Der Greif
Als Mark in den Schwarzen Turm eindringt, ahnt er nicht, welche Kräfte er entfesselt. Der Greif, der über dieses alptraumhafte Reich herrscht, versucht mit allen Mitteln, den Jungen in seine Gewalt zu bringen. Für Mark beginnt eine Reise des Schreckens.
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Produktinformationen zu „Der Greif “
Als Mark in den Schwarzen Turm eindringt, ahnt er nicht, welche Kräfte er entfesselt. Der Greif, der über dieses alptraumhafte Reich herrscht, versucht mit allen Mitteln, den Jungen in seine Gewalt zu bringen. Für Mark beginnt eine Reise des Schreckens.
Klappentext zu „Der Greif “
Merkwürdig vom Dachfirst seines Elternhauses fasziniert, klettert Mark hinauf - und gerät in ein schreckliches nächtliches Abenteuer: Ein riesiges graues Ungeheuer jagt ihn, bedroht sein Leben. Mark gelingt die Flucht. Er wacht verletzt im Krankenhaus wieder auf. Dort wird ihm erklärt, er sei vor ein Auto gelaufen, doch Mark zweifelt. Er beginnt die Existenz einer anderen Welt zu ahnen. Sind sein Vater und sein älterer Bruder Thomas dorthin so spurlos verschwunden? Nach seiner Entlassung forscht er weiter - und gelangt durch die Krypa einer alten Kapelle in ein geheimnisvolles Land, das ein Paradies sein könnte, wenn die Herrschaft des Greifen, der es regiert, gebrochen würde. Und das kann nur durch Mark geschehen.
Lese-Probe zu „Der Greif “
Der Greif von Wolfgang & Heike HohlbeinERSTES BUCH
DER CHERUB
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DIE VERFOLGUNG
Es war dunkel hier oben. Dunkel, kalt und feucht. Vor einer halben Stunde hatte es noch in Strömen geregnet und die Dächer glänzten wie frisch lackiertes dunkles Holz.
Der eisige Wind trieb Mark die Tränen in die Augen. Als er nach dem Fensterrahmen griff und sich mit einer entschlossenen Bewegung ganz auf das Dach hinaufzog, war es ihm, als bliebe nicht nur das letzte bisschen Licht und Sicherheit hinter ihm zurück, sondern als ergriffe gleichzeitig etwas von der Dunkelheit und Kälte hier oben Besitz von seiner Seele. Mark verscheuchte dieses Gefühl und begann vorsichtig über die nassen Dachziegel zu balancieren. Er ging sehr langsam, ein wenig zur Seite geneigt, um den Druck des Windes auszugleichen, der immer heftiger an seinen Kleidern zerrte, und mit einwärtsgerichteten Füßen, wobei er sorgsam darauf achtete, immer die ganze Schuhsohle aufzusetzen, ehe er den anderen Fuß hob.
Der Weg zum Dachfirst hinauf war nicht sehr schwierig und auch nicht sehr weit - Thomas und er waren ihn so oft gegangen, dass ihm jede Unebenheit vertraut war. Aber normalerweise war er nie bei schlechtem Wetter aufs Dach geklettert.
Und normalerweise war auch niemand hinter ihm her, um ihn umzubringen.
Als er den Dachfirst erreicht hatte, drehte er sich langsam um und blickte in die Richtung zurück, aus der er gekommen war.
Er war allein. Das Dach lag still da wie eine Landschaft aus einem Science-Fiction-Film, eine gemauerte Welt aus Stein und Ton, die hoch über dem Lichtermeer der Stadt schwebte, scheinbar schwerelos und durch einen Abgrund aus Schwärze von der Helligkeit und dem Leben dort unten getrennt. Das Fenster, durch das er herausgekrochen war, schien ihm zuzublinzeln wie ein trübes gelbes Auge. Für einen Moment glaubte er, ein Klirren zu hören und einen Schatten zu erkennen, ein dunkles Huschen vor dem Licht der Petroleumlampe.
