Der Himmel auf ihren Schultern
Roman
Ein dunkles Geheimnis schweißt sie zusammen - Enkel und Großvater sind unzertrennlich. Doch dann stirbt der Großvater. Der Enkel reist in dessen Vergangenheit und findet nördlich des Polarkreises eine grausame Wahrheit. Im stalinistischen Russland war der...
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Produktinformationen zu „Der Himmel auf ihren Schultern “
Klappentext zu „Der Himmel auf ihren Schultern “
Ein dunkles Geheimnis schweißt sie zusammen - Enkel und Großvater sind unzertrennlich. Doch dann stirbt der Großvater. Der Enkel reist in dessen Vergangenheit und findet nördlich des Polarkreises eine grausame Wahrheit. Im stalinistischen Russland war der Großvater Kommandant eines Gefangenenlagers. Wie konnte er all die Jahre mit dieser Last auf seinen Schultern leben? Rettete ihn seine tiefe Liebe zum Enkel? In einer kraftvoll poetischen Sprache erzählt Lededew von Russlands Hölle, einem Ort, an dem das Leben endet und das Sterben ewig weitergeht.Die neue Stimme aus Russland - dieser packende Roman brennt sich tief in die Seele ein.
Lese-Probe zu „Der Himmel auf ihren Schultern “
Der Himmel auf Ihren Schultern von Sergej LebedewI
Ich stehe am Rand von Europa. Oberhalb des Ozeans zeigt sich im Steilhang der gelbe Felsknochen und die ocker bis purpurne, fleischartige Erde. Der Knochen bröckelt unter den Wellen, am Erdkörper nagt die Flut.
Der Ozean ist so riesig, dass das Auge ihn nicht fassen kann; er scheint sich dem Betrachter entgegenzuwerfen, als wolle er ihm die Pupillen wie Bullaugen eines Schiffs ausreißen, um sich im Innern zu ergießen und den Verstand zu überfluten. Nur wenige Gedanken würden sich gleich den Vulkanspitzen von Madeira und den Kanarischen Inseln über die Gewässer erheben. Es sind Gedanken über die großartige Anziehungskraft der Leere am Horizont, die überwunden werden will, damit sich wie Atlantis kraft der Imagination ein neuer Kontinent aus den Gewässern erhebt, auf dem alles noch unerforscht ist, ein Land, das weder Kompass noch Kartographenzirkel kennt.
Hier endet Europa. Das Ufer schwindet, als zöge sich der Kontinent zusammen, und ich spüre zum ersten Mal, dass die Weltinsel keine Erfindung von englisch-romantischen Geopolitikern des vergangenen Jahrhunderts ist. Ich fühle ihre Grenze, die sich mit der Uferlinie deckt.
Ich bin aus Taiga und Tundra hierhergekommen, um die Felsen von Gibraltar zu sehen und die Welt kennenzulernen, die Atlas wie auch das düstere Firmament meiner Heimat trägt. Für jemanden, der in Russland geboren wurde, ist hier immer noch das Ende der bewohnbaren Welt, der Oikumene, wie die alten Griechen meinten.
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Das Ufer bedeutet eine Herausforderung: Erst hinter den gesichtslosen Gewässern des Ozeans liegt ein neues, anderes Leben. Das Festland ist Stetigkeit, der Ozean jedoch bedeutet eine Unterbrechung dieser Stetigkeit, er verlangt nach geistiger Anstrengung und einem hehren Ziel, um dessentwillen man sich von der gewohnten Festigkeit der Erde lossagt und das schwankende Deck betritt.
Ich stehe auf einer Grenzlinie, von hier aus kann man nur dann voranschreiten, wenn man sie leichten und freien Herzens betreten hat. Aber ich bin erfüllt von der Erinnerung an eine Landschaft, die sich zum Polarkreis hin erstreckt, mit ihrer Stummheit, die es nach Wörtern dürstet, vom Weiß des gleißend hellen Schnees - dem Weiß eines unberührten Blatt Papiers - und vom Schwarz der glänzenden Kohle, die sich in Flammenhitze verwandeln will - dem Schwarz der Nacht, dem Schwarz des Schachts, wo die Luft weder Menschenatem noch Morgenlicht kennt.
Darum liegt für mich an dieser Grenzlinie der Welt mein Ziel nicht vor, sondern hinter mir: Ich muss zurückkehren. Meine Reise ist beendet, ich muss den Rückweg antreten - im Wort.
Ich fühle - diese Empfindung überkommt mich jäh, auch wenn sie lang gereift ist -, dass ich mehr Europäer bin als die Bewohner des Landes, das zum Atlantik hinausweist wie ein Balkon zur Straße.
Ich war am anderen Ende Europas, das mit steilen Felsenstufen vor den westsibirischen Sümpfen jäh abreißt, und sah die dunklen Hinterhöfe des europäischen Kontinents, seine finnougrischen Kemenaten, sein Hinterland. Ich stand an den Polarbergen des Urals, wo sich Europa und Asien begegnen. Am europäischen Hang wachsen nur kleine, durch die Luftströmungen gewundene Polarbirken, am asiatischen Hang hingegen hohe, mächtige Zedern, die mit ihren Wurzeln das Gestein aufreißen. Und im Himmel über den Bergen prallen die Gewitterfronten zweier großer Ebenen aufeinander.
