Der Feind im Schatten / Kurt Wallander Bd.10
Kriminalroman
"Der mit Abstand berührendste Wallander-Krimi."
BRIGITTE
Håkan B. Enke, Ex-U-Boot-Kommandant und Schwiegervater in spe von Wallanders Tochter Linda, weiht Wallander in eine Polit-Affäre der 80er-Jahre ein, über...
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Produktinformationen zu „Der Feind im Schatten / Kurt Wallander Bd.10 “
"Der mit Abstand berührendste Wallander-Krimi."
BRIGITTE
Håkan B. Enke, Ex-U-Boot-Kommandant und Schwiegervater in spe von Wallanders Tochter Linda, weiht Wallander in eine Polit-Affäre der 80er-Jahre ein, über die er jahrelang recherchiert hat. Kurz darauf verschwindet er spurlos. Ein Unglücksfall?
SPIEGEL Bestseller!
Klappentext zu „Der Feind im Schatten / Kurt Wallander Bd.10 “
Wallanders letzter FallKurt Wallander lebt inzwischen auf dem Land, seine Tochter Linda ist Mutter geworden und wird demnächst heiraten. Ihr zukünftiger Schwiegervater ist der ehemalige U-Boot-Kommandant Håkan von Enke, der auf seiner Geburtstagsfeier Wallander Einblicke in eine bislang unaufgeklärte politische Affäre aus den 80er Jahren gewährt: Damals drangen fremde U-Boote in schwedische Hoheitsgewässer ein, wurden aber nie identifiziert. Von Enke hat dazu jahrelang recherchiert und glaubt sich einer Lösung nahe. Doch dann verschwindet er spurlos und kurz darauf auch seine Ehefrau ..
Lese-Probe zu „Der Feind im Schatten / Kurt Wallander Bd.10 “
Der Feind im Schatten von Henning MankellAm 30. August 2007, kurz nach zwei Uhr am Nachmittag,
brachte Linda im Krankenhaus von Ystad eine Tochter
zur Welt, Kurt Wallanders erstes Enkelkind. Die Geburt
verlief normal, es war genau der Tag, den die Hebamme errechnet
hatte. Wallander hatte vorsorglich Urlaub genommen
und verbrachte den Tag damit, eine brauchbare Zementmischung
anzurühren, um Risse in der Mauer unter
dem Verandadach neben der Außentür auszubessern. Er
war nicht besonders erfolgreich, aber immerhin abgelenkt.
Als das Telefon klingelte und ihm mitgeteilt wurde, dass er
sich von nun an Großvater nennen könne, kamen ihm die
Tränen. Das Gefühl überrumpelte ihn, für einen Augenblick
war er vollständig schutzlos.
Es war nicht Linda, die anrief, sondern der Vater des Kindes,
der Finanzmakler Hans von Enke. Weil Wallander sich
vor ihm nicht als rührselig zeigen wollte, dankte er eilig für
die Nachricht, bat ihn, Linda Grüße auszurichten, und beendete
das Gespräch.
Dann machte Wallander einen langen Spaziergang mit
Jussi. Noch lag die Spätsommerwärme über Schonen, in
der Nacht hatte es ein Gewitter gegeben, und jetzt war die
Luft frisch und leicht. Endlich konnte Wallander zugeben,
wie oft er sich darüber gewundert hatte, dass Linda nie von
einem Kinderwunsch gesprochen hatte. Inzwischen war sie
schon siebenunddreißig, ein aus Wallanders Sicht viel zu
später Zeitpunkt für eine Frau, um Mutter zu werden. Mona
war wesentlich jünger gewesen, als ihre Tochter geboren
wurde. Er hatte Lindas Beziehungen aus der Distanz ver34
folgt, einige ihrer Männer hatte er gern gemocht, andere
weniger. Wenn er überzeugt gewesen war, dass sie endlich
den Richtigen gefunden habe, war es eines Tages plötzlich
aus, und Linda hatte nie erklärt,
... mehr
warum. Auch wenn Wallander
und Linda ein enges Verhältnis hatten, gab es gewisse
Dinge, die sie selbst in ihren vertraulichsten Stunden nicht
berührten. Zu diesen tabubelegten Themen gehörte auch
die Kinderfrage.
An ebenjenem Tag am Strand von Mossby hatte sie zum
ersten Mal von dem Mann erzählt, mit dem sie ein Kind haben
würde. Für Wallander war die Existenz dieses Mannes
eine Überraschung. Er war der Meinung gewesen, Linda
habe gegenwärtig keine feste Beziehung. Umso erstaunter
war er über das, was sie erzählte.
Linda hatte Hans von Enke bei gemeinsamen Freunden
in Kopenhagen anlässlich einer Verlobungsfeier kennengelernt.
Er kam aus Stockholm, hatte aber zuletzt in Kopenhagen
bei einer Finanzmaklerfirma gearbeitet, die sich vor
allem dem Aufbau von Hedgefonds widmete. Auf Linda
hatte er hochnäsig gewirkt, und sie hatte sich über ihn geärgert.
Ziemlich ungestüm erklärte sie ihm, sie sei eine einfache
Polizistin mit niedrigem Lohn, die keine Ahnung davon
habe, was ein Hedgefonds war. Sprach sie es überhaupt
richtig aus? Es endete damit, dass sie sich auf eine lange
nächtliche Wanderung durch Kopenhagen begaben und sich
wieder verabredeten. Hans von Enke war zwei Jahre jünger
als Linda und hatte auch noch keine Kinder. Beide hatten
schon vom Beginn ihrer Beziehung an, zwar unausgesprochen,
aber doch ganz klar, beschlossen, Kinder zu haben.
Zwei Tage nach der großen Enthüllung hatte Linda am
Abend mit dem Mann, mit dem sie zusammenleben wollte,
ihren Vater besucht. Hans von Enke war groß und mager,
hatte schütteres Haar und klarblaue Augen mit einem
durchdringenden Blick. Wallander fühlte sich in seiner Gesellschaft
sogleich unsicher, empfand seine Art und Weise
sich auszudrücken als fremd und fragte sich, warum Linda
sich für diesen Mann entschieden hatte. Als sie erzählt hatte,
dass er dreimal so viel verdiente wie Wallander und dazu
noch ein Anrecht auf Bonuszahlungen von bis zu einer Million
hätte, dachte Wallander bedrückt, das Geld könnte sie
gelockt haben. Der Gedanke empörte ihn derart, dass er
Linda bei ihrem nächsten Treffen direkt danach fragte. Sie
saßen in einem Café in Ystad, und sie war so wütend geworden,
dass sie ihm eine Zimtschnecke an den Kopf warf und
das Lokal verließ. Er war ihr nachgelaufen und hatte sich
entschuldigt. Nein, es war nicht das Geld, erklärte sie, sondern
eine große und echte Liebe, wie sie sie noch nie erlebt
hatte.
