nachempfinden.
Die arme Frau hatte vor nicht einmal einem Jahr bereits
einen Sohn verloren. Damals waren in der Creek Street fast dreißig
Kinder an Typhus, Pocken und Fleckfieber gestorben. Jedes
Kind, das ums Leben kam, erinnerte Abbey an ihre persönlichen
Verluste. Sie selbst war 1848 in Irland geboren worden. Ein gutes
Jahr später war ihr Bruder Liam auf die Welt gekommen, und
eineinhalb Jahre später hatte sie noch eine Schwester, Eileen, bekommen.
Als Abbey fünf Jahre alt war, wurde Liam von den
Pocken dahingerafft. Ein Jahr später erkrankte Eileen so schwer
an Keuchhusten, dass sie die Krankheit nicht überlebte. Und
1860 starb Mary, ihre Mutter, im Alter von nur neunundzwanzig
Jahren an Diphtherie.
Die unhygienischen Verhältnisse in der Creek Street waren
ein idealer Nährboden für allerlei Krankheiten. Doch die Bergleute,
die mit ihren Familien hierhergekommen waren, um in der
Monster Mine zu arbeiten, hatten keine andere Wahl, als in den
mit Balken gestützten, höhlenähnlichen Erdwohnungen zu hausen.
Im Sommer war es drinnen zwar angenehm kühl, im Winter
jedoch feucht, schlammig und bitterkalt. Oft genug führte der
Fluss dann so viel Wasser, dass die Bewohner ihre Behausungen
verlassen mussten.
Abbey wischte sich die Tränen ab und ging in ihre Wohnung
zurück. Sie steckte sich die langen schwarzen Haare hoch und
rührte nachdenklich die Suppe um, die sie aus einem ausgekochten
geräucherten Schinkenknochen zubereitet hatte. Die junge Frau
fragte sich, warum sie vom Typhus oder einer anderen Krankheit
verschont worden war und ein unschuldiges Kind wie Ely nicht.
Sie verstand das einfach nicht.
Abbey wartete auf ihren Vater, der wie jeden Donnerstagabend
im Miner's Arms Hotel mit seinen irischen Freunden zechte.
Donnerstag war nämlich Zahltag. Abbey hatte nichts gegen diese
Wirtshausbesuche einzuwenden, weil sie dadurch eine Stunde mit
Neal Tavis allein sein konnte. Dass ihr Vater aber auch samstagnachmittags
nicht auf direktem Weg von der Arbeit nach Hause
kam, sondern einen Abstecher in seine Kneipe machte, nahm sie
ihm übel.
Neal, der junge Mann, in den sich Abbey verliebt hatte, war
achtzehn Jahre alt wie sie selbst und arbeitete Seite an Seite mit
ihrem Vater in einhundertsechzig Meter Tiefe in der Kupfermine.
Samstags verdingte er sich zusätzlich auf einer Farm, um etwas
dazuzuverdienen. Da er von Finlay Scottsdales Kneipenbesuchen
wusste, eilte er jeden Donnerstag von der Zeche nach Hause,
wusch sich und ging dann schnurstracks zu Abbey. Er wollte Finlay
nicht unbedingt aus dem Weg gehen, aber dieser hatte keinen
Zweifel daran gelassen, dass er sich für seine Tochter einen wohlhabenden
Ehemann wünschte, dass sie in seinen Augen etwas
Besseres verdient hatte als einen Minenarbeiter, der in einer Erdwohnung
hauste.
Doch Abbey und Neal hatten einen Plan. Neal hoffte, Finlay
werde seine Meinung ändern, wenn er sich ein Stück Land kaufen
und beweisen könnte, wie zuverlässig und fleißig er war, deshalb
sparte er jeden Penny, den er erübrigen konnte. Einfach war
das allerdings nicht, weil er seine Mutter Meg und seine beiden
Schwestern, die Zwillinge Emily und Amy, die noch zur Schule
gingen, unterstützen musste. Sie alle wohnten eine knappe Meile
von den Scottsdales entfernt auf der anderen Seite der Creek
Street.
Eine Stunde war vergangen, als ein vertrautes Pfeifen die gedrückte
Stille durchbrach, die sich nach dem Tod des kleinen Ely
über die Siedlung gelegt hatte. Finlay, betrunken und nichts ah-
nend von dem Unglück, das sich ereignet hatte, schwankte nach
Hause. Abbey lauschte angestrengt. Sie erkannte meist schon an
dem Lied, das er pfiff, wie viel er getrunken hatte und in welcher
Stimmung er folglich sein würde. Abbey nahm es ihrem Vater übel,
dass er so viel Geld für Alkohol und Wetten ausgab und sein Ziel,
ein besseres Leben für sie beide zu erreichen, dadurch in weite
Ferne rückte. Nach zwei oder drei Bier war er zuversichtlich, dass
sich bald alles zum Besseren wenden würde, doch es blieb nur
selten bei zwei oder drei Bier. Nach vier oder fünf Gläsern wurde
Finlay schwermütig oder patriotisch, und hatte er noch mehr getrunken,
war er übelster Laune und sah alles schwarz. Abbey hasste
es, wenn er so war, aber da sie ihn nicht ändern konnte, wie sie
mittlerweile eingesehen hatte, tröstete sie sich mit der Vorfreude
auf ihre gemeinsame Zukunft mit Neal.
An diesem Abend jedoch war Finlay guter Dinge. Abbey
merkte es daran, dass er Brian Boru's March pfiff. War er sinnlos
betrunken, bevorzugte er The Lamentation of Deirdre. Das war ein
Lieblingslied ihrer Mutter gewesen. Abbey graute es vor dieser
Melodie, weil sie bedeutete, dass ihr Vater in Weltuntergangsstimmung
war.
»Abigail, mein Engelchen!«, begrüßte Finlay seine Tochter fröhlich,
als er durch die niedrige Tür eintrat. »Was hast du uns denn
heute Abend Gutes zu essen gemacht?«
Abbey, die auf dem Boden aus gestampfter Erde saß, blickte
nur flüchtig auf. »Nicht so laut, Vater! Der kleine Ely ist gestorben.«
Finlay machte ein bestürztes Gesicht. »Das ist eine schlimme
Nachricht«, brummte er. »Er war ein feiner kleiner Kerl.«
»Ja, das war er«, murmelte Abbey traurig, als sie sich seinen roten
Lockenkopf und sein spitzbübisches Lächeln ins Gedächtnis
rief. Einen kleinen Kobold hatte sie ihn immer genannt. An ihre
eigenen Geschwister konnte sie sich zu ihrem Bedauern kaum
noch erinnern, aber sie würde niemals die Tränen vergessen, die
ihre Mutter so oft vergossen hatte.
Abbey schniefte und kämpfte gegen die tiefe Rührung an, die
sie verspürte. »Hast du Evelyn denn nicht weinen hören, als du
bei den Dugans vorbeigegangen bist?«
Finlay schüttelte den Kopf. »Nein.« Er wollte sich hinsetzen,
verlor aber das Gleichgewicht und fiel wie ein nasser Sack zu Boden.
Ächzend drehte er sich um und stieß dabei mit dem Fuß
in die Feuerstelle. Asche wirbelte auf. Finlay lachte leise in sich
hinein.
Abbey, die ihn viele Male in diesem Zustand gesehen hatte, war
nicht beunruhigt. Sie schnalzte nur missbilligend mit der Zunge,
so wie ihre Mutter es immer getan hatte, wenn sie sich über Finlay
geärgert hatte. Ihr Vater nahm ihr das nicht übel, im Gegenteil: Er
fand es auf seltsame Weise tröstlich, dass sie ihn oft zurechtwies
wie eine Ehefrau.
»Wir haben etwas zu feiern, Abbey«, sagte er und lächelte.
»So? Was denn?« Abbey schöpfte ihm Suppe in einen tiefen
Teller und brach ein Stück von dem Fladenbrot ab, das sie gebacken
hatte. Eine gute Nachricht wäre eine willkommene Abwechslung.
»Wir beide sind kommenden Samstagabend zum Essen nach
Martindale Hall eingeladen«, antwortete Finlay aufgeregt.
Abbey starrte ihren Vater über das Feuer hinweg an. Verblüffung
zeigte sich auf ihrem hübschen Gesicht. »Nach Martindale
Hall? Wieso hat man uns dorthin eingeladen?« Sie wusste, dass
Ebenezer Mason, der Eigentümer der Mine, nichts als Verachtung
für seine Arbeiter übrighatte, deshalb wunderte sie sich über
diese Einladung in sein Herrenhaus in Mintaro. Die wenigen,
die es gesehen hatten, beschrieben es als protzig und palastähnlich.
Noch mehr aber erstaunte sie, dass ihr Vater die Einladung
angenommen hatte, stand Mr. Mason doch in dem Ruf, auf die
Arbeiterklasse herabzusehen und seine Untergebenen skrupellos
auszubeuten.
Finlay wählte seine nächsten Worte mit Bedacht. »Nun, zum
Abendessen, wie ich schon sagte. Und ich wette, dass ein Fest-
schmaus auf uns warten wird, vielleicht eine gebratene Lammkeule
mit allem, was dazugehört. Das wär doch mal was, Abbey,
hm?« Er leckte sich in gieriger Vorfreude die Lippen. »Ich hoffe
nur, Ebenezer Mason hat genug Bier im Haus. Diese stinkvornehmen
Weine sind nichts für mich.«
»Dad, ich verstehe das nicht! Ich dachte, du hältst nicht viel
von Mr. Mason.« Abbey sah ihren Vater misstrauisch an. Wie
oft hatte er über den Minenbesitzer geschimpft, weil dieser als
Geizkragen bekannt war und seine Knickerigkeit das Leben der
Bergleute gefährdete.
»Ja, das war auch so«, antwortete Finlay nachdenklich.
»Und jetzt hast du deine Meinung geändert?« Abbey war verwirrt,
weil sie nicht verstand, was auf einmal anders geworden
war.
»Ich habe diesen Mann in den letzten Wochen näher kennen
gelernt, Abbey, und heute schäme ich mich dafür, dass ich so hart
über ihn geurteilt habe.«
»Ich dachte, du hättest allen Grund, ihn zu hassen.«
Finlay nickte. »Ja, das dachte ich auch.« Abbeys Vater klang
müde. Er brach ein Stück Brot ab und begann, geräuschvoll seine
Suppe zu schlürfen.
Abbey verzog schmerzlich das Gesicht bei dem Gedanken daran,
dass er im vornehmen Speisezimmer von Martindale Hall
genauso schlürfen und schmatzen würde.
»Wir müssen an deine Zukunft denken, Abbey«, fuhr Finlay
unvermittelt fort.
»Meine Zukunft?«, wiederholte die junge Frau verdutzt. »Was
hat das mit der Einladung nach Martindale Hall zu tun?« Ein
Gedanke durchzuckte sie, und sie wurde unwillkürlich rot, als
sie begriff, was ihr Vater möglicherweise im Schilde führte. Sie
kannte seine Anspielungen auf potenzielle Ehemänner, auf Männer,
die seiner Ansicht nach die richtigen für sie waren, wie der
Sohn des Bürgermeisters oder der Direktor des Royal Exchange
Hotel. Einmal hatte Finlay sogar versucht, sie mit dem Polizeichef,
einem Mann Ende dreißig, zu verkuppeln. Abbey war das furchtbar
peinlich, weil all diese Männer ihrer Meinung nach entweder
zu alt oder höherrangig waren. Ihr Vater glaubte doch wohl nicht,
Ebenezer Masons Sohn könnte an ihr interessiert sein?
Doch dann fi el ihr ein, dass sie gehört hatte, der Sohn wohne
nicht im Herrenhaus, sondern in einem kleinen Cottage irgendwo
auf dem riesengroßen Gutsbesitz. Nach einer Auseinandersetzung
wegen Ebenezers kurzer Ehe mit einer viel jüngeren Frau, so erzählten
die Leute, war der Kontakt zwischen Vater und Sohn mehr
oder weniger abgerissen. Aber niemand wusste etwas Genaues.
