Der im Dunkeln wacht / Kriminalinspektorin Irene Huss Bd.9
Ein Fall für Irene Huss. Roman
Kriminalinspektorin Irene Huss im Fadenkreuz eines Psychopathen!
Zwei erdrosselte Frauen, in Plastikfolien verpackt. Fundort: zwei Friedhöfe rund um Göteborg. Dem Team um Kriminalinspektorin Irene Huss ist schnell klar, dass es...
Zwei erdrosselte Frauen, in Plastikfolien verpackt. Fundort: zwei Friedhöfe rund um Göteborg. Dem Team um Kriminalinspektorin Irene Huss ist schnell klar, dass es...
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Produktinformationen zu „Der im Dunkeln wacht / Kriminalinspektorin Irene Huss Bd.9 “
Kriminalinspektorin Irene Huss im Fadenkreuz eines Psychopathen!
Zwei erdrosselte Frauen, in Plastikfolien verpackt. Fundort: zwei Friedhöfe rund um Göteborg. Dem Team um Kriminalinspektorin Irene Huss ist schnell klar, dass es sich um einen Serientäter handeln muss. Beide Opfer waren alleinstehend, beide waren Mitte vierzig, bei beiden fand sich ein Foto mit einer verschlüsselten Botschaft an der Wohnungstür - mit einer Chrysantheme liebevoll verziert. Was Irene Huss nicht weiß: der Mörder hat bereits ein neues Opfer im Visier, und zwar sie.
Zwei erdrosselte Frauen, in Plastikfolien verpackt. Fundort: zwei Friedhöfe rund um Göteborg. Dem Team um Kriminalinspektorin Irene Huss ist schnell klar, dass es sich um einen Serientäter handeln muss. Beide Opfer waren alleinstehend, beide waren Mitte vierzig, bei beiden fand sich ein Foto mit einer verschlüsselten Botschaft an der Wohnungstür - mit einer Chrysantheme liebevoll verziert. Was Irene Huss nicht weiß: der Mörder hat bereits ein neues Opfer im Visier, und zwar sie.
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Der im Dunkeln wacht von Helene Tursten... mehr
Dünne Nebelschleier hingen im Lichtschein der Straßenlaternen. Bald würden sie verschwunden sein. Der Wind wehte in immer heftigeren Böen, die Regen verhießen. Die Feuchtigkeit klebte in ihrem Gesicht, als sie leicht vornübergebeugt gegen die Windstöße auf dem Parkplatz ankämpfte. An einem so ungemütlichen Abend ging niemand freiwillig vor die Tür. Selbst die Hundebesitzer verzichteten auf einen letzten Abendspaziergang. Die Reihenhäuser lagen dunkel und still da. Die meisten Nachbarn schliefen bereits. Nur das Küchenfenster von Bosse Gunnarsson leuchtete warm und einladend. Er saß wie immer am Küchentisch und löste Sudokus. Seine Lesebrille war ihm bis auf die Nasenspitze gerutscht.
Ihr eigenes Haus war dunkel, aber das sollte sich gleich ändern. Sie würde Licht machen, sich eine Kanne Tee kochen und ein Brot mit Ei und Kaviarpaste zurechtmachen, ein paar Kerzen auf den Tisch stellen, sich in eine Decke hüllen und die 23-Uhr-Nachrichten ansehen. Gemütlich. Dann ab ins Bett.
Sie schob die Hand in den Briefkasten und holte die Post heraus. Rechnungen und Reklame. Mit ein paar Schritten war sie bei der Haustür und suchte in der Handtasche nach dem Schlüssel. Gerade als sie ihn hervorgekramt hatte und ins Schloss stecken wollte, bemerkte sie im Dunkeln nahe dem Schuppen eine hastige Bewegung. Dann stand plötzlich jemand dicht hinter ihr. Sie spürte einen eisernen Griff über der Brust, der Angreifer presste sie fest an seinen Körper. Sie bekam keine Luft. Die Kraft des Mannes und sein beißender Geruch lähmten sie. Als sie begriff, was er vorhatte, zwang sie sich zur Gegenwehr. Mit
einer Hand versuchte der Mann, ihr eine Schlinge um den Hals zu legen. Er hatte Mühe, sie ihr über den Kopf zu streifen, nicht, weil er kleiner war als sie, sondern weil sie verzweifelt Oberkörper und Kopf hin und her warf, um sich zu befreien. Er knurrte und zischte etwas, aber hatte sie fest im Griff. Nach kurzem Kampf saß die Schlinge. Schnell hob sie instinktiv die Hand und konnte sie gerade noch unter die Schlinge legen. Das alles war so schnell gegangen, dass sie nicht einmal Zeit gehabt hatte zu schreien. Jetzt versuchte sie verzweifelt, um Hilfe zu rufen, aber aus ihrem Mund kam nur ein schwaches Wimmern. Die Schlinge saß bereits zu fest. Sie spürte, wie er den Griff um ihren Oberkörper lockerte, um sie noch fester zu würgen. Sie bekam kaum noch Luft. Vor ihren Augen flimmerte es. Gleich würde sie das Bewusstsein verlieren. Mit letzter Kraft wühlte sie mit der freien Hand in ihrer Jackentasche. Papiertaschentücher, Halspastillen, Feuerzeug ... Panik stieg in ihr auf und ihre Bewegungen wurden ungeschickter. Der Schmerz an ihrem Hals war unerträglich. Sie bekam keine Luft mehr.