Wallander beschloss, seinen zukünftigen Schwiegersohn
mit milderen Augen zu betrachten. Übers Internet und mithilfe
des Bankangestellten, der in Ystad seine dürftigen
Bankgeschäfte betreute, machte Wallander sich kundig über
die Finanzfirma, bei der Hans von Enke angestellt war. Er
wusste nun, was Hedgefonds waren, und lernte eine Menge
Dinge, die angeblich zu den Grundlagen moderner Finanzberatung
zählten. Als Hans von Enke ihn nach Kopenhagen
einlud, nahm er die Einladung an und machte einen
Rundgang durch die aufwendig ausgestatteten Geschäftsräume
in der Nähe des Rundetårn, wo die Firma residierte.
Er ließ sich von Hans von Enke zum Mittagessen einladen,
und als er nach Ystad zurückkehrte, war das Minderwertigkeitsgefühl
verflogen. Vom Auto aus rief er Linda an und
sagte ihr, er habe angefangen, den Mann ihrer Wahl zu
schätzen.
»Er hat einen Fehler«, sagte Linda. »Er hat zu wenig
Haare. Ansonsten ist er in Ordnung.«
»Ich freue mich auf den Tag, an dem ich ihm mein Büro
zeigen kann.«
»Das habe ich schon getan. Er hat mich letzte Woche besucht.
Hat dir keiner davon erzählt?«
Natürlich hatte niemand Wallander etwas erzählt. Am
Abend saß er am Küchentisch, den Bleistift in der Hand, und
rechnete aus, was Hans von Enke im Jahr verdiente. Die
Summe verschlug ihm den Atem. Wieder überkam ihn ein
ungutes Gefühl. Er selbst verdiente nach all den Jahren vierzigtausend
Kronen im Monat. Das hielt er für ein gutes Gehalt.
Aber nicht er wollte heiraten, sondern Linda. Mochte
das Geld ihr Glück bringen oder nicht, es ging ihn nichts
an.
Im März zogen Linda und Hans zusammen in ein großes
Haus in der Nähe von Rydsgård, das der junge Finanzmakler
gekauft hatte. Er pendelte nach Kopenhagen, und Linda
arbeitete weiter wie zuvor. Als sie eingerichtet waren, lud
Linda ihren Vater zu einem Abendessen ein. Hans’ Eltern
würden an dem Wochenende zu Besuch sein und wollten
ihn natürlich gern kennenlernen.
»Ich habe schon mit Mama gesprochen«, sagte sie.
»Kommt sie?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
Linda zuckte die Schultern. »Ich glaube, sie ist krank.«
»Krank? Wieso?«
Linda sah ihn lange an, bevor sie antwortete: »Sie trinkt.
Ich glaube, sie trinkt mehr denn je.«
»Das habe ich nicht gewusst.«
»Du weißt vieles nicht.«
Natürlich nahm Wallander die Einladung zu dem Essen an,
bei dem er Hans von Enkes Eltern kennenlernen sollte. Obwohl
er intensiv mit dem Waffenraub beschäftigt war, nahm
er sich die Zeit, mit Linda darüber zu sprechen, was ihn erwartete.
Der Vater, Håkan von Enke, war ein ehemaliger
Korvettenkapitän, der U-Boote und U-Boot-Jäger befehligt
hatte. Linda glaubte, wenngleich sie in diesem Punkt nicht
sicher war, dass er zeitweilig auch der Befehlsstelle angehört
hatte, die entschied, wann Einheiten der Streitkräfte einen
Feind anzugreifen hatten. Hans von Enkes Mutter Louise
war Sprachlehrerin gewesen. Geschwister gab es nicht, Hans
war Einzelkind.
»Ich habe keine Erfahrung im Umgang mit Adligen«,
sagte Wallander wenig begeistert, als Linda geendet hatte.
»Sie sind wie andere Leute auch. Ich glaube, dass ihr über
vieles reden könnt.«
»Worüber?«
»Das wird sich zeigen. Sei nicht so negativ.«
»Ich bin nicht negativ. Ich frage mich nur.«
»Wir essen um sechs. Komm pünktlich. Und lass Jussi zu
Hause. Er bringt bloß Unruhe.«
»Jussi ist ein sehr folgsamer Hund. Wie alt sind die beiden
denn?«
»Håkan wird fünfundsiebzig, Louise ist ein paar Jahre
jünger. Im Übrigen gehorcht Jussi nie, das müsstest du doch
wissen. Gott sei Dank hattest du bei mir mehr Erfolg mit der
Erziehung.«
Sie verließ den Raum, bevor Wallander etwas erwidern
konnte. Eigentlich hätte er wütend werden müssen, weil sie
immer das letzte Wort behielt. Aber es gelang ihm nicht,
und er beugte sich wieder über seine Papiere.
An dem Samstag, an dem Wallander nach Rydsgård fuhr,
um Hans von Enkes Eltern zu treffen, fiel ein für die Jahreszeit
ungewöhnlich milder Nieselregen über Schonen. Er
hatte seit dem frühen Vormittag in seinem Büro gesessen,
um zum Gott weiß wievielten Mal die wichtigsten Teile des
Untersuchungsmaterials über den Tod des Waffenhändlers
und den Waffendiebstahl durchzugehen. Sie glaubten zwar,
die Räuber identifiziert zu haben, doch es fehlten die Beweise.
Ich habe keinen Schlüssel, dachte er, ich habe allenfalls
das entfernte Geräusch eines Schlüsselbunds. Um drei
Uhr hatte er die Hälfte des umfangreichen Materials geschafft
und beschloss, nach Hause zu fahren. Er schlief zwei
Stunden und zog sich dann für das Abendessen um. Linda
hatte gesagt, Hans von Enkes Eltern könnten für ihren Geschmack
ein wenig zu formell sein, und deshalb vorgeschlagen,
er solle seinen besten Anzug anziehen.
»Ich habe nur den für Beerdigungen«, sagte Wallander.
»Aber soll ich deswegen mit einem weißen Schlips kommen?«
»Wenn es dir so zuwider ist, brauchst du überhaupt nicht
zu kommen.«
»Es sollte ein Scherz sein.«
»Der war aber nicht gut. Du hast mindestens drei blaue
Schlipse. Nimm einen davon.«
Als Wallander gegen Mitternacht ein Taxi zurück nach
Ystad nahm, dachte er, dass der Abend bedeutend angenehmer
verlaufen war, als er erwartet hatte. Der alte Korvettenkapitän
und seine Frau waren Leute, mit denen er reden
konnte. Er war Fremden gegenüber immer auf der Hut und
vermutete, dass sie mit mehr oder weniger verhohlener Verachtung
auf seinen Beruf reagierten. Aber bei keinem von
beiden hatte er dieses Gefühl gehabt. Im Gegenteil, sie hatten
echtes Interesse an der Polizeiarbeit gezeigt. Håkan von
Enke hatte Ansichten über die Organisation der schwedischen
Polizei und über verschiedene Mängel bei der Aufklärung
gewisser bekannter Verbrechen vertreten, denen
Wallander problemlos zustimmen konnte. Er seinerseits
hatte Fragen über die schwedische Marine, über U-Boote
und über die gegenwärtige Teilabrüstung der schwedischen
Streitkräfte stellen können, auf die er kenntnisreiche und
unterhaltende Antworten bekommen hatte. Louise von
Enke hatte dem Gespräch die meiste Zeit mit einem freundlichen
Lächeln zugehört.