Dann begriff er, dass es kein Schatten war, sondern nur das Flackern der kleinen Flamme in der Lampe. Er hatte das Fenster von außen geschlossen, und so war es nur fest angelehnt und der Wind konnte ins Innere.
Was, dachte Mark, und Furcht schnürte ihm die Kehle zu, wenn er seine Spur aufnahm und in seinem Toben die Lampe umwarf? Das ganze Haus konnte abbrennen! Aber alles Grübeln war sinnlos, er konnte nicht hier heroben bleiben. Er richtete sich vorsichtig wieder auf, breitete die Arme aus und begann wieder zu balancieren.
Die Dächer breiteten sich finster und scheinbar endlos vor ihm aus, ein rechteckiges Auf und Ab, nur hier und da unterbrochen von einem Erker, einem Fenster oder den dürren Knochenfingern der Schornsteine und Antennen - und schmalen, symmetrischen Linien voller Dunkelheit.
Es waren diese so harmlos erscheinenden Linien, die Mark Sorge bereiteten. Denn in Wirklichkeit waren die Linien bodenlose Abgründe von zehn, fünfzehn Metern Breite, die die einzelnen Häuser voneinander trennten.
Hätte er mehr Zeit und wäre der Sturm nicht so heftig, wäre er zur anderen Seite des Hauses hinübergelaufen und hätte versucht, an der Fassade hinunterzuklettern: Aber er hatte keine Zeit.
Wieder klirrte etwas, und diesmal war das Geräusch so deutlich, dass er sicher war, es sich nicht einzubilden. Aber das Fenster blieb leer. Das Licht flackerte weiter und auch die Schatten waren noch da, aber nichts rührte sich und - in der gleichen Sekunde explodierte das Dach neben ihm.
Ein fürchterlicher Schlag schien das ganze Haus bis in seine Grundfesten zu erschüttern, und die Dachpfannen explodierten in einem Hagel aus scharfkantigen Splittern und wirbeln der Schwärze, wie von einer unsichtbaren Faust getroffen. Etwas Riesiges, Graues schob sich aus der gewaltsam geschaffenen Öffnung, griff nach dem gezackten Rand aus zerborstenen Dachpfannen und Holz und fiel mit einem gewaltigen Poltern und Krachen zurück, als ein weiteres Stück des Daches unter seinem Gewicht nachgab.
Mark wartete nicht, bis der Verfolger wieder in der Öffnung auftauchte. Jetzt hatte er keine Wahl mehr. Er lief ein paar Schritte zurück, sammelte alle Kraft und das letzte bisschen Mut, das noch in ihm war - und rannte los.
Das Ende des Daches raste auf ihn zu und er spürte, wie er bei jedem Schritt ein bisschen mehr aus dem Gleichgewicht kam und abzurutschen drohte.
Mit einer letzten, verzweifelten Anstrengung stieß er sich ab, segelte mit weit ausgebreiteten Armen durch die Luft und begann zu stürzen. Der Rand des gegenüberliegenden Daches sprang ihm regelrecht entgegen, etwas traf seinen rechten Fuß und riss ihn mit entsetzlicher Wucht zur Seite und dann schlug das geteerte Flachdach des Hauses wie eine fingerlose Faust nach ihm und schleuderte ihn an den Rand der Bewusstlosigkeit.
Sekundenlang blieb er betäubt liegen, dann versuchte er sich aufzurichten. Dach und Himmel begannen sich vor seinen Augen zu drehen, es wurde ihm übel und gleichzeitig machte sich ein pochender Schmerz in seinem rechten Fuß bemerk bar. Stöhnend blickte Mark an sich herab. Sein Bein war unversehrt. Es tat einfach nur ganz widerlich weh. Mark fragte sich besorgt, ob er mit diesem Fuß noch laufen konnte.
