Der Hüter des Schwertes
Seine Vergangenheit wird vom Tod beherrscht - seine Zukunft ist ungewiss
Einst beendete Martil einen Krieg, und sein Volk feierte ihn als Helden. Doch er wusste, dass der Preis dafür zu hoch gewesen war. Denn um den Frieden zu erzwingen, ließ...
Einst beendete Martil einen Krieg, und sein Volk feierte ihn als Helden. Doch er wusste, dass der Preis dafür zu hoch gewesen war. Denn um den Frieden zu erzwingen, ließ...
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Produktinformationen zu „Der Hüter des Schwertes “
Seine Vergangenheit wird vom Tod beherrscht - seine Zukunft ist ungewiss
Einst beendete Martil einen Krieg, und sein Volk feierte ihn als Helden. Doch er wusste, dass der Preis dafür zu hoch gewesen war. Denn um den Frieden zu erzwingen, ließ Martil jeden Bewohner eines Dorfes - Männer, Frauen und Kinder - töten. Die Schuldgefühle haben ihn innerlich zerrissen und als gebrochenen Mann zurückgelassen. Nun aber benötigt seine Königin seine Hilfe. Verschwörer drohen das Land in den Abgrund zu reißen, und Martil besitzt als Einziger die Fähigkeiten, um sie in ihre Schranken zu verweisen.
Einst beendete Martil einen Krieg, und sein Volk feierte ihn als Helden. Doch er wusste, dass der Preis dafür zu hoch gewesen war. Denn um den Frieden zu erzwingen, ließ Martil jeden Bewohner eines Dorfes - Männer, Frauen und Kinder - töten. Die Schuldgefühle haben ihn innerlich zerrissen und als gebrochenen Mann zurückgelassen. Nun aber benötigt seine Königin seine Hilfe. Verschwörer drohen das Land in den Abgrund zu reißen, und Martil besitzt als Einziger die Fähigkeiten, um sie in ihre Schranken zu verweisen.
Klappentext zu „Der Hüter des Schwertes “
Seine Vergangenheit wird vom Tod beherrscht seine Zukunft ist ungewissEinst beendete Martil einen Krieg, und sein Volk feierte ihn als Helden. Doch er wusste, dass der Preis dafür zu hoch gewesen war. Denn um den Frieden zu erzwingen, ließ Martil jeden Bewohner eines Dorfes Männer, Frauen und Kinder töten. Die Schuldgefühle haben ihn innerlich zerrissen und als gebrochenen Mann zurückgelassen. Nun aber benötigt seine Königin seine Hilfe. Verschwörer drohen das Land in den Abgrund zu reißen, und Martil besitzt als Einziger die Fähigkeiten, um sie in ihre Schranken zu verweisen.
Lese-Probe zu „Der Hüter des Schwertes “
Der Hüter des Schwertes von Duncan LayRoman Aus dem Englischen von Michaela Link
Kapitel 1
Martil konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, von welchem Tier das Lied handelte. Zugegebenermaßen war es auch schon Jahre her, seit er es gehört hatte, damals, als er sich selbst noch im Spiegel hatte ansehen können. Er war mit Borin und Tomon, Freunden seit seiner Kindheit, und einigen frisch angeworbenen Soldaten losgezogen, um etwas zu trinken. Einer der Neuen, ein großer blonder Bursche, der eine Woche später schreiend gestorben war, hatte dieses witzige Lied gesungen, das von einem ungewöhnlichen Tier und dessen erstaunlichem sexuellen Appetit handelte. Das ganze Wirtshaus hatte am Ende mitgesungen, unter gröhlendem Gelächter.
»Man sollte doch meinen, dass einem so ein Lied nicht so bald aus dem Kopf geht, hm?«, sagte Martil zu seinem Pferd, einem muskulösen, schnellen Fuchs. Es war allerdings nicht besonders gesprächig, und es hatte ihn fünf Goldstücke gekostet. Er wusste, dass er zu viel bezahlt hatte, aber er hatte das Land einfach nur möglichst schnell hinter sich lassen wollen. Außerdem war ihm Geld nicht so wichtig.
Die Plünderung einiger Schlachtfelder hatte ihm zu einem kleinen Vermögen verholfen - das zusätzlich durch die schon lange überfällige Belohnung seitens seines alles andere als dankbaren Königs aufgestockt worden war. Er vermutete, dass man ihn damit hatte ruhigstellen und loswerden wollen, sodass man seinetwegen nicht länger in Verlegenheit kam. Seine Satteltaschen waren also voller Gold, aber es machte ihm keine Freude. Es gab überhaupt kaum etwas, das ihn glücklich stimmte.
... mehr
Das Pferd, ein ehemaliges Reittier des Heeres, aus den Diensten des Königs entlassen wie so viele der Veteranen Ralloras, war ein Wallach. Martil hatte es Tomon getauft - nach seinem alten Freund, dem die Frauen nicht hatten widerstehen können. Das hätte Tomon gefallen, wäre er noch am Leben gewesen. Tomon hatte seinen Sinn für Humor immer geschätzt. Borin war davon nicht so begeistert gewesen und hatte immer gesagt, es gäbe einige Dinge, über die man sich nicht lustig machen sollte. Aber selbst er hatte zugegeben, dass unter anderem sein Humor ihnen über die schwierigsten Zeiten hinweggeholfen hatte. Traurigerweise vermochte Martil nicht, die Träume und Erinnerungen fernzuhalten, die ihn jetzt heimsuchten.
»Also, Tomon, wie ging das Lied denn nun?«, fragte Martil und stupste sein Pferd an.
Das Pferd antwortete nicht, sondern trottete nur die Straße entlang - oder besser das, was hier in diesem ruhigen Teil des östlichen Norstalos als Straße durchging. Martil richtete seine Aufmerksamkeit jetzt ebenfalls auf die Straße. Er dachte lieber über solch alltägliche Dinge wie Straßen oder halb vergessene Trinklieder nach als darüber, warum er allein durch ein fremdes Land ritt, obwohl er in seiner Heimat doch als Held hätte gelten sollen. Einst war es ihm nicht möglich gewesen, sich auf einer Straße zu zeigen, ohne dass viele Männer ihm die Hand schüttelten, Kinder ihn nachahmten und Frauen ihn in ihre Kammer einluden. Zwar würde die Hälfte der Leute ihn noch immer bejubeln, aber die andere Hälfte dafür am liebsten vor Hass anspucken. Er schauderte bei der Erinnerung daran, welche Schimpfwörter - gefolgt von faulen Früchten - sie ihm an den Kopf geworfen hatten. Er suchte verzweifelt nach irgendetwas, um sich von diesen Erinnerungen abzulenken. Es war Sommer hier in Norstalos, und die Sonne ließ ihm den Schweiß den Rücken herunterlaufen, wann immer er nicht im Schatten von Bäumen ritt. Sie machte ihn auch durstig, also nahm er einen Schluck Wein. Er hatte nach dem besten Norstaler Roten gefragt, erinnerte er sich.
»Schmeckt wie Ziegenpisse«, teilte er Tomon mit. Aber der Wein half ihm dennoch zu vergessen. Er konnte sich beispielsweise nicht an den Namen des verdammten Tieres erinnern, das sechzehn urkomische Verse lang von Katzen bis hin zu Drachen alles vergewaltigte. Nun, wenn der Wein seine Arbeit tat und ihn auch alles andere vergessen ließ, war das Geld dafür nicht verschwendet. Wenn er ihn den Anblick des verzweifelten Borin vergessen ließ, wie er vergeblich versucht hatte, sich die Eingeweide wieder in den Leib zu schieben, nachdem zwei berellische Krieger ihn mit ihren Äxten erwischt hatten. Oder den Ausdruck auf Tomons Gesicht, als er erstickte, nachdem ein berellischer Armbrustpfeil ihm die Kehle zerfetzt hatte. Wenn er ihn vergessen ließ, wie er sich mit vier anderen rallorischen Hauptmännern zusammengetan hatte und die Zerstörung der berellischen Stadt Bellic befohlen hatte.
»Zeit für einen Themenwechsel«, gab Martil Tomon zu verstehen und goss sich noch mehr Wein in den Mund.
Er war tatsächlich widerlich. Wenn das wirklich der beste Wein sein sollte, den Norstalos zu bieten hatte, würde er sich demnächst wohl an Bier halten müssen.
»Schmeckt doch eher wie Pferdepisse«, teilte er Tomon mit, und plötzlich kam ihm eine Idee. War das Tier in dem Lied ein Pferd?
»Nein, das wird ja im zehnten Vers bestiegen«, erinnerte er sich und gab Tomon einen freundschaftlichen Klaps. Er sah sich um - vielleicht gab es im Wald ja ein Tier zu entdecken, das seinem Gedächtnis auf die Sprünge half. Sehr wahrscheinlich war das allerdings nicht. Er ritt durch reiches Bauernland. Aus dem fruchtbaren Osten Norstalos' rumpelten regelmäßig Karren voller Erzeugnisse zu den Städten und Dörfern im Westen und Süden des Landes. Das Land schien unter der warmen Sommersonne zu schlummern, und offenbar hatte sich jedes Tier ein kühles Plätzchen für seine Mittagsruhe gesucht. Und auch die Straße war wie ausgestorben. Er selbst hatte sie nur gewählt, weil der direkte Weg zur Westküste von Norstalos ihn durch Berellia geführt hätte. Da fast jeder in diesem Land ihn wegen des Massakers von Bellic am liebsten bei lebendigem Leib brennen sehen würde, war ihm der Umweg vernünftig erschienen. Bald würde er sich wieder nach Westen wenden können, seinem Ziel zu. Dort wollte er in der Sonne sitzen und den Wellen dabei zusehen, wie sie auf den Strand schwappten.
»Man würde diese Straße jedenfalls nicht des Ausblicks wegen bereisen«, erzählte Martil Tomon. »Erst nichts als Felder, und jetzt nichts außer verdammten Bäumen.«
Sie waren gut für Schatten, aber nur wenig mehr. Er ließ seinen geübten Blick nach links und rechts durch den Wald schweifen. Kaum geeignet, um auch nur ein Regiment zu verstecken. Die Bäume standen oft weit auseinander, die Büsche waren niedrig. Dann fiel ihm wieder ein, dass er sich gar nicht um derartige Dinge kümmern sollte, und er versuchte, sich wieder seinem ursprünglichen Thema zuzuwenden.
»Hier werde ich weder einen Wolf noch einen Bären zu Gesicht bekommen«, dachte er laut und fragte sich dann, ob das mysteriöse Tier ein Wolf war. »Nein, der Wolf kommt im zwölften Vers«, murmelte er und genehmigte sich noch einen Schluck Wein.
Vielleicht sollte er die Finger von dem Wein lassen, damit sein Gedächtnis wieder etwas besser funktionierte. Er könnte ja heute Nachmittag ein Wirtshaus aufsuchen, das Trinken nachholen und sich genug in den Schlund schütten, um seinen Albträumen ein Ende zu bereiten. Obwohl es weniger die Träume, sondern eher die Stimmen waren; diejenigen derer, die darum baten, nicht getötet zu werden, und derer, die seine Seele verfluchten, wenn sie starben; und auch derer, die ihn anschrien, wenn er durch die Straßen seines Heimatlandes lief. Ein Schauder überkam ihn; er durfte seinen Gedanken nicht weiter so die Zügel schießen lassen.