Linda begleitete ihn zum Gartentor, nachdem sie das Taxi
bestellt hatten. Sie hakte sich bei ihm ein und legte den Kopf
an seine Schulter. Das tat sie nur, wenn sie mit ihm zufrieden
war.
»Ich habe mich also gut benommen«, sagte Wallander.
»Du warst besser denn je. Du kannst es ja, wenn du nur
willst.«
»Kann was?«
»Dich benehmen. Sogar intelligente Fragen stellen über
Dinge, die nichts mit Polizeiarbeit zu tun haben.«
»Ich mochte sie, auch wenn ich über Louise nicht viel erfahren
habe.«
»Louise ist so. Sie sagt nie viel. Aber sie kann besser zuhören
als wir alle.«
»Auf mich machte sie fast einen geheimnisvollen Eindruck.
«
Sie waren an die Straße gekommen und stellten sich
zum Schutz vor dem anhaltenden Nieselregen unter einen
Baum.
»Ich kenne niemanden, der so geheimnisvoll ist wie du«,
sagte Linda. »Viele Jahre glaubte ich, du wolltest etwas verbergen.
Aber inzwischen weiß ich, dass nur wenige, die geheimnisvoll
sind, wirklich etwas verbergen.«
»Und ich bin keiner von ihnen?«
»Ich glaube nicht. Habe ich recht?«
»Vielleicht trägt man ja auch Geheimnisse mit sich herum,
ohne es selbst zu wissen?«
Die Lichtkegel des Taxis blendeten sie. Es war eins jener
busähnlichen Fahrzeuge, die bei den Taxigesellschaften immer
beliebter wurden.
»Ich hasse diese Busse«, murmelte Wallander.
»Nun reg dich nicht auf. Ich bringe dir morgen deinen
Wagen.«
»Ab zehn bin ich im Präsidium. Geh jetzt rein und hör
mal, was sie so von mir halten. Ich erwarte morgen einen
Bericht.«
Kurz vor elf am folgenden Tag brachte sie den Wagen.
»Gut«, sagte sie, als sie in sein Zimmer trat, wie üblich
ohne anzuklopfen.
»Gut, was?«
»Du gefällst ihnen. Håkan hat sich so lustig ausgedrückt.
Er sagte: ›Dein Vater ist eine außerordentliche Akquisition
für die Familie.‹«
»Ich weiß nicht mal, was das bedeutet.«
Sie legte die Wagenschlüssel auf den Schreibtisch. Weil
sie mit den Schwiegereltern einen Ausflug machen wollten,
hatte sie es eilig. Wallander warf einen Blick aus dem Fenster.
Die Wolkendecke begann aufzureißen.
»Werdet ihr heiraten?«, fragte er, bevor sie aus der Tür
war.
»Sie sind ganz wild darauf«, antwortete sie. »Ich wäre dir
dankbar, wenn du nicht auch damit anfängst. Wir müssen
erst sehen, ob wir zusammenpassen.«
»Aber ihr wollt doch Kinder haben?«
»Dazu passen wir gut genug. Aber ob wir dann das ganze
Leben miteinander verbringen, ist eine zweite Frage.«
Weg war sie. Wallander lauschte ihren schnellen Schritten.
Ich kenne meine Tochter nicht, dachte er. Ich war einmal
der Meinung, ich täte es. Jetzt sehe ich, dass sie mir immer
fremder wird.
Er stellte sich ans Fenster und blickte hinaus auf den alten
Wasserturm, die Tauben, die Bäume, den blauen Himmel,
der sich zwischen den auseinandertreibenden Wolken
zeigte. Eine tiefe Unruhe überkam ihn, eine Leere, die sich
um ihn ausbreitete. Oder war sie nicht vielmehr in ihm
selbst? Als verwandelte sich sein ganzes Sein unmerklich in
ein Stundenglas, durch das der Sand rieselte. Er blickte weiter
auf die Tauben und die Bäume, bis seine Unruhe nachließ.
Dann setzte er sich wieder an den Schreibtisch und vertiefte
sich in die Berichte.
Mitte Oktober waren Wallander und seine Kollegen so weit
gekommen, dass sie bei der Staatsanwaltschaft Haftbefehle
gegen vier verdächtigte Personen beantragen konnten. Zwei
von ihnen waren polnische Staatsangehörige, die auf den
Überwachungsfilmen aus dem Waffenladen identifiziert
worden waren. Außerdem hatte die Polizei ausreichende Beweise
gegen zwei Männer aus Göteborg. Beide hatten Kontakte
zum organisierten Verbrechen, das von Einwanderern
aus dem früheren Jugoslawien kontrolliert wurde. Wieder
dachte Wallander an den brutalen Überfall in Lenarp vor
fast zwanzig Jahren. Als herauskam, dass es sich bei den
Tätern um Ausländer handelte, war es zu rassistischen Ausschreitungen
gekommen, es gab Angriffe auf ein Flüchtlingslager
und den Mord an einer vollkommen unschuldigen
Person. Es war eine schreckliche Zeit gewesen.
Während der langen und oft trostlosen Ermittlungs-
arbeit hatte Wallander erkannt, dass die beiden eng mit ihm
zusammenarbeitenden Kolleginnen fähige Polizistinnen waren.
Sein Respekt war immer mehr gewachsen, und er hatte
etwas von der Energie zurückgewonnen, die er in den letzten
Jahren verloren zu haben glaubte. Besonders Kristina
Magnusson imponierte ihm mit ihrem klaren Blick und ihrer
Hartnäckigkeit. Er hörte nicht auf, in den Fluren des
Polizeipräsidiums
verstohlene Blicke auf sie zu werfen.
Im Sommer konnte Hanna Hansson aus dem Krankenhaus
entlassen werden. Sie war auf einem Auge blind und
hatte einen bleibenden Rückenschaden erlitten. Wallander
sprach eines Tages mit einer ihrer Töchter, die bei Hörby einen
Reiterhof betrieb.
»Das Auge bekommt sie nicht zurück«, sagte die Tochter,
»und die Ärzte können ihre Rückenschmerzen kaum lindern.
Aber wissen Sie, was das Schlimmste ist?«
»Dass ihr Mann tot ist.«
»Das ist so selbstverständlich, dass man es nicht sagen
muss. Aber von dem, was unausgesprochen bleibt?«
Wallander kam nicht darauf, welche Antwort sie von ihm
erwartete.
»Die Angst«, sagte die Tochter. »Sie fürchtet sich vor an42
deren Menschen. Sie hat Angst, aus dem Haus zu gehen,
Angst, zu schlafen, Angst, allein zu sein. Wie heilt man das?
Wie kann ein Täter dafür bestraft werden?«
»Ein guter Staatsanwalt überzeugt das Gericht von der
außergewöhnlichen Schwere des Verbrechens«, sagte Wallander.
