Der Hals der Giraffe
Bildungsroman. Ausgezeichnet mit dem Friedrich-Hölderlin-Förderpreis 2012 und mit dem Preis der Literaturhäuser
Anpassung ist alles, weiß Inge Lohmark. Schließlich unterrichtet sie seit mehr als dreißig Jahren Biologie. Daß ihre Schule in vier Jahren geschlossen werden soll, ist nicht zu ändern - in der schrumpfenden Kreisstadt im vorpommerschen Hinterland fehlt es...
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Produktinformationen zu „Der Hals der Giraffe “
Klappentext zu „Der Hals der Giraffe “
Anpassung ist alles, weiß Inge Lohmark. Schließlich unterrichtet sie seit mehr als dreißig Jahren Biologie. Daß ihre Schule in vier Jahren geschlossen werden soll, ist nicht zu ändern - in der schrumpfenden Kreisstadt im vorpommerschen Hinterland fehlt es an Kindern. Lohmarks Mann, der zu DDR-Zeiten Kühe besamt hat, züchtet nun Strauße, ihre Tochter Claudia ist vor Jahren in die USA gegangen und hat nicht vor, Kinder in die Welt zu setzen. Alle verweigern sich dem Lauf der Natur, den Inge Lohmark tagtäglich im Unterricht beschwört. Als sie Gefühle für eine Schülerin der 9. Klasse entwickelt, die über die übliche Haßliebe für die Jugend hinausgehen, gerät ihr biologistisches Weltbild ins Wanken. Mit immer absonderlicheren Einfällen versucht sie zu retten, was nicht mehr zu retten ist. Nach dem gefeierten »Atlas der abgelegenen Inseln« schreibt Judith Schalansky einen Roman. Darin kämpft eine Biologielehrerin für die Einhaltung der Naturgesetze, verrenkt sich den Hals nach unerreichbaren Früchten und fällt am Ende vom Glauben an Gott Darwin ab. Schauplatz der Geschichte ist eine der irrwitzigsten Anstalten dieser Welt: die Schule.
Lese-Probe zu „Der Hals der Giraffe “
Der Hals der Giraffe von Judith SchalanskyNaturhaushalte
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»Setzen«, sagte Inge Lohmark, und die Klasse setzte sich. Sie sagte »Schlagen Sie das Buch auf Seite sieben auf«, und sie schlugen das Buch auf Seite sieben auf, und dann begannen sie mit den Ökosystemen, den Naturhaushalten, den Abhängigkeiten und Wechselbeziehungen unter den Arten, zwischen den Lebewesen und ihrer Umwelt, dem Wirkungs gefüge von Gemeinschaft und Raum. Vom Nahrungsnetz des Mischwaldes kamen sie zur Nahrungskette der Wiese, von den Flüssen zu den Seen und schließlich zur Wüste und zum Wattenmeer.
»Sie sehen, niemand - kein Tier, kein Mensch - kann ganz für sich allein existieren. Zwischen den Lebewesen herrscht Konkurrenz. Und manchmal auch so etwas wie Zusammenarbeit. Aber das ist eher selten. Die wichtigsten Formen des Zusammenlebens sind Konkurrenz und Räuber-Beute-Beziehung.«
Während Inge Lohmark an der Tafel Pfeile von den Moosen, Flechten und Pilzen zu den Regenwürmern und Hirschkäfern, Igeln und Spitzmäusen, dann zur Kohlmeise, zum Reh und zum Habicht, schließlich einen letzten Pfeil zum Wolf zog, entstand nach und nach die Pyramide, auf deren Spitze der Mensch neben ein paar Raubtieren hockte.
»Tatsache ist, dass es kein Tier gibt, das Adler oder Löwen frisst.«
Sie trat einen Schritt zurück, um die ausladende Kreidezeichnung zu betrachten. Das Wirkungspfeilschema vereinte Produzenten mit Konsumenten erster und zweiter Ordnung, Erzeuger mit den Erst-, Zweit- und Drittverbrauchern sowie den unvermeidlichen kleinteiligen Zersetzern, allesamt verbunden in Atmung, dem Verlust von Wärme und Zuwachs von Biomasse. In der Natur hatte alles seinen Platz, und wenn vielleicht auch nicht jedes Lebewesen, so doch zumindest jede Art ihre Bestimmung: fressen und gefressen werden. Es war wunderbar.
»Übertragen Sie das in Ihr Heft.«
Was sie sagte, wurde gemacht.
Das Jahr begann jetzt. Die Juniunruhe war endgültig vorbei, die Zeit der brütenden Hitze und nackten Oberarme. Die Sonne knallte durch die Glasfront und verwandelte das Klassenzimmer in ein Treibhaus. In leeren Hinterköpfen keimte die Sommererwartung. Die bloße Aussicht darauf, ihre Tage nichtsnutzig zu verschwenden, raubte den Kindern jede Konzentration. Mit Schwimmbadaugen, fettiger Haut und schwitzigem Freiheitsdrang hingen sie auf den Stühlen und dösten den Ferien entgegen. Die einen wurden fahrig und unzurechnungsfähig. Andere täuschten wegen des nahenden Zeugnisses Unterwürfigkeit vor und schoben ihre Bio-Leistungskontrollen aufs Lehrerpult wie Katzen erlegte Mäuse auf den Wohnzimmerteppich. Nur um in der nächsten Stunde nach der Benotung zu fragen, mit gezücktem Taschenrechner, begierig darauf, die Verbesserung ihres Durchschnitts auf drei Stellen hinter dem Komma zu berechnen.
Aber Inge Lohmark gehörte nicht zu den Lehrern, die am Ende des Schuljahres einknickten, nur weil sie bald ihr Gegen über verlieren würden. Sie hatte keine Angst davor, so ganz auf sich gestellt in die Bedeutungslosigkeit abzurutschen.
Einige Kollegen wurden, je näher die Sommerpause rückte, von geradezu zärtlicher Nachgiebigkeit heimgesucht. Ihr Unterricht verkam zum hohlen Mitmachtheater. Ein versonnener Blick hier, ein Tätscheln da, Kopf-Hoch-Getue, elendiges Filmeschauen. Eine Inflation guter Noten, der Hochverrat am Prädikat Sehr gut. Und erst die Unsitte, Endjahresnoten abzurunden, um ein paar hoffnungslose Fälle in die nächste Klasse zu hieven. Als ob damit irgendjemandem geholfen wäre. Die Kollegen kapierten einfach nicht, dass sie nur ihrer eigenen Gesundheit schadeten, wenn sie auf die Schüler eingingen. Dabei waren das nichts als Blutsauger, die einem jede Lebensenergie raubten. Sich vom Lehrkörper ernährten, von seiner Zuständigkeit und der Angst, die Aufsichtspflicht zu verletzen. Unentwegt fielen sie über einen her. Mit unsinnigen Fragen, dürftigen Eingebungen und unappetitlichen Vertraulichkeiten. Reinster Vampirismus.