Wie als Antwort auf seine Gedanken erklang vom Dach des gegenüberliegenden Hauses erneut helles Splittern, und als Mark aufsah, erblickte er einen gigantischen schwarzen Schatten, der sich riesig und drohend Uber der scharf gezogenen Linie des Daches erhob.
Wieder spürte er den lähmenden Schreck, der ihn an der Stelle, wo er sich befand, festhielt und ihn mit Entsetzen sehen ließ, wie der Schatten an die Dachkante trat und sprang. Für eine endlose Sekunde schien der riesige Körper fast schwerelos in der Luft zu hängen. dann neigte er sich ein wenig nach vorne und streckte die Hände nach der Dachkante aus - und verfehlte sie.
Das ganze Haus erbebte wie unter einer Explosion, als der Körper des Kolosses gegen die Wand krachte, mit einem Laut, als pralle Stein gegen Stein. Etwas wie ein Schrei er klang, vielleicht auch nur das Kreischen von Fels auf hartem Mauerwerk, und den Bruchteil einer Sekunde später war der Verfolger aus Marks Gesichtskreis verschwunden.
Mit angehaltenem Atem wartete er auf das Geräusch des Aufpralles, aber es kam nicht. Eine Minute verging, dann noch eine und noch eine, aber der Abgrund jenseits der Mauer blieb stumm, und schließlich wagte er es, sich auf Händen und Füßen hochzustemmen und einen vorsichtigen Schritt zu machen.
Ein stechender Schmerz schoss durch seinen rechten Fuß. Mark fiel in die Knie und umklammerte das Fußgelenk mit der Hand. Erst nach Sekunden ließ das Stechen in seinem Knöchel nach und wurde zu einem dumpfen Pochen.
Als Mark die Augen öffnete, hörte er das Geräusch.
Es war sehr leise, sodass es fast vom Sturm verschluckt wurde, aber für Marks angespannte Sinne nicht zu überhören: ein Kratzen und Schaben wie von harten Insektenbeinen auf Holz - oder steinharten Fingern auf brüchigen Ziegeln. Und es kam von der anderen Seite der Mauer...
Marks Herz machte einen erschrockenen Hüpfer und schien sich in einen kleinen pelzigen Ball zu verwandeln, der direkt in seinem Hals weiterschlug. Verzweifelt versuchte er sich herumzudrehen, ohne seinen Fuß zu belasten.
Ober der Mauer erschien eine gewaltige Hand. Langsam, wie eine riesige fünfbeinige Spinne, tastete sie auf der anderen Seite der Wand nach festem Halt und fand ihn.
Mark wartete nicht, bis auch die zweite Hand erschien; er humpelte los, so schnell er konnte. Das Dach war nicht besonders groß, und so hatte er bald die kleine Tür erreicht, hinter der die Treppe lag. Doch schon die erste Stufe, die er hinunterging, wäre fast seine letzte gewesen.
Sein verstauchter Knöchel gab unter dem Gewicht seines Körpers nach. Mark schrie auf, ruderte hilflos mit den Armen und spürte, wie er nach vorne kippte. Erst im letzten Moment bekamen seine Hände das Treppengeländer zu fassen und er klammerte sich daran fest.
Keuchend hing er da, das Treppengeländer mit beiden Armen umklammernd und das verletzte Bein weit abgespreizt, dann zog er sich vorsichtig wieder in die Höhe und begann die Treppe hinabzuhumpeln.
Er hatte den ersten Treppenabsatz erreicht, als er dröhnende Schritte auf dem Dach hörte. Dann splitterte Holz und die ganze Treppe erbebte. Mit letzter Kraft packte Mark das Treppengeländer, schwang das unverletzte Bein darüber - und rutschte in die Tiefe.