Plötzlich spürte sie den Autoschlüssel mit dem kleinen Zylinder am Schlüsselring. Mit zitternden Fingern umfasste sie ihn. Ihr Daumen rutschte ab, dann spürte sie den Knopf. Unter Aufbietung ihrer letzten Kräfte drückte sie, so fest sie noch konnte.
Das Schrillen des Alarms dröhnte durch die Reihenhaussiedlung. Der Angreifer erstarrte und hielt kurz inne. Da hob sie den Fuß und trat mit aller Kraft nach hinten. Der Absatz ihres Lederstiefels traf ihn unterhalb des Knies. Er zuckte zusammen und stöhnte leise. Für den Bruchteil einer Sekunde lockerte er seinen Griff. In diesem Moment hörte sie, wie Bosse Gunnarsson die Tür öffnete und rief:
»Hallo? Was ist da los? Was ist das für ein Lärm? Ich rufe die Polizei!«
Und plötzlich war er nicht mehr hinter ihr. Sie hörte die Gartenpforte, als er sie öffnete und Richtung Parkplatz verschwand.
»Hallo! Stehen bleiben! Was soll das?«
Das war wieder Bosses Stimme. Gesegneter Bosse. Sie sank zu Boden und versuchte, um Hilfe zu rufen, aber es kam nur ein klägliches Krächzen aus ihrer Kehle.
Sie war davongekommen. Sie lebte noch.
Panisch hielt sie den kleinen Zylinder umklammert. Sie konnte den kleinen Gegenstand, der ihr das Leben gerettet hatte, nicht loslassen.
Das Heulen des Alarms stoppte, und um sie herum wurde es schwarz.
Normalerweise war Irene Huss keine Frühaufsteherin, aber an manchen Tagen erwog sie ernsthaft, es zu werden. Wie heute. Die Luft war kristallklar und die Kälte der Nacht noch frisch. Am Horizont flammte ein strahlender Sonnenaufgang in intensiven Goldtönen. Konnte ein Tag perfekter beginnen? Irene kuschelte sich in ihren Morgenmantel, blieb auf der obersten Treppenstufe stehen und atmete tief ein. Die Feuchtigkeit des Regens vom Vorabend verstärkte die Gerüche. Ihr Garten wirkte wie in der Stunde der Schöpfung, ein letztes trotziges Aufbäumen gegen den unbarmherzig herannahenden Herbst. Die üppigen Herbstastern glühten dunkelrot in den gusseisernen Behältern neben der Treppe. In diesem Jahr blühten sie besonders prächtig.
In Pantoffeln machte sie sich auf den Weg zu der niedrigen Gartenpforte, beugte sich schließlich darüber und nahm die Zeitung aus dem Briefkasten am Zaun. Sie drehte sich um und wollte eben wieder zurückgehen, hielt aber mitten im Schritt inne. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie es realisierte. Das Bänkchen, das sonst zwischen den beiden Küchenfenstern stand, war verschoben worden. Jetzt stand es mitten im Beet, unter einem Fenster. Die frisch gepflanzten Rosenbüsche hatten gelitten, mehrere Zweige waren abgeknickt. Erzürnt hob Irene die Bank hoch und stellte sie an ihren Platz an der Wand zurück. Merkwürdig. Hatte sie gestern Abend nicht noch dort gestanden?
»Glaube ich auch«, antwortete Krister, als sie ihn wenig später fragte.
Er stand am Herd und briet Spiegeleier. Auf einem Teller lagen bereits knusprig gebratener Speck und einige Tomatenhälften. Was Irene betraf, war eine solide Mahlzeit am Morgen verlorene Liebesmüh. Seit mehreren Jahrzehnten bestand ihr Standardfrühstück aus drei Tassen schwarzem Kaffee und einem oder zwei Käsebroten. Neuerdings war ihr Mann jedoch der Auffassung, ihre Frühstücksgewohnheiten seien verwerflich. Vielleicht stimmte das ja auch, aber ihr passten sie. Wenn Irene wagte, Spiegeleier mit Speck und ihrem schädlichen Cholesterol als nicht sonderlich gesund zu bezeichnen, wischte Krister diesen Einwand mit der Bemerkung beiseite: »Glyx-Diät! Eine Welt von Diätjunkies kann nicht irren!« Die Wahrheit war allerdings, dass er abnehmen musste, und nicht etwa sie.