»Ich werde das Lied singen«, verkündete er und stieß den Korken wieder auf den Weinschlauch.
Dann räusperte er sich und versuchte sich an den ersten Vers zu erinnern. Er fiel ihm nicht ein, also beschloss er einfach die Fetzen vorzutragen, an die er sich erinnerte. Sollte sein Pferd sich doch beschweren, wenn die Verse nicht in der richtigen Reihenfolge kamen.
»Das ... Etwas ... fand einen Bären,
der in der Winterkälte schlief.
Es rutschte bis dicht hinter das Tier
und bestieg es mit all seiner Gier.«
Martil war kein besonders talentierter Sänger, aber was ihm an stimmlichen Fähigkeiten fehlte, machte er durch Lautstärke wieder wett. Vögel flogen krächzend aus ihrem Versteck hoch, und Tomon zuckte gereizt mit den Ohren, aber Martil ignorierte sie.
Irgendetwas schien dem Lied zu fehlen. Das Witzigste an der Sache war, dass so ein unscheinbares Tier die Hauptrolle spielte. Aber der feinere Sinn dafür, dachte Martil, würde anderen Wildtieren in Hörweite wohl ohnehin abgehen.
»Oh, die Bärin erwachte voller Grimm,
verloren war des Schlafes Glanz;
sie wollte doch nur schlafen,
nicht spüren diesen Riesen...«
Tomon hatte die Ohren zornig hin und her geschlagen und Martil fast abgeworfen, als er zum Ende der Strophe hin immer lauter wurde. Aber der Reiter ließ sich davon nicht aufhalten und versuchte den nächsten Vers.
»Das Etwas fand einen Löwen,
der lag im Regen und schlief,
es schlich sich dicht dahinter
und griff in die Mähne tief.
Ohhh, der Löwe brüllte gewaltig!
Was war das für ein Gerödel?
Aber es gab nun einmal kein Entkommen
vor diesem Riesend...«
»Einen schönen Tag Euch!«, unterbrach ihn eine heitere Stimme.
Martil, der die Augen geschlossen hatte, um sich besser erinnern zu können, öffnete sie überrascht. Er brauchte einen Moment, bis er begriff, dass ein korpulenter Mann ihm gegenüber auf der Straße stand. Er hatte einen ausgeprägten Bart und trug schöne Kleider, die allerdings ihre besten Tage hinter sich hatten. Seine grüne Jacke war von undefinierbaren Flecken gesprenkelt, seine Lederhose und -schuhe waren vielfach geflickt. Er hatte eine einschneidige Axt bei sich, wie sie überall von Holzfällern benutzt wurde. Sein breites Grinsen wirkte irgendwie ansteckend, und Martil bemerkte, dass er das Grinsen erwiderte.
Martil zog an Tomons Zügeln und blieb etwa fünf Schritt von dem lächelnden Mann stehen. Sobald er dies getan hatte, verfluchte er sich selbst dafür. Freundliche Waldarbeiter zogen nicht einfach durchs Land und grüßten Alleinreisende, um ihnen eine Besichtigung der schönsten Bäume des Waldes anzubieten. Er hätte Tomon zum Galopp antreiben sollen. Allerdings stand dort nur ein einziger Mann, und er selbst war zu Pferde; also trank er einen Schluck Wein und fragte sich, ob die Begegnung etwas Leben in seinen Tag bringen würde.
»Schönes Lied. Habe die Melodie nicht erkannt. Was war denn das ›Etwas‹?«, fragte der Mann. Martil hatte eine eher ruppige Sprache erwartet, aber der Mann sprach gut, allerdings mit starkem Norstaler Akzent.
»Daran kann ich mich verdammt noch mal nicht erinnern. Bei Zorvas Eiern, ich wünschte, ich könnte es. Ich weiß lediglich, dass es einen Stab hat, auf den jeder Zauberer stolz wäre«, gab Martil zu.
»Bei Zorvas Eiern?« Der Waldarbeiter wirkte erheitert. »Diese Redewendung habe ich noch nie zuvor gehört. Die meisten Leute halten es für schlimm genug, den Namen des Dunklen Gottes auch nur zu erwähnen, ohne seine Eier zu beleidigen.«
Martil zuckte die Achseln. »Das ist eine alte Angewohnheit von mir. Wenn Zorva das nicht passt, hätte er sich sicher bereits vor Jahren bei mir beschwert.« Er kippte sich abermals Wein in den Mund. »Nun, wenn es dir nichts ausmacht, ich habe ein Lied zu singen.«
Der Waldarbeiter trat etwas weiter auf die Straße, sodass er fast in ihrer Mitte stand. Ein kleiner, scheinbar harmloser Schritt, der es ihm jedoch möglich machte, jeden Vorbeiritt zu blockieren.
Martil erkannte, dass hier rechts und links der Straße dichte Büsche standen, sodass es sehr schwer werden würde, in den Wald auszuweichen. Ihm stellten sich langsam die Nackenhaare auf, und er musste sich zwingen, den Worten des Waldarbeiters weiter seine Aufmerksamkeit zu schenken.
»Also, ich hoffe, Ihr habt nicht vor, dieses Stück in den Gasthäusern zu singen«, sagte er. »Wir mögen nur einfache Landsleute sein, aber wir bevorzugen Lieder mit einer Melodie.«
»Singen gehörte noch nie zu meinen Stärken«, gab Martil zu. »Aber ist es in diesem Teil Norstalos' üblich, jemandem aufzulauern und ihm dann sein Gesangstalent zum Vorwurf zu machen?«
Der Mann schmunzelte. »Nein, aber ich habe eine kleine Tochter, und ich werde ihre Fragen zur Bedeutung der letzten Zeilen jedes Verses beantworten müssen.«
Martil nickte klugerweise. »Es gibt Dinge, die von der Jugend besser ungehört bleiben.«
Ungebeten kam ihm das Bild schreiender Kinder vor Augen, die zusahen, wie ihre Eltern von rachsüchtigen Soldaten niedergemetzelt wurden. Er schüttelte den Kopf, als könne er das Bild damit wegschütteln. »Ich verspreche, immer leise zu singen«, sagte er hastig, bevor er wieder einen großen Schluck Wein trank.
»Das Singen scheint durstig zu machen, wie?«, sagte der Mann bedeutungsvoll und zeigte auf den Weinschlauch.
Martil winkte ihm zu. »Willst du auch etwas? Sag mir deinen Namen.«
»Warum?«
»Weil ich gerne weiß, mit wem ich trinke.«
Der Mann hielt einen Moment inne und zuckte dann mit den Achseln. »Edil«, antwortete er.
Der Tonfall des Mannes deutete an, dass er erwartete, Martil wüsste etwas über ihn, jedoch war ihm der Name unbekannt. Vielleicht war der Mann ja ein berüchtigter Schafsvergewaltiger. Das war ihm egal. Er warf Edil den Weinschlauch zu, der ihn geschickt auffing und einen großen Schluck trank.
»Nicht übel - aber ich hätte erwartet, dass ein reicher Mann wie Ihr etwas Besseres trinkt«, teilte der Waldarbeiter mit. Martil bemerkte, dass der Mann irgendetwas an sich hatte, das ihn verleitete, das Gespräch fortzuführen. Eine Art schurkischer Liebenswürdigkeit, die den ersten Eindruck der rauen Kleidung und der Ungepflegtheit Lügen zu strafen schien.
Martil streckte die Hand nach seinem Weinschlauch aus. »Ich bin kein reicher Mann. All mein Besitz befindet sich auf diesem Pferd. Keine Frau, keine Kinder, kein Land, keine Freunde, kein Zuhause«, seufzte er und spürte die Bedeutung dieser Worte.
Edil schnaubte, »Also für mich seht Ihr reich genug aus. Gutes Pferd, zwei Schwerter - große Satteltaschen. Auch nur eines davon würde aus mir einen reichen Mann machen. Alles, was ich habe, sind Kinder.«
»Deine Tochter?«
Edil lachte. »Was nützt denn ein kleines Mädchen? Nein, ich habe drei Söhne, und sie sind mir von großem Nutzen.« Er pfiff, und Martil sah auf einmal drei junge Männer aus den Büschen auftauchen, die alle Stellung bezogen - einer hinter ihm, die anderen beiden rechts und links neben ihm. Wie ihr Vater trugen sie Bärte, aber in unterschiedlichen Phasen der Entwicklung, und auch ihre Kleider hatten schon bessere Tage gesehen - und waren vielleicht sogar für andere Männer geschneidert worden, wenn man sich besah, wie ausgesprochen schlecht sie saßen. Es war offensichtlich auch schon Monate her, seit sie zuletzt gewaschen worden waren. Der eine hielt einen Knüppel in der Hand, dessen Ende im Feuer gehärtet worden war, die anderen trugen grobe Äxte. Martil war zwar etwas angetrunken, aber er war nicht blind. Er wandte sich wieder Edil zu und lachte.
»Ihr habt einen eigenartigen Sinn für Humor, Fremder. Ist Euch das Tier aus Eurem Lied wieder eingefallen? «, fragte Edil argwöhnisch.
Martil rieb sich das Gesicht. »Ich wünschte, das wäre es. Nein, ich kann nur nicht fassen, dass ich einfach hier gesessen und mich von dir in diese lächerlich einfache Falle habe locken lassen.«
Edil nickte. »Das Schicksal ist seltsam, nicht wahr? Also, wenn Ihr nun freundlicherweise absteigen würdet und uns alles nehmen lasst, was Euch gehört, dürft Ihr Eure Reise fortsetzen. Oder ich lasse Euch Zorvas Bekanntschaft machen, den es gar nicht freuen wird, dass Ihr seine Eier beleidigt habt.«
Martil nickte anerkennend über den Spruch. Die meisten Wegelagerer würden mit möglichen Opfern nicht so sprechen. Selbst in dieser Situation hatte er etwas für die Liebenswürdigkeit des Mannes übrig. Es hatte fast den hypnotischen Effekt, den eine Schlange nutzt, um ein Nagetier zu verzaubern. Er glaubte, Edil hatte ihn sich jahrelang zunutze gemacht, um Leute zu umgarnen. Aber er war kein gewöhnlicher Mann. »Ich habe einen besseren Vorschlag. Ihr geht mir aus dem Weg, und wir beide sind um eine Erfahrung reicher. Ich lasse euch sogar den Wein behalten und lege noch ein Stück Gold obendrauf, von dem ihr euch bessere Kleider kaufen könnt.«
Edil brach in Gelächter aus. »Ich nehme zurück, was ich gesagt habe. Ihr habt den Schneid, in den Wirtshäusern Eindruck zu schinden. Vielleicht lasse ich Euch das eine Goldstück - wenn Ihr versprecht, niemals zu singen! « Seine Söhne stimmten in das Lachen ein, sein ältester, ein junger Riese zu Martils Linker, hatte einen schwarzen Bart und lachte besonders laut.