Die Tochter schüttelte den Kopf. Sie zweifelte daran, wie
Wallander im Grunde auch. Schwedische Gerichte überraschten
ihn häufig negativ durch ihre Unentschlossenheit,
wenn es darum ging, ein Verbrechen als schwer oder weniger
schwer einzustufen.
»Fassen Sie die Täter«, sagte sie, als sie sein Büro verließ.
»Lassen Sie sie nicht ungeschoren davonkommen.«
Wallander führte selbst die einleitenden Verhöre mit den
beiden festgenommenen Polen durch. Beide waren jung,
nicht viel älter als zwanzig Jahre. Sie betrachteten ihn höhnisch
und gaben durch ihre Dolmetscher zu verstehen, dass
sie mit dem Waffendiebstahl nichts zu tun hätten, sich zur
fraglichen Zeit gar nicht in Schweden aufgehalten hätten
und nicht bereit wären, weitere Fragen zu beantworten.
Aber Wallander blieb kühl, obwohl er einen starken Impuls
unterdrücken musste, den beiden ein paar kräftige Ohrfeigen
zu verabreichen. Es gelang ihm nach und nach, einen
von ihnen weichzukneten, der eines Tages im November
plötzlich erste Eingeständnisse machte. Danach ging es
schnell. Bei einer Hausdurchsuchung in einer Wohnung in
Staffanstorp fand die Polizei mehr als die Hälfte der gestohlenen
Waffen, bei einem zweiten Zugriff in einem
Stockholmer Vorort weitere vier. Als der Prozess begann, an
einem Tag im Dezember, fehlten nurmehr drei der verschwundenen
Waffen. Am selben Morgen versammelte
Wallander in einem Sitzungsraum des Präsidiums seine
Mannschaft zu Kaffee und Kuchen. Er hatte ein paar lobende
Worte sagen wollen, kam aber davon ab, und sie sprachen
hauptsächlich über die laufenden Tarifverhandlungen
und ihre Unzufriedenheit mit den ständig neuen Verordnungen
und willkürlich wechselnden Prioritäten.
Wallander feierte Weihnachten mit Lindas Familie. Er betrachtete
sein Enkelkind, das noch immer keinen Namen
hatte, mit Verwunderung und einer stillen Freude. Linda behauptete,
das Mädchen sei ihm ähnlich, besonders die Augenpartie,
aber Wallander sah keine Ähnlichkeiten, sosehr
er sich anstrengte.
»Das Mädchen muss doch irgendwie heißen«, sagte er, als
sie Heiligabend zusammensaßen und Wein tranken.
»Das kommt schon«, sagte Linda.
»Wir glauben, dass der Name sich eines Tages von selbst
ergibt«, sagte Hans.
»Warum heiße ich Linda«, fragte sie plötzlich. »Woher
kommt der Name?«
»Das war ich«, sagte Wallander. »Mona wollte einen anderen
Namen, ich weiß nicht mehr, welchen. Aber für mich
warst du von Anfang an eine Linda. Dein Großvater dagegen
meinte, du solltest Venus heißen.«
»Venus?«
»Du weißt ja, dass er manchmal nicht ganz gescheit war.
Magst du deinen Namen nicht?«
»Ich habe einen guten Namen«, antwortete sie. »Und du
brauchst dir keine Sorgen zu machen. Wenn wir heiraten,
werde ich den Namen nicht wechseln. Ich werde nie eine
Linda von Enke.«
»Vielleicht sollte ich den Namen Wallander annehmen«,
sagte Hans. »Aber ich glaube, meine Eltern wären außer
sich.«
Zwischen Weihnachten und Neujahr sortierte Wallander
alle Papiere, die sich im Laufe des Jahres angesammelt hatten.
Vor Neujahr schaffte er immer Platz für das kommende
Jahr. Anfang Januar sollte das Urteil im Prozess gegen die
Waffenräuber gefällt werden. Wallander hatte mit dem
Staatsanwalt gesprochen, der die Höchststrafe für die Angeklagten
beantragt hatte, und die Verteidiger hatten dem
nicht viel entgegensetzen können. Wallander würde Hanna
Hanssons Tochter in die Augen sehen können, wenn er sie
wiedersah.
Es kam, wie er angenommen hatte. Die Richter erwiesen
sich als streng. Für die beiden Polen, die den Mord und
die schwere Körperverletzung begangen hatten, lautete die
Strafe auf acht Jahre Gefängnis. Wallander war davon überzeugt,
dass die Berufung vor der höheren Instanz zu keiner
nennenswerten Strafmilderung führen würde.
Den Abend nach der Urteilsverkündung wollte Wallander
zu Hause verbringen und einen Film sehen. Er hatte sich
eine Parabolantenne geleistet und konnte jetzt auf zahlreichen
Kanälen Filme sehen. Er steckte seine Dienstpistole
ein, um sie zu Hause zu reinigen. Sein Schießtraining hatte
er schleifen lassen und wusste, dass er spätestens Anfang Februar
eine Schießübung absolvieren musste. Sein Schreibtisch
war zwar nicht leer, aber er hatte keine dringenden
Ermittlungen zu führen. Lieber jetzt die Gelegenheit wahrnehmen,
dachte er. Heute sehe ich mir einen Film an, morgen
ist es vielleicht zu spät.
Aber als er nach Hause kam und eine Runde mit Jussi gegangen
war, fühlte er sich plötzlich rastlos. Manchmal überfiel
ihn ein Gefühl der Verlassenheit in seinem zwischen den
Äckern wie hingeworfenen Haus. Ich bin wie ein Wrack,
dachte er zuweilen. Gestrandet in dem braunen Lehmboden.
Meistens verging seine Rastlosigkeit, doch an diesem Abend
war sie hartnäckig. Er setzte sich an den Küchentisch, breitete
eine alte Zeitung aus und reinigte seine Waffe. Als er
damit fertig war, zeigte die Uhr noch nicht einmal acht. Woher
der Gedanke kam, war ihm nicht klar. Aber er entschloss
sich schnell, zog sich um und fuhr zurück nach Ystad. Im
Winter war die Stadt fast menschenleer, besonders an den
Abenden in der Woche. Es waren höchstens noch zwei oder
drei Cafeterias oder Restaurants geöffnet. Er parkte den
Wagen und ging in ein Restaurant am Marktplatz. Es waren
kaum Gäste da. Er setzte sich an einen Ecktisch und bestellte
eine Vorspeise und eine Flasche Wein. Während er auf das
Essen und den Wein wartete, kippte er ein paar Drinks hinunter.
Genau das war seine eigene Wahrnehmung: Er kippte
den Schnaps hinunter, um seine Unruhe zu dämpfen. Als
das Essen kam und der Kellner sein Weinglas füllte, war er
schon betrunken.