Wie ein Pfeil schoss er hinunter. Er hatte kaum Zeit, sich auf den Aufprall vorzubereiten, als er auch schon in der nächsten Etage angekommen war. Mark ließ seinen Halt los, rollte sich zu einer Kugel zusammen und spannte alle Muskeln an, um dem Aufprall wenigstens die ärgste Wucht zu nehmen. Diesmal hatte er Glück - der Sturz war weit weniger schlimm, als er befürchtet hatte, und selbst sein verletztes Bein kam relativ glimpflich davon. Hastig richtete er sich wieder auf, kroch auf Händen und Knien zum nächsten Treppenabsatz und zog sich stöhnend auf das Geländer hinauf. Ober sich hörte er stampfende Schritte.
Es war ein Wunder, dass Mark bei dieser Rutschpartie - vier Stockwerke hinunter, und das mit einem verletzten Fuß - nicht mehr als blaue Flecke abbekam. Er hatte sogar noch einmal Glück: Der Sturz auf die harten Steinfliesen des Eingangsflures tat weit weniger weh, als er erwartet hatte. Mark prallte wie ein flach über das Wasser geworfener Stein auf, schlitterte noch ein paar Meter über die Fliesen und blieb unweit der Tür liegen.
Sekundenlang wagte er nicht, sich zu rühren. Sein Herz pochte, als wolle es jeden Augenblick zerspringen, und es schien an seinem ganzen Körper keine Stelle zu geben, die nicht wehtat. Aber als er sich auf den Bauch wälzte und schließlich auf Hände und Knie hochstemmte, da ging es. Selbst der Schmerz in seinem Knöchel war jetzt nicht mehr ganz so unerträglich.
Im Flur war es nicht so dunkel wie oben im Treppenhaus. Durch die Milchglasscheibe der Haustür fiel ein grauer Schein und dann und wann huschte der Lichtfinger eines vorüberfahrenden Autos vorbei und irgendwo weit über sich konnte er das gedämpfte Plärren eines Radios hören. Und dann erzitterte über ihm die Treppe unter krachenden Schritten. So schnell er konnte, richtete sich Mark auf, humpelte an der Wand entlang auf die Tür zu und drückte die Klinke hinunter.
Die Tür ging nicht auf.
Verzweifelt rüttelte er an der Klinke, dann begriff er, dass die Tür abgeschlossen war.
Die Treppe begann zu knirschen und zu beben, als rolle et was Tonnenschweres die Stufen hinunter, und als Mark auf sah, erblickte er wieder den riesigen Schatten, der sich auf ihn zubewegte.
Mark biss die Zähne zusammen, holte aus und schlug mit aller Gewalt mit dem Ellbogen zu.
Die Milchglasscheibe zerbarst, Scherben und scharfkantige Splitter fielen klirrend auf die Straße. Mark zog den Kopf zwischen die Schultern und sprang durch den Rahmen. Hinter ihm her jagte dumpfes Poltern und ein wütender Laut war zu hören. Ohne nach rechts und links zu blicken, stürmte Mark aus dem Haus, über den Bürgersteig und auf die Straße hinaus.
Bremsen quietschten, eine Hupe kreischte auf, grelles Licht blendete ihn. Für einen Moment sah er das schreckverzerrte Gesicht des Fahrers hinter der Windschutzscheibe, dann traf ihn die Kühlerhaube des Wagens an der Hüfte und schleuderte ihn zu Boden.
Das Nächste, was er wahrnahm, war lautes Stimmengewirr und eine Hand, die an seiner Schulter rüttelte.
>>Mein Gott! Mein Gott, mein Gott ... Du bist einfach in den Wagen hineingelaufen! << - >>Du darfst dich nicht bewegen, der Krankenwagen ist schon unterwegs. Kann nur noch ein paar Minuten dauern. << - >>Was ist nur in dich gefahren, Junge? Du bist einfach auf die Straße gerannt, ohne zu gucken. Du hättest tot sein können!<< - >>Lassen Sie ihn doch in Ruhe. Sie sehen doch, dass er schwer verletzt ist! <<
In der Ferne war das Heulen einer Sirene zu hören.