Wo die Lebenskräfte Europas nachlassen und nur für Rentierflechte und Moos reichen, während von der anderen Seite des Gebirgskamms der dichte, asiatische Wald herüberzuquellen droht - ausgerechnet dort fühlte ich mich zum ersten Mal als Europäer. Die Naht zwischen diesen beiden Welten - der Ural - lehrte mich, das Eigene vom Fremden zu unterscheiden, denn auf einer Naht, auf einer Fuge, spitzen sich die Empfindungen zu, kommt es nicht nur zu geistigen, sondern auch physiologischen Erkenntnissen: Mit der Kehle, dem Magen, mit der gesamten Ausdehnung des Darms fühlt man, dass man gerade das fremde Wasser eines asiatischen Flusses getrunken hat, und dieses fremde Wasser mischt sich nicht mit dem, das bereits im Körper war.
Auf diesem Gebirgsrücken wurde mir in Gedanken, im Gespräch oder beim Versuch, etwas aufzuschreiben, klar: Ich hatte eine Sprachgrenze betreten. Auf der asiatischen Seite müsste man einige Anstrengungen aufbringen, um die Dinge zu benennen. Sie scheinen sich einer Bezeichnung zu entziehen. Die eigene Sprache kann sie verwalten, kann ihnen Namen aufzwingen, und sie werden sich fügen. Wer aber ein Gespür dafür hat, ob eine Sprache tot oder lebendig ist, der merkt, dass es sich um linguistische Kolonisierung handelt. Tanne und Kiefer sind für mich Tanne und Kiefer, aber diese Benennungen bleiben ihrem eigentlichen Wesen fremd, das nach einem anders klingenden Wort verlangt und nur darauf harmonisch reagiert.
Die Sprachgrenze. Das Ende der europäischen Welt. Dahinter kommt nur noch die Ebene der sibirischen Sümpfe. Hier erfährt man, was Stummheit wirklich bedeutet. Man kann etwas sagen, aber die Welt gibt einem kein Echo. Und man begreift: Heimat ist die eigene Sprache. Ihre Vorzüge und Unzulänglichkeiten sind auch die eigenen, nicht wegzudenkenden Vorzüge und Unzulänglichkeiten. Außerhalb der eigenen Sprache existiert man nicht.
Ich muss daran denken, wie ich einmal im eisigen Frühjahr in einem Dorf gewesen war: Bauernkaten, auf denen grauer Schnee lastete, hart gewordene Spuren von Filzstiefeln und Kufen auf den Wegen, ein unwilliges Erwachen nach dem Winter - im Haus war die Luft noch trüb von wirren Winterträumen, die nach Kalkofen und Filzstiefeln riechen.
Im Dorf war kurz zuvor die Schule geschlossen worden, es gab zu wenig Schüler. Das Schulgebäude, eine alte Villa, hatte man mit Brettern vernagelt. Die Schule stand auf einem weithin sichtbaren Hügel, und das Dorf lebte schon einige Monate mit dem Blick auf das wie nach einer Kapitulation verlassene, ehemalige Gutshaus.
Hinter dem Lattenzaun der Schule ragte das Denkmal eines Kosmonauten hervor, als sei dieser hier gelandet und wegen seiner Unbrauchbarkeit im Haushalt auf einen Sockel gestellt und mit der silbernen Farbe eines Raumfahrtanzugs angestrichen worden. Ungeachtet der Kälte, die alle Ausdünstungen abtötete, roch es im Schulgebäude nach feuchten Tapeten und Mäusen. Am Ofen im Flur saß auf einem Hocker der Hausmeister - ein Mensch aus Filzstiefeln, Wattehosen, einer Steppjacke und einer Ohrenmütze. Die Dielenbretter knarzten, und es schien, als sei es Kreide, die über eine ausgewischte Tafel knarzt. Durch die Schlüssellöcher konnte man Bänke und Stühle erkennen - unförmig und schwer, genauso wie Schulranzen. Auf einer der Bänke lag ein Lineal, als habe die Lehrerin es liegenlassen und käme gleich zurück.
Der Hausmeister saß am Ofen. An der Wand stapelten sich zerlesene, vollgekritzelte Schulbücher, die durch viele Schülerhände gegangen waren - »Heimatsprache«, vierte Klasse. Der Hausmeister nahm ein Buch nach dem anderen, riss den Umschlag in Stücke, zerknüllte die Seiten, damit sie besser Feuer fingen, und warf sie in den Ofen. »Die Schule wurde geschlossen «, sagte er. »Brennholz bekommen wir nicht. Nun heizen wir so, die Leitungen dürfen nicht einfrieren. Die Bibliothek ist groß, bis April reicht es.«
Der Ofen der geschlossenen Schule wurde mit der russischen Sprache geheizt. Wie sehr hatten wir in unserer Kindheit diese Bücher gehasst, diese »Fragen zum Text«, die hervorgehobenen Absätze »Überprüfe dich selbst«, die vergrößerte, sanfte Schrift, die so rund war wie die Ecken an den Schulbänken, damit die Kinder sich nicht an ihnen verletzten. Und nun hätte ich am liebsten geheult, denn all das hatte keine Bedeutung mehr, so wie eine Kränkung gegenüber wahrhaftigem Leid bedeutungslos wird.
In diesem Wolgadorf inmitten der von jungen Birken bewachsenen Felder begriff ich, welche Bedeutung für einen Menschen - ohne jegliche Schulmeisterlichkeit und Anführungszeichen - seine Heimatsprache hat.