Freunde hatten Abbey seine Kutsche gezeigt, wenn er, was selten
vorkam, einmal durch Burra fuhr, aber gesehen hatte sie ihn nie.
»Ebenezer Mason möchte dich gern kennen lernen, Abbey«,
sagte Finlay. Der Ausdruck von Missfallen und Verwunderung
auf ihrem Gesicht entging ihm nicht, und er unterdrückte einen
gereizten Seufzer. Der mangelnde Ehrgeiz seiner Tochter, einen
Ehemann zu finden, der ihr ein angenehmes Leben bieten konnte,
hatte ihn immer schon verdrossen.
Natürlich war Finlay voreingenommen, aber seiner Meinung
nach konnte sich jeder Mann glücklich schätzen, eine Schönheit
wie Abbey zur Frau zu bekommen. Allerdings war ihm nicht jeder
gut genug für sie. Abbey war zwar ein bisschen dünn, genau wie
ihre Mutter vor der Geburt ihrer Kinder, aber ihre langen, welligen
Haare schimmerten wie Kohle in der Sonne, und ihre Augen
waren so blau wie das Meer.
»Ich glaube, er hat ein Auge auf dich geworfen«, fügte er hinzu.
In Wirklichkeit glaubte er es nicht nur, er wusste es, aber das
wollte er seiner naiven Tochter möglichst schonend beibringen.
»Was?« Jetzt bekam es Abbey mit der Angst zu tun. »Aber ...
aber Mr. Mason ist ein alter Mann! Er muss doch in deinem Alter
sein, Dad!« Ihr schauderte bei dem Gedanken an irgendetwas
Romantisches zwischen ihnen. Sie konnte es nicht fassen, dass ihr
Vater allen Ernstes glaubte, sie könnte einen Mann seines Alters
als geeigneten Verehrer betrachten.
»Alt« war für eine blutjunge Achtzehnjährige wie Abbey jeder
über dreißig. Ebenezer Mason war dreiundfünfzig, nur fünf Jahre
jünger als ihr Vater, der relativ spät geheiratet hatte: Er war vierzig
gewesen, Mary, seine Braut, knapp siebzehn. In County Sligo, wo
Finlays Familie herstammte, war eine Eheschließung zwischen
einer Halbwüchsigen und einem Mann jenseits der Vierzig nicht
ungewöhnlich, in Australien dagegen schon.
»Das ist doch gar nicht wahr!«, brauste Finlay auf. »Er ist doch
nicht so alt wie ich! Jedenfalls nicht ganz«, fügte er friedlicher
hinzu. Das Bild, das er in diesem Moment vor seinem inneren
Auge sah, schob er ebenso hastig beiseite wie seine Gewissensbisse.
Er musste an Abbeys Zukunft denken, nur darauf kam es an. »Mr.
Mason ist ein reifer Mann und obendrein ein sehr wohlhabender.
Das heißt, du könntest eines Tages eine reiche Witwe sein.«
»Wie kannst du nur so etwas Furchtbares sagen, Dad!«, entgegnete
Abbey ärgerlich. »Außerdem glaube ich, dass du dir etwas
vormachst. Wieso sollte sich Mr. Mason für ein Mädchen aus der
Bergarbeitersiedlung interessieren?«
»Ich werde dir jetzt etwas verraten, was nicht viele wissen: Mr.
Mason war früher selbst Bergmann.«
Abbey riss erstaunt die Augen auf. Wie alle hier hatte sie immer
gedacht, Ebenezer Mason sei in einer adligen Familie in England
mit einem goldenen Löffel im Mund geboren worden.
»Da staunst du, was?« Finlay nickte bekräftigend. »Ja, auch er
ist mal ein armer Schlucker gewesen. Bis er sich in Victoria als
Goldgräber versuchte. Anfang der 1850er-Jahre stieß er in Peg
Leg Gully auf ein reiches Vorkommen. So machte er sein Vermögen.
Alles in allem wurden dort dreihundertvierundzwanzig
Pfund Gold geschürft, ein großer Teil davon von Ebenezer und
seinen Kumpels. Kannst du dir das vorstellen? Dreihundertvierundzwanzig
Pfund!«, wiederholte Finlay verträumt. Seine irischen
Zechkumpane hatten nicht schlecht gestaunt, als er ihnen davon
erzählt hatte. Dann hörte er, wie der Wirt raunte, Ebenezer Mason
hätte seine beiden Partner um ihren Anteil betrogen. Doch Finlay
gab nichts darauf, er vermutete, dass Neid hinter diesen Gerüchten
steckte. »Ein Mann, der so hart arbeiten kann, hat Respekt
verdient. Und wenn er das Glück hatte, eine große Goldmenge zu
finden - nun, dann sei es ihm gegönnt, meine ich.«
»Woher weißt du, dass diese Geschichte wahr ist, Dad?«, fragte
Abbey zweifelnd. Ihrer Ansicht nach klang das alles ein bisschen
weit hergeholt.
»Er hat sie mir selbst erzählt! Wir haben uns in letzter Zeit
einige Male lange unterhalten.« Finlay starrte ins Feuer. In den
vergangenen zwei Wochen hatte er eine Menge über Ebenezer
Mason erfahren. Anfangs war er schon misstrauisch gewesen, als
der Bergwerkseigner ihn auf einen Drink einlud, um ihn näher
kennen zu lernen. Doch Ebenezer Mason hatte keinen Hehl aus
seinen Beweggründen gemacht, und Finlay fand das sehr anständig.
Er war genauso offen gewesen und hatte Ebenezer erklärt,
seine Abbey sei ein tugendhaftes Mädchen, und er werde sich auf
nichts einlassen, wenn er, Ebenezer, keine ehrlichen Absichten
hätte. Nachdem der Minenbesitzer ihm jedoch glaubhaft versichert
hatte, dass das der Fall sei, waren Finlays Zweifel ausgeräumt,
und die beiden Männer hatten sich des Öfteren auf ein
Glas getroffen.
»Ach ja?«, meinte Abbey, die der Sache nicht so recht traute.
Sie konnte sich nur schwer vorstellen, dass Mr. Mason mit seinen
blütenweißen Hemden und den polierten Lacklederschuhen einmal
Bergmann gewesen war und sich die Hände schmutzig gemacht
hatte. Ihr Vater hingegen schien nicht an dieser Geschichte
zu zweifeln.
»Wenn ich es dir sage«, bekräftigte Finlay. »Eine Mine zu besitzen
bedeutet eine Menge Verantwortung und Sorgen. Ich habe
nie viel darüber nachgedacht, aber Mr. Mason hat mir die Augen
geöffnet, und jetzt sehe ich ihn in einem ganz anderen Licht.«
Abbey schnaubte verächtlich. »Er tut nichts anderes, als sein
Geld zu zählen! Die Sorge hätte ich auch gerne.«
»Er muss nicht selten zählen, wie viel er verloren hat«, erwi-
derte Finlay ernsthaft. »Weißt du noch, als letztes Jahr vierhundert
Männer entlassen worden sind?«
Abbey nickte. Wie hätte sie das vergessen können! Das war
ein schwerer Schlag für die Stadt gewesen, und die Stimmung in
der Bergarbeitersiedlung hatte sich auf einem absoluten Tiefstand
befunden.
»Mr. Mason war gar nichts anderes übrig geblieben, weil die
Mine vertieft werden musste und die Kosten für die Kupfergewinnung
dadurch gestiegen sind. Und kaum hatte er in die Mine
investiert, sind die Kupferpreise gefallen. Das sind schwere Entscheidungen,
die er da Tag für Tag treffen muss.«
»Hast du nicht immer gesagt, ihn interessiert nur der Profi t
und nicht das Wohl seiner Arbeiter?«
»Das habe ich bis vor kurzem auch geglaubt. Das leugne ich
gar nicht. Aber ich habe mich geirrt. Er hat mir selbst gesagt, dass
er nachts aus Sorge um seine Arbeiter und ihre Familien oft nicht
schlafen kann, und ich habe das Gefühl, er meint es ehrlich. Du
hast Recht, ich habe ihn für einen Blutsauger gehalten, aber ich
muss zugeben, dass er jedes Mal, wenn die Kupferpreise wieder
gestiegen sind, auch wieder Leute eingestellt hat.«
In seinen Unterhaltungen mit dem Minenbesitzer hatte Finlay
die Befürchtung geäußert, er werde jetzt, wo die Kupferpreise
auf acht Pfund pro Tonne gesunken waren, vielleicht seine Arbeit
verlieren, doch Ebenezer hatte ihn beruhigt: Das werde auf keinen
Fall geschehen.
»Ich freue mich für dich, dass du in Mr. Mason einen Freund
gefunden hast, Dad«, sagte Abbey und fuhr dann entschlossen
fort: »Aber ich liebe Neal Tavis, und eines Tages werden wir heiraten.«
Das hörte Finlay gar nicht gern. Er hatte seiner Tochter bereits
unmissverständlich erklärt, dass er nichts von der Liebelei
zwischen den beiden hielt, und geglaubt, die Angelegenheit sei
damit erledigt. Aber Abbey fand, es war höchste Zeit, dass er sich
an den Gedanken gewöhnte, dass sie sich ihren Ehemann selbst
aussuchen und aus Liebe heiraten würde und nicht um finanzieller
Sicherheit willen.
»Ich weiß, das passt dir nicht«, fügte sie hinzu, als sie seinen
Gesichtsausdruck sah, »aber ich werde auf keinen Fall einen alten
Mann nur des Geldes wegen heiraten.«
»Und ich werde nicht zulassen, dass meine Tochter einen Mann
heiratet, der sein Leben lang ein armer Schlucker bleiben wird«,
brauste Finlay auf. »Du sollst es einmal besser haben und dein
Leben nicht in einer Erdwohnung verbringen müssen!«
»Neal spart, um eines Tages eine Farm kaufen zu können, Dad.
Wir werden ein schönes Zuhause haben, du wirst sehen.«
Finlay schüttelte den Kopf. Schmerzliche Erinnerungen stiegen
in ihm empor. »Weißt du nicht mehr, wie hart das Leben auf
einer Farm sein kann, Abbey? Und dann sind da noch die Mutter
und die Schwestern, für die Neal sorgen muss. Das ist kein guter
Anfang für eine Ehe.«
Abbey erwiderte nichts darauf, aber auch sie erinnerte sich an
etwas. Nach dem Tod ihrer Mutter war ihr Vater schwermütig und
lebensüberdrüssig geworden. Er hatte erst zwei Kinder, dann seine
Frau verloren, wozu also noch weiterleben? Morgens konnte er
sich kaum noch aus dem Bett aufraffen, und wenn doch, dann nur,
um sich zu betrinken. Es dauerte nicht lange, bis sie die Farm, die
sie gepachtet hatten, verloren. Finlays Schwester Brigit, die mit
Mann und fünf Kindern auf einer Farm in Galway lebte, nahm die
beiden bei sich auf. Dort lebten sie knapp drei Jahre lang auf engstem
Raum, unter unerträglichen Bedingungen. Als Brigit hörte,
dass in Australien Bergleute gesucht wurden, drängte sie Finlay,
sein Glück dort zu versuchen, und so brach er mit Abbey auf, um
in den Kolonien ein neues Leben zu beginnen.
Bei ihrer Ankunft war Finlay zuversichtlich gewesen, mit dem
Geld, das er in den Minen verdienen würde, bald ein hübsches
Häuschen in der Stadt für sich und seine Tochter kaufen, vielleicht
sogar einen kleinen Laden eröffnen zu können. Doch es war nicht
so gelaufen, wie er sich das vorgestellt hatte. Die Arbeit in den Mi-
nen war äußerst kraftraubend, gefährlich und obendrein schlecht
bezahlt. Und die wenigen Häuser in der Stadt reichten nicht aus
für die zahlreichen Arbeitssuchenden, die hierher geströmt waren.
Finlay begann schon nach kurzer Zeit zu resignieren und Trost im
Alkohol und im Glücksspiel zu suchen, sodass auch das wenige
Geld, das er auf die Seite hätte legen können, im Nu aufgebraucht
war.