Krister stellte ihr einen Teller Glyx-Frühstück hin. Wie immer stocherte sie nur darin. In solchen Augenblicken war sie versucht, Veganerin zu werden. Wie Jenny. Ihre Tochter praktizierte das seit nunmehr fast zehn Jahren. Sie ließ sich gerade an einer Schule in Amsterdam im vegetarischen Kochen ausbilden, Schwerpunkt vegane Kost. Jenny war in die Fußstapfen ihres Vaters getreten, wenn auch nicht ganz so, wie dieser sich das vorgestellt hatte.
»Aber du musst doch zugeben, es ist seltsam, dass die Bank auf einmal woanders steht«, beharrte Irene.
»Ach was, das waren sicher Viktor und seine Freunde, die sich einen Spaß erlaubt haben«, meinte Krister.
»Warum sollte Viktor ... ja, vielleicht.«
Der Junge aus dem Nachbarhaus war zehn und machte mit seinen Freunden die Gegend unsicher. Aber Irene hatte den Eindruck, dass sich die Jungen trotz allem gut mit den meisten Nachbarn verstanden. Zu großen Unfug hatten sie bisher nicht getrieben. Sie konnte sich auch schwer vorstellen, warum die Jungen das Bänkchen in die Rosenbüsche gezerrt haben sollten. Das erschien sinnlos. Das Küchenfenster lag so niedrig, Viktor konnte auch ohne Bank hineinschauen und musste sich dabei nicht einmal auf die Zehenspitzen stellen.
Sie schob die Gedanken an die Bank beiseite und goss sich ihre dritte Tasse Kaffee ein.
Am Morgen darauf erwachte Irene bereits um sieben Uhr, obwohl es ihr freier Samstag war. Krister war am Vorabend erst spät aus dem Restaurant heimgekommen. Sie hörte seine ruhigen, leise zischenden Atemzüge neben sich. Er würde noch eine Weile gut schlafen. Sie stahl sich aus der Wärme des Bettes. Als sie aus dem Bad kam, zog sie ihre Joggingsachen an und streifte sich wie immer auch den elastischen Knieschutz über. Inzwischen bekam sie Schmerzen, wenn sie ihn beim Laufen nicht benutzte. Der Verfall setzt ein, dachte sie grimmig.
Sie öffnete die Haustür und nahm die Treppe mit einem Satz. Dann blieb sie einige Sekunden bewegungslos mit nach vorne gerichtetem Blick stehen. Ganz langsam drehte sie sich um. Die prächtigen Herbstastern waren aus den Kübeln gerissen worden und lagen verstreut auf dem Rasen.
»Viktor würde so etwas nie tun!« Malin, Viktors Mutter, verschränkte die Arme vor der Brust und sah ausgesprochen beleidigt aus. Irene versuchte es mit einem versöhnlichen Tonfall.
»Ehrlich gesagt, glaube ich auch nicht, dass ...«, begann sie.
»Warum kommen Sie dann und beschuldigen ihn, wenn Sie selbst nicht daran glauben?«, fauchte Malin.
Irene sah ein, dass dieser Wortwechsel den nachbarschaftlichen Beziehungen nicht sonderlich zuträglich war. Ihr berufliches Ich musste darüber hinaus zugeben, dass es sich um keine geglückte Vernehmung handelte.
»Ich beschuldige ihn ja gar nicht. Ich will nur alle Möglichkeiten in Betracht ziehen und mich erkundigen, ob er vielleicht was weiß«, versuchte Irene sich zu rechtfertigen.
»Verdammter Polizeimissbrauch!«, schrie Malin und knallte die Tür zu.
Polizeimissbrauch? Sie meinte wohl Machtmissbrauch. Irene konnte Malins Entrüstung gut verstehen, obwohl sie fand, dass sie überreagierte. Warum eigentlich, wenn sie von der Unschuld ihres Sohnes überzeugt war?
Wie als Antwort auf ihre Überlegungen kam Viktor selbst angestiefelt. Er öffnete die Gartenpforte und lächelte fröhlich. »Hallo«, sagte er.
»Hallo, Viktor. Du ... Ich habe deine Mutter gerade etwas gefragt. Sie wurde sehr böse auf mich.« Viktors Lächeln erlosch, und er sah sie unsicher an. Irene lächelte ihm aufmunternd zu und sagte freundlich:
»Jemand hat in unserem Garten komische Sachen angestellt, unsere kleine Bank herumgetragen und ein paar Blumen zerstört. Ich wollte dich nur fragen, ob du etwas darüber weißt.«
Der Junge schüttelte den Kopf. Er wirkte aufrichtig erstaunt.