Martil seufzte und lehnte sich leicht nach vorne. Es war kein Spaß mehr. Es war an der Zeit, diesem Narren klarzumachen, in wie großer Gefahr er sich befand. »Hört mir zu. Ich habe die letzten sechzehn Jahre damit verbracht, auf allen Schlachtfeldern im Süden Männer zu töten. Nun haben wir zusammen Wein getrunken, und du hast Kinder. Nun tritt beiseite, und du kannst weitere zeugen.« Das Letzte, was er wollte, war kämpfen. Nicht wegen des Weines, auch wenn er ihm etwas säuerlich im Magen lag. Betrunken oder nüchtern, krank oder gesund, es hatte nie einen Mann gegeben, der ihm mit der Klinge hatte widerstehen können. Aber er war das Töten einfach leid.
»Fremder, es ist nicht mehr unterhaltsam. Runter vom Pferd und gebt mir all Euer Geld. Ich möchte keine Zeit damit verschwenden, Euch zu begraben«, knurrte Edil.
Martil versuchte es erneut und hoffte darauf, dass er Edil würde überzeugen können. Das war die letzte Möglichkeit, das Leben dieses Mannes und seiner Söhne zu retten.
»Versucht mich aufzuhalten, und ich werde euch töten. Ich habe schon genug Tode zu verantworten. Ich habe nicht die Absicht, vier weitere hinzuzufügen.« Er war nicht nur unfähig, das irgendwie komisch zu finden, nein, auch die Wirkung des Weins hatte nachgelassen. Langsam entspannte er seine Füße auf den Steigbügeln, als er Edil in die Augen sah, um ihm zu zeigen, wie ungern er ihn töten würde.
Aber Edil erwiderte seinen Blick nicht. Sein Blick galt nur dem Pferd und den prall gefüllten Satteltaschen, die es trug.
»Ich will gar nicht wissen, weswegen Ihr hier seid oder was Ihr glaubt, im Süden getan zu haben. Ihr seid betrunken und allein, wir sind zu viert. Steigt von Eurem Pferd, wenn Ihr weiterleben wollt.«
»Zwing mich nicht dazu«, warnte Martil ihn eindringlich. »Fünf Goldstücke, wenn ihr mich passieren lasst!«
Edils Gesichtszüge verhärteten sich. »Ergreift ihn! Nehmt all sein Gold!«
Martil reagierte sofort. Er sprang nach rechts vom Pferd, weg von dem Schwarzbart, der hier die einzig wahre Bedrohung war. Er landete leichtfüßig nur ein paar Schritte entfernt von dem Sohn, der rechts von ihm stand. Einem Jüngling mit sandfarbenem Haar, dünnem, wuchernden Bart und hervorstehenden Augen. Er war der mit dem Knüppel; er kam, das Stück Holz hoch über dem Kopf, auf Martil zugeeilt. Martil griff nach den beiden Schwertern an seiner Seite und hatte sie aus der Scheide gezogen, als der Junge zu einem weiten Schlag angesetzt hatte, der ihm den Kopf zerschmettern sollte - aber Martil hatte sich geduckt, und das Schwert in seiner linken Hand schnellte vor, versank tief im Bauch des Jünglings und riss ihn bis hoch zu den Lungen auf. Der Bursche ließ seinen Knüppel fallen und schrie vor Schmerzen, er griff mit den Händen nach der Klinge, die ihn aufgespießt hatte. Aber Martil war mit ihm bereits fertig. Mit einer Drehung des Handgelenks und einem Stoß ließ er den sterbenden Jüngling von seiner Klinge gleiten, dem jungen Mann in den Weg, der die Straße hinter Martil blockiert hatte. Er hatte keinen Bart, nur dunkle Stoppeln am Kinn, stolperte an seinem sterbenden Bruder vorbei und holte mit seiner Axt weit über die rechte Schulter aus. Martil griff ihn an, wich aber nach links aus, um der Axt zu entgehen, die ihn verfehlte und stattdessen in den Boden fuhr. Ein leichter rückhändiger Streich mit dem Schwert in seiner Rechten durchschnitt dem Jungen die Kehle. Martil hielt in seiner Drehung erst inne, als er sich dem Riesen mit dem schwarzen Bart und dem breiten Kreuz gegenübersah.
Der Riese brüllte vor Wut beim Anblick seiner beiden toten Brüder, aber es hatte ihn wertvolle Zeit gekostet, an Tomon vorbeizukommen, und Martil erwartete ihn bereits, als er mit der erhobenen Axt angestürmt kam. Er führte die Axt so, dass sie Martil vom Kopf bis zur Hüfte gespalten hätte. Doch Martil hatte jahrelang Kämpfe mit Axtkämpfern ausgefochten und sprang flink zur Seite. Seine Schwerter schnellten wie von selbst vor; erst schnitt das eine dem Angreifer den Bauch auf, dann das andere. Sie öffneten ihn wie eine Brieftasche, noch während Martil der Axt auswich. Der junge Mann stolperte noch einige Schritte, bis er buchstäblich über seine eigenen Eingeweide fiel, die sich aus dem offenen Bauch ergossen. Die Füße rutschten ihm weg, und sein Kopf schlug auf die Furche der Fahrspur auf.
Martil drehte sich abermals um und sah sich einem bestürzten Edil gegenüber, der auf ihn zukommen wollte, aber völlig erstarrt war angesichts der Hinrichtung seiner Söhne.
»Meine Jungen, meine Jungen«, keuchte er, und der Mund stand ihm so weit offen, dass Zahnlücken und schwarze Zähne zum Vorschein kamen.
Martil blickte kurz auf die drei noch zuckenden Leiber und spürte, wie ein gewaltiger Zorn in ihm aufwallte.
»Ich habe dich gewarnt. Ich habe es dir gesagt, aber du wolltest nicht hören!«, schnaubte er.
Edil starrte ihn bloß an. »Aber der Wein, der Gesang! Niemand kann sich so benehmen und dann so etwas anrichten «, brabbelte er, während ihm anscheinend entgangen war, dass Martil auf ihn zukam. »Wie hätte ich Euch einfach weiterreiten lassen können? Was Ihr dabeihabt, hätte gereicht, um meine Familie Monate über Wasser zu halten.«
Martil ignorierte seine Worte. »Sieh nur, wozu du mich gezwungen hast! Ich hatte dem Töten abgeschworen, ich habe dich gewarnt, und dennoch hast du mich angegriffen!« Der Boden schien unter ihm nachzugeben, und Martil konnte das Blut in seinen Schläfen pochen spüren. Er kannte dieses Gefühl. Es war das gleiche wie vor dem Angriff auf Bellic, und es konnte nur durch eine Flut von Gewalt und Blut weggespült werden.
»Und was soll ich jetzt tun? Ihr habt meine Söhne getötet! « Edil stöhnte. Seine liebenswürdige Art und das gaunerhafte Schmunzeln waren Vergangenheit.
»Weißt du, wie viel Blut an meinen Händen klebt?« Martil blickte an sich hinab. »Und nicht nur an meinen Händen, auch an meinem Gesicht und an meinen Kleidern. Hast du irgendeine Vorstellung davon, wie leid ich den Geruch von Blut bin? Wie sehr ich versucht habe, es aus dem Kopf zu bekommen?«
»W... was sagt Ihr da?« Edil bemerkte nun, dass Martil mit seinen blutverschmierten Schwertern nur noch einen Schritt von ihm entfernt stand. Aber er machte keine Anstalten, die Axt, die in seiner Hand baumelte, zu schwingen.
»Blut stinkt. So wie du stinkst und ich stinke. Wie deine ganze dreckige Familie. Ich habe dir einen Gefallen getan, sie zu töten. Also, wenn du ein Mann bist, versuchst du, sie zu rächen. Du warst vorhin mutig genug, als du dachtest, ich wäre auf deine Gnade angewiesen. Komm schon!« Martil spuckte Edil ins Gesicht, und der Mann zuckte zurück, als hätte man ihn geschlagen. »Du konntest dastehen und Befehle erteilen, nun bring zu Ende, was du angefangen hast. Versuch dein Glück und tu, was deine dummen, stinkenden Ziegen, die du deine Söhne nanntest, nicht tun konnten. Oder bist du genauso feige wie der dahinten?«
Martil schleuderte Edil die Worte an den Kopf und wollte ihn so provozieren, dass er ihn angriff. Er genoss es zu sehen, wie der Schock dem Zorn wich und der wiederum der Angst. In seinem Innersten wusste er, dass er den Mann mutwillig aufbrachte, bis diesem nichts mehr übrig blieb, als ihn anzugreifen und sich dabei töten zu lassen, aber er war zu zornig, um irgendetwas anderes zu wollen, als es diesem Manne heimzuzahlen.
»Ja, ich werde dich auch töten. Ich werde dich abschlachten wie ein Schwein, das du ja bist. Du konntest nicht leben wie ein Mann, nun finde heraus, ob du wie einer sterben kannst, du Bastard!«
Aber Edil stand immer noch reglos da und traf keinerlei Anstalten anzugreifen. Offensichtlich war er nicht in der Lage, das Geschehene zu begreifen, unfähig zu verstehen, wie ein betrunkener Witzbold seine Familie abgeschlachtet hatte. Martil spürte, wie sein Zorn überkochte beim Anblick dieses Mannes, der nicht zu Ende bringen wollte, was er begonnen hatte.
»Komm schon! Ich werde dir die Haut vom Gesicht ziehen, wenn du nicht kämpfst!«, zischte er und spuckte Edil erneut ins Gesicht. Das schien den Räuber aus seiner Schockstarre erwachen zu lassen. Er brüllte einen wortlosen Schlachtruf und schwang seine Axt nach Martil; wilde, ziellose Hiebe, die nur die Luft durchschnitten. Martil sprang genau in den Bogen der Axt und schwang seine beiden Schwerter, wobei er all seinen Zorn und all seinen Hass in den Doppelhieb legte. Seine Schwerter trafen Edils Hals von beiden Seiten, und der Kopf des Mannes wirbelte zu Boden und rollte ins Gebüsch. Der Körper stand noch einen Moment aufrecht, und Blut spritzte ihm aus dem Hals, bevor er in sich zusammensackte. Martil drehte sich um, um sich zu vergewissern, dass von den Söhnen keine Bedrohung mehr ausging. Ihre toten Augen schienen ihn anzustarren, ihn zu beschuldigen, ihre Gesichter erstarrt zu Grimassen des Schocks und der Todesangst. Er sah sie sich einen nach dem anderen an, aber da war kein Leben mehr, keine Bewegung, nur die abscheulichen Wunden, die er in ihre Körper geschnitten hatte, und der Gestank von Blut und Eingeweiden. Er wandte sich wieder um und beugte sich vor, um sich zu übergeben; er erbrach einen schier endlosen Schwall aus Wein und Brot, das er an diesem Morgen gegessen hatte. Anschließend trottete Martil zu Tomon, der die ganze Zeit über geduldig gewartet hatte. Schon auf dem Weg zog er sich Hemd und Hosen aus, die von Blut besudelt waren. Dann goss er sich Wasser aus seinem Schlauch über die Hände und rieb sich mit den noch sauberen Stellen seines Hemdes das Blut von Gesicht und Händen. Als Letztes spülte er sich den Mund und spuckte aus.