»Ich will nicht, dass meine Tochter Schweine- und Hühnerställe
ausmisten und in einem Land, wo jahrelange Dürren keine
Seltenheit sind, verzweifelt auf Regen warten muss«, fuhr Finlay
bitter fort. »Das Leben auf einer Farm ist verdammt beschwerlich,
wenn man kein Geld hat, um harte Zeiten überstehen zu können.
Ich will, dass du einen Mann heiratest, der besser für dich sorgt,
als ich für deine Mutter gesorgt habe.«
»Du hast dein Möglichstes getan, Dad. Die schlechte Kartoffel-
ernte und die Hungersnot waren schließlich nicht deine Schuld«,
sagte Abbey besänftigend.
»Das vielleicht nicht, aber wenn du die Wahl zwischen einem
harten und einem angenehmen Leben hast, wärst du schön dumm,
dich für das falsche zu entscheiden. Wer das Glück hat, ein so
hübsches Gesicht zu haben, sollte das Beste daraus machen, Abbey.«
Wollte er ihr damit zu verstehen geben, sie sollte ihr Aussehen
benutzen, um sich einen reichen Mann zu angeln? Sie war regelrecht
entsetzt über seine Worte, und Finlay sah es ihr an.
»Ist es denn so falsch, wenn ich mir für meine Tochter ein
leichteres Leben wünsche?«, fuhr er ärgerlich auf.
»Nein, Dad, aber du musst mich schon selbst über mein Leben
entscheiden lassen«, erwiderte Abbey ruhig.
»Das kann ich aber nicht, weil ich deinen Entscheidungen nicht
vertrauen kann. Nicht, wenn du dich in den Erstbesten verliebst,
der dich ansieht. Und der obendrein ein Habenichts ist.«
Empört über diese Bemerkung entgegnete Abbey hitzig: »Neal
ist ein wundervoller junger Mann, und er macht mich glücklich.«
»Glücklich kann man auf die unterschiedlichsten Arten sein,
Abbey. Sollte Mr. Mason dich heiraten wollen, dann wirst du ihn
nicht zurückweisen. Eines Tages, wenn du schöne Kleider tragen
und Gäste in einem vornehmen Salon auf Martindale Hall empfangen
wirst, wirst du mir dankbar sein.«
»O nein, ganz bestimmt nicht! Ich werde mich auf gar keinen
Fall mit einem Scheusal wie Ebenezer Mason ins Ehebett legen,
und wenn er noch so reich ist! Wie kann mein eigener Vater so
etwas von mir verlangen?« Abbey war außer sich.
»Es ist besser, eine Dienerin zu haben, als Dienerin zu sein,
Abbey. Du wirst mich nach Martindale Hall begleiten, und jetzt
will ich kein Wort mehr davon hören!«, knurrte Finlay.
»Lieber bin ich arm und kratze Seite an Seite mit dem Mann,
den ich liebe, im Dreck, als dass ich ein Leben lang unglücklich
bin, nur damit ich mich bedienen lassen kann«, gab Abbey wütend
zurück.
»Du redest Unsinn, Mädchen«, erwiderte Finlay gähnend. Es
war ein langer Tag gewesen, und das Bier, das er in der Kneipe
getrunken hatte, machte ihn zusätzlich müde. Ihm fi elen fast die
Augen zu.
Abbey sprang auf und lief nach draußen. Sie solle sich gefälligst
etwas Hübsches zum Anziehen kaufen für die Einladung ins Herrenhaus,
rief Finlay ihr nach. Abbey antwortete nicht. Mit Tränen
in den Augen eilte sie die Creek Street hinunter zu der Erdwohnung,
in der Neal mit seiner Mutter und seinen Schwestern lebte.
Sein Vater war zwei Wochen nach ihrer Ankunft in Burra ganz
plötzlich gestorben, vermutlich an einem Herzanfall, und hatte
die Familie mittellos zurückgelassen. Das war ein schwerer Schlag
gewesen, zumal Neals Mutter Meg von schwacher Konstitution
und oft krank war. Neal war noch keine fünfzehn Jahre alt gewesen,
als er sich Arbeit in der Kupfermine suchen musste. Fühlte
sie sich kräftig genug, verdiente Meg in einer Wäscherei in Burra
zwar ein paar Shilling dazu, aber ohne Neals Lohn wäre die Familie
nicht in der Lage gewesen zu überleben.
Als er Abbey rufen hörte, kam Neal heraus. Er war stämmig
und nicht sehr groß, sein rotblondes, leicht gelocktes Haar rahmte
ein jungenhaftes Gesicht ein. Neal strahlte Ruhe und Sanftmut
aus.
»Abbey! Was hast du denn?«
Sie warf sich in seine Arme und klammerte sich an ihn. Die
junge Frau brachte es nicht übers Herz, Neal von den Plänen ihres
Vaters zu erzählen, so sehr schämte sie sich bei dem Gedanken
daran, was er von ihr verlangte.
Neal spürte, wie sie schauderte, ohne zu ahnen, dass Abscheu
der Grund dafür war. »Was ist denn passiert, Abbey?«, drängte er
sanft. Er löste sich von ihr und hielt sie auf Armeslänge von sich,
um ihr ins Gesicht sehen zu können. Im Mondlicht schimmerte
es feucht von Tränen.
Abbey blickte in seine warmen braunen Augen und fühlte sich
getröstet. Sie würde ihm nicht sagen, dass ihr Vater niemals mit
einer Hochzeit zwischen ihnen einverstanden wäre, damit würde
sie ihm nur wehtun. »Der kleine Ely Dugan ist gestorben«, sagte
sie stattdessen. Wieder kamen ihr die Tränen.
»O Gott, Abbey, das tut mir so leid! Ich weiß doch, wie sehr er
dir ans Herz gewachsen war.«
Abbey nickte. »Lass uns von hier fortgehen, Neal!«, brach es
unvermittelt aus ihr hervor. »Warum laufen wir nicht heimlich
weg und heiraten?« Sie sah ihn flehentlich an.
Neal machte ein erschrockenes Gesicht und schaute sich verstohlen
um. Sie standen direkt vor dem Eingang zu der Wohnung,
in der sich seine Mutter und seine Schwestern aufhielten. Er nahm
Abbey bei der Hand, und sie gingen ein Stück das Flussbett hinunter.
»Du weißt, dass ich dich liebe und dich heiraten will, Abbey,
aber ich kann nicht einfach abhauen und meine Mom und meine
Schwestern sich selbst überlassen. Sie brauchen mich doch!«
Abbey wusste, er hatte Recht, sie respektierte sein Verantwortungsbewusstsein
und seine Zuverlässigkeit. Es gab so viel an Neal,
das sie liebte, und ein ausgesprochen gut aussehender Mann war
er in ihren Augen obendrein. Natürlich hatte sie nicht vergessen,
dass ihm die Hände gebunden waren und er seit dem Tod seines
Vaters drei Jahre zuvor für seine Mutter und seine Schwestern
sorgen musste. »Dann lass uns doch heiraten und hierbleiben, bis
wir es uns leisten können wegzuziehen.« Das wäre sicherlich nicht
die beste Lösung, aber alles war besser, als mit Ebenezer Mason
verheiratet zu werden.
»Abbey, ist irgendetwas passiert?« Neal sah sie eindringlich an.
»Ich würde ja gern glauben, dass du es kaum erwarten kannst, die
Freuden der Ehe mit mir zu teilen, aber ich habe das Gefühl, da
steckt etwas anderes dahinter.« Er lächelte, und Abbey wurde ganz
warm ums Herz. Sie griff zärtlich in seine Haare und erwiderte
sein Lächeln, aber sie brachte es nicht über sich, ihm die Wahrheit
zu sagen. Sie schmiegte sich an ihn, legte den Kopf an seine
Schulter und flüsterte: »Ich wünsche mir einfach nur, deine Frau
zu sein.«
»Und ich wünsche mir, dein Mann zu sein«, entgegnete Neal
und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Hab noch ein bisschen
Geduld, Abbey. Wir werden bald heiraten. Ich lege jede Woche
ein kleines Sümmchen für unsere Hochzeit zurück, damit wir
uns einen Geistlichen und ein schönes Hochzeitsessen leisten
können.« Für einen Trauring brauchte er kein Geld auszugeben:
Seine Mutter hatte ihm für seine Zukünftige den Ehering seiner
Großmutter geschenkt.
Abbeys Miene hellte sich auf. »Wirklich?«
»Wenn ich es dir sage.« Er war gerührt über ihre kindliche
Freude. »Kopf hoch, Abbey! Spätestens Mitte nächsten Jahres
sind wir Mann und Frau, ich verspreche es.« Er freute sich nicht
minder auf die Hochzeit und seine Zukunft mit Abbey als sie. In
ein paar Jahren, wenn seine Schwestern alt genug wären, um sich
eine Arbeit zu suchen, würde ein Teil der finanziellen Last, die
er zu tragen hatte, von ihm genommen werden, und dann würde
vieles leichter werden.
»O Neal!« Abbey drückte sich an ihn. »Ich liebe dich wirklich,
weißt du das?« Jetzt hatte sie etwas, auf das sie sich freuen konnte,
etwas, das ihr die Kraft geben würde, die nächsten Wochen und
Monate durchzustehen, egal, was kommen mochte.
Als Abbey nach Hause zurückkehrte, war sie nicht mehr ganz so
niedergeschlagen. Finlay war eingeschlafen und schnarchte laut.
Abbey betrachtete ihn seufzend. Sie wusste, ihr würde nichts anderes
übrig bleiben, als ihn nach Martindale Hall zu begleiten,
falls er darauf bestand, aber sie nahm sich vor, so abweisend und
unausstehlich wie möglich zu sein, damit Ebenezer Mason die
Lust, sie zu heiraten, gründlich verging.
Als Abbey am anderen Morgen aufwachte, war ihr Vater schon
zur Arbeit gegangen. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie
verschlafen und ihm kein Frühstück gemacht hatte. Er hatte offenbar
ein Stück von dem Fladenbrot gegessen, das sie am Abend
zuvor gebacken hatte, doch das würde ihn kaum satt machen, und
er hatte einen langen, harten Arbeitstag vor sich. Als sie das Geld
sah, das er ihr dagelassen hatte, zwickte ihr Gewissen sie noch
heftiger. Es war mehr als gewöhnlich, und sie wusste, warum:
Sie sollte nicht nur etwas zu essen, sondern sich auch ein neues
Kleid für den Abend auf Martindale Hall kaufen. Anscheinend
erwartete er tatsächlich von ihr, dass sie Ebenezer Mason bezirzte.
Der Gedanke bedrückte Abbey, aber sie versuchte, ihn beiseitezu-
schieben und sich stattdessen auf ihre gemeinsame Zukunft mit
Neal zu konzentrieren.
Der Morgen nahm seinen gewohnten Gang. Während Abbey
die Hausarbeit erledigte, die Wäsche wusch und Feuerholz sammelte,
beschlich sie ein merkwürdiges Gefühl, eine düstere Vorahnung.
Sie redete sich ein, dass ihr der Streit mit ihrem Vater auf der
Seele lag. Abbey beschloss, die Sache aus der Welt zu schaffen und
sich bei ihm zu entschuldigen. Schließlich wollte er nur ihr Bestes.
Wenn er doch endlich begreifen würde, dass Neal das Beste war,
was ihr passieren konnte!
Ich werde Dad ein Steak und Nierenpastete zum Abendessen
machen, dachte sie. Und eine Flasche Bier werde ich auch besorgen.
Darüber freut er sich bestimmt. Eigentlich konnten sie
sich solche Leckerbissen gar nicht leisten, aber sie wollte wie-
dergutmachen, dass sie sich ihrem Vater gegenüber so respektlos
benommen hatte. Vielleicht würde sie ihn ja doch noch überreden
können, in die Hochzeit mit Neal einzuwilligen.
Eine sengende Hitze lag über der Stadt. Der heiße Nordwind wirbelte
Staubwolken über die ausgedorrte Landschaft. Abbey war in
der Bäckerei, als plötzlich die Sirene an der Kupfermine zu heulen
begann. Sie erstarrte. Irgendetwas musste passiert sein. Vielleicht
war ein Stollen eingestürzt.