»Leer hier«, sagte Wallander. »Wo sind die Gäste?«
Der Kellner zuckte die Schultern. »Auf jeden Fall nicht
bei uns«, sagte er. »Ich hoffe, es schmeckt Ihnen.«
Wallander stocherte nur im Essen. Dagegen brauchte er
weniger als eine halbe Stunde, um die Flasche Wein zu leeren.
Er kramte sein Handy hervor und ging die einprogrammierten
Nummern durch. Er hatte Lust, mit jemandem zu
reden. Aber mit wem? Er steckte das Handy wieder weg; es
musste ja niemand hören, dass er betrunken war. Die Weinflasche
war leer, er hatte mehr als genug getrunken. Dennoch
bestellte er eine Tasse Kaffee und einen Cognac, als der
Kellner kam und sagte, sie wollten schließen. Als er vom
Tisch aufstand, schwankte er. Der Kellner betrachtete ihn
mit müdem Blick.
»Taxi«, sagte Wallander.
Der Kellner rief vom Telefon an der Wand neben dem
Bartresen an. Wallander merkte, dass er schwankte. Der
Kellner hängte den Hörer ein und nickte.
Als Wallander ins Freie trat, traf ihn schneidend kalter
Wind. Er setzte sich auf die Rückbank des Taxis und war beinahe
eingeschlafen, als der Wagen auf seinen Hof einbog.
Er ließ seine Kleider auf einen Haufen auf dem Fußboden
fallen und schlief ein, sobald er sich hingelegt hatte.
und Linda ein enges Verhältnis hatten, gab es gewisse
Dinge, die sie selbst in ihren vertraulichsten Stunden nicht
berührten. Zu diesen tabubelegten Themen gehörte auch
die Kinderfrage.
An ebenjenem Tag am Strand von Mossby hatte sie zum
ersten Mal von dem Mann erzählt, mit dem sie ein Kind haben
würde. Für Wallander war die Existenz dieses Mannes
eine Überraschung. Er war der Meinung gewesen, Linda
habe gegenwärtig keine feste Beziehung. Umso erstaunter
war er über das, was sie erzählte.
Linda hatte Hans von Enke bei gemeinsamen Freunden
in Kopenhagen anlässlich einer Verlobungsfeier kennengelernt.
Er kam aus Stockholm, hatte aber zuletzt in Kopenhagen
bei einer Finanzmaklerfirma gearbeitet, die sich vor
allem dem Aufbau von Hedgefonds widmete. Auf Linda
hatte er hochnäsig gewirkt, und sie hatte sich über ihn geärgert.
Ziemlich ungestüm erklärte sie ihm, sie sei eine einfache
Polizistin mit niedrigem Lohn, die keine Ahnung davon
habe, was ein Hedgefonds war. Sprach sie es überhaupt
richtig aus? Es endete damit, dass sie sich auf eine lange
nächtliche Wanderung durch Kopenhagen begaben und sich
wieder verabredeten. Hans von Enke war zwei Jahre jünger
als Linda und hatte auch noch keine Kinder. Beide hatten
schon vom Beginn ihrer Beziehung an, zwar unausgesprochen,
aber doch ganz klar, beschlossen, Kinder zu haben.
Zwei Tage nach der großen Enthüllung hatte Linda am
Abend mit dem Mann, mit dem sie zusammenleben wollte,
ihren Vater besucht. Hans von Enke war groß und mager,
hatte schütteres Haar und klarblaue Augen mit einem
durchdringenden Blick. Wallander fühlte sich in seiner Gesellschaft
sogleich unsicher, empfand seine Art und Weise
sich auszudrücken als fremd und fragte sich, warum Linda
sich für diesen Mann entschieden hatte. Als sie erzählt hatte,
dass er dreimal so viel verdiente wie Wallander und dazu
noch ein Anrecht auf Bonuszahlungen von bis zu einer Million
hätte, dachte Wallander bedrückt, das Geld könnte sie
gelockt haben. Der Gedanke empörte ihn derart, dass er
Linda bei ihrem nächsten Treffen direkt danach fragte. Sie
saßen in einem Café in Ystad, und sie war so wütend geworden,
dass sie ihm eine Zimtschnecke an den Kopf warf und
das Lokal verließ. Er war ihr nachgelaufen und hatte sich
entschuldigt. Nein, es war nicht das Geld, erklärte sie, sondern
eine große und echte Liebe, wie sie sie noch nie erlebt
hatte.
Wallander beschloss, seinen zukünftigen Schwiegersohn
mit milderen Augen zu betrachten. Übers Internet und mithilfe
des Bankangestellten, der in Ystad seine dürftigen
Bankgeschäfte betreute, machte Wallander sich kundig über
die Finanzfirma, bei der Hans von Enke angestellt war. Er
wusste nun, was Hedgefonds waren, und lernte eine Menge
Dinge, die angeblich zu den Grundlagen moderner Finanzberatung
zählten. Als Hans von Enke ihn nach Kopenhagen
einlud, nahm er die Einladung an und machte einen
Rundgang durch die aufwendig ausgestatteten Geschäftsräume
in der Nähe des Rundetårn, wo die Firma residierte.
Er ließ sich von Hans von Enke zum Mittagessen einladen,
und als er nach Ystad zurückkehrte, war das Minderwertigkeitsgefühl
verflogen. Vom Auto aus rief er Linda an und
sagte ihr, er habe angefangen, den Mann ihrer Wahl zu
schätzen.
»Er hat einen Fehler«, sagte Linda. »Er hat zu wenig
Haare. Ansonsten ist er in Ordnung.«
»Ich freue mich auf den Tag, an dem ich ihm mein Büro
zeigen kann.«
»Das habe ich schon getan. Er hat mich letzte Woche besucht.
Hat dir keiner davon erzählt?«
Natürlich hatte niemand Wallander etwas erzählt. Am
Abend saß er am Küchentisch, den Bleistift in der Hand, und
rechnete aus, was Hans von Enke im Jahr verdiente. Die
Summe verschlug ihm den Atem. Wieder überkam ihn ein
ungutes Gefühl. Er selbst verdiente nach all den Jahren vierzigtausend
Kronen im Monat. Das hielt er für ein gutes Gehalt.
Aber nicht er wollte heiraten, sondern Linda. Mochte
das Geld ihr Glück bringen oder nicht, es ging ihn nichts
an.
Im März zogen Linda und Hans zusammen in ein großes
Haus in der Nähe von Rydsgård, das der junge Finanzmakler
gekauft hatte. Er pendelte nach Kopenhagen, und Linda
arbeitete weiter wie zuvor. Als sie eingerichtet waren, lud
Linda ihren Vater zu einem Abendessen ein. Hans’ Eltern
würden an dem Wochenende zu Besuch sein und wollten
ihn natürlich gern kennenlernen.
»Ich habe schon mit Mama gesprochen«, sagte sie.
»Kommt sie?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
Linda zuckte die Schultern. »Ich glaube, sie ist krank.«
»Krank? Wieso?«
Linda sah ihn lange an, bevor sie antwortete: »Sie trinkt.