Inge Lohmark ließ sich nicht mehr auslaugen. Sie war dafür bekannt, dass sie die Zügel anziehen und die Leine kurz halten konnte, ganz ohne Tobsuchtsanfall und Schlüsselbundwerferei. Und sie war stolz darauf. Nachlassen konnte man immer noch. Hier und da ein Zuckerbrötchen aus heiterem Himmel.
Wichtig war, den Schülern die Richtung vorzugeben, ihnen Scheuklappen anzulegen, um ihre Konzentrationsfähigkeit zu fördern. Und wenn wirklich mal Unruhe herrschte, brauchte man nur mit den Fingernägeln über die Tafel zu kratzen oder vom Hundebandwurm zu erzählen. Für die Schüler war es ohnehin das Beste, sie in jedem Moment spüren zu lassen, dass sie ihr ausgeliefert waren. Anstatt ihnen vorzugaukeln, sie hätten irgendetwas zu sagen. Bei ihr gab es kein Mit sprache-
recht und keine Wahlmöglichkeit. Niemand hatte eine Wahl. Es gab die Zuchtwahl und sonst nichts.
Das Jahr begann jetzt. Auch wenn es schon längst angefangen hatte. Es begann für sie heute, am ersten September, der dieses Jahr auf einen Montag fiel. Und Inge Lohmark fasste ihre guten Vorsätze jetzt, im verwelkten Sommer, und nicht in der grellen Silvesternacht. Sie war immer froh, dass ihr Schulplaner sie sicher über den kalendarischen Jahreswechsel brachte. Ein einfaches Umblättern, ohne Countdown und Sektglasgeklirre.
Inge Lohmark sah über die drei Bankreihen und bewegte den Kopf dabei nicht einen einzigen Zentimeter. Das hatte sie perfektioniert in all den Jahren: den allmächtigen, unbewegten Blick. Laut Statistik waren immer mindestens zwei dabei, die sich wirklich für das Fach interessierten. Aber wie es aussah, war die Statistik in Gefahr. Gauß'sche Normalverteilung hin oder her. Wie hatten sie es nur bis hierher geschafft?
Man sah ihnen die sechs Wochen Gammelei an. Die Bücher hatte keiner von denen aufgeschlagen. Große Ferien. Nicht mehr ganz so groß wie früher. Aber immer noch zu lang! Es würde mindestens einen Monat dauern, bis man sie wieder an den Biorhythmus der Schule gewöhnt hatte. Wenigstens musste sie sich nicht ihre Geschichten anhören. Die konnten sie der Schwanneke erzählen, die mit jeder neuen Klasse ein Kennenlernspiel veranstaltete. Nach einer halben Stunde waren alle Beteiligten in den Fäden eines roten Wollknäuels verheddert und konnten die Namen und Hobbies ihrer Sitznachbarn aufsagen.
Es waren nur vereinzelt ein paar Plätze besetzt. So fiel erst recht auf, wie wenige es waren. Spärliches Publikum in ihrem Naturtheater: zwölf Schüler - fünf Jungen, sieben Mädchen. Der dreizehnte war wieder zurück auf die Realschule gegangen, obwohl die Schwanneke sich mächtig für ihn ins Zeug gelegt hatte. Mit wiederholten Nachhilfestunden, Hausbesuchen und psychologischem Gutachten. Irgendeine Konzentrationsstörung. Was es nicht alles gab! Lauter angelesene Entwicklungsstörungen. Nach der Leserechtschreibschwäche die Rechenschwäche. Was würde als Nächstes kommen? Eine Biologie-Allergie? Früher gab es nur Unsportliche und Unmusikalische. Und die mussten trotzdem loslaufen und mitsingen. Alles nur eine Frage des Willens.
Es lohnte einfach nicht, die Schwachen mitzuschleifen. Sie waren nur Ballast, der das Fortkommen der anderen behinderte. Geborene Wiederholungstäter. Parasiten am gesunden Klassenkörper. Früher oder später würden die Unterbelichteten ohnehin auf der Strecke bleiben. Es war Empfehlenswert, sie mit der Wahrheit so früh wie möglich zu konfrontieren, anstatt ihnen nach jedem Scheitern eine neue Chance zu geben. Mit der Wahrheit, dass sie die Voraussetzungen dafür, ein vollwertiges, also nützliches Mitglied der Gesellschaft zu werden, einfach nicht mitbrachten. Wozu die Heuchelei? Nicht jeder konnte es schaffen. Warum auch? Blindgänger waren in jedem Jahrgang dabei. Bei manchen konnte man schon froh sein, wenn es gelang, ihnen ein paar grundlegende Tugenden anzutrainieren. Höflichkeit, Pünktlichkeit, Sauberkeit. Es war ein Jammer, dass es keine Kopfnoten mehr gab. Ordnung. Fleiß. Mitarbeit. Betragen. Ein Armutszeugnis für dieses Bildungssystem.
Je später man einen Versager loswurde, desto gefährlicher wurde er. Fing an, seine Mitmenschen zu bedrängen und unberechtigte Forderungen zu stellen: nach vorzeigbaren Abschlussnoten, einer positiven Beurteilung, womöglich sogar nach einem gut bezahlten Arbeitsplatz und einem glücklichen Leben. Das Resultat langjähriger Unterstützung, kurzsichtigen Wohlwollens und fahrlässiger Großherzigkeit. Wer den hoffnungslosen Fällen weismachte, dazuzugehören, der brauchte sich nicht zu wundern, wenn sie irgendwann mit Rohrbomben und Kleinkaliber gewehren in die Schule marschierten, um sich zu rächen für all das, was ihnen jahrelang versprochen und immer wieder vorenthalten wurde. Und dann mit Lichterketten ankommen.
Neuerdings pochte ja jeder auf seine Selbstverwirklichung. Es war lächerlich. Nichts und niemand war gerecht. Eine Gesellschaft schon gar nicht. Nur die Natur vielleicht. Nicht umsonst hatte uns das Prinzip der Auslese zu dem gemacht, was wir heute waren: das Lebewesen mit dem am tiefsten gefurchten Gehirn.