Alle schrien durcheinander und rannten los. Abbey stand wie
versteinert da, dann lief auch sie zur Mine. Das schrille Heulen der
Sirene jagte ihr eine Gänsehaut über den Rücken, ihr Herz raste.
Die seltsame, beklemmende Vorahnung, die sie den ganzen Morgen
gequält hatte, machte auf einmal Sinn. Zeitweilig arbeiteten
bis zu vierhundert Bergleute unter Tage, deshalb musste man bei
einem Einsturz oder einem ähnlichen Unglück mit einer furchtbaren
Katastrophe rechnen.
Atemlos und schweißgebadet kam Abbey bei der Mine an.
Schon hatte sich eine riesige Menschenmenge vor dem Eingang
zur Grube eingefunden: Ehefrauen und Kinder von Bergleuten,
Minenarbeiter aus einer anderen Schicht, Ladenbesitzer, die von
der Mine und ihren Angestellten lebten.
»Was ist passiert?«, keuchte Abbey, während sie versuchte, sich
einen Weg durch die Menge zu bahnen. »Ist ein Schacht eingestürzt?«
»Wasser ist in einen der Stollen eingedrungen, und die Mor-
phett-Pumpe ist ausgefallen. Es wird nicht lange dauern, bis das
Wasser auch in die anderen Stollen laufen wird.« Der Mann, der
ihr geantwortet hatte, ein Grubenarbeiter, war ungefähr so alt wie
ihr Vater. Sein Gesicht war aschfahl, eine Wange aufgeschürft
und seine Arbeitskleidung nass und verschmutzt. »Ich hab Glück
gehabt, ich kam gerade noch heraus«, fügte er stockend hinzu.
Bevor Abbey ihm weitere Fragen stellen konnte, war er davongeeilt.
Abbey, die sich ausmalte, wie ihr Vater und Neal in einem der
Stollen gefangen waren und ertranken, war besinnungslos vor
Angst. Sie spürte, dass sie keinen Tropfen Blut mehr im Gesicht
hatte und ihre Knie ganz weich geworden waren. Sie wusste von
ihrem Vater, wie wichtig die Pumpe war, mit der das Grubenwasser
abgepumpt wurde. Fiel sie aus irgendeinem Grund aus, konnten
sich die Stollen im Nu mit Wasser füllen.
Abbey packte einen der anderen Arbeiter am Ärmel. »Wie
viele Männer sind rausgekommen? Hat irgendjemand meinen Vater
gesehen, Finlay Scottsdale?« Panisch ließ sie ihre Blicke über
die Gesichter der Umstehenden schweifen. Sie hätte gern nach
ihrem Vater gerufen, doch sie hatte Angst, er könnte ihr nicht
antworten.
»Wie durch ein Wunder hat es eine ganze Reihe von Männern
geschafft rauszukommen, weil sie gerade auf dem Weg nach oben
waren, um eine Pause zu machen, als die Pumpe ausfi el«, antwortete
ein Bergmann. »Kopf hoch, Mädchen«, fügte er hinzu, fasste sie
an den Armen und sah ihr fest in die Augen. »Alles wird gut werden,
hörst du?« Er wandte sich ab und tauchte in der Menge unter.
Abbey hätte ihm gern geglaubt. Die Angst wühlte in ihren
Eingeweiden. Im Stillen betete sie inbrünstig, dass ihr Vater und
Neal unter jenen waren, die sich noch rechtzeitig in Sicherheit
bringen konnten.
Sie dachte an die Auseinandersetzung mit ihrem Vater, und ihr
kamen die Tränen. Sie bereute ihre harschen Worte und wünschte
sich verzweifelt, dass sie die Möglichkeit bekam, sich mit ihm
zu versöhnen. Hoffentlich war es nicht zu spät! »Wenn du heil
zurückkommst, Dad, werde ich dir eine bessere Tochter sein, ich
verspreche es«, wisperte sie. Und sie meinte es aufrichtig.
Langsam schob Abbey sich durch die Menge, ließ ihre Blicke
suchend über die Gesichter der Männer gleiten. Aber weder ihr
Vater noch Neal waren darunter.
Plötzlich fasste sie jemand von hinten am Arm, und sie schrak
zusammen.
»Dad!« Überglücklich fuhr sie herum. Doch anstatt in das Gesicht
ihres Vaters blickte sie in das von Neals Mutter.
»Wo ist mein Junge?« Megs sorgenvolles, verängstigtes Gesicht
war kalkweiß. Tränen liefen ihr über die Wangen.
»Ich weiß es nicht, Meg.« Abbey schüttelte hilflos den Kopf.
»Meinen Dad kann ich auch nirgends sehen.«
Die beiden Frauen klammerten sich aneinander und warteten.
Mehr konnten sie nicht tun.
Ein Bergmann nach dem anderen wurde aus dem Schacht
geborgen. Alle waren völlig durchnässt, husteten, prusteten und
schnappten gierig nach Luft. Abbey musste an ihren Vater denken,
an die Todesangst, die er ausstehen würde. Er hatte das Wasser
immer schon gehasst, selbst eine Bootsfahrt war ihm ein Gräuel,
deshalb war auch die Überfahrt nach Australien unerträglich für
ihn gewesen.
Die Helfer zogen immer mehr Männer aus der Grube herauf,
manche mehr tot als lebendig. Weinend vor Freude nahmen ihre
Angehörigen sie in Empfang, sanken neben ihnen auf den staubigen
Boden und hielten sie fest umschlungen. Abbey und Meg
wussten, dass die Zeit gegen sie arbeitete, und ihre Angst wuchs.
Bei jedem Bergarbeiter, der geborgen wurde, hielten sie unwillkürlich
den Atem an und fassten sich noch fester an den Händen,
immer hoffend, dass es Finlay oder Neal wäre.
Hektisch wurde daran gearbeitet, die Pumpe wieder in Gang
zu setzen. Einige Männer drängten die bangenden Angehörigen,
die nur hilflos zuschauen konnten, zurück, damit sie den Arbeitern
nicht im Weg standen und sie behinderten. Abbey hörte laute
Gebete und das Schluchzen der Frauen und Kinder.
Dann endlich ertönte das Geräusch, auf das alle gewartet hatten:
Die Morphett-Pumpe sprang stotternd wieder an. Einen Augenblick
herrschte Stille, aber dann brandete Beifall auf.
»Jetzt wird alles gut, Meg«, sagte Abbey. Sie lachte und weinte
zugleich und schob den Gedanken, die Rettung könnte vielleicht
zu spät kommen, weit von sich.
Megs kummervolle Miene hellte sich ein klein wenig auf. »Das
glaube ich erst, wenn ich meinen Neal sehe«, flüsterte sie. »Bitte,
lieber Gott, verschone das Leben meines Jungen und das von Finlay!«
Abbey legte ihren Arm um Megs Schultern und drückte sie
tröstend. Auch sie hatte nur einen Wunsch: ihren Vater und Neal
lebend wiederzusehen. Sie betete inbrünstiger als je zuvor in ihrem
Leben.
Die Bergleute, die aus der Grube geborgen wurden, waren über
und über mit Schlamm bedeckt, sodass es schwierig war, sie zu
identifizieren. Frauen stürzten herbei und riefen in grenzenloser
Erleichterung den Namen ihrer Männer und Söhne, als sie sie
erkannten. Für Meg und Abbey wurde das Warten zur Tortur.
Sosehr sie sich für die Geretteten und ihre Familien freuten, die
Enttäuschung, dass es nicht Finlay oder Neal war, der geborgen
worden war, war kaum auszuhalten, und mit jeder Minute, die
verstrich, schwand ein kleines Stück Hoffnung.
Plötzlich begann die Pumpe wieder zu stottern. Sie setzte ein
paarmal aus, dann blieb sie endgültig stehen.
»O Gott, nein!«, jammerte Abbey entsetzt. Männer liefen hektisch
hin und her, schrien einander Anweisungen zu. Jede Minute
war kostbar, das war allen klar. Freiwillige meldeten sich und stiegen
gegen den Willen des Geschäftsführers in die Grube hinunter,
um nach Verunglückten zu suchen. Meg und Abbey wagten kaum
zu atmen, während sie darauf warteten, dass die Helfer wieder
heraufkamen. Zweimal brachten sie einen Bewusstlosen aus dem
Schacht, der, als er wieder zu sich kam, schmutziges Wasser aushustete
und röchelnd nach Luft schnappte. Aber bei keinem der
beiden handelte es sich um Finlay oder Neal.
Die Minuten verrannen. Megs und Abbeys Nerven waren
zum Zerreißen gespannt, sie fühlten sich vor lauter Angst einer
Ohnmacht nahe. Einer der Männer, die unten gewesen waren, berichtete,
durch das einströmende Wasser sei der Stollen teilweise
eingestürzt. Abbey schlug sich erschrocken die Hand vor den
Mund, als sie das hörte. Ihre schlimmsten Befürchtungen waren
eingetroffen.
»Wie viele sind denn noch unten?«, fragte sie einen Mann neben ihr.
Er schüttelte den Kopf. »Das können wir noch nicht genau
sagen. Wir müssen erst die Zahlen vergleichen.«
Eine Frau drängte sich durch die Menschen zum Eingang des
Schachts und rief laut nach ihrem Mann. Zwei Bergleute konnten
sie nur mit Mühe zurückhalten, so ungestüm gebärdete sie
sich in ihrem Kummer. Achtundfünfzig Männer hatten im Stollen
gearbeitet. Die meisten waren offenbar gerettet worden, aber
Jock McManus, der Mann der verzweifelten Frau, sowie Finlay
und Neal und zwei, drei andere wurden immer noch vermisst.
Anscheinend waren sie zum ungünstigsten Zeitpunkt - nämlich
als die Pumpe ausfiel - auf eine größere Menge Grubenwasser
gestoßen.
Plötzlich riss sich Meg von Abbey los. »Wo ist mein Sohn?«,
kreischte sie hysterisch und hämmerte mit den Fäusten gegen die
Brust des Mannes, der sie festhielt. »Wo ist mein Junge? Warum
helft ihr ihm denn nicht? So helft ihm doch!«, schrie sie voller
Panik, dann brach sie bewusstlos zusammen.
Abbey eilte zu Meg und kniete sich neben sie. Im gleichen
Moment sprang die Pumpe wieder an.
»Danke, lieber Gott«, flüsterte Abbey. Tränen liefen ihr übers
Gesicht. Sie glaubte fest daran, dass ihr Vater und Neal noch am
Leben waren und in einem Lufteinschluss im Stollen auf Rettung
warteten. Sie ergriff Megs schlaffe Hand.
»Alles wird gut, Meg, du wirst sehen, jetzt wird es nicht mehr
lange dauern, bis Dad und Neal in Sicherheit sind.« Abbey war
überzeugt, dass sie gerettet würden. Es konnte nicht anders sein.
Es durfte nicht anders sein. Sie hatte ihre Mutter, ihren Bruder,
ihre Schwester verloren. Sie konnte nicht auch noch ihren Vater
verlieren.
Copyright © 2009 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG,
Bergisch Gladbach
Lektorat: Melanie Blank-Schröder
Umschlaggestaltung: Gisela Kullowatz
Einband-/Umschlagmotiv: © Owen Lexington /getty-images
Satz: Bosbach Kommunikation & Design Gmb H, Köln
Gesetzt aus der Adobe Caslon
Druck und Einband: Friedrich Pustet, Regensburg
Printed in Germany
ISBN 978-3-431-03781-4
Alle wussten, was die herzzerreißenden Schreie bedeuteten:
Der kleine Ely Dugan hatte den Kampf gegen den Typhus verloren.
Ihre Gebete waren umsonst gewesen. Der schmächtige
Vierjährige hatte keine Chance gehabt. Das gramerfüllte Klagen
und Schluchzen seiner Mutter brach den draußen Versammelten
beinah das Herz.
Obwohl Abbey mit ihren achtzehn Jahren weder Ehefrau
noch Mutter war, konnte sie Evelyn Dugans Schmerz nachempfinden.