Ich glaube, sie trinkt mehr denn je.«
»Das habe ich nicht gewusst.«
»Du weißt vieles nicht.«
Natürlich nahm Wallander die Einladung zu dem Essen an,
bei dem er Hans von Enkes Eltern kennenlernen sollte. Obwohl
er intensiv mit dem Waffenraub beschäftigt war, nahm
er sich die Zeit, mit Linda darüber zu sprechen, was ihn erwartete.
Der Vater, Håkan von Enke, war ein ehemaliger
Korvettenkapitän, der U-Boote und U-Boot-Jäger befehligt
hatte. Linda glaubte, wenngleich sie in diesem Punkt nicht
sicher war, dass er zeitweilig auch der Befehlsstelle angehört
hatte, die entschied, wann Einheiten der Streitkräfte einen
Feind anzugreifen hatten. Hans von Enkes Mutter Louise
war Sprachlehrerin gewesen. Geschwister gab es nicht, Hans
war Einzelkind.
»Ich habe keine Erfahrung im Umgang mit Adligen«,
sagte Wallander wenig begeistert, als Linda geendet hatte.
»Sie sind wie andere Leute auch. Ich glaube, dass ihr über
vieles reden könnt.«
»Worüber?«
»Das wird sich zeigen. Sei nicht so negativ.«
»Ich bin nicht negativ. Ich frage mich nur.«
»Wir essen um sechs. Komm pünktlich. Und lass Jussi zu
Hause. Er bringt bloß Unruhe.«
»Jussi ist ein sehr folgsamer Hund. Wie alt sind die beiden
denn?«
»Håkan wird fünfundsiebzig, Louise ist ein paar Jahre
jünger. Im Übrigen gehorcht Jussi nie, das müsstest du doch
wissen. Gott sei Dank hattest du bei mir mehr Erfolg mit der
Erziehung.«
Sie verließ den Raum, bevor Wallander etwas erwidern
konnte. Eigentlich hätte er wütend werden müssen, weil sie
immer das letzte Wort behielt. Aber es gelang ihm nicht,
und er beugte sich wieder über seine Papiere.
An dem Samstag, an dem Wallander nach Rydsgård fuhr,
um Hans von Enkes Eltern zu treffen, fiel ein für die Jahreszeit
ungewöhnlich milder Nieselregen über Schonen. Er
hatte seit dem frühen Vormittag in seinem Büro gesessen,
um zum Gott weiß wievielten Mal die wichtigsten Teile des
Untersuchungsmaterials über den Tod des Waffenhändlers
und den Waffendiebstahl durchzugehen. Sie glaubten zwar,
die Räuber identifiziert zu haben, doch es fehlten die Beweise.
Ich habe keinen Schlüssel, dachte er, ich habe allenfalls
das entfernte Geräusch eines Schlüsselbunds. Um drei
Uhr hatte er die Hälfte des umfangreichen Materials geschafft
und beschloss, nach Hause zu fahren. Er schlief zwei
Stunden und zog sich dann für das Abendessen um. Linda
hatte gesagt, Hans von Enkes Eltern könnten für ihren Geschmack
ein wenig zu formell sein, und deshalb vorgeschlagen,
er solle seinen besten Anzug anziehen.
»Ich habe nur den für Beerdigungen«, sagte Wallander.
»Aber soll ich deswegen mit einem weißen Schlips kommen?«
»Wenn es dir so zuwider ist, brauchst du überhaupt nicht
zu kommen.«
»Es sollte ein Scherz sein.«
»Der war aber nicht gut. Du hast mindestens drei blaue
Schlipse. Nimm einen davon.«
Als Wallander gegen Mitternacht ein Taxi zurück nach
Ystad nahm, dachte er, dass der Abend bedeutend angenehmer
verlaufen war, als er erwartet hatte. Der alte Korvettenkapitän
und seine Frau waren Leute, mit denen er reden
konnte. Er war Fremden gegenüber immer auf der Hut und
vermutete, dass sie mit mehr oder weniger verhohlener Verachtung
auf seinen Beruf reagierten. Aber bei keinem von
beiden hatte er dieses Gefühl gehabt. Im Gegenteil, sie hatten
echtes Interesse an der Polizeiarbeit gezeigt. Håkan von
Enke hatte Ansichten über die Organisation der schwedischen
Polizei und über verschiedene Mängel bei der Aufklärung
gewisser bekannter Verbrechen vertreten, denen
Wallander problemlos zustimmen konnte. Er seinerseits
hatte Fragen über die schwedische Marine, über U-Boote
und über die gegenwärtige Teilabrüstung der schwedischen
Streitkräfte stellen können, auf die er kenntnisreiche und
unterhaltende Antworten bekommen hatte. Louise von
Enke hatte dem Gespräch die meiste Zeit mit einem freundlichen
Lächeln zugehört.
Linda begleitete ihn zum Gartentor, nachdem sie das Taxi
bestellt hatten. Sie hakte sich bei ihm ein und legte den Kopf
an seine Schulter. Das tat sie nur, wenn sie mit ihm zufrieden
war.
»Ich habe mich also gut benommen«, sagte Wallander.
»Du warst besser denn je. Du kannst es ja, wenn du nur
willst.«
»Kann was?«
»Dich benehmen. Sogar intelligente Fragen stellen über
Dinge, die nichts mit Polizeiarbeit zu tun haben.«
»Ich mochte sie, auch wenn ich über Louise nicht viel erfahren
habe.«
»Louise ist so. Sie sagt nie viel. Aber sie kann besser zuhören
als wir alle.«
»Auf mich machte sie fast einen geheimnisvollen Eindruck.
«
Sie waren an die Straße gekommen und stellten sich
zum Schutz vor dem anhaltenden Nieselregen unter einen
Baum.
»Ich kenne niemanden, der so geheimnisvoll ist wie du«,
sagte Linda. »Viele Jahre glaubte ich, du wolltest etwas verbergen.
Aber inzwischen weiß ich, dass nur wenige, die geheimnisvoll
sind, wirklich etwas verbergen.«
»Und ich bin keiner von ihnen?«
»Ich glaube nicht. Habe ich recht?«
»Vielleicht trägt man ja auch Geheimnisse mit sich herum,
ohne es selbst zu wissen?«
Die Lichtkegel des Taxis blendeten sie. Es war eins jener
busähnlichen Fahrzeuge, die bei den Taxigesellschaften immer
beliebter wurden.
»Ich hasse diese Busse«, murmelte Wallander.
»Nun reg dich nicht auf. Ich bringe dir morgen deinen
Wagen.«
»Ab zehn bin ich im Präsidium. Geh jetzt rein und hör
mal, was sie so von mir halten. Ich erwarte morgen einen
Bericht.«
Kurz vor elf am folgenden Tag brachte sie den Wagen.
»Gut«, sagte sie, als sie in sein Zimmer trat, wie üblich
ohne anzuklopfen.
»Gut, was?«
»Du gefällst ihnen. Håkan hat sich so lustig ausgedrückt.