Birken, Schnee, Brennholz, Himmel, Wege, Feuer, Rauch, Frost - ich wiederholte für mich diese Wörter, an die ich mich fast so lang erinnerte wie an mich selbst. Birken, Schnee, Brennholz, Himmel, Wege, Feuer, Rauch, Frost - die Wörter wuchsen, sie waren Materie, so wie Energie Materie ist. Sie klangen symphonisch, eines durch das andere hindurch, aber ohne sich zu vermischen. Der Frost war frostig, das Feuer feurig, der Rauch rauchig. Das war meine Empfindung damals in diesem verschneiten Dorf, wo die Bücherasche das weiße Dach der Schule mit Flecken überzog - die Schulbücher brannten rauchstark, und die Asche war metallisch und fettig von der zähflüssigen Druckerfarbe.
Ich begriff, dass die russische Sprache meine Heimat ist. Diejenigen, die sie bevölkern, sind meine Mitbürger. Worüber ich nun schreibe, dazu gibt mir nicht die Erinnerung das Recht, sondern die Sprache. Die Sprache lebt von dem, was durch sie gesagt werden muss.
An diesem Rand von Europa sehe ich Menschen am Strand, die so schön sind wie die Nereiden oder Dryaden der griechischen Mythologie, in denen der Mensch mit einem Tier oder einer Pflanze zu einem unsterblichen Wesen vereinigt ist. In der rein menschlichen Schönheit liegt Verletzlichkeit und ein Vorgefühl des Sterbens, die ihre Individualität ausmachen. Aber die Schönheit einer Pflanze oder eines Tiers hat nichts Tragisches, bei ihnen wird das Individuelle durch ihre Gattung ersetzt. Auch die Badenden am Strand sind Delphinen oder Orchideen ähnlich: Bewegung, Erblühen, Ruhe, Schlummer, Innehalten. Doch kaum geht die Sonne unter, sind sie fort und werden nie erfahren, dass der Strand in der Abenddämmerung allzu sehr dem Staub von Pompeji ähnelt - die Flut glättet den abgekühlten Sand und tilgt die Abdrücke von Schenkeln, Ellbogen, Fersen.
Ich sehe Golfspieler, die endlos die Lektion der kartesischen Geometrie wiederholen, die Lektion der Artikulation des Raums, sein Einfangen in das Netz der Koordinaten. Ich stelle sie mir inmitten der Tundra mit Ball und Golfschlägern vor - sie müssten vor Erstaunen erstarren. Hier gibt es so viel Raum, dass nicht einmal ihre Vorstellung ihn beherrschen kann. Sie lassen ab von ihrem Spiel, zerstreuen sich in verschiedene Richtungen, um zu prüfen, ob das, was sie sehen, keine Kulisse ist. Nie wieder finden sie zusammen, denn dort, wo statistisch gesehen auf einen Quadratkilometer weniger als ein Hundertstel Mensch kommt, zersplittern sie in diese Hundertstel und Tausendstel, verlieren sich als dritte oder vierte Ziffer hinter dem Komma als Messtoleranz.
Ich sehe den glatten Asphalt einer Chaussee - und muss an eine Landstraße im Norden denken, die zu einer Goldmine führte. Über sie rollten die LKWs der Aufseher, Geländefahrzeuge und Bulldozer. Der Straßenrand war gesättigt von Dieselabgasen, verhärtet zu einer öligen Schicht, die unter den Stiefeln knackte. Die gewaltigen Autos fuhren einzeln und in Kolonnen, und aus den hohen Fahrerhäuschen konnte man sehen, wie Tundrahasen vor dem Motorenlärm davonliefen, Rebhühner aufflogen, Fische die Bäche aufwärts schwammen und dabei den Schlamm aufwühlten. Die Niederung, die nur schwindsüchtige Bäume hervorbrachte, schien zu erstarren beim Anblick der Profilreifen und der glänzenden Bulldozermesser, die die Moos- und Beerenfelder zu zerstampfen und den feinen Boden aufzureißen drohten.
Dann tauchte hinter einem steilen Gefälle der große Zaren- Pfuhl auf, wie ihn die Fahrer nannten. Die einen sagten, der Ort sei von Schamanen verflucht, die sich dafür rächen wollten, dass man in den heiligen Berg Stollen zur Goldsuche gegraben hatte. Andere behaupteten, es habe hier eine Rentierseuche gegeben. Einer dritten Meinung zufolge war hier ein ganzer Transport mit einigen Hundert Häftlingen im Schneegestöber umgekommen, die man in den vierziger Jahren zu einer Mine getrieben hatte. Eigentlich waren die Fahrer ein hartgesottenes Volk, weder abergläubisch noch gottesfürchtig, aber mit dem menschlichen Verstand war dem Anblick des Zaren-Pfuhls tatsächlich nicht beizukommen. Es hatte den Anschein, als sei dieser Ort auf besondere Weise gezeichnet, als habe er einen schrecklichen und rachsüchtigen Charakter, der im Winter und in der Sommerhitze schlief, aber mit der Schneeschmelze oder bei Dauerregen erwachte.