Aber die Schwanneke mit ihrer Integrationswut hatte es wieder nicht lassen können. Was sollte man auch von jemandem erwarten, der aus Bankreihen Buchstaben und aus Stühlen Halbkreise formte: Lange Zeit ein großes U, das ihren Lehrertisch umarmte. Neuerdings war es sogar ein eckiges O, so dass sie mit allen verbunden war und es keinen Anfang und kein Ende mehr gab, sondern nur noch den runden Augenblick, wie sie einmal im Lehrerzimmer kundtat. Von den Elftklässlern ließ sie sich duzen. Karola sollen wir sie nennen, hatte Inge Lohmark eine Schülerin sagen hören. Karola! Meine Güte. Sie waren doch nicht beim Frisör!
Inge Lohmark siezte ihre Schüler ab der neunten Klasse. Es war eine Angewohnheit aus der Zeit, in der sie in diesem Lebensjahr der Jugend geweiht worden waren. Mit Weltall, Erde, Mensch und sozialistischem Nelkenstrauß. Es gab kein wirkungsvolleres Mittel, sie an die eigene Unfertigkeit zu erinnern und sie sich vom Leib zu halten.
Zum professionellen Verhältnis gehörten keine Nähe, kein Verständnis. Armselig, aber begreiflich, wenn Schüler um die Gunst der Lehrer buhlten. Das Kriechen vor dem Machthaber. Unverzeihlich hingegen war es, wie sich Lehrer an Halbwüchsige ranschmissen. Halber Hintern auf dem Lehrerpult. Geklaute Moden und Wörter. Um den Hals bunte Tücher. Blondierte Strähnen. Alles nur, um sich mit ihnen gemein zu machen. Ohne Würde. Den letzten Rest Anstand gaben sie preis für die kurze Illusion einer Gemeinschaft. Allen voran natürlich die Schwanneke mit ihren Lieblingen: tuschelnden Gören, die sie in Pausengespräche verwickelte, und Stimmbruchopfer, vor denen sie glupschäugig und mit Schminklippen die allerbilligste Schlüsselreizshow abzog. Wohl lange nicht in den Spiegel geschaut.
Inge Lohmark hatte keinen Liebling, und sie würde nie einen haben. Das Schwärmen war ein unreifer, fehlgeleiteter Gefühlsüberschwang, eine hormonell bedingte Exaltiertheit, die Heranwachsende befiel. Dem Rockzipfel der Mutter schon entwöhnt, aber den Reizen des anderen Geschlechts noch nicht gewachsen. Ersatzweise wurde ein hilfloser Geschlechtsgenosse oder ein unerreichbarer Volljähriger zum Adressaten unausgegorener Gefühle. Fleckige Wangen. Klebrige Augen. Entzündete Nerven. Eine peinliche Verfehlung, die sich im Normalfall mit der abgeschlossenen Reifung der Keimdrüsen von selbst erledigte. Aber natürlich: Wem die fachliche Kompetenz fehlte, der wurde seinen Unterrichtsstoff nur noch mithilfe sexueller Signale los. Scharwenzelnde Referendare. Sogenannte Lieblingslehrer. Die Schwanneke.
Wie sie auf der Lehrerkonferenz ihr Engagement für den Idioten aus der Achten verteidigt hatte. Die Stirn in Falten geworfen und mit ihrem rot angemalten Mund ins Kollegium gerufen: Wir brauchen schließlich jeden Schüler! Es hätte nur noch gefehlt, dass ausgerechnet sie, die kinderlose Schwanneke, die vor kurzem auch noch von ihrem Mann sitzen gelassen worden war, davon angefangen hätte, dass die Kinder doch unsere Zukunft wären.
Von wegen Zukunft. Diese Kinder hier waren nicht die Zukunft. Genau genommen waren sie die Vergangenheit: Vor ihr saß die neunte Klasse. Es war die letzte, die es am CharlesDarwin-Gymnasium geben sollte und die in vier Jahren ihr Abitur machen würde. Und Inge Lohmark sollte die Klassenlehrerin spielen. Einfach nur Klasse Neun. Sie brauchten keine angehängten Buchstaben mehr, die sie früher von A bis G vergeben hatten. Mit Jahrgängen, so stark wie eine Kompanie im Kriegsfall - jedenfalls zahlenmäßig. Gerade so hatten sie noch mal eine Klasse zusammengekratzt. Fast ein Wunder, war es doch der geburtenschwächste Jahrgang im Bundesland. Für die Klassenstufen danach hatte es nicht mehr gereicht. Auch nicht, als sich herumsprach, dass es das Ende für das Darwin bedeutete, und sich die Kollegen von den drei Regionalschulen darauf einigten, mit den Empfehlungen für die gymnasiale Oberstufe großzügig umzugehen. Die Folge war, dass jedes halbwegs alphabetisierte Kind in den Gymnasiastenstand erhoben wurde.
Eltern, die überzeugt waren, dass ihr Kind entgegen jeder Empfehlung aufs Gymnasium gehörte, hatte es immer gege ben. Aber mittlerweile gab es in dieser Stadt nicht mal mehr genug Eltern.
Nein, diese Kinder hier kamen ihr wirklich nicht vor wie Diamanten auf der Krone der Evolution. Entwicklung war etwas anderes als Wachstum. Dass qualitative und quantitative Veränderung weitestgehend unabhängig voneinander geschah, wurde hier erschreckend eindrücklich demonstriert. Die Natur war nicht gerade schön anzuschauen auf dieser unentschiedenen Schwelle zwischen Kindheit und Adoleszenz. Eine Phase der Entwicklung. Landwirbeltiere im Wachstum. Die Schule ein Gehege. Jetzt kam die schlimme Zeit, das Lüften der Klassenzimmer gegen den Geruch dieser Altersstufe, Moschus und freigesetzte Pheromone, die Enge, die sich langsam ausformenden Körper, schwitzige Kniekehlen, talgige Haut, matte Augen, das unaufhaltsame Wachsen und Wuchern. Es war sehr viel einfacher, ihnen etwas beizubringen, bevor sie geschlechtsreif waren. Und eine echte Herausforderung, zu ergründen, was sich hinter ihren stumpfen Fassaden abspielte: ob sie uneinholbar voraus waren oder ob sie wegen gravierender Umbauten weit hinterherhinkten.