Irene sah Viktor in die Augen und lächelte ihn erneut an. Er schaute unsicher zu ihr auf, beantwortete aber dann ihr Lächeln. So sah kein schuldbewusster Zehnjähriger aus.
Aber wenn nicht Viktor die Blumen zerstört und die Bank verschoben hatte, wer dann?
Mein Liebling gibt eine Einladung. Das gefällt mir nicht. Männer und Frauen, alle halten sie Gläser in den Händen. Alkohol. Und führe sie nicht in Versuchung, sondern erlöse sie von dem Bösen.
Ich bin für sie da. Sie weiß, dass ich über sie wache. Wir sind in unserer Liebe vereinigt. Auf ewig. Amen. Zwei Männer und zwei Frauen. Sie sitzen am Tisch und essen. Und trinken. Immer dieser Alkohol. Sie muss weg von diesen verderblichen Einflüssen. Siehe, ich werde dir einen Engel senden, der dich auf dem Weg halten und zu dem Platz führen wird, den ich ausersehen habe. Ich werde mich um dich kümmern, mein Liebling. Wir werden auf ewig in unserer Liebe vereint sein.
Ich bin da und wache. Ich bin der Wächter.
Das andere Paar ist gegangen, er aber nicht. Sie haben sich geküsst und ... mehr. Obwohl sie die meisten Lampen gelöscht hat, sehe ich mehr als genug. Sie hat ihr Haar geöffnet. Er beginnt, sie auszuziehen. Ihre Brüste sind groß und ... eklig. Sie zeigt ihr wahres Ich. Die Fassade ist zersplittert. Sie sieht aus wie eine Hexe. Ein Troll.
Trolle darf man nicht am Leben lassen.
Es ist verboten, Hunde auf dem Friedhof Gassi zu führen, aber die Not kennt kein Gebot. Egon musste raus. Also eine kurze Runde über den Westfriedhof. Um diese Zeit war auch kaum jemand dort, der sich daran stören konnte, dass sie den Haufen nicht aufsammelte. Er war ohnehin nicht der Rede wert. Wegen ihres Asthmas fiel es ihr schwer, sich zu bücken. Sie hatte Glück und fand einen Parkplatz direkt neben dem Tor. Schwer atmend und mit Mühe stieg sie aus ihrem Skoda. Bevor sie den Hund aus dem Auto ließ, nahm sie ihn an die Leine. Dann ging sie durchs Tor. Der Dackel folgte ihr widerwillig. Er hätte gerne noch an ein paar interessanten Ecken geschnuppert.
»Egon! Komm jetzt! Wir haben keine Zeit.«
Sie schimpfte auf den Hund ein, der sich jetzt erst recht weigerte. Schließlich setzte er sich resolut auf die Erde. Mit einem Ruck seines Kopfes gelang es ihm, sich seines ausgeleierten Halsbandes zu entledigen. Ha! Frei! Egon verschwendete keine Zeit und verschwand über die Wiese, so schnell ihn seine kurzen Beine trugen. Aus einem Gebüsch an der Mauer drangen liebliche Düfte. Mit Wohlbehagen bohrte er seine Schnauze in das nasse Laub und atmete all die Pheromone ein, die eine unbekannte Schönheit zurückgelassen hatte. Wäre sein Frauchen nicht gewesen, hätte er stundenlang verweilen können. Er hörte ihre schweren, schlurfenden Schritte auf der Wiese, und obwohl er ihre schrille Stimme zu ignorieren versuchte, erkannte er die Tonlage: Frauchen war nicht froh. In der Tat klang sie richtig wütend. Als sie sich mit hoch erhobener Leine näherte, wurde ihm bewusst, dass es vermutlich das Gesündeste war, noch eine Weile
auf Abstand zu bleiben. Er verzog sich in die Rhododendronbüsche. Frauchens Stimme wurde noch schriller und wütender, aber dort drinnen würde sie ihn nicht zu fassen kriegen. Ein anderer Geruch mischte sich mit dem Duft der Hündin. Zunächst blieb Egon unschlüssig zwischen den Sträuchern stehen, aber schließlich gewann seine Neugier doch die Oberhand. Er musste herausfinden, was so seltsam roch. Entschlossen neigte er seine Schnauze zu Boden und nahm die Fährte auf. Hinter den Büschen und ungesehen von seinem Frauchen folgte er der Ziegelmauer. Wo das Gebüsch zu Ende war, lag die Quelle der seltsamen Gerüche. Egon kläffte aufgeregt. Er begann an der dicken Folie zu nagen, die den Geruch einschloss. Er wurde unvorsichtig und merkte plötzlich, wie ihm das Halsband wieder über den Kopf gezogen wurde. Aber statt zu fluchen und ihn anzuschreien starrte sein Frauchen nur auf das in Folie eingeschlagene Paket. Plötzlich stieß sie kurze, schrille Geräusche aus, die ihn in den Ohren schmerzten. Egon kauerte sich verängstigt zusammen. Seine empfindliche Nase nahm einen Geruch wahr, der jenen, der aus dem interessanten Paket drang, überlagerte. Ein beißender Gestank kam aus jeder Pore seines Frauchens: Angst. Sie war vor Schreck gelähmt.