Man konnte den Zaren-Pfuhl nicht umfahren. Der lange Streifen sumpfigen Bodens, der mit dem Wasser des tauenden Permafrostbodens getränkt war, zog sich über hundert Kilometer zwischen zwei Hügelketten. Wenn sich die Fahrzeuge dem Zaren- Pfuhl näherten und bremsten, eröffnete sich die Aussicht auf einen tragischen Ort. Die Erde ringsum schien zu schwanken, alles war von modrigem, rostbraunem Wasser überflutet, und daraus ragten von Kettenraupen zerstörte Balken und Bretter, von Eisen zerkratzte Steine, zerquetschte Tonnen, mit denen jemand den Pfuhl hatte überbrücken wollen, sowie schwindende kleine Kies- und Sandinseln hervor - alles Spuren der Versuche, einen Steg über das Loch in der Erde zu legen. Weiter entfernt stach ein Traktorenfahrerhäuschen mit abgeblätterter Farbe aus dem Sumpf heraus, und ein Hebekran ragte wie ein verbogener Pfeil hervor. An den Ufern des Pfuhls war ein wunderlicher Wald gewachsen. Dutzende in den Boden gerammte Eisenrohre und Betonpfähle, von denen ein Teil umgestoßen war - an sie hatte man Schlingen von Hebewinden steckengebliebener Fahrzeuge befestigt. Auch ausgefranste, gerissene Taue mit Dutzenden Knoten lagen hier, die dem Würgegriff des Pfuhls nicht standgehalten hatten. Trat man näher heran - vorsichtig auftretend, damit die Stiefel nicht in der trocknenden, klebrigen Brühe versanken -, konnte man die Spuren verzweifelter Versuche eines Übersetzens sehen, aus einer Zeit, als man in den Minen die Arbeit wegen Mangel an Brennmaterial, Sprengstoff und Lebensmitteln einstellen musste. Ein Unwetter hatte am Flughafen die Hubschrauber auf den Landeplatz niedergedrückt, und so hatten die Vorgesetzten zwei oder drei Fahrzeuge auf den Weg geschickt und den Fahrern alles Mögliche versprochen, wenn sie die Fracht an ihren Bestimmungsort brächten.
Auf diese Weise hatte sich unter den Fahrern die Kaste der Pfuhlexperten herausgebildet, Auguren des Nordens, die ihre Weissagungen nach dem Wasserstand und den Tierfährten auf der Oberfläche des Pfuhls machten - man ging davon aus, dass ein Elch oder Reh immer den trockensten Weg wählt. Sie hatten an einer weit entfernten Stelle riskiert überzusetzen, und es hatte danach lange gedauert, sie mit Traktoren ans Ufer zurückzuziehen. Die meisten aber hatten versucht, über die alte Fahrrinne überzusetzen. Die Spuren dieser Überfahrten waren auch am Rand des Pfuhls zu sehen: verstreute Konservendosen, von Rädern in den Boden gedrückte Wattejacken, Bretter von den Seitenwänden der Fahrzeuge, Blechteile, mit denen die Planwagen der Wachmannschaften beschlagen gewesen waren, Bänke, Öfen - alles war in die Rinne geworfen worden, um sie befahrbar zu machen, und alles hatte der Pfuhl beständig verschlungen. Manchmal blähte er sich auf, und an seiner Oberfläche tauchten vermoderte, von den Verdauungssäften der Erde zersetzte Leichengegenstände auf. Würgend stieß der Pfuhl Zelttuch, Schiefer und aneinanderklebende Bohrrohre hervor, verlötet zu einem gigantischen Abbild entwurzelter Baumstümpfe. Er spie Müll, Flaschen und Tüten, würgte an einem mit Erdklumpen vermengten Skelett eines Fuchses, den die Essensreste angelockt hatten. Und ein oder zwei Tage später schluckte der Pfuhl allen Auswurf wieder herunter.
Wenn eine Kolonne am Pfuhl angekommen war, rauchten die Fahrer lange, und die Passagiere zerstreuten sich in alle Richtungen. Der Pfuhl zog einen seltsam an, zwang zur unablässigen Beobachtung, als sei er ein feuerspeiender Vulkan oder ein Wasserfall. In ihm zeigte die Erde ihre feuchte, bebende, gierige Natur. Es war ein Schlund ohne Mund, ein aufgepflügter, offener Schoß. Der Pfuhl schaute die Menschen nicht an, im Gegenteil, er saugte ihre Blicke auf, wie er die menschlichen Anstrengungen und die Mühen der Fahrzeuge in sich aufnahm. Er schien keinen Grund zu haben, sonst hätte sich an seiner Stelle schon längst ein Berg von Balken, Sand und Kies gebildet. In der Strömung der flüssigen Erde bewegten sich tief unten langsam die versunkenen Traktorenraupen, Autoreifen, Fässer, Taue, Hebewinden, Bretter, Spaten, Brechstangen, Pumpenschläuche, öldurchtränkte Wattejacken und Fausthandschuhe voran
- ein ganzer Kosmos untergegangener Gegenstände, in dessen strenge Form der menschliche Verstand alles gelegt hatte, was er dieser jegliche Formen zurückweisenden Elementarkraft entgegenstellen und in den Kampf schicken konnte - um sich schließlich ohnmächtig zurückzuziehen, während der Schoß des Pfuhls immer weiter anschwoll von all dem, was er verschlungen hatte.