Sein Weinschlauch lag neben Edils Leiche. Im Augenblick hatte der Rotwein jedoch zu viel Ähnlichkeit mit Blut, als dass er ihn hätte herunterbekommen können. Ratlos, ob er einfach weiterreiten sollte oder die Leichen begraben, lehnte er sich gegen Tomon und vergrub das Gesicht in den Händen. Es war schon wieder geschehen. Er hatte die Kontrolle verloren und unnötigerweise getötet. Er hätte die Söhne nicht zu töten brauchen, er hätte sich damit zufriedengeben können, sie zu verwunden. Aber wenn er einmal seine Schwerter zückte, war es vorbei mit dem klaren Denken und der Vernunft. Und Edils Tod ... war eher ein Mord gewesen.
»Er hätte versucht, seine Söhne zu rächen«, sagte Martil zu Tomon, aber er merkte, dass nicht einmal das Pferd das glauben würde. »Er hatte die Wahl, mich einfach in Frieden zu lassen!« Aber nicht mehr zum Schluss, sagte er sich. Sich selbst damit zu beruhigen, dass der Mann ein Räuber war und offensichtlich schon vorher getötet hatte, sodass er jetzt mit dem Auslöschen seiner Familie sogar anderen Reisenden das Leben retten würde, war nur ein schwacher Trost. Es änderte nichts an der Wahrheit.
Martil überlief ein Schauder der Selbstverachtung. »Er ist tot, weil ich ihn töten wollte. Weil ich ihn dafür bestrafen wollte, dass er mich in Zorn gebracht hatte«, sagte er Tomon. »Weil ich wieder die Kontrolle verloren hatte. Genau wie in Bellic.«
Es war einer der Gründe gewesen, warum er das Heer und selbst sein Heimatland Rallora verlassen hatte, obwohl er dort unten - zumindest für einen Teil der Menschen - ein Held gewesen war.
»Einer der Gründe? Es war der einzige Grund, du dummer Bastard!«, sagte er sich selbst.
Bellic. Die eine Tat des Zorns und der Rache, die ihn vom Helden zum Verbrecher gemacht hatte. Die Stadt, die ihn für den Rest seines Lebens heimsuchen würde. Der jahrelange Krieg hatte ihm etwas genommen; die Fähigkeit, sich selbst zu kontrollieren - seine Ruhe zu bewahren. Wenn er zornig wurde, starben Menschen. Selbst hier, in einem anderen Land. Und er wusste nicht, wie er dem ein Ende setzen sollte.
Ich kann nicht mehr viel aushalten, bevor ich komplett verrückt werde, dachte er ... er rieb sich das Gesicht mit zittriger Hand. Von jetzt an wird es anders sein. Ich werde mich ändern, schwor er sich im Stillen.
Er zog sich langsam frische Kleider an. Aber als er sich hinsetzte, um in seine Stiefel zu schlüpfen, ließ ihn ein lautes Stöhnen sofort wieder auf die Füße springen; er spürte, wie sein Herz raste. Er war schon auf dem Weg zu seinen Schwertern, bevor er begriff, dass die Geräusche von dem schwarzbärtigen Sohn kamen, den er abgeschlachtet hatte. Er versuchte sich aus seinen Eingeweiden zu ziehen und sich auf den Rücken zu legen.
Martil wischte die Schwerter mit seinem besudelten Hemd ab, bevor er sie kampfbereit in die Hände nahm und den Bemühungen des Jungen zusah. Als er sich sicher war, dass keine Falle auf ihn wartete, ging er vorsichtig zu ihm hinüber. Wenn die Hälfte der Eingeweide sich rund um die Knie ausbreitete, konnte man nicht gut kämpfen, aber in sechzehn Jahren blutiger Kriege hatte Martil viele seiner Freunde, und später seinen Obersten, auf zu ungewöhnliche Art und Weise sterben sehen, um jetzt auch nur das geringste Risiko einzugehen. Martil wusste, was er tun musste. Der junge Räuber konnte noch gut eine Umdrehung des Stundenglases oder länger unter Todesqualen leiden. Er trat einen Schritt auf ihn zu und hob sein Schwert, um dem Leiden des jungen Mannes ein Ende zu bereiten.
»Wartet!«
Martil hielt inne und blickte in das junge, brutale Gesicht. Schmerzen und Blut hatten Linien auf die Teile des Gesichts gezeichnet, die nicht von dem dicken, verfilzten Bart bedeckt waren. Die Augen zeigten Intelligenz und einen Hauch Verzweiflung.
»Ich habe eine Halbschwester. Ihr Name ist Karia. Sie ist erst sechs. Vater hat noch mal geheiratet, nachdem Mutter bei Letens Geburt gestorben war.« Er deutete mit dem Kopf auf seinen Bruder mit der durchgeschnittenen Kehle.
»Wollt Ihr, dass ich sie und ihre Mutter irgendwo hinbringe? « Martil wusste erst nicht recht, warum er dies gefragt hatte. Die Schuld darüber, dass er die Kontrolle verloren hatte, überkam ihn, und er war erpicht darauf, mehr als erpicht, Wiedergutmachung zu leisten. Auch war er erpicht darauf, von diesem Ort zu verschwinden. Er könnte sich die Mutter und das Kind nehmen, sie ins nächste Dorf bringen und ihnen Geld geben. Das würde alles wiedergutmachen, redete er sich ein.
Schwarzbart schüttelte den Kopf und biss sich prompt auf die Lippe, wegen der Anstrengung, die ihn das gekostet hatte.
»Nein. Ihre Mutter starb bei ihrer Geburt. Wir haben Karia in unserem Unterschlupf gelassen, ungefähr zweihundert Schritt westlich von hier.«
»Was soll ich für Euch tun?«
»Bringt sie über die Grenze nach Tetril, ins Dorf Thest. Wir haben Verwandtschaft dort. Meinen Onkel Danir. Er wird sich um sie kümmern.«
Martils Wissen um den exakten Verlauf der Grenze war dürftig, doch er wusste, dass es ein Marsch von einer Woche oder länger war. Seine Schuld war stark und frisch, aber das war des Guten zu viel.
»Ich werde sie ins nächste Dorf bringen und ihr genügend Geld für die Reise dorthin geben«, bot er an.
»Ich flehe Euch an! Sie muss zu Danir gehen!« Der Riese hielt inne, um Luft zu holen, und seine Verzweiflung verwandelte sich in ein Betteln. »Er wird Euch großzügig belohnen, wenn Ihr kommt! Ihr dürft sie hier nicht sterben lassen! Sie ist die Letzte unserer Familie.«
Martil wollte ablehnen. Jedermann konnte sich gut vorstellen, dass es der reinste Albtraum werden würde, ein kleines Mädchen in ein mehrere Tagesmärsche entferntes Dorf zu bringen. Geschweige denn ein kleines Mädchen, dessen Brüder und Vater man gerade abgeschlachtet hatte.
Aber seine Schuld bedrückte ihn sehr. Er wollte nicht noch den Tod eines kleinen Kindes hinzufügen. Das Blut an seinen Händen war einfach buchstäblich noch zu frisch. Außerdem reiste er durch das friedliche Norstalos. Was sollte schon groß passieren? Und sie war erst sechs! Wie viel Ärger konnte ein kleines Mädchen schon machen?
»In Ordnung«, sagte er schwerfällig.
»Schwört auf Aroaril!«, keuchte der Riese, dessen Gesicht immer blasser wurde.
Martil zögerte. Einen Eid an einen Gott zu leisten war nie eine Sache, die leicht von der Hand ging. Man wusste nie, wann die Götter sich dazu entschieden, einen darauf festzunageln.
»Schwört!«
Martils Schuldgefühl gewann die Oberhand über seinen gesunden Menschenverstand. Obwohl der junge Räuber im Sterben lag, wollte er ihm zeigen, dass er nicht nur irgendein wahnsinniger Schwertkämpfer war. »Ich schwöre bei Aroaril, dass ich Karia zu ihrem Onkel Danir im Dorfe Thest bringen werde«, sagte er feierlich.
Der Riese entspannte sich, lehnte sich zurück und rang nach Luft.
»Nun, es gibt da noch einen letzten Gefallen, um den ich Euch bitten muss«, stöhnte er.
Martil nickte und schloss die Augen, sodass er das Aufflackern von Triumph auf dem Gesicht des jungen Mannes nicht sehen musste, bevor er sein Schwert wieder in die Scheide zurückkehren ließ. Grimmig wickelte er seine Hände in die blutbefleckte Kleidung und zog die Leichen von Edil und seinen Söhnen von der Straße. Dann wusch er sich noch einmal die Hände und spülte sich auch den Mund erneut aus, bevor er Tomon ein Stück die Straße entlangführte. So musste das Mädchen nicht die Leichen ihres Vaters und ihrer Brüder sehen, wenn er mit ihr zu seinem Pferd zurückkehrte.
Als er sich dann tatsächlich durch die Bäume nach Westen zum Lager der Räuber in Marsch setzte, um das Mädchen zu holen, wurde er sich der enormen Tragweite seines soeben geleisteten Schwurs bewusst. Warum sollte ein kleines Mädchen mit einem fremden Mann irgendwohin gehen wollen? Was konnte er ihr wegen ihrer Familie erzählen? Wie sollte sie reisen, was sollte sie essen, und wo sollte sie schlafen?
An diesem Punkt hätte er fast kehrtgemacht, sich auf Tomon geschwungen und aus dem Staub gemacht. Es musste in der Nähe doch ein Dorf geben, wo er den Überfall und das vermisste Mädchen melden konnte! Dann hielt er inne. Wenn das Mädchen nun in den Wald lief und umkam? Was auch immer ihre Familie für Sünden begangen haben mochte, sie hatte ihn weder umbringen noch überfallen wollen. Er konnte sich ja so schon kaum im Spiegel anschauen - könnte er den Tod eines weiteren Kindes mit seinem Gewissen vereinbaren?
»Und du führst immer mehr Selbstgespräche«, murmelte er.
»Ja, aber du musst dir erst Sorgen machen, wenn du dir selbst zu antworten beginnst«, entschied er.
Er zögerte immer noch, aber der Gedanke an das Mädchen, das verlassen auf die Rückkehr seiner Familie wartete - irgendwann würde es sie suchen gehen, Vater und Brüder tot auffinden und im Wald umherirren, wo sie der sichere Tod erwartete -, gab schließlich den Ausschlag. Bevor er es sich wieder anders überlegen konnte, schlug er sich nach Westen durch die Bäume, zählte seine Schritte und versuchte, nicht darüber nachzudenken, was er da tat.
Er ging langsam und hielt nach dem Unterschlupf der Räuber Ausschau, den er in einer Waldlichtung oder etwas Ähnlichem vermutete. Und er horchte auf irgendwelche Geräusche, die ein kleines Mädchen machte, ohne allerdings genau zu wissen, wie die sich anhören sollten. Er verließ sich einfach darauf, dass sie sich schon von dem abheben würden, was man sonst so im Wald hörte. Das war indessen nicht viel. Sein Eindringen in den Wald schien alle Tiere verschreckt zu haben.
Nach etwas über zweihundert Schritten - wenn er denn richtig gezählt hatte - stieß er tatsächlich auf ein Lager. Er ging näher heran, aber er sah niemanden. Vom Gestank und Dreck angewidert spuckte er aus. Selbst einem Mann, der jahrelang in groben Unterkünften gehaust hatte, erschien diese hier besonders erbärmlich. Das Feuer war erloschen; ein paar schwarz angelaufene Töpfe und Pfannen lagen auf dem Boden und warteten auf ihre Besitzer, die nicht wiederkehren würden. Der Familienbesitz wirkte jämmerlich gering, was wahrscheinlich der Grund war, warum sie ihn nicht hatten weiterreisen lassen wollen.