Ich sitze mit ihrem Foto vor mir da. Scheinbar unschuldig und schön. Aber ich habe sie durchschaut. Eine falsche Lügnerin. Auch sie hat gegen unsere Abmachung verstoßen. Fleischeslust. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Das ist absolut unverzeihlich. Ich muss ein Exempel statuieren. Niemand darf sich gegen mich und Gottes Gebote auflehnen. Für dieses Verbrechen gibt es nur eine Strafe: den Tod. Denn ich suche die Missetat der Väter bis ins dritte und vierte Glied heim, wenn man mich hasst.
Ich bin der Strafende.
Als Irene Huss und ihr Kollege Kriminalinspektor Fredrik Stridh eintrafen, war der Fundort bereits abgesperrt. Beamte in Uniform hatten sich überall postiert, um neugierige Passanten fernzuhalten. Mehrere Streifenwagen sowie der Lieferwagen der Spurensicherung standen in der Nähe geparkt. Das im Dunkeln aufblitzende Blaulicht verlieh den Schaulustigen in regelmäßigen Abständen eine unheimliche, bläulich-bleiche Gesichtsfarbe. Bedachte man, dass es schon auf zehn Uhr zuging, war es erstaunlich, wie viele Leute sich auf dem Friedhof aufhielten. Auf einem feuchtkalten Friedhof herumzustehen konnte wohl kaum als Abendvergnügen gelten. Aber ein Mord lockte immer sensationslüsterne Zuschauer an, das wusste Irene nach vielen Jahren als Ermittlerin des Dezernats für Gewaltverbrechen. Irene hätte gerne etwas anderes getan, als um diese Zeit zum Westfriedhof aufzubrechen. Wäre nicht Jonny Blom und seine ganze Familie plötzlich von einer Magenverstimmung heimgesucht worden, dann wäre sie auch nicht hingefahren. Jonny Blom und Fredrik hatten eigentlich zusammen Wochenendbereitschaft. Und als die Meldung über den Fund auf dem Friedhof einging, rief Fredrik Irene an und bat sie, ihn zu begleiten. Am Montag würde er wieder zu seinem Ermittlerteam Bandenkriminalität zurückkehren, und jemand anderes aus ihrem Dezernat musste den Fall übernehmen. Warum nicht sie? Seufzend hatte sie eingewilligt. Krister arbeitete das ganze Wochenende, und sie war ohnehin allein zu Hause.
Irene und Fredrik zeigten ihren uniformierten Kollegen bei der Absperrung ihre Dienstausweise, hoben das Absperrband an und gingen zu dem hellerleuchteten Fundplatz. Die großen Rhododendronbüsche raubten den neugierigen Zuschauern effektiv die Sicht. Im Scheinwerferlicht tauchte ein in Plastikfolie eingeschlagenes Bündel auf. Dass es sich wirklich um eine Leiche handelte, war durch die durchsichtige Folie zu erkennen.
Sie begrüßten Svante Malm und die anderen Kriminaltechniker.
»Schon was gefunden?«, fragte Irene.
Svante Malm schüttelte bedauernd den Kopf.
»Nichts außer der verpackten Leiche. Die wird gleich zur Gerichtsmedizin gebracht, dann können wir das Terrain besser absuchen. Aber ich bin nicht sonderlich optimistisch. Hier liegt überall eine Unmenge Müll, den Leute einfach in die Büsche geschmissen haben. Irgendwas sagt mir, dass der Mörder vorsichtig war. Die sorgfältige Verpackung spricht dafür.«
Irene konnte ihm da nur recht geben. Das ganze Paket wurde von langen Streifen braunen Paketklebebands zusammengehalten. Irene wusste aus Erfahrung, dass sich die Herkunft von Klebeband nicht klären ließ. Es wurde in großen Mengen überall im Land, ja, auf der ganzen Welt, verkauft. Die einzige Hoffnung war, dass der Täter Spuren auf dem Plastik oder auf der Leiche hinterlassen hatte.
»Ich habe mit der Gerichtsmedizin gesprochen. Es ist okay, wenn wir es dort öffnen«, meinte Svante.