Ich sehe einen Schäferhund, den ein Mann an einer Leine das Ufer entlangführt. Dem Hund ist heiß, linkisch tapst er über die erhitzten Steinplatten und hechelt närrisch, wobei er seine rosige, blau geäderte Zunge heraushängen lässt. Er ist bedauernswert, dieser Hund, überfüttert und alt, gewöhnt an sein Halsband, gleichgültig gegenüber den fetten Tauben, die in den Fugen zwischen den Gehwegplatten nach Krümeln suchen. Aber ich habe kein Mitleid mit ihm. Er erinnert mich an andere Schäferhunde, an den zähflüssigen Speichel, der an ihren oberen Reißzähnen hing, an den rosig schimmernden Gaumen, der gerippt war wie zerhauenes Rindfleisch auf einer Ladentheke, an ihr Bellen, das nichts Hündisches mehr hatte.
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Das Ufer bedeutet eine Herausforderung: Erst hinter den gesichtslosen Gewässern des Ozeans liegt ein neues, anderes Leben. Das Festland ist Stetigkeit, der Ozean jedoch bedeutet eine Unterbrechung dieser Stetigkeit, er verlangt nach geistiger Anstrengung und einem hehren Ziel, um dessentwillen man sich von der gewohnten Festigkeit der Erde lossagt und das schwankende Deck betritt.
Ich stehe auf einer Grenzlinie, von hier aus kann man nur dann voranschreiten, wenn man sie leichten und freien Herzens betreten hat. Aber ich bin erfüllt von der Erinnerung an eine Landschaft, die sich zum Polarkreis hin erstreckt, mit ihrer Stummheit, die es nach Wörtern dürstet, vom Weiß des gleißend hellen Schnees - dem Weiß eines unberührten Blatt Papiers - und vom Schwarz der glänzenden Kohle, die sich in Flammenhitze verwandeln will - dem Schwarz der Nacht, dem Schwarz des Schachts, wo die Luft weder Menschenatem noch Morgenlicht kennt.
Darum liegt für mich an dieser Grenzlinie der Welt mein Ziel nicht vor, sondern hinter mir: Ich muss zurückkehren. Meine Reise ist beendet, ich muss den Rückweg antreten - im Wort.
Ich fühle - diese Empfindung überkommt mich jäh, auch wenn sie lang gereift ist -, dass ich mehr Europäer bin als die Bewohner des Landes, das zum Atlantik hinausweist wie ein Balkon zur Straße.
Ich war am anderen Ende Europas, das mit steilen Felsenstufen vor den westsibirischen Sümpfen jäh abreißt, und sah die dunklen Hinterhöfe des europäischen Kontinents, seine finnougrischen Kemenaten, sein Hinterland. Ich stand an den Polarbergen des Urals, wo sich Europa und Asien begegnen. Am europäischen Hang wachsen nur kleine, durch die Luftströmungen gewundene Polarbirken, am asiatischen Hang hingegen hohe, mächtige Zedern, die mit ihren Wurzeln das Gestein aufreißen. Und im Himmel über den Bergen prallen die Gewitterfronten zweier großer Ebenen aufeinander.
Wo die Lebenskräfte Europas nachlassen und nur für Rentierflechte und Moos reichen, während von der anderen Seite des Gebirgskamms der dichte, asiatische Wald herüberzuquellen droht - ausgerechnet dort fühlte ich mich zum ersten Mal als Europäer. Die Naht zwischen diesen beiden Welten - der Ural - lehrte mich, das Eigene vom Fremden zu unterscheiden, denn auf einer Naht, auf einer Fuge, spitzen sich die Empfindungen zu, kommt es nicht nur zu geistigen, sondern auch physiologischen Erkenntnissen: Mit der Kehle, dem Magen, mit der gesamten Ausdehnung des Darms fühlt man, dass man gerade das fremde Wasser eines asiatischen Flusses getrunken hat, und dieses fremde Wasser mischt sich nicht mit dem, das bereits im Körper war.
Auf diesem Gebirgsrücken wurde mir in Gedanken, im Gespräch oder beim Versuch, etwas aufzuschreiben, klar: Ich hatte eine Sprachgrenze betreten. Auf der asiatischen Seite müsste man einige Anstrengungen aufbringen, um die Dinge zu benennen. Sie scheinen sich einer Bezeichnung zu entziehen. Die eigene Sprache kann sie verwalten, kann ihnen Namen aufzwingen, und sie werden sich fügen. Wer aber ein Gespür dafür hat, ob eine Sprache tot oder lebendig ist, der merkt, dass es sich um linguistische Kolonisierung handelt. Tanne und Kiefer sind für mich Tanne und Kiefer, aber diese Benennungen bleiben ihrem eigentlichen Wesen fremd, das nach einem anders klingenden Wort verlangt und nur darauf harmonisch reagiert.
Die Sprachgrenze. Das Ende der europäischen Welt. Dahinter kommt nur noch die Ebene der sibirischen Sümpfe. Hier erfährt man, was Stummheit wirklich bedeutet. Man kann etwas sagen, aber die Welt gibt einem kein Echo. Und man begreift: Heimat ist die eigene Sprache. Ihre Vorzüge und Unzulänglichkeiten sind auch die eigenen, nicht wegzudenkenden Vorzüge und Unzulänglichkeiten. Außerhalb der eigenen Sprache existiert man nicht.
Ich muss daran denken, wie ich einmal im eisigen Frühjahr in einem Dorf gewesen war: Bauernkaten, auf denen grauer Schnee lastete, hart gewordene Spuren von Filzstiefeln und Kufen auf den Wegen, ein unwilliges Erwachen nach dem Winter - im Haus war die Luft noch trüb von wirren Winterträumen, die nach Kalkofen und Filzstiefeln riechen.