»Hallo, Lager!«, rief er, so freundlich er konnte. Niemand antwortete ihm.
Martil achtete nicht darauf, wo er hintrat, stolperte über eine Baumwurzel, sodass er beinahe in die Reste des Feuers gestürzt wäre. Fliegen surrten hungrig um die verkrusteten, schwarzen Essensreste in den Töpfen. Er musterte sorgfältig die Umgebung, ob sich irgendwo hinter einem Baum oder Busch ein kleines Mädchen versteckte, aber er entdeckte nichts. Er sah sogar auf dem primitiven Plumpsklo der Familie nach - es befand sich für seinen Geschmack viel zu dicht an dem Unterschlupf -, bevor er zu dem glücklichen Entschluss kam, dass niemand dort war.
»Vielleicht ist sie schon weggelaufen«, überlegte er. Diese Möglichkeit gefiel ihm. Schließlich hatte er es versucht. Es war nicht sein Fehler, dass sie schon die Flucht ergriffen hatte. Er könnte ins nächste Dorf reiten, den Überfall melden und den Rest der dortigen Miliz überlassen. Deren Aufgabe war es, den Frieden zu wahren. Das Mädchen würde wahrscheinlich irgendwo auf die Straße treffen und sich von dem nächsten Reisenden mit zu ihrem Onkel nehmen lassen.
In dem Gefühl, dass ihm eine große Last von den Schultern genommen wurde, drehte er sich mit einem breiten Grinsen um und trat den Rückweg zur Straße an. Aber er war erst zwei Schritte weit gekommen, als er fast über eine kleine Gestalt stolperte, die vor ihm aufgetaucht war.
»Wer bist du? Was machst du in unserem Lager?«, wollte sie wissen. »Mein Paps und meine Brüder werden bald wieder zurück sein.«
© der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.
Das Pferd, ein ehemaliges Reittier des Heeres, aus den Diensten des Königs entlassen wie so viele der Veteranen Ralloras, war ein Wallach. Martil hatte es Tomon getauft - nach seinem alten Freund, dem die Frauen nicht hatten widerstehen können. Das hätte Tomon gefallen, wäre er noch am Leben gewesen. Tomon hatte seinen Sinn für Humor immer geschätzt. Borin war davon nicht so begeistert gewesen und hatte immer gesagt, es gäbe einige Dinge, über die man sich nicht lustig machen sollte. Aber selbst er hatte zugegeben, dass unter anderem sein Humor ihnen über die schwierigsten Zeiten hinweggeholfen hatte. Traurigerweise vermochte Martil nicht, die Träume und Erinnerungen fernzuhalten, die ihn jetzt heimsuchten.
»Also, Tomon, wie ging das Lied denn nun?«, fragte Martil und stupste sein Pferd an.
Das Pferd antwortete nicht, sondern trottete nur die Straße entlang - oder besser das, was hier in diesem ruhigen Teil des östlichen Norstalos als Straße durchging. Martil richtete seine Aufmerksamkeit jetzt ebenfalls auf die Straße. Er dachte lieber über solch alltägliche Dinge wie Straßen oder halb vergessene Trinklieder nach als darüber, warum er allein durch ein fremdes Land ritt, obwohl er in seiner Heimat doch als Held hätte gelten sollen. Einst war es ihm nicht möglich gewesen, sich auf einer Straße zu zeigen, ohne dass viele Männer ihm die Hand schüttelten, Kinder ihn nachahmten und Frauen ihn in ihre Kammer einluden. Zwar würde die Hälfte der Leute ihn noch immer bejubeln, aber die andere Hälfte dafür am liebsten vor Hass anspucken. Er schauderte bei der Erinnerung daran, welche Schimpfwörter - gefolgt von faulen Früchten - sie ihm an den Kopf geworfen hatten. Er suchte verzweifelt nach irgendetwas, um sich von diesen Erinnerungen abzulenken. Es war Sommer hier in Norstalos, und die Sonne ließ ihm den Schweiß den Rücken herunterlaufen, wann immer er nicht im Schatten von Bäumen ritt. Sie machte ihn auch durstig, also nahm er einen Schluck Wein. Er hatte nach dem besten Norstaler Roten gefragt, erinnerte er sich.
»Schmeckt wie Ziegenpisse«, teilte er Tomon mit. Aber der Wein half ihm dennoch zu vergessen. Er konnte sich beispielsweise nicht an den Namen des verdammten Tieres erinnern, das sechzehn urkomische Verse lang von Katzen bis hin zu Drachen alles vergewaltigte. Nun, wenn der Wein seine Arbeit tat und ihn auch alles andere vergessen ließ, war das Geld dafür nicht verschwendet. Wenn er ihn den Anblick des verzweifelten Borin vergessen ließ, wie er vergeblich versucht hatte, sich die Eingeweide wieder in den Leib zu schieben, nachdem zwei berellische Krieger ihn mit ihren Äxten erwischt hatten. Oder den Ausdruck auf Tomons Gesicht, als er erstickte, nachdem ein berellischer Armbrustpfeil ihm die Kehle zerfetzt hatte. Wenn er ihn vergessen ließ, wie er sich mit vier anderen rallorischen Hauptmännern zusammengetan hatte und die Zerstörung der berellischen Stadt Bellic befohlen hatte.
»Zeit für einen Themenwechsel«, gab Martil Tomon zu verstehen und goss sich noch mehr Wein in den Mund.
Er war tatsächlich widerlich. Wenn das wirklich der beste Wein sein sollte, den Norstalos zu bieten hatte, würde er sich demnächst wohl an Bier halten müssen.
»Schmeckt doch eher wie Pferdepisse«, teilte er Tomon mit, und plötzlich kam ihm eine Idee. War das Tier in dem Lied ein Pferd?
»Nein, das wird ja im zehnten Vers bestiegen«, erinnerte er sich und gab Tomon einen freundschaftlichen Klaps. Er sah sich um - vielleicht gab es im Wald ja ein Tier zu entdecken, das seinem Gedächtnis auf die Sprünge half. Sehr wahrscheinlich war das allerdings nicht. Er ritt durch reiches Bauernland. Aus dem fruchtbaren Osten Norstalos' rumpelten regelmäßig Karren voller Erzeugnisse zu den Städten und Dörfern im Westen und Süden des Landes. Das Land schien unter der warmen Sommersonne zu schlummern, und offenbar hatte sich jedes Tier ein kühles Plätzchen für seine Mittagsruhe gesucht. Und auch die Straße war wie ausgestorben. Er selbst hatte sie nur gewählt, weil der direkte Weg zur Westküste von Norstalos ihn durch Berellia geführt hätte. Da fast jeder in diesem Land ihn wegen des Massakers von Bellic am liebsten bei lebendigem Leib brennen sehen würde, war ihm der Umweg vernünftig erschienen. Bald würde er sich wieder nach Westen wenden können, seinem Ziel zu. Dort wollte er in der Sonne sitzen und den Wellen dabei zusehen, wie sie auf den Strand schwappten.
»Man würde diese Straße jedenfalls nicht des Ausblicks wegen bereisen«, erzählte Martil Tomon. »Erst nichts als Felder, und jetzt nichts außer verdammten Bäumen.«
Sie waren gut für Schatten, aber nur wenig mehr. Er ließ seinen geübten Blick nach links und rechts durch den Wald schweifen. Kaum geeignet, um auch nur ein Regiment zu verstecken. Die Bäume standen oft weit auseinander, die Büsche waren niedrig. Dann fiel ihm wieder ein, dass er sich gar nicht um derartige Dinge kümmern sollte, und er versuchte, sich wieder seinem ursprünglichen Thema zuzuwenden.
»Hier werde ich weder einen Wolf noch einen Bären zu Gesicht bekommen«, dachte er laut und fragte sich dann, ob das mysteriöse Tier ein Wolf war. »Nein, der Wolf kommt im zwölften Vers«, murmelte er und genehmigte sich noch einen Schluck Wein.
Vielleicht sollte er die Finger von dem Wein lassen, damit sein Gedächtnis wieder etwas besser funktionierte. Er könnte ja heute Nachmittag ein Wirtshaus aufsuchen, das Trinken nachholen und sich genug in den Schlund schütten, um seinen Albträumen ein Ende zu bereiten. Obwohl es weniger die Träume, sondern eher die Stimmen waren; diejenigen derer, die darum baten, nicht getötet zu werden, und derer, die seine Seele verfluchten, wenn sie starben; und auch derer, die ihn anschrien, wenn er durch die Straßen seines Heimatlandes lief. Ein Schauder überkam ihn; er durfte seinen Gedanken nicht weiter so die Zügel schießen lassen.
»Ich werde das Lied singen«, verkündete er und stieß den Korken wieder auf den Weinschlauch.
Dann räusperte er sich und versuchte sich an den ersten Vers zu erinnern. Er fiel ihm nicht ein, also beschloss er einfach die Fetzen vorzutragen, an die er sich erinnerte. Sollte sein Pferd sich doch beschweren, wenn die Verse nicht in der richtigen Reihenfolge kamen.
»Das ... Etwas ... fand einen Bären,
der in der Winterkälte schlief.
Es rutschte bis dicht hinter das Tier
und bestieg es mit all seiner Gier.«
Martil war kein besonders talentierter Sänger, aber was ihm an stimmlichen Fähigkeiten fehlte, machte er durch Lautstärke wieder wett. Vögel flogen krächzend aus ihrem Versteck hoch, und Tomon zuckte gereizt mit den Ohren, aber Martil ignorierte sie.
Irgendetwas schien dem Lied zu fehlen. Das Witzigste an der Sache war, dass so ein unscheinbares Tier die Hauptrolle spielte. Aber der feinere Sinn dafür, dachte Martil, würde anderen Wildtieren in Hörweite wohl ohnehin abgehen.
»Oh, die Bärin erwachte voller Grimm,
verloren war des Schlafes Glanz;
sie wollte doch nur schlafen,
nicht spüren diesen Riesen...«
Tomon hatte die Ohren zornig hin und her geschlagen und Martil fast abgeworfen, als er zum Ende der Strophe hin immer lauter wurde. Aber der Reiter ließ sich davon nicht aufhalten und versuchte den nächsten Vers.
»Das Etwas fand einen Löwen,
der lag im Regen und schlief,
es schlich sich dicht dahinter
und griff in die Mähne tief.
Ohhh, der Löwe brüllte gewaltig!
Was war das für ein Gerödel?
Aber es gab nun einmal kein Entkommen
vor diesem Riesend...«
»Einen schönen Tag Euch!«, unterbrach ihn eine heitere Stimme.
Martil, der die Augen geschlossen hatte, um sich besser erinnern zu können, öffnete sie überrascht. Er brauchte einen Moment, bis er begriff, dass ein korpulenter Mann ihm gegenüber auf der Straße stand. Er hatte einen ausgeprägten Bart und trug schöne Kleider, die allerdings ihre besten Tage hinter sich hatten. Seine grüne Jacke war von undefinierbaren Flecken gesprenkelt, seine Lederhose und -schuhe waren vielfach geflickt. Er hatte eine einschneidige Axt bei sich, wie sie überall von Holzfällern benutzt wurde. Sein breites Grinsen wirkte irgendwie ansteckend, und Martil bemerkte, dass er das Grinsen erwiderte.