Es fehlte ihnen an jeglichem Bewusstsein für ihren Zustand und erst recht an der Disziplin, ihn zu überwinden. Sie starrten vor sich hin. Apathisch, überfordert, ausschließlich mit sich selbst beschäftigt. Widerspruchslos gaben sie ihrer Trägheit nach. Die Kraft der Erdanziehung schien dreifach auf sie zu wirken. Alles war allergrößte Anstrengung. Jeder Funken Energie, der diesen Körpern zur Verfügung stand, verbrauchte die qualvolle Metamorphose, die der aufwändigen Entpuppung einer Raupe in nichts nachstand. Allerdings wurde nur in seltenen Fällen ein Schmetterling draus.
Das Erwachsenwerden forderte nun einmal diese unförmigen Zwischenformen, an denen sekundäre Geschlechtsmerkmale wie Geschwüre wucherten. Dass die Menschwerdung mühselig gewesen sein musste, wurde einem hier im Zeitraffer vorgeführt. Nicht nur die Ontogenese rekapitulierte die Phylogenese, sondern auch die Pubertät. Sie wuchsen. Tagein, tagaus. In Schüben und über den Sommer, so dass man seine liebe Not hatte, sie überhaupt wiederzuerkennen. Folgsame Mädchen verwandelten sich in hysterische Biester und aufgeweckte Jungs in phlegmatische Proleten. Hinzu kam das plumpe Erproben der Partnerwahl. Nein, originell war die Natur nicht. Aber gerecht. Es war ein krankheitsähnlicher Zustand. Man konnte nur abwarten, dass er vorüberging. Je größer und älter ein Tier werden konnte, desto länger zog sich die Jugend hin. Der Mensch brauchte zu seiner Reifung rund ein Drittel seiner gesamten Lebenszeit. Im Schnitt dauerte es achtzehn Jahre, ehe ein Menschenjunges für sich selbst sorgen konnte. Wolfgang musste für seine Kinder aus erster Ehe sogar noch bis zum siebenundzwanzigsten Lebensjahr zahlen.
Da saßen sie also, die blutigen Lebensanfänger. Spitzten Bleistifte und malten die Tafelpyramide ab, die Köpfe hebend-senkend im Fünfsekundentakt. Noch nicht ausgebildet, aber mit einer dreisten Selbstverständlichkeit, mit einem Absolutheitsanspruch, der schamlos und anmaßend war. Sie waren keine Kinder mehr, die sich ständig überall anlehnen mussten und unter fadenscheinigen Vorwänden die Individual distanz miss achteten, Berührungen erzwangen und einen unverhohlen anstarrten wie Halbstarke im Überlandbus. Das waren junge Erwachsene, bereits zeugungsfähig, aber noch unreif wie zu früh geerntetes Obst. Für sie war Inge Lohmark bestimmt alterslos. Wahrscheinlicher war sogar, dass sie ihnen einfach nur alt vorkam. Ein Zustand, der sich für ihre Schüler nicht mehr ändern würde. Wer jung war, wurde älter. Alt blieb alt. Ihre Halbwertszeit hatte sie längst überschritten. Zum Glück. So blieb sie wenigstens davon verschont, sich vor ihren Augen merklich zu verändern. Ein beruhigender Gedanke. Sie hingegen würde diese Menschen aufwachsen sehen, wie sie andere hatte aufwachsen sehen. Und dieses Wissen machte sie mächtig. Noch waren alle einander zum Verwechseln ähnlich, ein Schwarm auf dem Weg zum Klassenziel. Aber innerhalb kürzester Zeit schon würden sie perfide eigenständig werden, die Fährte aufnehmen und Komplizen finden. Und sie selbst würde anfangen, die lahmen Gäule zu ignorieren, und heimlich auf einen der Vollblüter setzen. Ein paar Mal hatte sie das richtige Gespür gehabt. Ein Pilot war dabei gewesen, eine Meeresbiologin. Gar keine schlechte Ausbeute für eine Stadt in der Provinz.
Ganz vorn hockte ein verschrecktes Pfarrerskind, das mit Holzengeln, Wachsflecken und Blockflötenunterricht aufgewachsen war. In der letzten Reihe saßen zwei aufgedonnerte Gören. Die eine kaute Kaugummi, die andere war besessen von ihrem schwarzen Hengsthaar, das sie pausenlos glättete und strähnchenweise untersuchte. Daneben ein hellblonder Knirps in Grundschulgröße. Ein Trauerspiel, wie die Natur hier die ungleiche Entwicklung der Geschlechter vorführte.
Rechts außen an der Fensterfront kippelte ein Herrentierchen mit offenem Mund, das nur darauf wartete, mit einer ordinären Bemerkung das Revier zu markieren. Fehlte nur noch, dass es sich auf die Brust trommelte. Es musste beschäftigt werden. Vor ihr lag das Blatt, auf dem die Schüler ihre Namen eingetragen hatten, Krakeleien auf dem Weg zu einer rechtsgültigen Unterschrift. Kevin. Klar. Wie sonst. »Kevin! « Kevin schreckte hoch.
»Nennen Sie ein paar Ökosysteme unserer Region!« Sein Vordermann feixte. Na warte.
»Paul, was ist das für ein Baum da draußen?« Paul schaute aus dem Fenster.
»Ähm.« Ein mickriges Räuspern. Fast mitleiderregend. »Danke.« Der war versorgt.
»Das haben wir nicht gehabt«, behauptete Kevin. Dass ihm nichts Besseres einfiel. Ein Gehirn wie ein Hohlorgan.
»Ach ja?« Nun zur ganzen Klasse. Frontalangriff.
»Denken Sie doch alle noch einmal nach.«
Stille. Schließlich meldete sich der Pferdeschwanz in der ersten Reihe, und Inge Lohmark tat ihm den Gefallen. Natürlich wusste sie es. So eine gab es immer. So ein Pferdeschwanzpferdchen, das den Unterrichtskarren aus dem Dreck zog. Für diese Mädchen wurden die Schulbücher geschrieben. Gierig nach abgepacktem Wissen. Merksätze, die sie mit Glitzerstift in ihre Hefte schrieben. Die ließen sich noch einschüchtern vom Rotstift des Lehrers. Albernes Instrument scheinbar grenzenloser Macht.
Sie kannte sie alle. Sie erkannte sie sofort. Schüler wie diese hatte sie schon haufenweise gehabt, klassenweise, Jahr für Jahr. Die brauchten sich nicht einzubilden, sie wären besonders. Es gab keine Überraschungen. Nur die Besetzung wechselte. Wer spielte diesmal mit? Ein Blick auf den Sitzplan genügte. Die Benennung war alles. Jeder Organismus hatte einen Ruf- und Familiennamen: Art. Gattung. Ordnung. Klasse. Aber erst mal wollte sie sich nur ihre Vornamen merken.
