Der Fliegenfänger
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Der Fliegenfänger von Willy Russell
LESEPROBE
16. Juni 1991,
Birch Services,
M62 Motorway
Lieber Morrissey,
ich fühl mich total down unddeprimiert. Wie eine Straßenlampe ohne Birne oder eine Weihnachtsgans imAdvent. Jedenfalls hab ich gedacht, jetzt schreib ich mal ein paar Zeilen anjemand, der mich versteht. Ich weiß, dass du wahrscheinlich gar nichtantworten wirst; ich weiß ja nicht mal, ob dich das hier überhaupt erreicht.Und selbst wenn du mir antworten würdest, würde mich deine Antwortnicht mehr erreichen, weil ich schon weg bin. Obige Adresse ist nämlich eine Raststätte,an der ich vorbeigekommen bin. Wahrscheinlich werfich diesen Brief nicht mal ein. Ich schreib ihn nämlich in das Heft, in dem ichauch meine Songtexte und Ideen festhalte. So 'ne Art Tagebuch wahrscheinlich;obwohl das jetzt gleich so großartig klingt. Jedenfalls schreib ich in dieses Heft,während ich unter lauter Fernfahrern, Touristen, Vertretern und Durchreisendensitze. Mir kam gerade der Gedanke, dass du vielleicht selber schon mal indieser Cafeteria warst, vielleicht ganz früher, auf der Heimfahrt von einem Auftritt,du und die Jungs, und ihr habt hier angehalten und einen Tee getrunken.Irgendwie ist das ein Trost, der Gedanke, dass du vielleicht schon mal hierwarst, Morrissey, und vielleicht sogar genau amgleichen Tisch gesessen hast wie ich jetzt. Was dir wohl durch den Kopf ging,hier in diesem Selbstbedienungstempel mit seiner Vollkornbrotbar,dem frittierten Kabeljau und dem panierten Schellfisch -aufeiner Warmhalteplatte gestrandet, weit, weit weg vom brausenden Meer.
Ich sitze hier einem voll fettenFernfahrer gegenüber, der mich mitgenommen hat. Mir wär's lieber, der Arschhätte nicht wegen mir angehalten. Zu Fuß wär ichschneller gewesen. Wir haben von Manchester bis hierher fast zwei Stundengebraucht, weil er unterwegs an jedem Restaurant und jedem Imbiss aussteigenund was essen muss.
Als ich zu ihm ins Führerhauskletterte, fragte er: »Wo soll's denn hingehen?«
Ich sagte: » Grimsby.«
Darauf er: »Was machst du denn da?«
Ich: »Arbeiten.«
Er nickte zu meiner Gitarre hin.»Und als was?«, fragte er lachend. »Straßenmusikant?«
»Nein«, sagte ich. »Ich arbeite aufdem Bau!« Er machte ein skeptisches Gesicht.
»Dies und das«, sagte ich, »Teekochen und so.«
Er nickte. Dann fragte er: »Warumfährst du denn zum Arbeiten so weit weg?«
Ich dachte nach. Und dann sagte ich:»Wegen Morrissey« »Morris wer?«,fragte er.
»Morrissey«,sagte ich, »nicht Morris wer. Morrissey, der größtelebende Songschreiber. Der war früher mal bei den Smiths.«
»Ach so«, sagte er, »dieseslangweilige Arschloch!«
Damit war das Gespräch für michbeendet. Er legte eine Phil-Collins-Kassette ein, furzte ein paar Mal und ichfand, dass das zu dieser Musik ganz gut passte.
Jetzt hat er sich gerade noch eineSpeckstulle zwischen die Zähne gestopft und lacht so hemmungslos, dass man denBrei aus zerkautem Brot, Speck und Speichel in seinem Mund sieht. Er findet esrasend komisch, dass ich gesagt hab, ich sei Vegetarier. Darum lacht er jetztso.