Martil zog an Tomons Zügeln und blieb etwa fünf Schritt von dem lächelnden Mann stehen. Sobald er dies getan hatte, verfluchte er sich selbst dafür. Freundliche Waldarbeiter zogen nicht einfach durchs Land und grüßten Alleinreisende, um ihnen eine Besichtigung der schönsten Bäume des Waldes anzubieten. Er hätte Tomon zum Galopp antreiben sollen. Allerdings stand dort nur ein einziger Mann, und er selbst war zu Pferde; also trank er einen Schluck Wein und fragte sich, ob die Begegnung etwas Leben in seinen Tag bringen würde.
»Schönes Lied. Habe die Melodie nicht erkannt. Was war denn das ›Etwas‹?«, fragte der Mann. Martil hatte eine eher ruppige Sprache erwartet, aber der Mann sprach gut, allerdings mit starkem Norstaler Akzent.
»Daran kann ich mich verdammt noch mal nicht erinnern. Bei Zorvas Eiern, ich wünschte, ich könnte es. Ich weiß lediglich, dass es einen Stab hat, auf den jeder Zauberer stolz wäre«, gab Martil zu.
»Bei Zorvas Eiern?« Der Waldarbeiter wirkte erheitert. »Diese Redewendung habe ich noch nie zuvor gehört. Die meisten Leute halten es für schlimm genug, den Namen des Dunklen Gottes auch nur zu erwähnen, ohne seine Eier zu beleidigen.«
Martil zuckte die Achseln. »Das ist eine alte Angewohnheit von mir. Wenn Zorva das nicht passt, hätte er sich sicher bereits vor Jahren bei mir beschwert.« Er kippte sich abermals Wein in den Mund. »Nun, wenn es dir nichts ausmacht, ich habe ein Lied zu singen.«
Der Waldarbeiter trat etwas weiter auf die Straße, sodass er fast in ihrer Mitte stand. Ein kleiner, scheinbar harmloser Schritt, der es ihm jedoch möglich machte, jeden Vorbeiritt zu blockieren.
Martil erkannte, dass hier rechts und links der Straße dichte Büsche standen, sodass es sehr schwer werden würde, in den Wald auszuweichen. Ihm stellten sich langsam die Nackenhaare auf, und er musste sich zwingen, den Worten des Waldarbeiters weiter seine Aufmerksamkeit zu schenken.
»Also, ich hoffe, Ihr habt nicht vor, dieses Stück in den Gasthäusern zu singen«, sagte er. »Wir mögen nur einfache Landsleute sein, aber wir bevorzugen Lieder mit einer Melodie.«
»Singen gehörte noch nie zu meinen Stärken«, gab Martil zu. »Aber ist es in diesem Teil Norstalos' üblich, jemandem aufzulauern und ihm dann sein Gesangstalent zum Vorwurf zu machen?«
Der Mann schmunzelte. »Nein, aber ich habe eine kleine Tochter, und ich werde ihre Fragen zur Bedeutung der letzten Zeilen jedes Verses beantworten müssen.«
Martil nickte klugerweise. »Es gibt Dinge, die von der Jugend besser ungehört bleiben.«
Ungebeten kam ihm das Bild schreiender Kinder vor Augen, die zusahen, wie ihre Eltern von rachsüchtigen Soldaten niedergemetzelt wurden. Er schüttelte den Kopf, als könne er das Bild damit wegschütteln. »Ich verspreche, immer leise zu singen«, sagte er hastig, bevor er wieder einen großen Schluck Wein trank.
»Das Singen scheint durstig zu machen, wie?«, sagte der Mann bedeutungsvoll und zeigte auf den Weinschlauch.
Martil winkte ihm zu. »Willst du auch etwas? Sag mir deinen Namen.«
»Warum?«
»Weil ich gerne weiß, mit wem ich trinke.«
Der Mann hielt einen Moment inne und zuckte dann mit den Achseln. »Edil«, antwortete er.
Der Tonfall des Mannes deutete an, dass er erwartete, Martil wüsste etwas über ihn, jedoch war ihm der Name unbekannt. Vielleicht war der Mann ja ein berüchtigter Schafsvergewaltiger. Das war ihm egal. Er warf Edil den Weinschlauch zu, der ihn geschickt auffing und einen großen Schluck trank.
»Nicht übel - aber ich hätte erwartet, dass ein reicher Mann wie Ihr etwas Besseres trinkt«, teilte der Waldarbeiter mit. Martil bemerkte, dass der Mann irgendetwas an sich hatte, das ihn verleitete, das Gespräch fortzuführen. Eine Art schurkischer Liebenswürdigkeit, die den ersten Eindruck der rauen Kleidung und der Ungepflegtheit Lügen zu strafen schien.
Martil streckte die Hand nach seinem Weinschlauch aus. »Ich bin kein reicher Mann. All mein Besitz befindet sich auf diesem Pferd. Keine Frau, keine Kinder, kein Land, keine Freunde, kein Zuhause«, seufzte er und spürte die Bedeutung dieser Worte.
Edil schnaubte, »Also für mich seht Ihr reich genug aus. Gutes Pferd, zwei Schwerter - große Satteltaschen. Auch nur eines davon würde aus mir einen reichen Mann machen. Alles, was ich habe, sind Kinder.«
»Deine Tochter?«
Edil lachte. »Was nützt denn ein kleines Mädchen? Nein, ich habe drei Söhne, und sie sind mir von großem Nutzen.« Er pfiff, und Martil sah auf einmal drei junge Männer aus den Büschen auftauchen, die alle Stellung bezogen - einer hinter ihm, die anderen beiden rechts und links neben ihm. Wie ihr Vater trugen sie Bärte, aber in unterschiedlichen Phasen der Entwicklung, und auch ihre Kleider hatten schon bessere Tage gesehen - und waren vielleicht sogar für andere Männer geschneidert worden, wenn man sich besah, wie ausgesprochen schlecht sie saßen. Es war offensichtlich auch schon Monate her, seit sie zuletzt gewaschen worden waren. Der eine hielt einen Knüppel in der Hand, dessen Ende im Feuer gehärtet worden war, die anderen trugen grobe Äxte. Martil war zwar etwas angetrunken, aber er war nicht blind. Er wandte sich wieder Edil zu und lachte.
»Ihr habt einen eigenartigen Sinn für Humor, Fremder. Ist Euch das Tier aus Eurem Lied wieder eingefallen? «, fragte Edil argwöhnisch.
Martil rieb sich das Gesicht. »Ich wünschte, das wäre es. Nein, ich kann nur nicht fassen, dass ich einfach hier gesessen und mich von dir in diese lächerlich einfache Falle habe locken lassen.«
Edil nickte. »Das Schicksal ist seltsam, nicht wahr? Also, wenn Ihr nun freundlicherweise absteigen würdet und uns alles nehmen lasst, was Euch gehört, dürft Ihr Eure Reise fortsetzen. Oder ich lasse Euch Zorvas Bekanntschaft machen, den es gar nicht freuen wird, dass Ihr seine Eier beleidigt habt.«
Martil nickte anerkennend über den Spruch. Die meisten Wegelagerer würden mit möglichen Opfern nicht so sprechen. Selbst in dieser Situation hatte er etwas für die Liebenswürdigkeit des Mannes übrig. Es hatte fast den hypnotischen Effekt, den eine Schlange nutzt, um ein Nagetier zu verzaubern. Er glaubte, Edil hatte ihn sich jahrelang zunutze gemacht, um Leute zu umgarnen. Aber er war kein gewöhnlicher Mann. »Ich habe einen besseren Vorschlag. Ihr geht mir aus dem Weg, und wir beide sind um eine Erfahrung reicher. Ich lasse euch sogar den Wein behalten und lege noch ein Stück Gold obendrauf, von dem ihr euch bessere Kleider kaufen könnt.«
Edil brach in Gelächter aus. »Ich nehme zurück, was ich gesagt habe. Ihr habt den Schneid, in den Wirtshäusern Eindruck zu schinden. Vielleicht lasse ich Euch das eine Goldstück - wenn Ihr versprecht, niemals zu singen! « Seine Söhne stimmten in das Lachen ein, sein ältester, ein junger Riese zu Martils Linker, hatte einen schwarzen Bart und lachte besonders laut.
Martil seufzte und lehnte sich leicht nach vorne. Es war kein Spaß mehr. Es war an der Zeit, diesem Narren klarzumachen, in wie großer Gefahr er sich befand. »Hört mir zu. Ich habe die letzten sechzehn Jahre damit verbracht, auf allen Schlachtfeldern im Süden Männer zu töten. Nun haben wir zusammen Wein getrunken, und du hast Kinder. Nun tritt beiseite, und du kannst weitere zeugen.« Das Letzte, was er wollte, war kämpfen. Nicht wegen des Weines, auch wenn er ihm etwas säuerlich im Magen lag. Betrunken oder nüchtern, krank oder gesund, es hatte nie einen Mann gegeben, der ihm mit der Klinge hatte widerstehen können. Aber er war das Töten einfach leid.
»Fremder, es ist nicht mehr unterhaltsam. Runter vom Pferd und gebt mir all Euer Geld. Ich möchte keine Zeit damit verschwenden, Euch zu begraben«, knurrte Edil.
Martil versuchte es erneut und hoffte darauf, dass er Edil würde überzeugen können. Das war die letzte Möglichkeit, das Leben dieses Mannes und seiner Söhne zu retten.
»Versucht mich aufzuhalten, und ich werde euch töten. Ich habe schon genug Tode zu verantworten. Ich habe nicht die Absicht, vier weitere hinzuzufügen.« Er war nicht nur unfähig, das irgendwie komisch zu finden, nein, auch die Wirkung des Weins hatte nachgelassen. Langsam entspannte er seine Füße auf den Steigbügeln, als er Edil in die Augen sah, um ihm zu zeigen, wie ungern er ihn töten würde.
Aber Edil erwiderte seinen Blick nicht. Sein Blick galt nur dem Pferd und den prall gefüllten Satteltaschen, die es trug.