© Suhrkamp Verlag Berlin 2011
»Setzen«, sagte Inge Lohmark, und die Klasse setzte sich. Sie sagte »Schlagen Sie das Buch auf Seite sieben auf«, und sie schlugen das Buch auf Seite sieben auf, und dann begannen sie mit den Ökosystemen, den Naturhaushalten, den Abhängigkeiten und Wechselbeziehungen unter den Arten, zwischen den Lebewesen und ihrer Umwelt, dem Wirkungs gefüge von Gemeinschaft und Raum. Vom Nahrungsnetz des Mischwaldes kamen sie zur Nahrungskette der Wiese, von den Flüssen zu den Seen und schließlich zur Wüste und zum Wattenmeer.
»Sie sehen, niemand - kein Tier, kein Mensch - kann ganz für sich allein existieren. Zwischen den Lebewesen herrscht Konkurrenz. Und manchmal auch so etwas wie Zusammenarbeit. Aber das ist eher selten. Die wichtigsten Formen des Zusammenlebens sind Konkurrenz und Räuber-Beute-Beziehung.«
Während Inge Lohmark an der Tafel Pfeile von den Moosen, Flechten und Pilzen zu den Regenwürmern und Hirschkäfern, Igeln und Spitzmäusen, dann zur Kohlmeise, zum Reh und zum Habicht, schließlich einen letzten Pfeil zum Wolf zog, entstand nach und nach die Pyramide, auf deren Spitze der Mensch neben ein paar Raubtieren hockte.
»Tatsache ist, dass es kein Tier gibt, das Adler oder Löwen frisst.«
Sie trat einen Schritt zurück, um die ausladende Kreidezeichnung zu betrachten. Das Wirkungspfeilschema vereinte Produzenten mit Konsumenten erster und zweiter Ordnung, Erzeuger mit den Erst-, Zweit- und Drittverbrauchern sowie den unvermeidlichen kleinteiligen Zersetzern, allesamt verbunden in Atmung, dem Verlust von Wärme und Zuwachs von Biomasse. In der Natur hatte alles seinen Platz, und wenn vielleicht auch nicht jedes Lebewesen, so doch zumindest jede Art ihre Bestimmung: fressen und gefressen werden. Es war wunderbar.
»Übertragen Sie das in Ihr Heft.«
Was sie sagte, wurde gemacht.
Das Jahr begann jetzt. Die Juniunruhe war endgültig vorbei, die Zeit der brütenden Hitze und nackten Oberarme. Die Sonne knallte durch die Glasfront und verwandelte das Klassenzimmer in ein Treibhaus. In leeren Hinterköpfen keimte die Sommererwartung. Die bloße Aussicht darauf, ihre Tage nichtsnutzig zu verschwenden, raubte den Kindern jede Konzentration. Mit Schwimmbadaugen, fettiger Haut und schwitzigem Freiheitsdrang hingen sie auf den Stühlen und dösten den Ferien entgegen. Die einen wurden fahrig und unzurechnungsfähig. Andere täuschten wegen des nahenden Zeugnisses Unterwürfigkeit vor und schoben ihre Bio-Leistungskontrollen aufs Lehrerpult wie Katzen erlegte Mäuse auf den Wohnzimmerteppich. Nur um in der nächsten Stunde nach der Benotung zu fragen, mit gezücktem Taschenrechner, begierig darauf, die Verbesserung ihres Durchschnitts auf drei Stellen hinter dem Komma zu berechnen.
Aber Inge Lohmark gehörte nicht zu den Lehrern, die am Ende des Schuljahres einknickten, nur weil sie bald ihr Gegen über verlieren würden. Sie hatte keine Angst davor, so ganz auf sich gestellt in die Bedeutungslosigkeit abzurutschen.
Einige Kollegen wurden, je näher die Sommerpause rückte, von geradezu zärtlicher Nachgiebigkeit heimgesucht. Ihr Unterricht verkam zum hohlen Mitmachtheater. Ein versonnener Blick hier, ein Tätscheln da, Kopf-Hoch-Getue, elendiges Filmeschauen. Eine Inflation guter Noten, der Hochverrat am Prädikat Sehr gut. Und erst die Unsitte, Endjahresnoten abzurunden, um ein paar hoffnungslose Fälle in die nächste Klasse zu hieven. Als ob damit irgendjemandem geholfen wäre. Die Kollegen kapierten einfach nicht, dass sie nur ihrer eigenen Gesundheit schadeten, wenn sie auf die Schüler eingingen. Dabei waren das nichts als Blutsauger, die einem jede Lebensenergie raubten. Sich vom Lehrkörper ernährten, von seiner Zuständigkeit und der Angst, die Aufsichtspflicht zu verletzen. Unentwegt fielen sie über einen her. Mit unsinnigen Fragen, dürftigen Eingebungen und unappetitlichen Vertraulichkeiten. Reinster Vampirismus.
Inge Lohmark ließ sich nicht mehr auslaugen. Sie war dafür bekannt, dass sie die Zügel anziehen und die Leine kurz halten konnte, ganz ohne Tobsuchtsanfall und Schlüsselbundwerferei. Und sie war stolz darauf. Nachlassen konnte man immer noch. Hier und da ein Zuckerbrötchen aus heiterem Himmel.
Wichtig war, den Schülern die Richtung vorzugeben, ihnen Scheuklappen anzulegen, um ihre Konzentrationsfähigkeit zu fördern. Und wenn wirklich mal Unruhe herrschte, brauchte man nur mit den Fingernägeln über die Tafel zu kratzen oder vom Hundebandwurm zu erzählen. Für die Schüler war es ohnehin das Beste, sie in jedem Moment spüren zu lassen, dass sie ihr ausgeliefert waren. Anstatt ihnen vorzugaukeln, sie hätten irgendetwas zu sagen. Bei ihr gab es kein Mit sprache-
recht und keine Wahlmöglichkeit. Niemand hatte eine Wahl. Es gab die Zuchtwahl und sonst nichts.
Das Jahr begann jetzt. Auch wenn es schon längst angefangen hatte. Es begann für sie heute, am ersten September, der dieses Jahr auf einen Montag fiel. Und Inge Lohmark fasste ihre guten Vorsätze jetzt, im verwelkten Sommer, und nicht in der grellen Silvesternacht. Sie war immer froh, dass ihr Schulplaner sie sicher über den kalendarischen Jahreswechsel brachte. Ein einfaches Umblättern, ohne Countdown und Sektglasgeklirre.