Im Dorf war kurz zuvor die Schule geschlossen worden, es gab zu wenig Schüler. Das Schulgebäude, eine alte Villa, hatte man mit Brettern vernagelt. Die Schule stand auf einem weithin sichtbaren Hügel, und das Dorf lebte schon einige Monate mit dem Blick auf das wie nach einer Kapitulation verlassene, ehemalige Gutshaus.
Hinter dem Lattenzaun der Schule ragte das Denkmal eines Kosmonauten hervor, als sei dieser hier gelandet und wegen seiner Unbrauchbarkeit im Haushalt auf einen Sockel gestellt und mit der silbernen Farbe eines Raumfahrtanzugs angestrichen worden. Ungeachtet der Kälte, die alle Ausdünstungen abtötete, roch es im Schulgebäude nach feuchten Tapeten und Mäusen. Am Ofen im Flur saß auf einem Hocker der Hausmeister - ein Mensch aus Filzstiefeln, Wattehosen, einer Steppjacke und einer Ohrenmütze. Die Dielenbretter knarzten, und es schien, als sei es Kreide, die über eine ausgewischte Tafel knarzt. Durch die Schlüssellöcher konnte man Bänke und Stühle erkennen - unförmig und schwer, genauso wie Schulranzen. Auf einer der Bänke lag ein Lineal, als habe die Lehrerin es liegenlassen und käme gleich zurück.
Der Hausmeister saß am Ofen. An der Wand stapelten sich zerlesene, vollgekritzelte Schulbücher, die durch viele Schülerhände gegangen waren - »Heimatsprache«, vierte Klasse. Der Hausmeister nahm ein Buch nach dem anderen, riss den Umschlag in Stücke, zerknüllte die Seiten, damit sie besser Feuer fingen, und warf sie in den Ofen. »Die Schule wurde geschlossen «, sagte er. »Brennholz bekommen wir nicht. Nun heizen wir so, die Leitungen dürfen nicht einfrieren. Die Bibliothek ist groß, bis April reicht es.«
Der Ofen der geschlossenen Schule wurde mit der russischen Sprache geheizt. Wie sehr hatten wir in unserer Kindheit diese Bücher gehasst, diese »Fragen zum Text«, die hervorgehobenen Absätze »Überprüfe dich selbst«, die vergrößerte, sanfte Schrift, die so rund war wie die Ecken an den Schulbänken, damit die Kinder sich nicht an ihnen verletzten. Und nun hätte ich am liebsten geheult, denn all das hatte keine Bedeutung mehr, so wie eine Kränkung gegenüber wahrhaftigem Leid bedeutungslos wird.
In diesem Wolgadorf inmitten der von jungen Birken bewachsenen Felder begriff ich, welche Bedeutung für einen Menschen - ohne jegliche Schulmeisterlichkeit und Anführungszeichen - seine Heimatsprache hat.
Birken, Schnee, Brennholz, Himmel, Wege, Feuer, Rauch, Frost - ich wiederholte für mich diese Wörter, an die ich mich fast so lang erinnerte wie an mich selbst. Birken, Schnee, Brennholz, Himmel, Wege, Feuer, Rauch, Frost - die Wörter wuchsen, sie waren Materie, so wie Energie Materie ist. Sie klangen symphonisch, eines durch das andere hindurch, aber ohne sich zu vermischen. Der Frost war frostig, das Feuer feurig, der Rauch rauchig. Das war meine Empfindung damals in diesem verschneiten Dorf, wo die Bücherasche das weiße Dach der Schule mit Flecken überzog - die Schulbücher brannten rauchstark, und die Asche war metallisch und fettig von der zähflüssigen Druckerfarbe.
Ich begriff, dass die russische Sprache meine Heimat ist. Diejenigen, die sie bevölkern, sind meine Mitbürger. Worüber ich nun schreibe, dazu gibt mir nicht die Erinnerung das Recht, sondern die Sprache. Die Sprache lebt von dem, was durch sie gesagt werden muss.
An diesem Rand von Europa sehe ich Menschen am Strand, die so schön sind wie die Nereiden oder Dryaden der griechischen Mythologie, in denen der Mensch mit einem Tier oder einer Pflanze zu einem unsterblichen Wesen vereinigt ist. In der rein menschlichen Schönheit liegt Verletzlichkeit und ein Vorgefühl des Sterbens, die ihre Individualität ausmachen. Aber die Schönheit einer Pflanze oder eines Tiers hat nichts Tragisches, bei ihnen wird das Individuelle durch ihre Gattung ersetzt. Auch die Badenden am Strand sind Delphinen oder Orchideen ähnlich: Bewegung, Erblühen, Ruhe, Schlummer, Innehalten. Doch kaum geht die Sonne unter, sind sie fort und werden nie erfahren, dass der Strand in der Abenddämmerung allzu sehr dem Staub von Pompeji ähnelt - die Flut glättet den abgekühlten Sand und tilgt die Abdrücke von Schenkeln, Ellbogen, Fersen.