»Ich weiß wirklich nicht, was es zulachen gibt«, erklärte ich, »alle möglichen Leute sind Vegetarier; GeorgeBernard Shaw war zum Beispiel Vegetarier. Und Mahatma Gandhi!
Überhaupt sind die meisten MenschenVegetarier«, sagte ich, »inklusive Morrissey. Undmir.«
Er kriegte sich gar nicht mehr einvor Lachen.
»Und deshalb«, schloss ich, » binich Vegetarier geworden. Wegen Morrissey.«
Aber das hätte ich mir alles genausogut sparen können und deshalb hielt ich den Mund und ließ ihn weiterlachen. Wassoll man auch zu einem Banausen sagen, der auf Phil Collins und Dire Straits und derlei seichtesZeug steht? Ich hab jetzt meinen Walkman auf, damit ich wenigstens nicht höre,wie er lacht. Das einzig Positive daran, dass er mich mitgenommen hat, ist:Er ist so fett, dass ich mir im Vergleich echt dünn vorkomme. Ich bin zwarnicht übergewichtig oder so, jedenfalls nicht mehr, Morrissey.Aber obwohl ich heute nicht mehr dick bin, vergesse ich das manchmal und denkeimmer noch, ich sei ein Schwergewicht. Und ich hasse Bilder von früher, auf denenich noch dick bin. Fotografien sind wie Computer - sie sagen nie die Wahrheit.Das ist wie bei diesem Bild von Oscar Wilde, Morrissey,du weißt schon, wo er die Stiefel anhat und an der Wand lehnt. Wenn das daseinzige noch existierende Bild von Oscar Wilde wär,würde doch jeder denken, er sei dick gewesen, oder? Aber Oscar Wilde war niedick, nicht innerlich. Und ich war auch nie dick, jedenfalls nicht innerlich.Und wahrscheinlich war das einfach so eine Phase, die Oscar Wilde durchgemachthat, und er konnte nichts dafür, genauso wenig wie ich. MobyDick haben sie mich damals genannt! Als wir nach Wythenshawezogen, steckten sie mich in diese Gesamtschule, wo ich keinen kannte, und eswar auch noch mitten im Schuljahr. Ich kam ins Klassenzimmer, und Steven Spanswick hob den Kopf und sagte: »Verdammte Scheiße - dakommt Moby Dick!«
Und die ganze Klasse brach inGelächter aus, sogar der Lehrer!
Aber das lässt mich jetzt kalt - Spegga Spanswick und Barry Tucknott und Mustapha Golightly und dieser ganze Haufen.
Lauter Witzfiguren! Eigentlich binich ihnen sogar dankbar. Wegen Typen wie Steve Spanswickund Jackson und solchen Trotteln hab ich damals nämlich meinen ersten Songgeschrieben, »Lässt mich kalt«. Der Text ging so:
Lässt mich kalt
Wenn ihr mir eine knallt
Wenn ihr auf meine Nikes rotzt
Oder mir auf mein Skateboard kotzt
Lässt mich kalt
Lässt mich kalt, wenn ihr michüberfallt
Euer Schrott in meinen Ohren schallt
Lässt mich kalt
Wenn ihr mich blöde Fettsau nennt
Euren Ball in meine Eier brennt
Lässt mich kalt
Mir geht so was nicht nah
Denn ich bin gar nicht da
Lässt mich kalt
Im Rückblick kommt mir dasschrecklich belehrend und irgendwie allzu simpel vor. Esist wirklich total peinlich, vorhersehbar und epigonal.Aber schließlich muss jeder Künstler mal irgendwo anfangen, und entscheidendist doch, dass ich überhaupt angefangen hab, selbst zu schreiben, egal mit wasfür Texten. O Scheiße, was willSpeckfresse denn jetzt schon wieder von mir ...? ()
© Heyne Verlag
Übersetzung: Sabine Hübner
- Autor: Willy Russell
- 2002, 524 Seiten, Maße: 12,6 x 19,1 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Sabine Hübner
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 345386428X
- ISBN-13: 9783453864283
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