Inge Lohmark sah über die drei Bankreihen und bewegte den Kopf dabei nicht einen einzigen Zentimeter. Das hatte sie perfektioniert in all den Jahren: den allmächtigen, unbewegten Blick. Laut Statistik waren immer mindestens zwei dabei, die sich wirklich für das Fach interessierten. Aber wie es aussah, war die Statistik in Gefahr. Gauß'sche Normalverteilung hin oder her. Wie hatten sie es nur bis hierher geschafft?
Man sah ihnen die sechs Wochen Gammelei an. Die Bücher hatte keiner von denen aufgeschlagen. Große Ferien. Nicht mehr ganz so groß wie früher. Aber immer noch zu lang! Es würde mindestens einen Monat dauern, bis man sie wieder an den Biorhythmus der Schule gewöhnt hatte. Wenigstens musste sie sich nicht ihre Geschichten anhören. Die konnten sie der Schwanneke erzählen, die mit jeder neuen Klasse ein Kennenlernspiel veranstaltete. Nach einer halben Stunde waren alle Beteiligten in den Fäden eines roten Wollknäuels verheddert und konnten die Namen und Hobbies ihrer Sitznachbarn aufsagen.
Es waren nur vereinzelt ein paar Plätze besetzt. So fiel erst recht auf, wie wenige es waren. Spärliches Publikum in ihrem Naturtheater: zwölf Schüler - fünf Jungen, sieben Mädchen. Der dreizehnte war wieder zurück auf die Realschule gegangen, obwohl die Schwanneke sich mächtig für ihn ins Zeug gelegt hatte. Mit wiederholten Nachhilfestunden, Hausbesuchen und psychologischem Gutachten. Irgendeine Konzentrationsstörung. Was es nicht alles gab! Lauter angelesene Entwicklungsstörungen. Nach der Leserechtschreibschwäche die Rechenschwäche. Was würde als Nächstes kommen? Eine Biologie-Allergie? Früher gab es nur Unsportliche und Unmusikalische. Und die mussten trotzdem loslaufen und mitsingen. Alles nur eine Frage des Willens.
Es lohnte einfach nicht, die Schwachen mitzuschleifen. Sie waren nur Ballast, der das Fortkommen der anderen behinderte. Geborene Wiederholungstäter. Parasiten am gesunden Klassenkörper. Früher oder später würden die Unterbelichteten ohnehin auf der Strecke bleiben. Es war Empfehlenswert, sie mit der Wahrheit so früh wie möglich zu konfrontieren, anstatt ihnen nach jedem Scheitern eine neue Chance zu geben. Mit der Wahrheit, dass sie die Voraussetzungen dafür, ein vollwertiges, also nützliches Mitglied der Gesellschaft zu werden, einfach nicht mitbrachten. Wozu die Heuchelei? Nicht jeder konnte es schaffen. Warum auch? Blindgänger waren in jedem Jahrgang dabei. Bei manchen konnte man schon froh sein, wenn es gelang, ihnen ein paar grundlegende Tugenden anzutrainieren. Höflichkeit, Pünktlichkeit, Sauberkeit. Es war ein Jammer, dass es keine Kopfnoten mehr gab. Ordnung. Fleiß. Mitarbeit. Betragen. Ein Armutszeugnis für dieses Bildungssystem.
Je später man einen Versager loswurde, desto gefährlicher wurde er. Fing an, seine Mitmenschen zu bedrängen und unberechtigte Forderungen zu stellen: nach vorzeigbaren Abschlussnoten, einer positiven Beurteilung, womöglich sogar nach einem gut bezahlten Arbeitsplatz und einem glücklichen Leben. Das Resultat langjähriger Unterstützung, kurzsichtigen Wohlwollens und fahrlässiger Großherzigkeit. Wer den hoffnungslosen Fällen weismachte, dazuzugehören, der brauchte sich nicht zu wundern, wenn sie irgendwann mit Rohrbomben und Kleinkaliber gewehren in die Schule marschierten, um sich zu rächen für all das, was ihnen jahrelang versprochen und immer wieder vorenthalten wurde. Und dann mit Lichterketten ankommen.
Neuerdings pochte ja jeder auf seine Selbstverwirklichung. Es war lächerlich. Nichts und niemand war gerecht. Eine Gesellschaft schon gar nicht. Nur die Natur vielleicht. Nicht umsonst hatte uns das Prinzip der Auslese zu dem gemacht, was wir heute waren: das Lebewesen mit dem am tiefsten gefurchten Gehirn.
Aber die Schwanneke mit ihrer Integrationswut hatte es wieder nicht lassen können. Was sollte man auch von jemandem erwarten, der aus Bankreihen Buchstaben und aus Stühlen Halbkreise formte: Lange Zeit ein großes U, das ihren Lehrertisch umarmte. Neuerdings war es sogar ein eckiges O, so dass sie mit allen verbunden war und es keinen Anfang und kein Ende mehr gab, sondern nur noch den runden Augenblick, wie sie einmal im Lehrerzimmer kundtat. Von den Elftklässlern ließ sie sich duzen. Karola sollen wir sie nennen, hatte Inge Lohmark eine Schülerin sagen hören. Karola! Meine Güte. Sie waren doch nicht beim Frisör!
Inge Lohmark siezte ihre Schüler ab der neunten Klasse. Es war eine Angewohnheit aus der Zeit, in der sie in diesem Lebensjahr der Jugend geweiht worden waren. Mit Weltall, Erde, Mensch und sozialistischem Nelkenstrauß. Es gab kein wirkungsvolleres Mittel, sie an die eigene Unfertigkeit zu erinnern und sie sich vom Leib zu halten.
Zum professionellen Verhältnis gehörten keine Nähe, kein Verständnis. Armselig, aber begreiflich, wenn Schüler um die Gunst der Lehrer buhlten. Das Kriechen vor dem Machthaber. Unverzeihlich hingegen war es, wie sich Lehrer an Halbwüchsige ranschmissen. Halber Hintern auf dem Lehrerpult. Geklaute Moden und Wörter. Um den Hals bunte Tücher. Blondierte Strähnen. Alles nur, um sich mit ihnen gemein zu machen. Ohne Würde. Den letzten Rest Anstand gaben sie preis für die kurze Illusion einer Gemeinschaft. Allen voran natürlich die Schwanneke mit ihren Lieblingen: tuschelnden Gören, die sie in Pausengespräche verwickelte, und Stimmbruchopfer, vor denen sie glupschäugig und mit Schminklippen die allerbilligste Schlüsselreizshow abzog. Wohl lange nicht in den Spiegel geschaut.