Die arme Frau hatte vor nicht einmal einem Jahr bereits
einen Sohn verloren. Damals waren in der Creek Street fast dreißig
Kinder an Typhus, Pocken und Fleckfieber gestorben. Jedes
Kind, das ums Leben kam, erinnerte Abbey an ihre persönlichen
Verluste. Sie selbst war 1848 in Irland geboren worden. Ein gutes
Jahr später war ihr Bruder Liam auf die Welt gekommen, und
eineinhalb Jahre später hatte sie noch eine Schwester, Eileen, bekommen.
Als Abbey fünf Jahre alt war, wurde Liam von den
Pocken dahingerafft. Ein Jahr später erkrankte Eileen so schwer
an Keuchhusten, dass sie die Krankheit nicht überlebte. Und
1860 starb Mary, ihre Mutter, im Alter von nur neunundzwanzig
Jahren an Diphtherie.
Die unhygienischen Verhältnisse in der Creek Street waren
ein idealer Nährboden für allerlei Krankheiten. Doch die Bergleute,
die mit ihren Familien hierhergekommen waren, um in der
Monster Mine zu arbeiten, hatten keine andere Wahl, als in den
mit Balken gestützten, höhlenähnlichen Erdwohnungen zu hausen.
Im Sommer war es drinnen zwar angenehm kühl, im Winter
jedoch feucht, schlammig und bitterkalt. Oft genug führte der
Fluss dann so viel Wasser, dass die Bewohner ihre Behausungen
verlassen mussten.
Abbey wischte sich die Tränen ab und ging in ihre Wohnung
zurück. Sie steckte sich die langen schwarzen Haare hoch und
rührte nachdenklich die Suppe um, die sie aus einem ausgekochten
geräucherten Schinkenknochen zubereitet hatte. Die junge Frau
fragte sich, warum sie vom Typhus oder einer anderen Krankheit
verschont worden war und ein unschuldiges Kind wie Ely nicht.
Sie verstand das einfach nicht.
Abbey wartete auf ihren Vater, der wie jeden Donnerstagabend
im Miner's Arms Hotel mit seinen irischen Freunden zechte.
Donnerstag war nämlich Zahltag. Abbey hatte nichts gegen diese
Wirtshausbesuche einzuwenden, weil sie dadurch eine Stunde mit
Neal Tavis allein sein konnte. Dass ihr Vater aber auch samstagnachmittags
nicht auf direktem Weg von der Arbeit nach Hause
kam, sondern einen Abstecher in seine Kneipe machte, nahm sie
ihm übel.
Neal, der junge Mann, in den sich Abbey verliebt hatte, war
achtzehn Jahre alt wie sie selbst und arbeitete Seite an Seite mit
ihrem Vater in einhundertsechzig Meter Tiefe in der Kupfermine.
Samstags verdingte er sich zusätzlich auf einer Farm, um etwas
dazuzuverdienen. Da er von Finlay Scottsdales Kneipenbesuchen
wusste, eilte er jeden Donnerstag von der Zeche nach Hause,
wusch sich und ging dann schnurstracks zu Abbey. Er wollte Finlay
nicht unbedingt aus dem Weg gehen, aber dieser hatte keinen
Zweifel daran gelassen, dass er sich für seine Tochter einen wohlhabenden
Ehemann wünschte, dass sie in seinen Augen etwas
Besseres verdient hatte als einen Minenarbeiter, der in einer Erdwohnung
hauste.
Doch Abbey und Neal hatten einen Plan. Neal hoffte, Finlay
werde seine Meinung ändern, wenn er sich ein Stück Land kaufen
und beweisen könnte, wie zuverlässig und fleißig er war, deshalb
sparte er jeden Penny, den er erübrigen konnte. Einfach war
das allerdings nicht, weil er seine Mutter Meg und seine beiden
Schwestern, die Zwillinge Emily und Amy, die noch zur Schule
gingen, unterstützen musste. Sie alle wohnten eine knappe Meile
von den Scottsdales entfernt auf der anderen Seite der Creek
Street.
Eine Stunde war vergangen, als ein vertrautes Pfeifen die gedrückte
Stille durchbrach, die sich nach dem Tod des kleinen Ely
über die Siedlung gelegt hatte. Finlay, betrunken und nichts ah-
nend von dem Unglück, das sich ereignet hatte, schwankte nach
Hause. Abbey lauschte angestrengt. Sie erkannte meist schon an
dem Lied, das er pfiff, wie viel er getrunken hatte und in welcher
Stimmung er folglich sein würde. Abbey nahm es ihrem Vater übel,
dass er so viel Geld für Alkohol und Wetten ausgab und sein Ziel,
ein besseres Leben für sie beide zu erreichen, dadurch in weite
Ferne rückte. Nach zwei oder drei Bier war er zuversichtlich, dass
sich bald alles zum Besseren wenden würde, doch es blieb nur
selten bei zwei oder drei Bier. Nach vier oder fünf Gläsern wurde
Finlay schwermütig oder patriotisch, und hatte er noch mehr getrunken,
war er übelster Laune und sah alles schwarz. Abbey hasste
es, wenn er so war, aber da sie ihn nicht ändern konnte, wie sie
mittlerweile eingesehen hatte, tröstete sie sich mit der Vorfreude
auf ihre gemeinsame Zukunft mit Neal.
An diesem Abend jedoch war Finlay guter Dinge. Abbey
merkte es daran, dass er Brian Boru's March pfiff. War er sinnlos
betrunken, bevorzugte er The Lamentation of Deirdre. Das war ein
Lieblingslied ihrer Mutter gewesen. Abbey graute es vor dieser
Melodie, weil sie bedeutete, dass ihr Vater in Weltuntergangsstimmung
war.
»Abigail, mein Engelchen!«, begrüßte Finlay seine Tochter fröhlich,
als er durch die niedrige Tür eintrat. »Was hast du uns denn
heute Abend Gutes zu essen gemacht?«
Abbey, die auf dem Boden aus gestampfter Erde saß, blickte
nur flüchtig auf. »Nicht so laut, Vater! Der kleine Ely ist gestorben.«
Finlay machte ein bestürztes Gesicht. »Das ist eine schlimme
Nachricht«, brummte er. »Er war ein feiner kleiner Kerl.«
»Ja, das war er«, murmelte Abbey traurig, als sie sich seinen roten
Lockenkopf und sein spitzbübisches Lächeln ins Gedächtnis
rief. Einen kleinen Kobold hatte sie ihn immer genannt. An ihre
eigenen Geschwister konnte sie sich zu ihrem Bedauern kaum
noch erinnern, aber sie würde niemals die Tränen vergessen, die
ihre Mutter so oft vergossen hatte.
Abbey schniefte und kämpfte gegen die tiefe Rührung an, die
sie verspürte. »Hast du Evelyn denn nicht weinen hören, als du
bei den Dugans vorbeigegangen bist?«
Finlay schüttelte den Kopf. »Nein.« Er wollte sich hinsetzen,
verlor aber das Gleichgewicht und fiel wie ein nasser Sack zu Boden.
Ächzend drehte er sich um und stieß dabei mit dem Fuß
in die Feuerstelle. Asche wirbelte auf. Finlay lachte leise in sich
hinein.
Abbey, die ihn viele Male in diesem Zustand gesehen hatte, war
nicht beunruhigt. Sie schnalzte nur missbilligend mit der Zunge,
so wie ihre Mutter es immer getan hatte, wenn sie sich über Finlay
geärgert hatte. Ihr Vater nahm ihr das nicht übel, im Gegenteil: Er
fand es auf seltsame Weise tröstlich, dass sie ihn oft zurechtwies
wie eine Ehefrau.
»Wir haben etwas zu feiern, Abbey«, sagte er und lächelte.
»So? Was denn?« Abbey schöpfte ihm Suppe in einen tiefen
Teller und brach ein Stück von dem Fladenbrot ab, das sie gebacken
hatte. Eine gute Nachricht wäre eine willkommene Abwechslung.
»Wir beide sind kommenden Samstagabend zum Essen nach
Martindale Hall eingeladen«, antwortete Finlay aufgeregt.
Abbey starrte ihren Vater über das Feuer hinweg an. Verblüffung
zeigte sich auf ihrem hübschen Gesicht. »Nach Martindale
Hall? Wieso hat man uns dorthin eingeladen?« Sie wusste, dass
Ebenezer Mason, der Eigentümer der Mine, nichts als Verachtung
für seine Arbeiter übrighatte, deshalb wunderte sie sich über
diese Einladung in sein Herrenhaus in Mintaro. Die wenigen,
die es gesehen hatten, beschrieben es als protzig und palastähnlich.
Noch mehr aber erstaunte sie, dass ihr Vater die Einladung
angenommen hatte, stand Mr. Mason doch in dem Ruf, auf die
Arbeiterklasse herabzusehen und seine Untergebenen skrupellos
auszubeuten.
Finlay wählte seine nächsten Worte mit Bedacht. »Nun, zum
Abendessen, wie ich schon sagte. Und ich wette, dass ein Fest-
schmaus auf uns warten wird, vielleicht eine gebratene Lammkeule
mit allem, was dazugehört. Das wär doch mal was, Abbey,
hm?« Er leckte sich in gieriger Vorfreude die Lippen. »Ich hoffe
nur, Ebenezer Mason hat genug Bier im Haus. Diese stinkvornehmen
Weine sind nichts für mich.«
»Dad, ich verstehe das nicht! Ich dachte, du hältst nicht viel
von Mr. Mason.« Abbey sah ihren Vater misstrauisch an. Wie
oft hatte er über den Minenbesitzer geschimpft, weil dieser als
Geizkragen bekannt war und seine Knickerigkeit das Leben der
Bergleute gefährdete.
»Ja, das war auch so«, antwortete Finlay nachdenklich.
»Und jetzt hast du deine Meinung geändert?« Abbey war verwirrt,
weil sie nicht verstand, was auf einmal anders geworden
war.
»Ich habe diesen Mann in den letzten Wochen näher kennen
gelernt, Abbey, und heute schäme ich mich dafür, dass ich so hart
über ihn geurteilt habe.«
»Ich dachte, du hättest allen Grund, ihn zu hassen.«
Finlay nickte. »Ja, das dachte ich auch.« Abbeys Vater klang
müde. Er brach ein Stück Brot ab und begann, geräuschvoll seine
Suppe zu schlürfen.
Abbey verzog schmerzlich das Gesicht bei dem Gedanken daran,
dass er im vornehmen Speisezimmer von Martindale Hall
genauso schlürfen und schmatzen würde.
»Wir müssen an deine Zukunft denken, Abbey«, fuhr Finlay
unvermittelt fort.
»Meine Zukunft?«, wiederholte die junge Frau verdutzt. »Was
hat das mit der Einladung nach Martindale Hall zu tun?« Ein
Gedanke durchzuckte sie, und sie wurde unwillkürlich rot, als
sie begriff, was ihr Vater möglicherweise im Schilde führte. Sie
kannte seine Anspielungen auf potenzielle Ehemänner, auf Männer,
die seiner Ansicht nach die richtigen für sie waren, wie der
Sohn des Bürgermeisters oder der Direktor des Royal Exchange
Hotel. Einmal hatte Finlay sogar versucht, sie mit dem Polizeichef,
einem Mann Ende dreißig, zu verkuppeln. Abbey war das furchtbar
peinlich, weil all diese Männer ihrer Meinung nach entweder
zu alt oder höherrangig waren. Ihr Vater glaubte doch wohl nicht,
Ebenezer Masons Sohn könnte an ihr interessiert sein?
Doch dann fi el ihr ein, dass sie gehört hatte, der Sohn wohne
nicht im Herrenhaus, sondern in einem kleinen Cottage irgendwo
auf dem riesengroßen Gutsbesitz. Nach einer Auseinandersetzung
wegen Ebenezers kurzer Ehe mit einer viel jüngeren Frau, so erzählten
die Leute, war der Kontakt zwischen Vater und Sohn mehr
oder weniger abgerissen. Aber niemand wusste etwas Genaues.
Freunde hatten Abbey seine Kutsche gezeigt, wenn er, was selten
vorkam, einmal durch Burra fuhr, aber gesehen hatte sie ihn nie.