>>Es war nicht meine Schuld! Er ist aus dem Haus gerannt und direkt auf die Straße hinaus! Ich konnte nicht mehr bremsen! << - >>Das sieht man, wahrscheinlich sind Sie wie ein Verrückter gefahren, das kennt man ja! <<
Copyright © 2012 by Ueberreuter Verlag, Berlin - Wien
DIE VERFOLGUNG
Es war dunkel hier oben. Dunkel, kalt und feucht. Vor einer halben Stunde hatte es noch in Strömen geregnet und die Dächer glänzten wie frisch lackiertes dunkles Holz.
Der eisige Wind trieb Mark die Tränen in die Augen. Als er nach dem Fensterrahmen griff und sich mit einer entschlossenen Bewegung ganz auf das Dach hinaufzog, war es ihm, als bliebe nicht nur das letzte bisschen Licht und Sicherheit hinter ihm zurück, sondern als ergriffe gleichzeitig etwas von der Dunkelheit und Kälte hier oben Besitz von seiner Seele. Mark verscheuchte dieses Gefühl und begann vorsichtig über die nassen Dachziegel zu balancieren. Er ging sehr langsam, ein wenig zur Seite geneigt, um den Druck des Windes auszugleichen, der immer heftiger an seinen Kleidern zerrte, und mit einwärtsgerichteten Füßen, wobei er sorgsam darauf achtete, immer die ganze Schuhsohle aufzusetzen, ehe er den anderen Fuß hob.
Der Weg zum Dachfirst hinauf war nicht sehr schwierig und auch nicht sehr weit - Thomas und er waren ihn so oft gegangen, dass ihm jede Unebenheit vertraut war. Aber normalerweise war er nie bei schlechtem Wetter aufs Dach geklettert.
Und normalerweise war auch niemand hinter ihm her, um ihn umzubringen.
Als er den Dachfirst erreicht hatte, drehte er sich langsam um und blickte in die Richtung zurück, aus der er gekommen war.
Er war allein. Das Dach lag still da wie eine Landschaft aus einem Science-Fiction-Film, eine gemauerte Welt aus Stein und Ton, die hoch über dem Lichtermeer der Stadt schwebte, scheinbar schwerelos und durch einen Abgrund aus Schwärze von der Helligkeit und dem Leben dort unten getrennt. Das Fenster, durch das er herausgekrochen war, schien ihm zuzublinzeln wie ein trübes gelbes Auge. Für einen Moment glaubte er, ein Klirren zu hören und einen Schatten zu erkennen, ein dunkles Huschen vor dem Licht der Petroleumlampe.
Dann begriff er, dass es kein Schatten war, sondern nur das Flackern der kleinen Flamme in der Lampe. Er hatte das Fenster von außen geschlossen, und so war es nur fest angelehnt und der Wind konnte ins Innere.
Was, dachte Mark, und Furcht schnürte ihm die Kehle zu, wenn er seine Spur aufnahm und in seinem Toben die Lampe umwarf? Das ganze Haus konnte abbrennen! Aber alles Grübeln war sinnlos, er konnte nicht hier heroben bleiben. Er richtete sich vorsichtig wieder auf, breitete die Arme aus und begann wieder zu balancieren.
Die Dächer breiteten sich finster und scheinbar endlos vor ihm aus, ein rechteckiges Auf und Ab, nur hier und da unterbrochen von einem Erker, einem Fenster oder den dürren Knochenfingern der Schornsteine und Antennen - und schmalen, symmetrischen Linien voller Dunkelheit.
Es waren diese so harmlos erscheinenden Linien, die Mark Sorge bereiteten. Denn in Wirklichkeit waren die Linien bodenlose Abgründe von zehn, fünfzehn Metern Breite, die die einzelnen Häuser voneinander trennten.