Er sagte: ›Dein Vater ist eine außerordentliche Akquisition
für die Familie.‹«
»Ich weiß nicht mal, was das bedeutet.«
Sie legte die Wagenschlüssel auf den Schreibtisch. Weil
sie mit den Schwiegereltern einen Ausflug machen wollten,
hatte sie es eilig. Wallander warf einen Blick aus dem Fenster.
Die Wolkendecke begann aufzureißen.
»Werdet ihr heiraten?«, fragte er, bevor sie aus der Tür
war.
»Sie sind ganz wild darauf«, antwortete sie. »Ich wäre dir
dankbar, wenn du nicht auch damit anfängst. Wir müssen
erst sehen, ob wir zusammenpassen.«
»Aber ihr wollt doch Kinder haben?«
»Dazu passen wir gut genug. Aber ob wir dann das ganze
Leben miteinander verbringen, ist eine zweite Frage.«
Weg war sie. Wallander lauschte ihren schnellen Schritten.
Ich kenne meine Tochter nicht, dachte er. Ich war einmal
der Meinung, ich täte es. Jetzt sehe ich, dass sie mir immer
fremder wird.
Er stellte sich ans Fenster und blickte hinaus auf den alten
Wasserturm, die Tauben, die Bäume, den blauen Himmel,
der sich zwischen den auseinandertreibenden Wolken
zeigte. Eine tiefe Unruhe überkam ihn, eine Leere, die sich
um ihn ausbreitete. Oder war sie nicht vielmehr in ihm
selbst? Als verwandelte sich sein ganzes Sein unmerklich in
ein Stundenglas, durch das der Sand rieselte. Er blickte weiter
auf die Tauben und die Bäume, bis seine Unruhe nachließ.
Dann setzte er sich wieder an den Schreibtisch und vertiefte
sich in die Berichte.
Mitte Oktober waren Wallander und seine Kollegen so weit
gekommen, dass sie bei der Staatsanwaltschaft Haftbefehle
gegen vier verdächtigte Personen beantragen konnten. Zwei
von ihnen waren polnische Staatsangehörige, die auf den
Überwachungsfilmen aus dem Waffenladen identifiziert
worden waren. Außerdem hatte die Polizei ausreichende Beweise
gegen zwei Männer aus Göteborg. Beide hatten Kontakte
zum organisierten Verbrechen, das von Einwanderern
aus dem früheren Jugoslawien kontrolliert wurde. Wieder
dachte Wallander an den brutalen Überfall in Lenarp vor
fast zwanzig Jahren. Als herauskam, dass es sich bei den
Tätern um Ausländer handelte, war es zu rassistischen Ausschreitungen
gekommen, es gab Angriffe auf ein Flüchtlingslager
und den Mord an einer vollkommen unschuldigen
Person. Es war eine schreckliche Zeit gewesen.
Während der langen und oft trostlosen Ermittlungs-
arbeit hatte Wallander erkannt, dass die beiden eng mit ihm
zusammenarbeitenden Kolleginnen fähige Polizistinnen waren.
Sein Respekt war immer mehr gewachsen, und er hatte
etwas von der Energie zurückgewonnen, die er in den letzten
Jahren verloren zu haben glaubte. Besonders Kristina
Magnusson imponierte ihm mit ihrem klaren Blick und ihrer
Hartnäckigkeit. Er hörte nicht auf, in den Fluren des
Polizeipräsidiums
verstohlene Blicke auf sie zu werfen.
Im Sommer konnte Hanna Hansson aus dem Krankenhaus
entlassen werden. Sie war auf einem Auge blind und
hatte einen bleibenden Rückenschaden erlitten. Wallander
sprach eines Tages mit einer ihrer Töchter, die bei Hörby einen
Reiterhof betrieb.
»Das Auge bekommt sie nicht zurück«, sagte die Tochter,
»und die Ärzte können ihre Rückenschmerzen kaum lindern.
Aber wissen Sie, was das Schlimmste ist?«
»Dass ihr Mann tot ist.«
»Das ist so selbstverständlich, dass man es nicht sagen
muss. Aber von dem, was unausgesprochen bleibt?«
Wallander kam nicht darauf, welche Antwort sie von ihm
erwartete.
»Die Angst«, sagte die Tochter. »Sie fürchtet sich vor an42
deren Menschen. Sie hat Angst, aus dem Haus zu gehen,
Angst, zu schlafen, Angst, allein zu sein. Wie heilt man das?
Wie kann ein Täter dafür bestraft werden?«
»Ein guter Staatsanwalt überzeugt das Gericht von der
außergewöhnlichen Schwere des Verbrechens«, sagte Wallander.
Die Tochter schüttelte den Kopf. Sie zweifelte daran, wie
Wallander im Grunde auch. Schwedische Gerichte überraschten
ihn häufig negativ durch ihre Unentschlossenheit,
wenn es darum ging, ein Verbrechen als schwer oder weniger
schwer einzustufen.
»Fassen Sie die Täter«, sagte sie, als sie sein Büro verließ.
»Lassen Sie sie nicht ungeschoren davonkommen.«
Wallander führte selbst die einleitenden Verhöre mit den
beiden festgenommenen Polen durch. Beide waren jung,
nicht viel älter als zwanzig Jahre. Sie betrachteten ihn höhnisch
und gaben durch ihre Dolmetscher zu verstehen, dass
sie mit dem Waffendiebstahl nichts zu tun hätten, sich zur
fraglichen Zeit gar nicht in Schweden aufgehalten hätten
und nicht bereit wären, weitere Fragen zu beantworten.
Aber Wallander blieb kühl, obwohl er einen starken Impuls
unterdrücken musste, den beiden ein paar kräftige Ohrfeigen
zu verabreichen. Es gelang ihm nach und nach, einen
von ihnen weichzukneten, der eines Tages im November
plötzlich erste Eingeständnisse machte. Danach ging es
schnell. Bei einer Hausdurchsuchung in einer Wohnung in
Staffanstorp fand die Polizei mehr als die Hälfte der gestohlenen
Waffen, bei einem zweiten Zugriff in einem
Stockholmer Vorort weitere vier. Als der Prozess begann, an
einem Tag im Dezember, fehlten nurmehr drei der verschwundenen
Waffen. Am selben Morgen versammelte
Wallander in einem Sitzungsraum des Präsidiums seine
Mannschaft zu Kaffee und Kuchen. Er hatte ein paar lobende
Worte sagen wollen, kam aber davon ab, und sie sprachen
hauptsächlich über die laufenden Tarifverhandlungen
und ihre Unzufriedenheit mit den ständig neuen Verordnungen
und willkürlich wechselnden Prioritäten.
Wallander feierte Weihnachten mit Lindas Familie. Er betrachtete
sein Enkelkind, das noch immer keinen Namen
hatte, mit Verwunderung und einer stillen Freude. Linda behauptete,
das Mädchen sei ihm ähnlich, besonders die Augenpartie,
aber Wallander sah keine Ähnlichkeiten, sosehr
er sich anstrengte.
»Das Mädchen muss doch irgendwie heißen«, sagte er, als
sie Heiligabend zusammensaßen und Wein tranken.