»Dann fahren wir mit zur Gerichtsmedizin«, entschied Irene.
Irene und Fredrik Stridh nahmen den neuen Kriminaltechniker Matti Berggren im Auto mit, als sie zur Gerichtsmedizin fuhren. Matti erzählte, er habe beim Staatlichen Kriminaltechnischen Labor in Linköping gearbeitet. Irene schätzte ihn auf fünfundzwanzig, aber wahrscheinlich war er ein paar Jahre älter, als er aussah. Ihr Kollege Fredrik Stridh war etwa so alt gewesen, als er beim Dezernat angefangen hatte. Vor zehn Jahren. Seither war
ein sehr guter Ermittler aus ihm geworden. Schade, dass die Abteilung für Bandenkriminalität auf ihn aufmerksam geworden war.
»Warum seufzst du?«, fragte Fredrik.
»Habe ich geseufzt? Vermutlich, weil ich gerade darüber nachgedacht habe, wie gemütlich es wäre, jetzt mit einem guten Glas Wein und Knabberspaß zu Hause einen Film anzuschauen. Dann früh ins Bett. Etwas in dieser Art. Schließlich ist das mein freies Wochenende«, sagte Irene.
»In einem anderen Leben, Irene«, erwiderte Fredrik todernst.
Die Jammerei war eher eine Vorführung für den Grünschnabel Matti. Doch es schien ihm nicht sonderlich zu imponieren. Er sah neugierig aus dem Fenster, als sie am Scandinavium vorbeifuhren. Die Abendveranstaltung war zu Ende, und das Publikum, Tausende von Menschen, strömte aus dem Gebäude.
Sie hatten Glück. Zum einen war es recht ruhig in der Gerichtsmedizin, zum anderen hatte Morten Jensen Bereitschaft. Irene und Fredrik kannten ihn gut, da er schon seit mehreren Jahren dort arbeitete.
Und Jensen schien froh zu sein, Gesellschaft zu bekommen. Oder wie er es ausdrückte: »An einem Samstagabend kann es hier schon mal ziemlich tot sein.«
Matti Berggren zog die Augenbrauen hoch und lächelte dann höflich. Wahrscheinlich wusste er nicht, ob der Gerichtsmediziner Witze machte oder ob es ihm ernst war. Irene fand es immer befreiend, mit Morten Jensen zu tun zu haben. Er war viel unkomplizierter als seine Chefin, Prof. Yvonne Stridner, was allerdings kein großes Kunststück war, wie Irene fand. Eine große Mehrheit der Göteborger Polizeibeamten hätte ihr zugestimmt. Aber das Risiko, Yvonne Stridner an diesem Abend zu begegnen, war minimal. Professoren hatten nachts keine Dienstbereitschaft und am Wochenende schon gar nicht.
Matti nahm eine Probe von der Außenseite der Plastikfolie. Ein dunkelbrauner Fleck, groß wie eine Handfläche, interessierte ihn besonders. Er fiel ihnen auf, als sie die eingepackte Leiche umdrehten. An einigen anderen Stellen waren ähnliche, allerdings kleinere Flecken zu erkennen.
»Irgendein dünnes Öl ... wahrscheinlich Motorenöl«, murmelte er vor sich hin.
Er wirkte zufrieden, als er das Wattestäbchen mit dem Öl in ein steriles Reagenzglas fallen ließ. Anschließend entfernte er vorsichtig sämtliche Klebestreifen von der Folie und legte sie sorgfältig in verschiedene kleine Glasgefäße.
»Klebebänder können Unmengen von Informationen liefern. Dort bleiben Dinge hängen, die sich der Täter gar nicht vorstellen kann«, sagte er.
Er machte einen gründlichen und ernsthaften Eindruck. Es hieß, dass Svante Malm im nächsten Jahr in Pension gehen werde. Dieser junge Mann schien ein würdiger Nachfolger zu sein.
Behutsam wickelte Matti die Folie ab, die die Leiche umgab.
»Ziemlich viel Wasser auf der Innenseite«, stellte er fest.
Als die Leiche vollkommen freigelegt war, sahen sie, dass es sich um eine Frau mittleren Alters handelte. Der ganze Körper war feucht. Die Feuchtigkeit hatte sich auf der Innenseite der Folie gesammelt und war nicht verdunstet, da der Täter die Folie luftdicht verklebt hatte. Das schulterlange Haar lag feucht am Kopf an, es war zu vermuten, dass es blondiert war. Die Tote war relativ klein und mollig.
»Erdrosselt«, sagte Morten Jensen.