»Ich will gar nicht wissen, weswegen Ihr hier seid oder was Ihr glaubt, im Süden getan zu haben. Ihr seid betrunken und allein, wir sind zu viert. Steigt von Eurem Pferd, wenn Ihr weiterleben wollt.«
»Zwing mich nicht dazu«, warnte Martil ihn eindringlich. »Fünf Goldstücke, wenn ihr mich passieren lasst!«
Edils Gesichtszüge verhärteten sich. »Ergreift ihn! Nehmt all sein Gold!«
Martil reagierte sofort. Er sprang nach rechts vom Pferd, weg von dem Schwarzbart, der hier die einzig wahre Bedrohung war. Er landete leichtfüßig nur ein paar Schritte entfernt von dem Sohn, der rechts von ihm stand. Einem Jüngling mit sandfarbenem Haar, dünnem, wuchernden Bart und hervorstehenden Augen. Er war der mit dem Knüppel; er kam, das Stück Holz hoch über dem Kopf, auf Martil zugeeilt. Martil griff nach den beiden Schwertern an seiner Seite und hatte sie aus der Scheide gezogen, als der Junge zu einem weiten Schlag angesetzt hatte, der ihm den Kopf zerschmettern sollte - aber Martil hatte sich geduckt, und das Schwert in seiner linken Hand schnellte vor, versank tief im Bauch des Jünglings und riss ihn bis hoch zu den Lungen auf. Der Bursche ließ seinen Knüppel fallen und schrie vor Schmerzen, er griff mit den Händen nach der Klinge, die ihn aufgespießt hatte. Aber Martil war mit ihm bereits fertig. Mit einer Drehung des Handgelenks und einem Stoß ließ er den sterbenden Jüngling von seiner Klinge gleiten, dem jungen Mann in den Weg, der die Straße hinter Martil blockiert hatte. Er hatte keinen Bart, nur dunkle Stoppeln am Kinn, stolperte an seinem sterbenden Bruder vorbei und holte mit seiner Axt weit über die rechte Schulter aus. Martil griff ihn an, wich aber nach links aus, um der Axt zu entgehen, die ihn verfehlte und stattdessen in den Boden fuhr. Ein leichter rückhändiger Streich mit dem Schwert in seiner Rechten durchschnitt dem Jungen die Kehle. Martil hielt in seiner Drehung erst inne, als er sich dem Riesen mit dem schwarzen Bart und dem breiten Kreuz gegenübersah.
Der Riese brüllte vor Wut beim Anblick seiner beiden toten Brüder, aber es hatte ihn wertvolle Zeit gekostet, an Tomon vorbeizukommen, und Martil erwartete ihn bereits, als er mit der erhobenen Axt angestürmt kam. Er führte die Axt so, dass sie Martil vom Kopf bis zur Hüfte gespalten hätte. Doch Martil hatte jahrelang Kämpfe mit Axtkämpfern ausgefochten und sprang flink zur Seite. Seine Schwerter schnellten wie von selbst vor; erst schnitt das eine dem Angreifer den Bauch auf, dann das andere. Sie öffneten ihn wie eine Brieftasche, noch während Martil der Axt auswich. Der junge Mann stolperte noch einige Schritte, bis er buchstäblich über seine eigenen Eingeweide fiel, die sich aus dem offenen Bauch ergossen. Die Füße rutschten ihm weg, und sein Kopf schlug auf die Furche der Fahrspur auf.
Martil drehte sich abermals um und sah sich einem bestürzten Edil gegenüber, der auf ihn zukommen wollte, aber völlig erstarrt war angesichts der Hinrichtung seiner Söhne.
»Meine Jungen, meine Jungen«, keuchte er, und der Mund stand ihm so weit offen, dass Zahnlücken und schwarze Zähne zum Vorschein kamen.
Martil blickte kurz auf die drei noch zuckenden Leiber und spürte, wie ein gewaltiger Zorn in ihm aufwallte.
»Ich habe dich gewarnt. Ich habe es dir gesagt, aber du wolltest nicht hören!«, schnaubte er.
Edil starrte ihn bloß an. »Aber der Wein, der Gesang! Niemand kann sich so benehmen und dann so etwas anrichten «, brabbelte er, während ihm anscheinend entgangen war, dass Martil auf ihn zukam. »Wie hätte ich Euch einfach weiterreiten lassen können? Was Ihr dabeihabt, hätte gereicht, um meine Familie Monate über Wasser zu halten.«
Martil ignorierte seine Worte. »Sieh nur, wozu du mich gezwungen hast! Ich hatte dem Töten abgeschworen, ich habe dich gewarnt, und dennoch hast du mich angegriffen!« Der Boden schien unter ihm nachzugeben, und Martil konnte das Blut in seinen Schläfen pochen spüren. Er kannte dieses Gefühl. Es war das gleiche wie vor dem Angriff auf Bellic, und es konnte nur durch eine Flut von Gewalt und Blut weggespült werden.
»Und was soll ich jetzt tun? Ihr habt meine Söhne getötet! « Edil stöhnte. Seine liebenswürdige Art und das gaunerhafte Schmunzeln waren Vergangenheit.
»Weißt du, wie viel Blut an meinen Händen klebt?« Martil blickte an sich hinab. »Und nicht nur an meinen Händen, auch an meinem Gesicht und an meinen Kleidern. Hast du irgendeine Vorstellung davon, wie leid ich den Geruch von Blut bin? Wie sehr ich versucht habe, es aus dem Kopf zu bekommen?«
»W... was sagt Ihr da?« Edil bemerkte nun, dass Martil mit seinen blutverschmierten Schwertern nur noch einen Schritt von ihm entfernt stand. Aber er machte keine Anstalten, die Axt, die in seiner Hand baumelte, zu schwingen.
»Blut stinkt. So wie du stinkst und ich stinke. Wie deine ganze dreckige Familie. Ich habe dir einen Gefallen getan, sie zu töten. Also, wenn du ein Mann bist, versuchst du, sie zu rächen. Du warst vorhin mutig genug, als du dachtest, ich wäre auf deine Gnade angewiesen. Komm schon!« Martil spuckte Edil ins Gesicht, und der Mann zuckte zurück, als hätte man ihn geschlagen. »Du konntest dastehen und Befehle erteilen, nun bring zu Ende, was du angefangen hast. Versuch dein Glück und tu, was deine dummen, stinkenden Ziegen, die du deine Söhne nanntest, nicht tun konnten. Oder bist du genauso feige wie der dahinten?«
Martil schleuderte Edil die Worte an den Kopf und wollte ihn so provozieren, dass er ihn angriff. Er genoss es zu sehen, wie der Schock dem Zorn wich und der wiederum der Angst. In seinem Innersten wusste er, dass er den Mann mutwillig aufbrachte, bis diesem nichts mehr übrig blieb, als ihn anzugreifen und sich dabei töten zu lassen, aber er war zu zornig, um irgendetwas anderes zu wollen, als es diesem Manne heimzuzahlen.
»Ja, ich werde dich auch töten. Ich werde dich abschlachten wie ein Schwein, das du ja bist. Du konntest nicht leben wie ein Mann, nun finde heraus, ob du wie einer sterben kannst, du Bastard!«
Aber Edil stand immer noch reglos da und traf keinerlei Anstalten anzugreifen. Offensichtlich war er nicht in der Lage, das Geschehene zu begreifen, unfähig zu verstehen, wie ein betrunkener Witzbold seine Familie abgeschlachtet hatte. Martil spürte, wie sein Zorn überkochte beim Anblick dieses Mannes, der nicht zu Ende bringen wollte, was er begonnen hatte.
»Komm schon! Ich werde dir die Haut vom Gesicht ziehen, wenn du nicht kämpfst!«, zischte er und spuckte Edil erneut ins Gesicht. Das schien den Räuber aus seiner Schockstarre erwachen zu lassen. Er brüllte einen wortlosen Schlachtruf und schwang seine Axt nach Martil; wilde, ziellose Hiebe, die nur die Luft durchschnitten. Martil sprang genau in den Bogen der Axt und schwang seine beiden Schwerter, wobei er all seinen Zorn und all seinen Hass in den Doppelhieb legte. Seine Schwerter trafen Edils Hals von beiden Seiten, und der Kopf des Mannes wirbelte zu Boden und rollte ins Gebüsch. Der Körper stand noch einen Moment aufrecht, und Blut spritzte ihm aus dem Hals, bevor er in sich zusammensackte. Martil drehte sich um, um sich zu vergewissern, dass von den Söhnen keine Bedrohung mehr ausging. Ihre toten Augen schienen ihn anzustarren, ihn zu beschuldigen, ihre Gesichter erstarrt zu Grimassen des Schocks und der Todesangst. Er sah sie sich einen nach dem anderen an, aber da war kein Leben mehr, keine Bewegung, nur die abscheulichen Wunden, die er in ihre Körper geschnitten hatte, und der Gestank von Blut und Eingeweiden. Er wandte sich wieder um und beugte sich vor, um sich zu übergeben; er erbrach einen schier endlosen Schwall aus Wein und Brot, das er an diesem Morgen gegessen hatte. Anschließend trottete Martil zu Tomon, der die ganze Zeit über geduldig gewartet hatte. Schon auf dem Weg zog er sich Hemd und Hosen aus, die von Blut besudelt waren. Dann goss er sich Wasser aus seinem Schlauch über die Hände und rieb sich mit den noch sauberen Stellen seines Hemdes das Blut von Gesicht und Händen. Als Letztes spülte er sich den Mund und spuckte aus.
Sein Weinschlauch lag neben Edils Leiche. Im Augenblick hatte der Rotwein jedoch zu viel Ähnlichkeit mit Blut, als dass er ihn hätte herunterbekommen können. Ratlos, ob er einfach weiterreiten sollte oder die Leichen begraben, lehnte er sich gegen Tomon und vergrub das Gesicht in den Händen. Es war schon wieder geschehen. Er hatte die Kontrolle verloren und unnötigerweise getötet. Er hätte die Söhne nicht zu töten brauchen, er hätte sich damit zufriedengeben können, sie zu verwunden. Aber wenn er einmal seine Schwerter zückte, war es vorbei mit dem klaren Denken und der Vernunft. Und Edils Tod ... war eher ein Mord gewesen.
»Er hätte versucht, seine Söhne zu rächen«, sagte Martil zu Tomon, aber er merkte, dass nicht einmal das Pferd das glauben würde. »Er hatte die Wahl, mich einfach in Frieden zu lassen!« Aber nicht mehr zum Schluss, sagte er sich. Sich selbst damit zu beruhigen, dass der Mann ein Räuber war und offensichtlich schon vorher getötet hatte, sodass er jetzt mit dem Auslöschen seiner Familie sogar anderen Reisenden das Leben retten würde, war nur ein schwacher Trost. Es änderte nichts an der Wahrheit.
Martil überlief ein Schauder der Selbstverachtung. »Er ist tot, weil ich ihn töten wollte. Weil ich ihn dafür bestrafen wollte, dass er mich in Zorn gebracht hatte«, sagte er Tomon. »Weil ich wieder die Kontrolle verloren hatte. Genau wie in Bellic.«
Es war einer der Gründe gewesen, warum er das Heer und selbst sein Heimatland Rallora verlassen hatte, obwohl er dort unten - zumindest für einen Teil der Menschen - ein Held gewesen war.
»Einer der Gründe? Es war der einzige Grund, du dummer Bastard!«, sagte er sich selbst.
Bellic. Die eine Tat des Zorns und der Rache, die ihn vom Helden zum Verbrecher gemacht hatte. Die Stadt, die ihn für den Rest seines Lebens heimsuchen würde. Der jahrelange Krieg hatte ihm etwas genommen; die Fähigkeit, sich selbst zu kontrollieren - seine Ruhe zu bewahren. Wenn er zornig wurde, starben Menschen. Selbst hier, in einem anderen Land. Und er wusste nicht, wie er dem ein Ende setzen sollte.
Ich kann nicht mehr viel aushalten, bevor ich komplett verrückt werde, dachte er ... er rieb sich das Gesicht mit zittriger Hand. Von jetzt an wird es anders sein. Ich werde mich ändern, schwor er sich im Stillen.