Hätte er mehr Zeit und wäre der Sturm nicht so heftig, wäre er zur anderen Seite des Hauses hinübergelaufen und hätte versucht, an der Fassade hinunterzuklettern: Aber er hatte keine Zeit.
Wieder klirrte etwas, und diesmal war das Geräusch so deutlich, dass er sicher war, es sich nicht einzubilden. Aber das Fenster blieb leer. Das Licht flackerte weiter und auch die Schatten waren noch da, aber nichts rührte sich und - in der gleichen Sekunde explodierte das Dach neben ihm.
Ein fürchterlicher Schlag schien das ganze Haus bis in seine Grundfesten zu erschüttern, und die Dachpfannen explodierten in einem Hagel aus scharfkantigen Splittern und wirbeln der Schwärze, wie von einer unsichtbaren Faust getroffen. Etwas Riesiges, Graues schob sich aus der gewaltsam geschaffenen Öffnung, griff nach dem gezackten Rand aus zerborstenen Dachpfannen und Holz und fiel mit einem gewaltigen Poltern und Krachen zurück, als ein weiteres Stück des Daches unter seinem Gewicht nachgab.
Mark wartete nicht, bis der Verfolger wieder in der Öffnung auftauchte. Jetzt hatte er keine Wahl mehr. Er lief ein paar Schritte zurück, sammelte alle Kraft und das letzte bisschen Mut, das noch in ihm war - und rannte los.
Das Ende des Daches raste auf ihn zu und er spürte, wie er bei jedem Schritt ein bisschen mehr aus dem Gleichgewicht kam und abzurutschen drohte.
Mit einer letzten, verzweifelten Anstrengung stieß er sich ab, segelte mit weit ausgebreiteten Armen durch die Luft und begann zu stürzen. Der Rand des gegenüberliegenden Daches sprang ihm regelrecht entgegen, etwas traf seinen rechten Fuß und riss ihn mit entsetzlicher Wucht zur Seite und dann schlug das geteerte Flachdach des Hauses wie eine fingerlose Faust nach ihm und schleuderte ihn an den Rand der Bewusstlosigkeit.
Sekundenlang blieb er betäubt liegen, dann versuchte er sich aufzurichten. Dach und Himmel begannen sich vor seinen Augen zu drehen, es wurde ihm übel und gleichzeitig machte sich ein pochender Schmerz in seinem rechten Fuß bemerk bar. Stöhnend blickte Mark an sich herab. Sein Bein war unversehrt. Es tat einfach nur ganz widerlich weh. Mark fragte sich besorgt, ob er mit diesem Fuß noch laufen konnte.
Wie als Antwort auf seine Gedanken erklang vom Dach des gegenüberliegenden Hauses erneut helles Splittern, und als Mark aufsah, erblickte er einen gigantischen schwarzen Schatten, der sich riesig und drohend Uber der scharf gezogenen Linie des Daches erhob.
Wieder spürte er den lähmenden Schreck, der ihn an der Stelle, wo er sich befand, festhielt und ihn mit Entsetzen sehen ließ, wie der Schatten an die Dachkante trat und sprang. Für eine endlose Sekunde schien der riesige Körper fast schwerelos in der Luft zu hängen. dann neigte er sich ein wenig nach vorne und streckte die Hände nach der Dachkante aus - und verfehlte sie.
Das ganze Haus erbebte wie unter einer Explosion, als der Körper des Kolosses gegen die Wand krachte, mit einem Laut, als pralle Stein gegen Stein. Etwas wie ein Schrei er klang, vielleicht auch nur das Kreischen von Fels auf hartem Mauerwerk, und den Bruchteil einer Sekunde später war der Verfolger aus Marks Gesichtskreis verschwunden.