»Ebenezer Mason möchte dich gern kennen lernen, Abbey«,
sagte Finlay. Der Ausdruck von Missfallen und Verwunderung
auf ihrem Gesicht entging ihm nicht, und er unterdrückte einen
gereizten Seufzer. Der mangelnde Ehrgeiz seiner Tochter, einen
Ehemann zu finden, der ihr ein angenehmes Leben bieten konnte,
hatte ihn immer schon verdrossen.
Natürlich war Finlay voreingenommen, aber seiner Meinung
nach konnte sich jeder Mann glücklich schätzen, eine Schönheit
wie Abbey zur Frau zu bekommen. Allerdings war ihm nicht jeder
gut genug für sie. Abbey war zwar ein bisschen dünn, genau wie
ihre Mutter vor der Geburt ihrer Kinder, aber ihre langen, welligen
Haare schimmerten wie Kohle in der Sonne, und ihre Augen
waren so blau wie das Meer.
»Ich glaube, er hat ein Auge auf dich geworfen«, fügte er hinzu.
In Wirklichkeit glaubte er es nicht nur, er wusste es, aber das
wollte er seiner naiven Tochter möglichst schonend beibringen.
»Was?« Jetzt bekam es Abbey mit der Angst zu tun. »Aber ...
aber Mr. Mason ist ein alter Mann! Er muss doch in deinem Alter
sein, Dad!« Ihr schauderte bei dem Gedanken an irgendetwas
Romantisches zwischen ihnen. Sie konnte es nicht fassen, dass ihr
Vater allen Ernstes glaubte, sie könnte einen Mann seines Alters
als geeigneten Verehrer betrachten.
»Alt« war für eine blutjunge Achtzehnjährige wie Abbey jeder
über dreißig. Ebenezer Mason war dreiundfünfzig, nur fünf Jahre
jünger als ihr Vater, der relativ spät geheiratet hatte: Er war vierzig
gewesen, Mary, seine Braut, knapp siebzehn. In County Sligo, wo
Finlays Familie herstammte, war eine Eheschließung zwischen
einer Halbwüchsigen und einem Mann jenseits der Vierzig nicht
ungewöhnlich, in Australien dagegen schon.
»Das ist doch gar nicht wahr!«, brauste Finlay auf. »Er ist doch
nicht so alt wie ich! Jedenfalls nicht ganz«, fügte er friedlicher
hinzu. Das Bild, das er in diesem Moment vor seinem inneren
Auge sah, schob er ebenso hastig beiseite wie seine Gewissensbisse.
Er musste an Abbeys Zukunft denken, nur darauf kam es an. »Mr.
Mason ist ein reifer Mann und obendrein ein sehr wohlhabender.
Das heißt, du könntest eines Tages eine reiche Witwe sein.«
»Wie kannst du nur so etwas Furchtbares sagen, Dad!«, entgegnete
Abbey ärgerlich. »Außerdem glaube ich, dass du dir etwas
vormachst. Wieso sollte sich Mr. Mason für ein Mädchen aus der
Bergarbeitersiedlung interessieren?«
»Ich werde dir jetzt etwas verraten, was nicht viele wissen: Mr.
Mason war früher selbst Bergmann.«
Abbey riss erstaunt die Augen auf. Wie alle hier hatte sie immer
gedacht, Ebenezer Mason sei in einer adligen Familie in England
mit einem goldenen Löffel im Mund geboren worden.
»Da staunst du, was?« Finlay nickte bekräftigend. »Ja, auch er
ist mal ein armer Schlucker gewesen. Bis er sich in Victoria als
Goldgräber versuchte. Anfang der 1850er-Jahre stieß er in Peg
Leg Gully auf ein reiches Vorkommen. So machte er sein Vermögen.
Alles in allem wurden dort dreihundertvierundzwanzig
Pfund Gold geschürft, ein großer Teil davon von Ebenezer und
seinen Kumpels. Kannst du dir das vorstellen? Dreihundertvierundzwanzig
Pfund!«, wiederholte Finlay verträumt. Seine irischen
Zechkumpane hatten nicht schlecht gestaunt, als er ihnen davon
erzählt hatte. Dann hörte er, wie der Wirt raunte, Ebenezer Mason
hätte seine beiden Partner um ihren Anteil betrogen. Doch Finlay
gab nichts darauf, er vermutete, dass Neid hinter diesen Gerüchten
steckte. »Ein Mann, der so hart arbeiten kann, hat Respekt
verdient. Und wenn er das Glück hatte, eine große Goldmenge zu
finden - nun, dann sei es ihm gegönnt, meine ich.«
»Woher weißt du, dass diese Geschichte wahr ist, Dad?«, fragte
Abbey zweifelnd. Ihrer Ansicht nach klang das alles ein bisschen
weit hergeholt.
»Er hat sie mir selbst erzählt! Wir haben uns in letzter Zeit
einige Male lange unterhalten.« Finlay starrte ins Feuer. In den
vergangenen zwei Wochen hatte er eine Menge über Ebenezer
Mason erfahren. Anfangs war er schon misstrauisch gewesen, als
der Bergwerkseigner ihn auf einen Drink einlud, um ihn näher
kennen zu lernen. Doch Ebenezer Mason hatte keinen Hehl aus
seinen Beweggründen gemacht, und Finlay fand das sehr anständig.
Er war genauso offen gewesen und hatte Ebenezer erklärt,
seine Abbey sei ein tugendhaftes Mädchen, und er werde sich auf
nichts einlassen, wenn er, Ebenezer, keine ehrlichen Absichten
hätte. Nachdem der Minenbesitzer ihm jedoch glaubhaft versichert
hatte, dass das der Fall sei, waren Finlays Zweifel ausgeräumt,
und die beiden Männer hatten sich des Öfteren auf ein
Glas getroffen.
»Ach ja?«, meinte Abbey, die der Sache nicht so recht traute.
Sie konnte sich nur schwer vorstellen, dass Mr. Mason mit seinen
blütenweißen Hemden und den polierten Lacklederschuhen einmal
Bergmann gewesen war und sich die Hände schmutzig gemacht
hatte. Ihr Vater hingegen schien nicht an dieser Geschichte
zu zweifeln.
»Wenn ich es dir sage«, bekräftigte Finlay. »Eine Mine zu besitzen
bedeutet eine Menge Verantwortung und Sorgen. Ich habe
nie viel darüber nachgedacht, aber Mr. Mason hat mir die Augen
geöffnet, und jetzt sehe ich ihn in einem ganz anderen Licht.«
Abbey schnaubte verächtlich. »Er tut nichts anderes, als sein
Geld zu zählen! Die Sorge hätte ich auch gerne.«
»Er muss nicht selten zählen, wie viel er verloren hat«, erwi-
derte Finlay ernsthaft. »Weißt du noch, als letztes Jahr vierhundert
Männer entlassen worden sind?«
Abbey nickte. Wie hätte sie das vergessen können! Das war
ein schwerer Schlag für die Stadt gewesen, und die Stimmung in
der Bergarbeitersiedlung hatte sich auf einem absoluten Tiefstand
befunden.
»Mr. Mason war gar nichts anderes übrig geblieben, weil die
Mine vertieft werden musste und die Kosten für die Kupfergewinnung
dadurch gestiegen sind. Und kaum hatte er in die Mine
investiert, sind die Kupferpreise gefallen. Das sind schwere Entscheidungen,
die er da Tag für Tag treffen muss.«
»Hast du nicht immer gesagt, ihn interessiert nur der Profi t
und nicht das Wohl seiner Arbeiter?«
»Das habe ich bis vor kurzem auch geglaubt. Das leugne ich
gar nicht. Aber ich habe mich geirrt. Er hat mir selbst gesagt, dass
er nachts aus Sorge um seine Arbeiter und ihre Familien oft nicht
schlafen kann, und ich habe das Gefühl, er meint es ehrlich. Du
hast Recht, ich habe ihn für einen Blutsauger gehalten, aber ich
muss zugeben, dass er jedes Mal, wenn die Kupferpreise wieder
gestiegen sind, auch wieder Leute eingestellt hat.«
In seinen Unterhaltungen mit dem Minenbesitzer hatte Finlay
die Befürchtung geäußert, er werde jetzt, wo die Kupferpreise
auf acht Pfund pro Tonne gesunken waren, vielleicht seine Arbeit
verlieren, doch Ebenezer hatte ihn beruhigt: Das werde auf keinen
Fall geschehen.
»Ich freue mich für dich, dass du in Mr. Mason einen Freund
gefunden hast, Dad«, sagte Abbey und fuhr dann entschlossen
fort: »Aber ich liebe Neal Tavis, und eines Tages werden wir heiraten.«
Das hörte Finlay gar nicht gern. Er hatte seiner Tochter bereits
unmissverständlich erklärt, dass er nichts von der Liebelei
zwischen den beiden hielt, und geglaubt, die Angelegenheit sei
damit erledigt. Aber Abbey fand, es war höchste Zeit, dass er sich
an den Gedanken gewöhnte, dass sie sich ihren Ehemann selbst
aussuchen und aus Liebe heiraten würde und nicht um finanzieller
Sicherheit willen.
»Ich weiß, das passt dir nicht«, fügte sie hinzu, als sie seinen
Gesichtsausdruck sah, »aber ich werde auf keinen Fall einen alten
Mann nur des Geldes wegen heiraten.«
»Und ich werde nicht zulassen, dass meine Tochter einen Mann
heiratet, der sein Leben lang ein armer Schlucker bleiben wird«,
brauste Finlay auf. »Du sollst es einmal besser haben und dein
Leben nicht in einer Erdwohnung verbringen müssen!«
»Neal spart, um eines Tages eine Farm kaufen zu können, Dad.
Wir werden ein schönes Zuhause haben, du wirst sehen.«
Finlay schüttelte den Kopf. Schmerzliche Erinnerungen stiegen
in ihm empor. »Weißt du nicht mehr, wie hart das Leben auf
einer Farm sein kann, Abbey? Und dann sind da noch die Mutter
und die Schwestern, für die Neal sorgen muss. Das ist kein guter
Anfang für eine Ehe.«
Abbey erwiderte nichts darauf, aber auch sie erinnerte sich an
etwas. Nach dem Tod ihrer Mutter war ihr Vater schwermütig und
lebensüberdrüssig geworden. Er hatte erst zwei Kinder, dann seine
Frau verloren, wozu also noch weiterleben? Morgens konnte er
sich kaum noch aus dem Bett aufraffen, und wenn doch, dann nur,
um sich zu betrinken. Es dauerte nicht lange, bis sie die Farm, die
sie gepachtet hatten, verloren. Finlays Schwester Brigit, die mit
Mann und fünf Kindern auf einer Farm in Galway lebte, nahm die
beiden bei sich auf. Dort lebten sie knapp drei Jahre lang auf engstem
Raum, unter unerträglichen Bedingungen. Als Brigit hörte,
dass in Australien Bergleute gesucht wurden, drängte sie Finlay,
sein Glück dort zu versuchen, und so brach er mit Abbey auf, um
in den Kolonien ein neues Leben zu beginnen.
Bei ihrer Ankunft war Finlay zuversichtlich gewesen, mit dem
Geld, das er in den Minen verdienen würde, bald ein hübsches
Häuschen in der Stadt für sich und seine Tochter kaufen, vielleicht
sogar einen kleinen Laden eröffnen zu können. Doch es war nicht
so gelaufen, wie er sich das vorgestellt hatte. Die Arbeit in den Mi-
nen war äußerst kraftraubend, gefährlich und obendrein schlecht
bezahlt. Und die wenigen Häuser in der Stadt reichten nicht aus
für die zahlreichen Arbeitssuchenden, die hierher geströmt waren.
Finlay begann schon nach kurzer Zeit zu resignieren und Trost im
Alkohol und im Glücksspiel zu suchen, sodass auch das wenige
Geld, das er auf die Seite hätte legen können, im Nu aufgebraucht
war.
»Ich will nicht, dass meine Tochter Schweine- und Hühnerställe
ausmisten und in einem Land, wo jahrelange Dürren keine
Seltenheit sind, verzweifelt auf Regen warten muss«, fuhr Finlay
bitter fort. »Das Leben auf einer Farm ist verdammt beschwerlich,
wenn man kein Geld hat, um harte Zeiten überstehen zu können.