Inge Lohmark hatte keinen Liebling, und sie würde nie einen haben. Das Schwärmen war ein unreifer, fehlgeleiteter Gefühlsüberschwang, eine hormonell bedingte Exaltiertheit, die Heranwachsende befiel. Dem Rockzipfel der Mutter schon entwöhnt, aber den Reizen des anderen Geschlechts noch nicht gewachsen. Ersatzweise wurde ein hilfloser Geschlechtsgenosse oder ein unerreichbarer Volljähriger zum Adressaten unausgegorener Gefühle. Fleckige Wangen. Klebrige Augen. Entzündete Nerven. Eine peinliche Verfehlung, die sich im Normalfall mit der abgeschlossenen Reifung der Keimdrüsen von selbst erledigte. Aber natürlich: Wem die fachliche Kompetenz fehlte, der wurde seinen Unterrichtsstoff nur noch mithilfe sexueller Signale los. Scharwenzelnde Referendare. Sogenannte Lieblingslehrer. Die Schwanneke.
Wie sie auf der Lehrerkonferenz ihr Engagement für den Idioten aus der Achten verteidigt hatte. Die Stirn in Falten geworfen und mit ihrem rot angemalten Mund ins Kollegium gerufen: Wir brauchen schließlich jeden Schüler! Es hätte nur noch gefehlt, dass ausgerechnet sie, die kinderlose Schwanneke, die vor kurzem auch noch von ihrem Mann sitzen gelassen worden war, davon angefangen hätte, dass die Kinder doch unsere Zukunft wären.
Von wegen Zukunft. Diese Kinder hier waren nicht die Zukunft. Genau genommen waren sie die Vergangenheit: Vor ihr saß die neunte Klasse. Es war die letzte, die es am CharlesDarwin-Gymnasium geben sollte und die in vier Jahren ihr Abitur machen würde. Und Inge Lohmark sollte die Klassenlehrerin spielen. Einfach nur Klasse Neun. Sie brauchten keine angehängten Buchstaben mehr, die sie früher von A bis G vergeben hatten. Mit Jahrgängen, so stark wie eine Kompanie im Kriegsfall - jedenfalls zahlenmäßig. Gerade so hatten sie noch mal eine Klasse zusammengekratzt. Fast ein Wunder, war es doch der geburtenschwächste Jahrgang im Bundesland. Für die Klassenstufen danach hatte es nicht mehr gereicht. Auch nicht, als sich herumsprach, dass es das Ende für das Darwin bedeutete, und sich die Kollegen von den drei Regionalschulen darauf einigten, mit den Empfehlungen für die gymnasiale Oberstufe großzügig umzugehen. Die Folge war, dass jedes halbwegs alphabetisierte Kind in den Gymnasiastenstand erhoben wurde.
Eltern, die überzeugt waren, dass ihr Kind entgegen jeder Empfehlung aufs Gymnasium gehörte, hatte es immer gege ben. Aber mittlerweile gab es in dieser Stadt nicht mal mehr genug Eltern.
Nein, diese Kinder hier kamen ihr wirklich nicht vor wie Diamanten auf der Krone der Evolution. Entwicklung war etwas anderes als Wachstum. Dass qualitative und quantitative Veränderung weitestgehend unabhängig voneinander geschah, wurde hier erschreckend eindrücklich demonstriert. Die Natur war nicht gerade schön anzuschauen auf dieser unentschiedenen Schwelle zwischen Kindheit und Adoleszenz. Eine Phase der Entwicklung. Landwirbeltiere im Wachstum. Die Schule ein Gehege. Jetzt kam die schlimme Zeit, das Lüften der Klassenzimmer gegen den Geruch dieser Altersstufe, Moschus und freigesetzte Pheromone, die Enge, die sich langsam ausformenden Körper, schwitzige Kniekehlen, talgige Haut, matte Augen, das unaufhaltsame Wachsen und Wuchern. Es war sehr viel einfacher, ihnen etwas beizubringen, bevor sie geschlechtsreif waren. Und eine echte Herausforderung, zu ergründen, was sich hinter ihren stumpfen Fassaden abspielte: ob sie uneinholbar voraus waren oder ob sie wegen gravierender Umbauten weit hinterherhinkten.
Es fehlte ihnen an jeglichem Bewusstsein für ihren Zustand und erst recht an der Disziplin, ihn zu überwinden. Sie starrten vor sich hin. Apathisch, überfordert, ausschließlich mit sich selbst beschäftigt. Widerspruchslos gaben sie ihrer Trägheit nach. Die Kraft der Erdanziehung schien dreifach auf sie zu wirken. Alles war allergrößte Anstrengung. Jeder Funken Energie, der diesen Körpern zur Verfügung stand, verbrauchte die qualvolle Metamorphose, die der aufwändigen Entpuppung einer Raupe in nichts nachstand. Allerdings wurde nur in seltenen Fällen ein Schmetterling draus.
Das Erwachsenwerden forderte nun einmal diese unförmigen Zwischenformen, an denen sekundäre Geschlechtsmerkmale wie Geschwüre wucherten. Dass die Menschwerdung mühselig gewesen sein musste, wurde einem hier im Zeitraffer vorgeführt. Nicht nur die Ontogenese rekapitulierte die Phylogenese, sondern auch die Pubertät. Sie wuchsen. Tagein, tagaus. In Schüben und über den Sommer, so dass man seine liebe Not hatte, sie überhaupt wiederzuerkennen. Folgsame Mädchen verwandelten sich in hysterische Biester und aufgeweckte Jungs in phlegmatische Proleten. Hinzu kam das plumpe Erproben der Partnerwahl. Nein, originell war die Natur nicht. Aber gerecht. Es war ein krankheitsähnlicher Zustand. Man konnte nur abwarten, dass er vorüberging. Je größer und älter ein Tier werden konnte, desto länger zog sich die Jugend hin. Der Mensch brauchte zu seiner Reifung rund ein Drittel seiner gesamten Lebenszeit. Im Schnitt dauerte es achtzehn Jahre, ehe ein Menschenjunges für sich selbst sorgen konnte. Wolfgang musste für seine Kinder aus erster Ehe sogar noch bis zum siebenundzwanzigsten Lebensjahr zahlen.