Mit angehaltenem Atem wartete er auf das Geräusch des Aufpralles, aber es kam nicht. Eine Minute verging, dann noch eine und noch eine, aber der Abgrund jenseits der Mauer blieb stumm, und schließlich wagte er es, sich auf Händen und Füßen hochzustemmen und einen vorsichtigen Schritt zu machen.
Ein stechender Schmerz schoss durch seinen rechten Fuß. Mark fiel in die Knie und umklammerte das Fußgelenk mit der Hand. Erst nach Sekunden ließ das Stechen in seinem Knöchel nach und wurde zu einem dumpfen Pochen.
Als Mark die Augen öffnete, hörte er das Geräusch.
Es war sehr leise, sodass es fast vom Sturm verschluckt wurde, aber für Marks angespannte Sinne nicht zu überhören: ein Kratzen und Schaben wie von harten Insektenbeinen auf Holz - oder steinharten Fingern auf brüchigen Ziegeln. Und es kam von der anderen Seite der Mauer...
Marks Herz machte einen erschrockenen Hüpfer und schien sich in einen kleinen pelzigen Ball zu verwandeln, der direkt in seinem Hals weiterschlug. Verzweifelt versuchte er sich herumzudrehen, ohne seinen Fuß zu belasten.
Ober der Mauer erschien eine gewaltige Hand. Langsam, wie eine riesige fünfbeinige Spinne, tastete sie auf der anderen Seite der Wand nach festem Halt und fand ihn.
Mark wartete nicht, bis auch die zweite Hand erschien; er humpelte los, so schnell er konnte. Das Dach war nicht besonders groß, und so hatte er bald die kleine Tür erreicht, hinter der die Treppe lag. Doch schon die erste Stufe, die er hinunterging, wäre fast seine letzte gewesen.
Sein verstauchter Knöchel gab unter dem Gewicht seines Körpers nach. Mark schrie auf, ruderte hilflos mit den Armen und spürte, wie er nach vorne kippte. Erst im letzten Moment bekamen seine Hände das Treppengeländer zu fassen und er klammerte sich daran fest.
Keuchend hing er da, das Treppengeländer mit beiden Armen umklammernd und das verletzte Bein weit abgespreizt, dann zog er sich vorsichtig wieder in die Höhe und begann die Treppe hinabzuhumpeln.
Er hatte den ersten Treppenabsatz erreicht, als er dröhnende Schritte auf dem Dach hörte. Dann splitterte Holz und die ganze Treppe erbebte. Mit letzter Kraft packte Mark das Treppengeländer, schwang das unverletzte Bein darüber - und rutschte in die Tiefe.
Wie ein Pfeil schoss er hinunter. Er hatte kaum Zeit, sich auf den Aufprall vorzubereiten, als er auch schon in der nächsten Etage angekommen war. Mark ließ seinen Halt los, rollte sich zu einer Kugel zusammen und spannte alle Muskeln an, um dem Aufprall wenigstens die ärgste Wucht zu nehmen. Diesmal hatte er Glück - der Sturz war weit weniger schlimm, als er befürchtet hatte, und selbst sein verletztes Bein kam relativ glimpflich davon. Hastig richtete er sich wieder auf, kroch auf Händen und Knien zum nächsten Treppenabsatz und zog sich stöhnend auf das Geländer hinauf. Ober sich hörte er stampfende Schritte.
Es war ein Wunder, dass Mark bei dieser Rutschpartie - vier Stockwerke hinunter, und das mit einem verletzten Fuß - nicht mehr als blaue Flecke abbekam. Er hatte sogar noch einmal Glück: Der Sturz auf die harten Steinfliesen des Eingangsflures tat weit weniger weh, als er erwartet hatte. Mark prallte wie ein flach über das Wasser geworfener Stein auf, schlitterte noch ein paar Meter über die Fliesen und blieb unweit der Tür liegen.