Er zog sich langsam frische Kleider an. Aber als er sich hinsetzte, um in seine Stiefel zu schlüpfen, ließ ihn ein lautes Stöhnen sofort wieder auf die Füße springen; er spürte, wie sein Herz raste. Er war schon auf dem Weg zu seinen Schwertern, bevor er begriff, dass die Geräusche von dem schwarzbärtigen Sohn kamen, den er abgeschlachtet hatte. Er versuchte sich aus seinen Eingeweiden zu ziehen und sich auf den Rücken zu legen.
Martil wischte die Schwerter mit seinem besudelten Hemd ab, bevor er sie kampfbereit in die Hände nahm und den Bemühungen des Jungen zusah. Als er sich sicher war, dass keine Falle auf ihn wartete, ging er vorsichtig zu ihm hinüber. Wenn die Hälfte der Eingeweide sich rund um die Knie ausbreitete, konnte man nicht gut kämpfen, aber in sechzehn Jahren blutiger Kriege hatte Martil viele seiner Freunde, und später seinen Obersten, auf zu ungewöhnliche Art und Weise sterben sehen, um jetzt auch nur das geringste Risiko einzugehen. Martil wusste, was er tun musste. Der junge Räuber konnte noch gut eine Umdrehung des Stundenglases oder länger unter Todesqualen leiden. Er trat einen Schritt auf ihn zu und hob sein Schwert, um dem Leiden des jungen Mannes ein Ende zu bereiten.
»Wartet!«
Martil hielt inne und blickte in das junge, brutale Gesicht. Schmerzen und Blut hatten Linien auf die Teile des Gesichts gezeichnet, die nicht von dem dicken, verfilzten Bart bedeckt waren. Die Augen zeigten Intelligenz und einen Hauch Verzweiflung.
»Ich habe eine Halbschwester. Ihr Name ist Karia. Sie ist erst sechs. Vater hat noch mal geheiratet, nachdem Mutter bei Letens Geburt gestorben war.« Er deutete mit dem Kopf auf seinen Bruder mit der durchgeschnittenen Kehle.
»Wollt Ihr, dass ich sie und ihre Mutter irgendwo hinbringe? « Martil wusste erst nicht recht, warum er dies gefragt hatte. Die Schuld darüber, dass er die Kontrolle verloren hatte, überkam ihn, und er war erpicht darauf, mehr als erpicht, Wiedergutmachung zu leisten. Auch war er erpicht darauf, von diesem Ort zu verschwinden. Er könnte sich die Mutter und das Kind nehmen, sie ins nächste Dorf bringen und ihnen Geld geben. Das würde alles wiedergutmachen, redete er sich ein.
Schwarzbart schüttelte den Kopf und biss sich prompt auf die Lippe, wegen der Anstrengung, die ihn das gekostet hatte.
»Nein. Ihre Mutter starb bei ihrer Geburt. Wir haben Karia in unserem Unterschlupf gelassen, ungefähr zweihundert Schritt westlich von hier.«
»Was soll ich für Euch tun?«
»Bringt sie über die Grenze nach Tetril, ins Dorf Thest. Wir haben Verwandtschaft dort. Meinen Onkel Danir. Er wird sich um sie kümmern.«
Martils Wissen um den exakten Verlauf der Grenze war dürftig, doch er wusste, dass es ein Marsch von einer Woche oder länger war. Seine Schuld war stark und frisch, aber das war des Guten zu viel.
»Ich werde sie ins nächste Dorf bringen und ihr genügend Geld für die Reise dorthin geben«, bot er an.
»Ich flehe Euch an! Sie muss zu Danir gehen!« Der Riese hielt inne, um Luft zu holen, und seine Verzweiflung verwandelte sich in ein Betteln. »Er wird Euch großzügig belohnen, wenn Ihr kommt! Ihr dürft sie hier nicht sterben lassen! Sie ist die Letzte unserer Familie.«
Martil wollte ablehnen. Jedermann konnte sich gut vorstellen, dass es der reinste Albtraum werden würde, ein kleines Mädchen in ein mehrere Tagesmärsche entferntes Dorf zu bringen. Geschweige denn ein kleines Mädchen, dessen Brüder und Vater man gerade abgeschlachtet hatte.
Aber seine Schuld bedrückte ihn sehr. Er wollte nicht noch den Tod eines kleinen Kindes hinzufügen. Das Blut an seinen Händen war einfach buchstäblich noch zu frisch. Außerdem reiste er durch das friedliche Norstalos. Was sollte schon groß passieren? Und sie war erst sechs! Wie viel Ärger konnte ein kleines Mädchen schon machen?
»In Ordnung«, sagte er schwerfällig.
»Schwört auf Aroaril!«, keuchte der Riese, dessen Gesicht immer blasser wurde.
Martil zögerte. Einen Eid an einen Gott zu leisten war nie eine Sache, die leicht von der Hand ging. Man wusste nie, wann die Götter sich dazu entschieden, einen darauf festzunageln.
»Schwört!«
Martils Schuldgefühl gewann die Oberhand über seinen gesunden Menschenverstand. Obwohl der junge Räuber im Sterben lag, wollte er ihm zeigen, dass er nicht nur irgendein wahnsinniger Schwertkämpfer war. »Ich schwöre bei Aroaril, dass ich Karia zu ihrem Onkel Danir im Dorfe Thest bringen werde«, sagte er feierlich.
Der Riese entspannte sich, lehnte sich zurück und rang nach Luft.
»Nun, es gibt da noch einen letzten Gefallen, um den ich Euch bitten muss«, stöhnte er.
Martil nickte und schloss die Augen, sodass er das Aufflackern von Triumph auf dem Gesicht des jungen Mannes nicht sehen musste, bevor er sein Schwert wieder in die Scheide zurückkehren ließ. Grimmig wickelte er seine Hände in die blutbefleckte Kleidung und zog die Leichen von Edil und seinen Söhnen von der Straße. Dann wusch er sich noch einmal die Hände und spülte sich auch den Mund erneut aus, bevor er Tomon ein Stück die Straße entlangführte. So musste das Mädchen nicht die Leichen ihres Vaters und ihrer Brüder sehen, wenn er mit ihr zu seinem Pferd zurückkehrte.
Als er sich dann tatsächlich durch die Bäume nach Westen zum Lager der Räuber in Marsch setzte, um das Mädchen zu holen, wurde er sich der enormen Tragweite seines soeben geleisteten Schwurs bewusst. Warum sollte ein kleines Mädchen mit einem fremden Mann irgendwohin gehen wollen? Was konnte er ihr wegen ihrer Familie erzählen? Wie sollte sie reisen, was sollte sie essen, und wo sollte sie schlafen?
An diesem Punkt hätte er fast kehrtgemacht, sich auf Tomon geschwungen und aus dem Staub gemacht. Es musste in der Nähe doch ein Dorf geben, wo er den Überfall und das vermisste Mädchen melden konnte! Dann hielt er inne. Wenn das Mädchen nun in den Wald lief und umkam? Was auch immer ihre Familie für Sünden begangen haben mochte, sie hatte ihn weder umbringen noch überfallen wollen. Er konnte sich ja so schon kaum im Spiegel anschauen - könnte er den Tod eines weiteren Kindes mit seinem Gewissen vereinbaren?
»Und du führst immer mehr Selbstgespräche«, murmelte er.
»Ja, aber du musst dir erst Sorgen machen, wenn du dir selbst zu antworten beginnst«, entschied er.
Er zögerte immer noch, aber der Gedanke an das Mädchen, das verlassen auf die Rückkehr seiner Familie wartete - irgendwann würde es sie suchen gehen, Vater und Brüder tot auffinden und im Wald umherirren, wo sie der sichere Tod erwartete -, gab schließlich den Ausschlag. Bevor er es sich wieder anders überlegen konnte, schlug er sich nach Westen durch die Bäume, zählte seine Schritte und versuchte, nicht darüber nachzudenken, was er da tat.
Er ging langsam und hielt nach dem Unterschlupf der Räuber Ausschau, den er in einer Waldlichtung oder etwas Ähnlichem vermutete. Und er horchte auf irgendwelche Geräusche, die ein kleines Mädchen machte, ohne allerdings genau zu wissen, wie die sich anhören sollten. Er verließ sich einfach darauf, dass sie sich schon von dem abheben würden, was man sonst so im Wald hörte. Das war indessen nicht viel. Sein Eindringen in den Wald schien alle Tiere verschreckt zu haben.
Nach etwas über zweihundert Schritten - wenn er denn richtig gezählt hatte - stieß er tatsächlich auf ein Lager. Er ging näher heran, aber er sah niemanden. Vom Gestank und Dreck angewidert spuckte er aus. Selbst einem Mann, der jahrelang in groben Unterkünften gehaust hatte, erschien diese hier besonders erbärmlich. Das Feuer war erloschen; ein paar schwarz angelaufene Töpfe und Pfannen lagen auf dem Boden und warteten auf ihre Besitzer, die nicht wiederkehren würden. Der Familienbesitz wirkte jämmerlich gering, was wahrscheinlich der Grund war, warum sie ihn nicht hatten weiterreisen lassen wollen.
»Hallo, Lager!«, rief er, so freundlich er konnte. Niemand antwortete ihm.
Martil achtete nicht darauf, wo er hintrat, stolperte über eine Baumwurzel, sodass er beinahe in die Reste des Feuers gestürzt wäre. Fliegen surrten hungrig um die verkrusteten, schwarzen Essensreste in den Töpfen. Er musterte sorgfältig die Umgebung, ob sich irgendwo hinter einem Baum oder Busch ein kleines Mädchen versteckte, aber er entdeckte nichts. Er sah sogar auf dem primitiven Plumpsklo der Familie nach - es befand sich für seinen Geschmack viel zu dicht an dem Unterschlupf -, bevor er zu dem glücklichen Entschluss kam, dass niemand dort war.
»Vielleicht ist sie schon weggelaufen«, überlegte er. Diese Möglichkeit gefiel ihm. Schließlich hatte er es versucht. Es war nicht sein Fehler, dass sie schon die Flucht ergriffen hatte. Er könnte ins nächste Dorf reiten, den Überfall melden und den Rest der dortigen Miliz überlassen. Deren Aufgabe war es, den Frieden zu wahren. Das Mädchen würde wahrscheinlich irgendwo auf die Straße treffen und sich von dem nächsten Reisenden mit zu ihrem Onkel nehmen lassen.
In dem Gefühl, dass ihm eine große Last von den Schultern genommen wurde, drehte er sich mit einem breiten Grinsen um und trat den Rückweg zur Straße an. Aber er war erst zwei Schritte weit gekommen, als er fast über eine kleine Gestalt stolperte, die vor ihm aufgetaucht war.
»Wer bist du? Was machst du in unserem Lager?«, wollte sie wissen. »Mein Paps und meine Brüder werden bald wieder zurück sein.«
© der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.
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Autoren-Porträt von Duncan Lay
Duncan Lay arbeitet als Layout Designer und Headline Texter für den australischen Sunday Telegraph. Er ist seit vielen Jahren journalistisch tätig und hat bereits für zahlreiche Zeitungen geschrieben. Duncan Lay lebt mit seiner Frau und seinen beiden Kindern an der Küste von New South Wales.
Bibliographische Angaben
- Autor: Duncan Lay
- 2013, 416 Seiten, Maße: 12,1 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Link, Michaela
- Übersetzer: Michaela Link
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442269113
- ISBN-13: 9783442269112
- Erscheinungsdatum: 21.01.2013
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