Da saßen sie also, die blutigen Lebensanfänger. Spitzten Bleistifte und malten die Tafelpyramide ab, die Köpfe hebend-senkend im Fünfsekundentakt. Noch nicht ausgebildet, aber mit einer dreisten Selbstverständlichkeit, mit einem Absolutheitsanspruch, der schamlos und anmaßend war. Sie waren keine Kinder mehr, die sich ständig überall anlehnen mussten und unter fadenscheinigen Vorwänden die Individual distanz miss achteten, Berührungen erzwangen und einen unverhohlen anstarrten wie Halbstarke im Überlandbus. Das waren junge Erwachsene, bereits zeugungsfähig, aber noch unreif wie zu früh geerntetes Obst. Für sie war Inge Lohmark bestimmt alterslos. Wahrscheinlicher war sogar, dass sie ihnen einfach nur alt vorkam. Ein Zustand, der sich für ihre Schüler nicht mehr ändern würde. Wer jung war, wurde älter. Alt blieb alt. Ihre Halbwertszeit hatte sie längst überschritten. Zum Glück. So blieb sie wenigstens davon verschont, sich vor ihren Augen merklich zu verändern. Ein beruhigender Gedanke. Sie hingegen würde diese Menschen aufwachsen sehen, wie sie andere hatte aufwachsen sehen. Und dieses Wissen machte sie mächtig. Noch waren alle einander zum Verwechseln ähnlich, ein Schwarm auf dem Weg zum Klassenziel. Aber innerhalb kürzester Zeit schon würden sie perfide eigenständig werden, die Fährte aufnehmen und Komplizen finden. Und sie selbst würde anfangen, die lahmen Gäule zu ignorieren, und heimlich auf einen der Vollblüter setzen. Ein paar Mal hatte sie das richtige Gespür gehabt. Ein Pilot war dabei gewesen, eine Meeresbiologin. Gar keine schlechte Ausbeute für eine Stadt in der Provinz.
Ganz vorn hockte ein verschrecktes Pfarrerskind, das mit Holzengeln, Wachsflecken und Blockflötenunterricht aufgewachsen war. In der letzten Reihe saßen zwei aufgedonnerte Gören. Die eine kaute Kaugummi, die andere war besessen von ihrem schwarzen Hengsthaar, das sie pausenlos glättete und strähnchenweise untersuchte. Daneben ein hellblonder Knirps in Grundschulgröße. Ein Trauerspiel, wie die Natur hier die ungleiche Entwicklung der Geschlechter vorführte.
Rechts außen an der Fensterfront kippelte ein Herrentierchen mit offenem Mund, das nur darauf wartete, mit einer ordinären Bemerkung das Revier zu markieren. Fehlte nur noch, dass es sich auf die Brust trommelte. Es musste beschäftigt werden. Vor ihr lag das Blatt, auf dem die Schüler ihre Namen eingetragen hatten, Krakeleien auf dem Weg zu einer rechtsgültigen Unterschrift. Kevin. Klar. Wie sonst. »Kevin! « Kevin schreckte hoch.
»Nennen Sie ein paar Ökosysteme unserer Region!« Sein Vordermann feixte. Na warte.
»Paul, was ist das für ein Baum da draußen?« Paul schaute aus dem Fenster.
»Ähm.« Ein mickriges Räuspern. Fast mitleiderregend. »Danke.« Der war versorgt.
»Das haben wir nicht gehabt«, behauptete Kevin. Dass ihm nichts Besseres einfiel. Ein Gehirn wie ein Hohlorgan.
»Ach ja?« Nun zur ganzen Klasse. Frontalangriff.
»Denken Sie doch alle noch einmal nach.«
Stille. Schließlich meldete sich der Pferdeschwanz in der ersten Reihe, und Inge Lohmark tat ihm den Gefallen. Natürlich wusste sie es. So eine gab es immer. So ein Pferdeschwanzpferdchen, das den Unterrichtskarren aus dem Dreck zog. Für diese Mädchen wurden die Schulbücher geschrieben. Gierig nach abgepacktem Wissen. Merksätze, die sie mit Glitzerstift in ihre Hefte schrieben. Die ließen sich noch einschüchtern vom Rotstift des Lehrers. Albernes Instrument scheinbar grenzenloser Macht.
Sie kannte sie alle. Sie erkannte sie sofort. Schüler wie diese hatte sie schon haufenweise gehabt, klassenweise, Jahr für Jahr. Die brauchten sich nicht einzubilden, sie wären besonders. Es gab keine Überraschungen. Nur die Besetzung wechselte. Wer spielte diesmal mit? Ein Blick auf den Sitzplan genügte. Die Benennung war alles. Jeder Organismus hatte einen Ruf- und Familiennamen: Art. Gattung. Ordnung. Klasse. Aber erst mal wollte sie sich nur ihre Vornamen merken.
© Suhrkamp Verlag Berlin 2011
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Autoren-Porträt von Judith Schalansky
Schalansky, JudithJudith Schalansky, 1980 in Greifswald geboren, studierte Kunstgeschichte und Kommunikationsdesign. Ihr Werk, darunter der international erfolgreiche Bestseller Atlas der abgelegenen Inseln sowie der Roman Der Hals der Giraffe, ist in mehr als 20 Sprachen übersetzt und wurde vielfach ausgezeichnet. Sie ist Herausgeberin der Naturkunden und lebt als Gestalterin und freie Schriftstellerin in Berlin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Judith Schalansky
- 2011, 8. Aufl., 224 Seiten, 20 Abbildungen, Maße: 13 x 20,6 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Suhrkamp
- ISBN-10: 3518421778
- ISBN-13: 9783518421772
- Erscheinungsdatum: 12.09.2011
Rezension zu „Der Hals der Giraffe “
»Ein Kunststück - für die bundesdeutsche Literatur seit 1989 - von geradezu historischen Dimensionen gelang Judith Schalansky mit Der Hals der Giraffe - der erste in Ostdeutschland spielende Roman, der fast völlig ohne die üblichen, wie aus dem Gruselkabinett des Kalten Krieges am Checkpoint Charlie ausgeborgt wirkenden, DDR-Versatzstücke auskommt. Dass sie damit nicht nur bei der Kritik, sondern auch bei den Lesern viel Erfolg hatte, zeigt: Auch wer literarisch mehr riskiert als die bloße Erfüllung von Erwartungshaltungen, kann es auf die Bestsellerliste bringen.«
Kommentar zu "Der Hals der Giraffe"
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