Sekundenlang wagte er nicht, sich zu rühren. Sein Herz pochte, als wolle es jeden Augenblick zerspringen, und es schien an seinem ganzen Körper keine Stelle zu geben, die nicht wehtat. Aber als er sich auf den Bauch wälzte und schließlich auf Hände und Knie hochstemmte, da ging es. Selbst der Schmerz in seinem Knöchel war jetzt nicht mehr ganz so unerträglich.
Im Flur war es nicht so dunkel wie oben im Treppenhaus. Durch die Milchglasscheibe der Haustür fiel ein grauer Schein und dann und wann huschte der Lichtfinger eines vorüberfahrenden Autos vorbei und irgendwo weit über sich konnte er das gedämpfte Plärren eines Radios hören. Und dann erzitterte über ihm die Treppe unter krachenden Schritten. So schnell er konnte, richtete sich Mark auf, humpelte an der Wand entlang auf die Tür zu und drückte die Klinke hinunter.
Die Tür ging nicht auf.
Verzweifelt rüttelte er an der Klinke, dann begriff er, dass die Tür abgeschlossen war.
Die Treppe begann zu knirschen und zu beben, als rolle et was Tonnenschweres die Stufen hinunter, und als Mark auf sah, erblickte er wieder den riesigen Schatten, der sich auf ihn zubewegte.
Mark biss die Zähne zusammen, holte aus und schlug mit aller Gewalt mit dem Ellbogen zu.
Die Milchglasscheibe zerbarst, Scherben und scharfkantige Splitter fielen klirrend auf die Straße. Mark zog den Kopf zwischen die Schultern und sprang durch den Rahmen. Hinter ihm her jagte dumpfes Poltern und ein wütender Laut war zu hören. Ohne nach rechts und links zu blicken, stürmte Mark aus dem Haus, über den Bürgersteig und auf die Straße hinaus.
Bremsen quietschten, eine Hupe kreischte auf, grelles Licht blendete ihn. Für einen Moment sah er das schreckverzerrte Gesicht des Fahrers hinter der Windschutzscheibe, dann traf ihn die Kühlerhaube des Wagens an der Hüfte und schleuderte ihn zu Boden.
Das Nächste, was er wahrnahm, war lautes Stimmengewirr und eine Hand, die an seiner Schulter rüttelte.
>>Mein Gott! Mein Gott, mein Gott ... Du bist einfach in den Wagen hineingelaufen! << - >>Du darfst dich nicht bewegen, der Krankenwagen ist schon unterwegs. Kann nur noch ein paar Minuten dauern. << - >>Was ist nur in dich gefahren, Junge? Du bist einfach auf die Straße gerannt, ohne zu gucken. Du hättest tot sein können!<< - >>Lassen Sie ihn doch in Ruhe. Sie sehen doch, dass er schwer verletzt ist! <<
In der Ferne war das Heulen einer Sirene zu hören.
>>Es war nicht meine Schuld! Er ist aus dem Haus gerannt und direkt auf die Straße hinaus! Ich konnte nicht mehr bremsen! << - >>Das sieht man, wahrscheinlich sind Sie wie ein Verrückter gefahren, das kennt man ja! <<
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Autoren-Porträt von Wolfgang Hohlbein, Heike Hohlbein
Wolfgang Hohlbein geboren 1953 in Weimar. Gemeinsam mit seiner Frau Heike verfasste der damalige Nachwuchsautor 1982 den Roman "Märchenmond", der den Fantasy-Wettbewerb des Verlags Carl Ueberreuter gewann. Das Buch beflügelte seinen Aufstieg zum erfolgreichsten deutschsprachigen Fantasy-Autor. Seine Werke wurden in 40 Sprachen übersetzt. Wolfgang Hohlbein lebt heute mit seiner Familie in der Nähe von Düsseldorf.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Wolfgang Hohlbein , Heike Hohlbein
- 2012, 592 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Ueberreuter
- ISBN-10: 3800057026
- ISBN-13: 9783800057023
Kommentar zu "Der Greif"
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