»Das kommt schon«, sagte Linda.
»Wir glauben, dass der Name sich eines Tages von selbst
ergibt«, sagte Hans.
»Warum heiße ich Linda«, fragte sie plötzlich. »Woher
kommt der Name?«
»Das war ich«, sagte Wallander. »Mona wollte einen anderen
Namen, ich weiß nicht mehr, welchen. Aber für mich
warst du von Anfang an eine Linda. Dein Großvater dagegen
meinte, du solltest Venus heißen.«
»Venus?«
»Du weißt ja, dass er manchmal nicht ganz gescheit war.
Magst du deinen Namen nicht?«
»Ich habe einen guten Namen«, antwortete sie. »Und du
brauchst dir keine Sorgen zu machen. Wenn wir heiraten,
werde ich den Namen nicht wechseln. Ich werde nie eine
Linda von Enke.«
»Vielleicht sollte ich den Namen Wallander annehmen«,
sagte Hans. »Aber ich glaube, meine Eltern wären außer
sich.«
Zwischen Weihnachten und Neujahr sortierte Wallander
alle Papiere, die sich im Laufe des Jahres angesammelt hatten.
Vor Neujahr schaffte er immer Platz für das kommende
Jahr. Anfang Januar sollte das Urteil im Prozess gegen die
Waffenräuber gefällt werden. Wallander hatte mit dem
Staatsanwalt gesprochen, der die Höchststrafe für die Angeklagten
beantragt hatte, und die Verteidiger hatten dem
nicht viel entgegensetzen können. Wallander würde Hanna
Hanssons Tochter in die Augen sehen können, wenn er sie
wiedersah.
Es kam, wie er angenommen hatte. Die Richter erwiesen
sich als streng. Für die beiden Polen, die den Mord und
die schwere Körperverletzung begangen hatten, lautete die
Strafe auf acht Jahre Gefängnis. Wallander war davon überzeugt,
dass die Berufung vor der höheren Instanz zu keiner
nennenswerten Strafmilderung führen würde.
Den Abend nach der Urteilsverkündung wollte Wallander
zu Hause verbringen und einen Film sehen. Er hatte sich
eine Parabolantenne geleistet und konnte jetzt auf zahlreichen
Kanälen Filme sehen. Er steckte seine Dienstpistole
ein, um sie zu Hause zu reinigen. Sein Schießtraining hatte
er schleifen lassen und wusste, dass er spätestens Anfang Februar
eine Schießübung absolvieren musste. Sein Schreibtisch
war zwar nicht leer, aber er hatte keine dringenden
Ermittlungen zu führen. Lieber jetzt die Gelegenheit wahrnehmen,
dachte er. Heute sehe ich mir einen Film an, morgen
ist es vielleicht zu spät.
Aber als er nach Hause kam und eine Runde mit Jussi gegangen
war, fühlte er sich plötzlich rastlos. Manchmal überfiel
ihn ein Gefühl der Verlassenheit in seinem zwischen den
Äckern wie hingeworfenen Haus. Ich bin wie ein Wrack,
dachte er zuweilen. Gestrandet in dem braunen Lehmboden.
Meistens verging seine Rastlosigkeit, doch an diesem Abend
war sie hartnäckig. Er setzte sich an den Küchentisch, breitete
eine alte Zeitung aus und reinigte seine Waffe. Als er
damit fertig war, zeigte die Uhr noch nicht einmal acht. Woher
der Gedanke kam, war ihm nicht klar. Aber er entschloss
sich schnell, zog sich um und fuhr zurück nach Ystad. Im
Winter war die Stadt fast menschenleer, besonders an den
Abenden in der Woche. Es waren höchstens noch zwei oder
drei Cafeterias oder Restaurants geöffnet. Er parkte den
Wagen und ging in ein Restaurant am Marktplatz. Es waren
kaum Gäste da. Er setzte sich an einen Ecktisch und bestellte
eine Vorspeise und eine Flasche Wein. Während er auf das
Essen und den Wein wartete, kippte er ein paar Drinks hinunter.
Genau das war seine eigene Wahrnehmung: Er kippte
den Schnaps hinunter, um seine Unruhe zu dämpfen. Als
das Essen kam und der Kellner sein Weinglas füllte, war er
schon betrunken.
»Leer hier«, sagte Wallander. »Wo sind die Gäste?«
Der Kellner zuckte die Schultern. »Auf jeden Fall nicht
bei uns«, sagte er. »Ich hoffe, es schmeckt Ihnen.«
Wallander stocherte nur im Essen. Dagegen brauchte er
weniger als eine halbe Stunde, um die Flasche Wein zu leeren.
Er kramte sein Handy hervor und ging die einprogrammierten
Nummern durch. Er hatte Lust, mit jemandem zu
reden. Aber mit wem? Er steckte das Handy wieder weg; es
musste ja niemand hören, dass er betrunken war. Die Weinflasche
war leer, er hatte mehr als genug getrunken. Dennoch
bestellte er eine Tasse Kaffee und einen Cognac, als der
Kellner kam und sagte, sie wollten schließen. Als er vom
Tisch aufstand, schwankte er. Der Kellner betrachtete ihn
mit müdem Blick.
»Taxi«, sagte Wallander.
Der Kellner rief vom Telefon an der Wand neben dem
Bartresen an. Wallander merkte, dass er schwankte. Der
Kellner hängte den Hörer ein und nickte.
Als Wallander ins Freie trat, traf ihn schneidend kalter
Wind. Er setzte sich auf die Rückbank des Taxis und war beinahe
eingeschlafen, als der Wagen auf seinen Hof einbog.
Er ließ seine Kleider auf einen Haufen auf dem Fußboden
fallen und schlief ein, sobald er sich hingelegt hatte.
... weniger
Autoren-Porträt von Henning Mankell
Henning Mankell, geboren 1948 in Härjedalen, war einer der großen schwedischen Gegenwartsautoren, von Lesern rund um die Welt geschätzt. Sein Werk wurde in über vierzig Sprachen übersetzt, es umfasst etwa vierzig Romane und zahlreiche Theaterstücke. Nicht nur sein Werk, sondern auch sein persönliches Engagement stand im Zeichen der Solidarität. Henning Mankell lebte abwechselnd in Schweden und Mosambik, wo er künstlerischer Leiter des Teatro Avenida in Maputo war. Er starb am 5. Oktober 2015 in Göteborg. Seine Taschenbücher erscheinen bei dtv.
Bibliographische Angaben
- Autor: Henning Mankell
- 2012, 8. Aufl., 592 Seiten, Maße: 12 x 19,1 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Wolfgang Butt
- Verlag: DTV
- ISBN-10: 3423213345
- ISBN-13: 9783423213349
- Erscheinungsdatum: 16.12.2011
Rezension zu „Der Feind im Schatten / Kurt Wallander Bd.10 “
»Ein Muss!« neue woche 13.01.2012
Pressezitat
Ein Muss! Neue Woche 20120113
Kommentare zu "Der Feind im Schatten / Kurt Wallander Bd.10"
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