Aus seiner Stimme war jetzt jegliche scherzhafte Nuance verschwunden. Er deutete auf ein scheußlich dunkellila verfärbtes Würgemal, das um den Hals des Opfers verlief. Der Täter hatte so fest zugezogen, dass nur noch die langen Enden der Schlinge im Nacken der Toten zu sehen waren. Irene wusste, um was für eine Schnur es sich handelte. Genau so eine blaue Nylonleine...
Übersetzung: Lotta Rüegger und Holger Wolandt
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Dünne Nebelschleier hingen im Lichtschein der Straßenlaternen. Bald würden sie verschwunden sein. Der Wind wehte in immer heftigeren Böen, die Regen verhießen. Die Feuchtigkeit klebte in ihrem Gesicht, als sie leicht vornübergebeugt gegen die Windstöße auf dem Parkplatz ankämpfte. An einem so ungemütlichen Abend ging niemand freiwillig vor die Tür. Selbst die Hundebesitzer verzichteten auf einen letzten Abendspaziergang. Die Reihenhäuser lagen dunkel und still da. Die meisten Nachbarn schliefen bereits. Nur das Küchenfenster von Bosse Gunnarsson leuchtete warm und einladend. Er saß wie immer am Küchentisch und löste Sudokus. Seine Lesebrille war ihm bis auf die Nasenspitze gerutscht.
Ihr eigenes Haus war dunkel, aber das sollte sich gleich ändern. Sie würde Licht machen, sich eine Kanne Tee kochen und ein Brot mit Ei und Kaviarpaste zurechtmachen, ein paar Kerzen auf den Tisch stellen, sich in eine Decke hüllen und die 23-Uhr-Nachrichten ansehen. Gemütlich. Dann ab ins Bett.
Sie schob die Hand in den Briefkasten und holte die Post heraus. Rechnungen und Reklame. Mit ein paar Schritten war sie bei der Haustür und suchte in der Handtasche nach dem Schlüssel. Gerade als sie ihn hervorgekramt hatte und ins Schloss stecken wollte, bemerkte sie im Dunkeln nahe dem Schuppen eine hastige Bewegung. Dann stand plötzlich jemand dicht hinter ihr. Sie spürte einen eisernen Griff über der Brust, der Angreifer presste sie fest an seinen Körper. Sie bekam keine Luft. Die Kraft des Mannes und sein beißender Geruch lähmten sie. Als sie begriff, was er vorhatte, zwang sie sich zur Gegenwehr. Mit
einer Hand versuchte der Mann, ihr eine Schlinge um den Hals zu legen. Er hatte Mühe, sie ihr über den Kopf zu streifen, nicht, weil er kleiner war als sie, sondern weil sie verzweifelt Oberkörper und Kopf hin und her warf, um sich zu befreien. Er knurrte und zischte etwas, aber hatte sie fest im Griff. Nach kurzem Kampf saß die Schlinge. Schnell hob sie instinktiv die Hand und konnte sie gerade noch unter die Schlinge legen. Das alles war so schnell gegangen, dass sie nicht einmal Zeit gehabt hatte zu schreien. Jetzt versuchte sie verzweifelt, um Hilfe zu rufen, aber aus ihrem Mund kam nur ein schwaches Wimmern. Die Schlinge saß bereits zu fest. Sie spürte, wie er den Griff um ihren Oberkörper lockerte, um sie noch fester zu würgen. Sie bekam kaum noch Luft. Vor ihren Augen flimmerte es. Gleich würde sie das Bewusstsein verlieren. Mit letzter Kraft wühlte sie mit der freien Hand in ihrer Jackentasche. Papiertaschentücher, Halspastillen, Feuerzeug ... Panik stieg in ihr auf und ihre Bewegungen wurden ungeschickter. Der Schmerz an ihrem Hals war unerträglich. Sie bekam keine Luft mehr.
Plötzlich spürte sie den Autoschlüssel mit dem kleinen Zylinder am Schlüsselring. Mit zitternden Fingern umfasste sie ihn. Ihr Daumen rutschte ab, dann spürte sie den Knopf. Unter Aufbietung ihrer letzten Kräfte drückte sie, so fest sie noch konnte.
Das Schrillen des Alarms dröhnte durch die Reihenhaussiedlung. Der Angreifer erstarrte und hielt kurz inne. Da hob sie den Fuß und trat mit aller Kraft nach hinten. Der Absatz ihres Lederstiefels traf ihn unterhalb des Knies. Er zuckte zusammen und stöhnte leise. Für den Bruchteil einer Sekunde lockerte er seinen Griff. In diesem Moment hörte sie, wie Bosse Gunnarsson die Tür öffnete und rief:
»Hallo? Was ist da los? Was ist das für ein Lärm? Ich rufe die Polizei!«
Und plötzlich war er nicht mehr hinter ihr. Sie hörte die Gartenpforte, als er sie öffnete und Richtung Parkplatz verschwand.