Ich will, dass du einen Mann heiratest, der besser für dich sorgt,
als ich für deine Mutter gesorgt habe.«
»Du hast dein Möglichstes getan, Dad. Die schlechte Kartoffel-
ernte und die Hungersnot waren schließlich nicht deine Schuld«,
sagte Abbey besänftigend.
»Das vielleicht nicht, aber wenn du die Wahl zwischen einem
harten und einem angenehmen Leben hast, wärst du schön dumm,
dich für das falsche zu entscheiden. Wer das Glück hat, ein so
hübsches Gesicht zu haben, sollte das Beste daraus machen, Abbey.«
Wollte er ihr damit zu verstehen geben, sie sollte ihr Aussehen
benutzen, um sich einen reichen Mann zu angeln? Sie war regelrecht
entsetzt über seine Worte, und Finlay sah es ihr an.
»Ist es denn so falsch, wenn ich mir für meine Tochter ein
leichteres Leben wünsche?«, fuhr er ärgerlich auf.
»Nein, Dad, aber du musst mich schon selbst über mein Leben
entscheiden lassen«, erwiderte Abbey ruhig.
»Das kann ich aber nicht, weil ich deinen Entscheidungen nicht
vertrauen kann. Nicht, wenn du dich in den Erstbesten verliebst,
der dich ansieht. Und der obendrein ein Habenichts ist.«
Empört über diese Bemerkung entgegnete Abbey hitzig: »Neal
ist ein wundervoller junger Mann, und er macht mich glücklich.«
»Glücklich kann man auf die unterschiedlichsten Arten sein,
Abbey. Sollte Mr. Mason dich heiraten wollen, dann wirst du ihn
nicht zurückweisen. Eines Tages, wenn du schöne Kleider tragen
und Gäste in einem vornehmen Salon auf Martindale Hall empfangen
wirst, wirst du mir dankbar sein.«
»O nein, ganz bestimmt nicht! Ich werde mich auf gar keinen
Fall mit einem Scheusal wie Ebenezer Mason ins Ehebett legen,
und wenn er noch so reich ist! Wie kann mein eigener Vater so
etwas von mir verlangen?« Abbey war außer sich.
»Es ist besser, eine Dienerin zu haben, als Dienerin zu sein,
Abbey. Du wirst mich nach Martindale Hall begleiten, und jetzt
will ich kein Wort mehr davon hören!«, knurrte Finlay.
»Lieber bin ich arm und kratze Seite an Seite mit dem Mann,
den ich liebe, im Dreck, als dass ich ein Leben lang unglücklich
bin, nur damit ich mich bedienen lassen kann«, gab Abbey wütend
zurück.
»Du redest Unsinn, Mädchen«, erwiderte Finlay gähnend. Es
war ein langer Tag gewesen, und das Bier, das er in der Kneipe
getrunken hatte, machte ihn zusätzlich müde. Ihm fi elen fast die
Augen zu.
Abbey sprang auf und lief nach draußen. Sie solle sich gefälligst
etwas Hübsches zum Anziehen kaufen für die Einladung ins Herrenhaus,
rief Finlay ihr nach. Abbey antwortete nicht. Mit Tränen
in den Augen eilte sie die Creek Street hinunter zu der Erdwohnung,
in der Neal mit seiner Mutter und seinen Schwestern lebte.
Sein Vater war zwei Wochen nach ihrer Ankunft in Burra ganz
plötzlich gestorben, vermutlich an einem Herzanfall, und hatte
die Familie mittellos zurückgelassen. Das war ein schwerer Schlag
gewesen, zumal Neals Mutter Meg von schwacher Konstitution
und oft krank war. Neal war noch keine fünfzehn Jahre alt gewesen,
als er sich Arbeit in der Kupfermine suchen musste. Fühlte
sie sich kräftig genug, verdiente Meg in einer Wäscherei in Burra
zwar ein paar Shilling dazu, aber ohne Neals Lohn wäre die Familie
nicht in der Lage gewesen zu überleben.
Als er Abbey rufen hörte, kam Neal heraus. Er war stämmig
und nicht sehr groß, sein rotblondes, leicht gelocktes Haar rahmte
ein jungenhaftes Gesicht ein. Neal strahlte Ruhe und Sanftmut
aus.
»Abbey! Was hast du denn?«
Sie warf sich in seine Arme und klammerte sich an ihn. Die
junge Frau brachte es nicht übers Herz, Neal von den Plänen ihres
Vaters zu erzählen, so sehr schämte sie sich bei dem Gedanken
daran, was er von ihr verlangte.
Neal spürte, wie sie schauderte, ohne zu ahnen, dass Abscheu
der Grund dafür war. »Was ist denn passiert, Abbey?«, drängte er
sanft. Er löste sich von ihr und hielt sie auf Armeslänge von sich,
um ihr ins Gesicht sehen zu können. Im Mondlicht schimmerte
es feucht von Tränen.
Abbey blickte in seine warmen braunen Augen und fühlte sich
getröstet. Sie würde ihm nicht sagen, dass ihr Vater niemals mit
einer Hochzeit zwischen ihnen einverstanden wäre, damit würde
sie ihm nur wehtun. »Der kleine Ely Dugan ist gestorben«, sagte
sie stattdessen. Wieder kamen ihr die Tränen.
»O Gott, Abbey, das tut mir so leid! Ich weiß doch, wie sehr er
dir ans Herz gewachsen war.«
Abbey nickte. »Lass uns von hier fortgehen, Neal!«, brach es
unvermittelt aus ihr hervor. »Warum laufen wir nicht heimlich
weg und heiraten?« Sie sah ihn flehentlich an.
Neal machte ein erschrockenes Gesicht und schaute sich verstohlen
um. Sie standen direkt vor dem Eingang zu der Wohnung,
in der sich seine Mutter und seine Schwestern aufhielten. Er nahm
Abbey bei der Hand, und sie gingen ein Stück das Flussbett hinunter.
»Du weißt, dass ich dich liebe und dich heiraten will, Abbey,
aber ich kann nicht einfach abhauen und meine Mom und meine
Schwestern sich selbst überlassen. Sie brauchen mich doch!«
Abbey wusste, er hatte Recht, sie respektierte sein Verantwortungsbewusstsein
und seine Zuverlässigkeit. Es gab so viel an Neal,
das sie liebte, und ein ausgesprochen gut aussehender Mann war
er in ihren Augen obendrein. Natürlich hatte sie nicht vergessen,
dass ihm die Hände gebunden waren und er seit dem Tod seines
Vaters drei Jahre zuvor für seine Mutter und seine Schwestern
sorgen musste. »Dann lass uns doch heiraten und hierbleiben, bis
wir es uns leisten können wegzuziehen.« Das wäre sicherlich nicht
die beste Lösung, aber alles war besser, als mit Ebenezer Mason
verheiratet zu werden.
»Abbey, ist irgendetwas passiert?« Neal sah sie eindringlich an.
»Ich würde ja gern glauben, dass du es kaum erwarten kannst, die
Freuden der Ehe mit mir zu teilen, aber ich habe das Gefühl, da
steckt etwas anderes dahinter.« Er lächelte, und Abbey wurde ganz
warm ums Herz. Sie griff zärtlich in seine Haare und erwiderte
sein Lächeln, aber sie brachte es nicht über sich, ihm die Wahrheit
zu sagen. Sie schmiegte sich an ihn, legte den Kopf an seine
Schulter und flüsterte: »Ich wünsche mir einfach nur, deine Frau
zu sein.«
»Und ich wünsche mir, dein Mann zu sein«, entgegnete Neal
und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Hab noch ein bisschen
Geduld, Abbey. Wir werden bald heiraten. Ich lege jede Woche
ein kleines Sümmchen für unsere Hochzeit zurück, damit wir
uns einen Geistlichen und ein schönes Hochzeitsessen leisten
können.« Für einen Trauring brauchte er kein Geld auszugeben:
Seine Mutter hatte ihm für seine Zukünftige den Ehering seiner
Großmutter geschenkt.
Abbeys Miene hellte sich auf. »Wirklich?«
»Wenn ich es dir sage.« Er war gerührt über ihre kindliche
Freude. »Kopf hoch, Abbey! Spätestens Mitte nächsten Jahres
sind wir Mann und Frau, ich verspreche es.« Er freute sich nicht
minder auf die Hochzeit und seine Zukunft mit Abbey als sie. In
ein paar Jahren, wenn seine Schwestern alt genug wären, um sich
eine Arbeit zu suchen, würde ein Teil der finanziellen Last, die
er zu tragen hatte, von ihm genommen werden, und dann würde
vieles leichter werden.
»O Neal!« Abbey drückte sich an ihn. »Ich liebe dich wirklich,
weißt du das?« Jetzt hatte sie etwas, auf das sie sich freuen konnte,
etwas, das ihr die Kraft geben würde, die nächsten Wochen und
Monate durchzustehen, egal, was kommen mochte.
Als Abbey nach Hause zurückkehrte, war sie nicht mehr ganz so
niedergeschlagen. Finlay war eingeschlafen und schnarchte laut.
Abbey betrachtete ihn seufzend. Sie wusste, ihr würde nichts anderes
übrig bleiben, als ihn nach Martindale Hall zu begleiten,
falls er darauf bestand, aber sie nahm sich vor, so abweisend und
unausstehlich wie möglich zu sein, damit Ebenezer Mason die
Lust, sie zu heiraten, gründlich verging.
Als Abbey am anderen Morgen aufwachte, war ihr Vater schon
zur Arbeit gegangen. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie
verschlafen und ihm kein Frühstück gemacht hatte. Er hatte offenbar
ein Stück von dem Fladenbrot gegessen, das sie am Abend
zuvor gebacken hatte, doch das würde ihn kaum satt machen, und
er hatte einen langen, harten Arbeitstag vor sich. Als sie das Geld
sah, das er ihr dagelassen hatte, zwickte ihr Gewissen sie noch
heftiger. Es war mehr als gewöhnlich, und sie wusste, warum:
Sie sollte nicht nur etwas zu essen, sondern sich auch ein neues
Kleid für den Abend auf Martindale Hall kaufen. Anscheinend
erwartete er tatsächlich von ihr, dass sie Ebenezer Mason bezirzte.
Der Gedanke bedrückte Abbey, aber sie versuchte, ihn beiseitezu-
schieben und sich stattdessen auf ihre gemeinsame Zukunft mit
Neal zu konzentrieren.
Der Morgen nahm seinen gewohnten Gang. Während Abbey
die Hausarbeit erledigte, die Wäsche wusch und Feuerholz sammelte,
beschlich sie ein merkwürdiges Gefühl, eine düstere Vorahnung.
Sie redete sich ein, dass ihr der Streit mit ihrem Vater auf der
Seele lag. Abbey beschloss, die Sache aus der Welt zu schaffen und
sich bei ihm zu entschuldigen. Schließlich wollte er nur ihr Bestes.
Wenn er doch endlich begreifen würde, dass Neal das Beste war,
was ihr passieren konnte!
Ich werde Dad ein Steak und Nierenpastete zum Abendessen
machen, dachte sie. Und eine Flasche Bier werde ich auch besorgen.
Darüber freut er sich bestimmt. Eigentlich konnten sie
sich solche Leckerbissen gar nicht leisten, aber sie wollte wie-
dergutmachen, dass sie sich ihrem Vater gegenüber so respektlos
benommen hatte. Vielleicht würde sie ihn ja doch noch überreden
können, in die Hochzeit mit Neal einzuwilligen.
Eine sengende Hitze lag über der Stadt. Der heiße Nordwind wirbelte
Staubwolken über die ausgedorrte Landschaft. Abbey war in
der Bäckerei, als plötzlich die Sirene an der Kupfermine zu heulen
begann. Sie erstarrte. Irgendetwas musste passiert sein. Vielleicht
war ein Stollen eingestürzt.