Ich sehe Golfspieler, die endlos die Lektion der kartesischen Geometrie wiederholen, die Lektion der Artikulation des Raums, sein Einfangen in das Netz der Koordinaten. Ich stelle sie mir inmitten der Tundra mit Ball und Golfschlägern vor - sie müssten vor Erstaunen erstarren. Hier gibt es so viel Raum, dass nicht einmal ihre Vorstellung ihn beherrschen kann. Sie lassen ab von ihrem Spiel, zerstreuen sich in verschiedene Richtungen, um zu prüfen, ob das, was sie sehen, keine Kulisse ist. Nie wieder finden sie zusammen, denn dort, wo statistisch gesehen auf einen Quadratkilometer weniger als ein Hundertstel Mensch kommt, zersplittern sie in diese Hundertstel und Tausendstel, verlieren sich als dritte oder vierte Ziffer hinter dem Komma als Messtoleranz.
Ich sehe den glatten Asphalt einer Chaussee - und muss an eine Landstraße im Norden denken, die zu einer Goldmine führte. Über sie rollten die LKWs der Aufseher, Geländefahrzeuge und Bulldozer. Der Straßenrand war gesättigt von Dieselabgasen, verhärtet zu einer öligen Schicht, die unter den Stiefeln knackte. Die gewaltigen Autos fuhren einzeln und in Kolonnen, und aus den hohen Fahrerhäuschen konnte man sehen, wie Tundrahasen vor dem Motorenlärm davonliefen, Rebhühner aufflogen, Fische die Bäche aufwärts schwammen und dabei den Schlamm aufwühlten. Die Niederung, die nur schwindsüchtige Bäume hervorbrachte, schien zu erstarren beim Anblick der Profilreifen und der glänzenden Bulldozermesser, die die Moos- und Beerenfelder zu zerstampfen und den feinen Boden aufzureißen drohten.
Dann tauchte hinter einem steilen Gefälle der große Zaren- Pfuhl auf, wie ihn die Fahrer nannten. Die einen sagten, der Ort sei von Schamanen verflucht, die sich dafür rächen wollten, dass man in den heiligen Berg Stollen zur Goldsuche gegraben hatte. Andere behaupteten, es habe hier eine Rentierseuche gegeben. Einer dritten Meinung zufolge war hier ein ganzer Transport mit einigen Hundert Häftlingen im Schneegestöber umgekommen, die man in den vierziger Jahren zu einer Mine getrieben hatte. Eigentlich waren die Fahrer ein hartgesottenes Volk, weder abergläubisch noch gottesfürchtig, aber mit dem menschlichen Verstand war dem Anblick des Zaren-Pfuhls tatsächlich nicht beizukommen. Es hatte den Anschein, als sei dieser Ort auf besondere Weise gezeichnet, als habe er einen schrecklichen und rachsüchtigen Charakter, der im Winter und in der Sommerhitze schlief, aber mit der Schneeschmelze oder bei Dauerregen erwachte.
Man konnte den Zaren-Pfuhl nicht umfahren. Der lange Streifen sumpfigen Bodens, der mit dem Wasser des tauenden Permafrostbodens getränkt war, zog sich über hundert Kilometer zwischen zwei Hügelketten. Wenn sich die Fahrzeuge dem Zaren- Pfuhl näherten und bremsten, eröffnete sich die Aussicht auf einen tragischen Ort. Die Erde ringsum schien zu schwanken, alles war von modrigem, rostbraunem Wasser überflutet, und daraus ragten von Kettenraupen zerstörte Balken und Bretter, von Eisen zerkratzte Steine, zerquetschte Tonnen, mit denen jemand den Pfuhl hatte überbrücken wollen, sowie schwindende kleine Kies- und Sandinseln hervor - alles Spuren der Versuche, einen Steg über das Loch in der Erde zu legen. Weiter entfernt stach ein Traktorenfahrerhäuschen mit abgeblätterter Farbe aus dem Sumpf heraus, und ein Hebekran ragte wie ein verbogener Pfeil hervor. An den Ufern des Pfuhls war ein wunderlicher Wald gewachsen. Dutzende in den Boden gerammte Eisenrohre und Betonpfähle, von denen ein Teil umgestoßen war - an sie hatte man Schlingen von Hebewinden steckengebliebener Fahrzeuge befestigt. Auch ausgefranste, gerissene Taue mit Dutzenden Knoten lagen hier, die dem Würgegriff des Pfuhls nicht standgehalten hatten. Trat man näher heran - vorsichtig auftretend, damit die Stiefel nicht in der trocknenden, klebrigen Brühe versanken -, konnte man die Spuren verzweifelter Versuche eines Übersetzens sehen, aus einer Zeit, als man in den Minen die Arbeit wegen Mangel an Brennmaterial, Sprengstoff und Lebensmitteln einstellen musste. Ein Unwetter hatte am Flughafen die Hubschrauber auf den Landeplatz niedergedrückt, und so hatten die Vorgesetzten zwei oder drei Fahrzeuge auf den Weg geschickt und den Fahrern alles Mögliche versprochen, wenn sie die Fracht an ihren Bestimmungsort brächten.