Alle schrien durcheinander und rannten los. Abbey stand wie
versteinert da, dann lief auch sie zur Mine. Das schrille Heulen der
Sirene jagte ihr eine Gänsehaut über den Rücken, ihr Herz raste.
Die seltsame, beklemmende Vorahnung, die sie den ganzen Morgen
gequält hatte, machte auf einmal Sinn. Zeitweilig arbeiteten
bis zu vierhundert Bergleute unter Tage, deshalb musste man bei
einem Einsturz oder einem ähnlichen Unglück mit einer furchtbaren
Katastrophe rechnen.
Atemlos und schweißgebadet kam Abbey bei der Mine an.
Schon hatte sich eine riesige Menschenmenge vor dem Eingang
zur Grube eingefunden: Ehefrauen und Kinder von Bergleuten,
Minenarbeiter aus einer anderen Schicht, Ladenbesitzer, die von
der Mine und ihren Angestellten lebten.
»Was ist passiert?«, keuchte Abbey, während sie versuchte, sich
einen Weg durch die Menge zu bahnen. »Ist ein Schacht eingestürzt?«
»Wasser ist in einen der Stollen eingedrungen, und die Mor-
phett-Pumpe ist ausgefallen. Es wird nicht lange dauern, bis das
Wasser auch in die anderen Stollen laufen wird.« Der Mann, der
ihr geantwortet hatte, ein Grubenarbeiter, war ungefähr so alt wie
ihr Vater. Sein Gesicht war aschfahl, eine Wange aufgeschürft
und seine Arbeitskleidung nass und verschmutzt. »Ich hab Glück
gehabt, ich kam gerade noch heraus«, fügte er stockend hinzu.
Bevor Abbey ihm weitere Fragen stellen konnte, war er davongeeilt.
Abbey, die sich ausmalte, wie ihr Vater und Neal in einem der
Stollen gefangen waren und ertranken, war besinnungslos vor
Angst. Sie spürte, dass sie keinen Tropfen Blut mehr im Gesicht
hatte und ihre Knie ganz weich geworden waren. Sie wusste von
ihrem Vater, wie wichtig die Pumpe war, mit der das Grubenwasser
abgepumpt wurde. Fiel sie aus irgendeinem Grund aus, konnten
sich die Stollen im Nu mit Wasser füllen.
Abbey packte einen der anderen Arbeiter am Ärmel. »Wie
viele Männer sind rausgekommen? Hat irgendjemand meinen Vater
gesehen, Finlay Scottsdale?« Panisch ließ sie ihre Blicke über
die Gesichter der Umstehenden schweifen. Sie hätte gern nach
ihrem Vater gerufen, doch sie hatte Angst, er könnte ihr nicht
antworten.
»Wie durch ein Wunder hat es eine ganze Reihe von Männern
geschafft rauszukommen, weil sie gerade auf dem Weg nach oben
waren, um eine Pause zu machen, als die Pumpe ausfi el«, antwortete
ein Bergmann. »Kopf hoch, Mädchen«, fügte er hinzu, fasste sie
an den Armen und sah ihr fest in die Augen. »Alles wird gut werden,
hörst du?« Er wandte sich ab und tauchte in der Menge unter.
Abbey hätte ihm gern geglaubt. Die Angst wühlte in ihren
Eingeweiden. Im Stillen betete sie inbrünstig, dass ihr Vater und
Neal unter jenen waren, die sich noch rechtzeitig in Sicherheit
bringen konnten.
Sie dachte an die Auseinandersetzung mit ihrem Vater, und ihr
kamen die Tränen. Sie bereute ihre harschen Worte und wünschte
sich verzweifelt, dass sie die Möglichkeit bekam, sich mit ihm
zu versöhnen. Hoffentlich war es nicht zu spät! »Wenn du heil
zurückkommst, Dad, werde ich dir eine bessere Tochter sein, ich
verspreche es«, wisperte sie. Und sie meinte es aufrichtig.
Langsam schob Abbey sich durch die Menge, ließ ihre Blicke
suchend über die Gesichter der Männer gleiten. Aber weder ihr
Vater noch Neal waren darunter.
Plötzlich fasste sie jemand von hinten am Arm, und sie schrak
zusammen.
»Dad!« Überglücklich fuhr sie herum. Doch anstatt in das Gesicht
ihres Vaters blickte sie in das von Neals Mutter.
»Wo ist mein Junge?« Megs sorgenvolles, verängstigtes Gesicht
war kalkweiß. Tränen liefen ihr über die Wangen.
»Ich weiß es nicht, Meg.« Abbey schüttelte hilflos den Kopf.
»Meinen Dad kann ich auch nirgends sehen.«
Die beiden Frauen klammerten sich aneinander und warteten.
Mehr konnten sie nicht tun.
Ein Bergmann nach dem anderen wurde aus dem Schacht
geborgen. Alle waren völlig durchnässt, husteten, prusteten und
schnappten gierig nach Luft. Abbey musste an ihren Vater denken,
an die Todesangst, die er ausstehen würde. Er hatte das Wasser
immer schon gehasst, selbst eine Bootsfahrt war ihm ein Gräuel,
deshalb war auch die Überfahrt nach Australien unerträglich für
ihn gewesen.
Die Helfer zogen immer mehr Männer aus der Grube herauf,
manche mehr tot als lebendig. Weinend vor Freude nahmen ihre
Angehörigen sie in Empfang, sanken neben ihnen auf den staubigen
Boden und hielten sie fest umschlungen. Abbey und Meg
wussten, dass die Zeit gegen sie arbeitete, und ihre Angst wuchs.
Bei jedem Bergarbeiter, der geborgen wurde, hielten sie unwillkürlich
den Atem an und fassten sich noch fester an den Händen,
immer hoffend, dass es Finlay oder Neal wäre.
Hektisch wurde daran gearbeitet, die Pumpe wieder in Gang
zu setzen. Einige Männer drängten die bangenden Angehörigen,
die nur hilflos zuschauen konnten, zurück, damit sie den Arbeitern
nicht im Weg standen und sie behinderten. Abbey hörte laute
Gebete und das Schluchzen der Frauen und Kinder.
Dann endlich ertönte das Geräusch, auf das alle gewartet hatten:
Die Morphett-Pumpe sprang stotternd wieder an. Einen Augenblick
herrschte Stille, aber dann brandete Beifall auf.
»Jetzt wird alles gut, Meg«, sagte Abbey. Sie lachte und weinte
zugleich und schob den Gedanken, die Rettung könnte vielleicht
zu spät kommen, weit von sich.
Megs kummervolle Miene hellte sich ein klein wenig auf. »Das
glaube ich erst, wenn ich meinen Neal sehe«, flüsterte sie. »Bitte,
lieber Gott, verschone das Leben meines Jungen und das von Finlay!«
Abbey legte ihren Arm um Megs Schultern und drückte sie
tröstend. Auch sie hatte nur einen Wunsch: ihren Vater und Neal
lebend wiederzusehen. Sie betete inbrünstiger als je zuvor in ihrem
Leben.
Die Bergleute, die aus der Grube geborgen wurden, waren über
und über mit Schlamm bedeckt, sodass es schwierig war, sie zu
identifizieren. Frauen stürzten herbei und riefen in grenzenloser
Erleichterung den Namen ihrer Männer und Söhne, als sie sie
erkannten. Für Meg und Abbey wurde das Warten zur Tortur.
Sosehr sie sich für die Geretteten und ihre Familien freuten, die
Enttäuschung, dass es nicht Finlay oder Neal war, der geborgen
worden war, war kaum auszuhalten, und mit jeder Minute, die
verstrich, schwand ein kleines Stück Hoffnung.
Plötzlich begann die Pumpe wieder zu stottern. Sie setzte ein
paarmal aus, dann blieb sie endgültig stehen.
»O Gott, nein!«, jammerte Abbey entsetzt. Männer liefen hektisch
hin und her, schrien einander Anweisungen zu. Jede Minute
war kostbar, das war allen klar. Freiwillige meldeten sich und stiegen
gegen den Willen des Geschäftsführers in die Grube hinunter,
um nach Verunglückten zu suchen. Meg und Abbey wagten kaum
zu atmen, während sie darauf warteten, dass die Helfer wieder
heraufkamen. Zweimal brachten sie einen Bewusstlosen aus dem
Schacht, der, als er wieder zu sich kam, schmutziges Wasser aushustete
und röchelnd nach Luft schnappte. Aber bei keinem der
beiden handelte es sich um Finlay oder Neal.
Die Minuten verrannen. Megs und Abbeys Nerven waren
zum Zerreißen gespannt, sie fühlten sich vor lauter Angst einer
Ohnmacht nahe. Einer der Männer, die unten gewesen waren, berichtete,
durch das einströmende Wasser sei der Stollen teilweise
eingestürzt. Abbey schlug sich erschrocken die Hand vor den
Mund, als sie das hörte. Ihre schlimmsten Befürchtungen waren
eingetroffen.
»Wie viele sind denn noch unten?«, fragte sie einen Mann neben ihr.
Er schüttelte den Kopf. »Das können wir noch nicht genau
sagen. Wir müssen erst die Zahlen vergleichen.«
Eine Frau drängte sich durch die Menschen zum Eingang des
Schachts und rief laut nach ihrem Mann. Zwei Bergleute konnten
sie nur mit Mühe zurückhalten, so ungestüm gebärdete sie
sich in ihrem Kummer. Achtundfünfzig Männer hatten im Stollen
gearbeitet. Die meisten waren offenbar gerettet worden, aber
Jock McManus, der Mann der verzweifelten Frau, sowie Finlay
und Neal und zwei, drei andere wurden immer noch vermisst.
Anscheinend waren sie zum ungünstigsten Zeitpunkt - nämlich
als die Pumpe ausfiel - auf eine größere Menge Grubenwasser
gestoßen.
Plötzlich riss sich Meg von Abbey los. »Wo ist mein Sohn?«,
kreischte sie hysterisch und hämmerte mit den Fäusten gegen die
Brust des Mannes, der sie festhielt. »Wo ist mein Junge? Warum
helft ihr ihm denn nicht? So helft ihm doch!«, schrie sie voller
Panik, dann brach sie bewusstlos zusammen.
Abbey eilte zu Meg und kniete sich neben sie. Im gleichen
Moment sprang die Pumpe wieder an.
»Danke, lieber Gott«, flüsterte Abbey. Tränen liefen ihr übers
Gesicht. Sie glaubte fest daran, dass ihr Vater und Neal noch am
Leben waren und in einem Lufteinschluss im Stollen auf Rettung
warteten. Sie ergriff Megs schlaffe Hand.
»Alles wird gut, Meg, du wirst sehen, jetzt wird es nicht mehr
lange dauern, bis Dad und Neal in Sicherheit sind.« Abbey war
überzeugt, dass sie gerettet würden. Es konnte nicht anders sein.
Es durfte nicht anders sein. Sie hatte ihre Mutter, ihren Bruder,
ihre Schwester verloren. Sie konnte nicht auch noch ihren Vater
verlieren.
Copyright © 2009 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG,
Bergisch Gladbach
Lektorat: Melanie Blank-Schröder
Umschlaggestaltung: Gisela Kullowatz
Einband-/Umschlagmotiv: © Owen Lexington /getty-images
Satz: Bosbach Kommunikation & Design Gmb H, Köln
Gesetzt aus der Adobe Caslon
Druck und Einband: Friedrich Pustet, Regensburg
Printed in Germany
ISBN 978-3-431-03781-4
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Autoren-Porträt von Elizabeth Haran
Elizabeth Haran wurde in Simbabwe geboren. Später zog ihre Familie nach England und wanderte von dort nach Australien aus. Heute lebt sie mit ihrem Mann in einem Küstenvorort von Adelaide in Südaustralien. Sie hat zwei erwachsene Söhne. Ihre Leidenschaft für das Schreiben entdeckte sie mit Anfang dreißig, zuvor arbeitete sie als Model, besaß eine Gärtnerei und betreute lernbehinderte Kinder.
Bibliographische Angaben
- Autor: Elizabeth Haran
- 2011, 3. Aufl., 528 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Sylvia Strasser
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404165438
- ISBN-13: 9783404165438
- Erscheinungsdatum: 18.02.2011
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