Auf diese Weise hatte sich unter den Fahrern die Kaste der Pfuhlexperten herausgebildet, Auguren des Nordens, die ihre Weissagungen nach dem Wasserstand und den Tierfährten auf der Oberfläche des Pfuhls machten - man ging davon aus, dass ein Elch oder Reh immer den trockensten Weg wählt. Sie hatten an einer weit entfernten Stelle riskiert überzusetzen, und es hatte danach lange gedauert, sie mit Traktoren ans Ufer zurückzuziehen. Die meisten aber hatten versucht, über die alte Fahrrinne überzusetzen. Die Spuren dieser Überfahrten waren auch am Rand des Pfuhls zu sehen: verstreute Konservendosen, von Rädern in den Boden gedrückte Wattejacken, Bretter von den Seitenwänden der Fahrzeuge, Blechteile, mit denen die Planwagen der Wachmannschaften beschlagen gewesen waren, Bänke, Öfen - alles war in die Rinne geworfen worden, um sie befahrbar zu machen, und alles hatte der Pfuhl beständig verschlungen. Manchmal blähte er sich auf, und an seiner Oberfläche tauchten vermoderte, von den Verdauungssäften der Erde zersetzte Leichengegenstände auf. Würgend stieß der Pfuhl Zelttuch, Schiefer und aneinanderklebende Bohrrohre hervor, verlötet zu einem gigantischen Abbild entwurzelter Baumstümpfe. Er spie Müll, Flaschen und Tüten, würgte an einem mit Erdklumpen vermengten Skelett eines Fuchses, den die Essensreste angelockt hatten. Und ein oder zwei Tage später schluckte der Pfuhl allen Auswurf wieder herunter.
Wenn eine Kolonne am Pfuhl angekommen war, rauchten die Fahrer lange, und die Passagiere zerstreuten sich in alle Richtungen. Der Pfuhl zog einen seltsam an, zwang zur unablässigen Beobachtung, als sei er ein feuerspeiender Vulkan oder ein Wasserfall. In ihm zeigte die Erde ihre feuchte, bebende, gierige Natur. Es war ein Schlund ohne Mund, ein aufgepflügter, offener Schoß. Der Pfuhl schaute die Menschen nicht an, im Gegenteil, er saugte ihre Blicke auf, wie er die menschlichen Anstrengungen und die Mühen der Fahrzeuge in sich aufnahm. Er schien keinen Grund zu haben, sonst hätte sich an seiner Stelle schon längst ein Berg von Balken, Sand und Kies gebildet. In der Strömung der flüssigen Erde bewegten sich tief unten langsam die versunkenen Traktorenraupen, Autoreifen, Fässer, Taue, Hebewinden, Bretter, Spaten, Brechstangen, Pumpenschläuche, öldurchtränkte Wattejacken und Fausthandschuhe voran
- ein ganzer Kosmos untergegangener Gegenstände, in dessen strenge Form der menschliche Verstand alles gelegt hatte, was er dieser jegliche Formen zurückweisenden Elementarkraft entgegenstellen und in den Kampf schicken konnte - um sich schließlich ohnmächtig zurückzuziehen, während der Schoß des Pfuhls immer weiter anschwoll von all dem, was er verschlungen hatte.
Ich sehe einen Schäferhund, den ein Mann an einer Leine das Ufer entlangführt. Dem Hund ist heiß, linkisch tapst er über die erhitzten Steinplatten und hechelt närrisch, wobei er seine rosige, blau geäderte Zunge heraushängen lässt. Er ist bedauernswert, dieser Hund, überfüttert und alt, gewöhnt an sein Halsband, gleichgültig gegenüber den fetten Tauben, die in den Fugen zwischen den Gehwegplatten nach Krümeln suchen. Aber ich habe kein Mitleid mit ihm. Er erinnert mich an andere Schäferhunde, an den zähflüssigen Speichel, der an ihren oberen Reißzähnen hing, an den rosig schimmernden Gaumen, der gerippt war wie zerhauenes Rindfleisch auf einer Ladentheke, an ihr Bellen, das nichts Hündisches mehr hatte.
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Autoren-Porträt von Sergej Lebedew
Sergej Lebedew arbeitete nach dem Studium der Geologie als Journalist. Gegenstand seiner Romane sind für den 1981 Geborenen die russische Vergangenheit, insbesondere die Stalin-Zeit mit ihren Folgen für das moderne Russland. Bei S. FISCHER sind seine Romane »Der Himmel auf ihren Schultern« (2013), »Menschen im August« (2015), »Kronos' Kinder« (2018) und »Das perfekte Gift« (2021) erschienen. Zuletzt erschien der Erzählungsband »Titan oder Die Gespenster der Vergangenheit« (2023). Sergej Lebedew lebt zur Zeit in Potsdam. Franziska Zwerg, geboren 1969, studierte in Berlin und Moskau Slawistik, Germanistik und Theaterwissenschaft und übersetzt zeitgenössische russische Literatur, neben den Romanen von Sergej Lebedew u.a. die Werke von Grigori Kanowitsch und Dina Rubina.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sergej Lebedew
- 2013, 2. Aufl., 336 Seiten, Maße: 14,8 x 22,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Franziska Zwerg
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100425103
- ISBN-13: 9783100425102
- Erscheinungsdatum: 18.02.2013
Rezension zu „Der Himmel auf ihren Schultern “
Lebedew wählt einen poetischen, zuweilen etwas metapherntrunkenen Weg - aber einen durchaus überzeugenden. Ulrich Rüdenauer Süddeutsche Zeitung 20130907
Pressezitat
Lebedew wählt einen poetischen, zuweilen etwas metapherntrunkenen Weg - aber einen durchaus überzeugenden. Ulrich Rüdenauer Süddeutsche Zeitung 20130907
Kommentar zu "Der Himmel auf ihren Schultern"
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