»Hallo! Stehen bleiben! Was soll das?«
Das war wieder Bosses Stimme. Gesegneter Bosse. Sie sank zu Boden und versuchte, um Hilfe zu rufen, aber es kam nur ein klägliches Krächzen aus ihrer Kehle.
Sie war davongekommen. Sie lebte noch.
Panisch hielt sie den kleinen Zylinder umklammert. Sie konnte den kleinen Gegenstand, der ihr das Leben gerettet hatte, nicht loslassen.
Das Heulen des Alarms stoppte, und um sie herum wurde es schwarz.
Normalerweise war Irene Huss keine Frühaufsteherin, aber an manchen Tagen erwog sie ernsthaft, es zu werden. Wie heute. Die Luft war kristallklar und die Kälte der Nacht noch frisch. Am Horizont flammte ein strahlender Sonnenaufgang in intensiven Goldtönen. Konnte ein Tag perfekter beginnen? Irene kuschelte sich in ihren Morgenmantel, blieb auf der obersten Treppenstufe stehen und atmete tief ein. Die Feuchtigkeit des Regens vom Vorabend verstärkte die Gerüche. Ihr Garten wirkte wie in der Stunde der Schöpfung, ein letztes trotziges Aufbäumen gegen den unbarmherzig herannahenden Herbst. Die üppigen Herbstastern glühten dunkelrot in den gusseisernen Behältern neben der Treppe. In diesem Jahr blühten sie besonders prächtig.
In Pantoffeln machte sie sich auf den Weg zu der niedrigen Gartenpforte, beugte sich schließlich darüber und nahm die Zeitung aus dem Briefkasten am Zaun. Sie drehte sich um und wollte eben wieder zurückgehen, hielt aber mitten im Schritt inne. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie es realisierte. Das Bänkchen, das sonst zwischen den beiden Küchenfenstern stand, war verschoben worden. Jetzt stand es mitten im Beet, unter einem Fenster. Die frisch gepflanzten Rosenbüsche hatten gelitten, mehrere Zweige waren abgeknickt. Erzürnt hob Irene die Bank hoch und stellte sie an ihren Platz an der Wand zurück. Merkwürdig. Hatte sie gestern Abend nicht noch dort gestanden?
»Glaube ich auch«, antwortete Krister, als sie ihn wenig später fragte.
Er stand am Herd und briet Spiegeleier. Auf einem Teller lagen bereits knusprig gebratener Speck und einige Tomatenhälften. Was Irene betraf, war eine solide Mahlzeit am Morgen verlorene Liebesmüh. Seit mehreren Jahrzehnten bestand ihr Standardfrühstück aus drei Tassen schwarzem Kaffee und einem oder zwei Käsebroten. Neuerdings war ihr Mann jedoch der Auffassung, ihre Frühstücksgewohnheiten seien verwerflich. Vielleicht stimmte das ja auch, aber ihr passten sie. Wenn Irene wagte, Spiegeleier mit Speck und ihrem schädlichen Cholesterol als nicht sonderlich gesund zu bezeichnen, wischte Krister diesen Einwand mit der Bemerkung beiseite: »Glyx-Diät! Eine Welt von Diätjunkies kann nicht irren!« Die Wahrheit war allerdings, dass er abnehmen musste, und nicht etwa sie.
Krister stellte ihr einen Teller Glyx-Frühstück hin. Wie immer stocherte sie nur darin. In solchen Augenblicken war sie versucht, Veganerin zu werden. Wie Jenny. Ihre Tochter praktizierte das seit nunmehr fast zehn Jahren. Sie ließ sich gerade an einer Schule in Amsterdam im vegetarischen Kochen ausbilden, Schwerpunkt vegane Kost. Jenny war in die Fußstapfen ihres Vaters getreten, wenn auch nicht ganz so, wie dieser sich das vorgestellt hatte.
»Aber du musst doch zugeben, es ist seltsam, dass die Bank auf einmal woanders steht«, beharrte Irene.
»Ach was, das waren sicher Viktor und seine Freunde, die sich einen Spaß erlaubt haben«, meinte Krister.
»Warum sollte Viktor ... ja, vielleicht.«
Der Junge aus dem Nachbarhaus war zehn und machte mit seinen Freunden die Gegend unsicher. Aber Irene hatte den Eindruck, dass sich die Jungen trotz allem gut mit den meisten Nachbarn verstanden. Zu großen Unfug hatten sie bisher nicht getrieben. Sie konnte sich auch schwer vorstellen, warum die Jungen das Bänkchen in die Rosenbüsche gezerrt haben sollten. Das erschien sinnlos. Das Küchenfenster lag so niedrig, Viktor konnte auch ohne Bank hineinschauen und musste sich dabei nicht einmal auf die Zehenspitzen stellen.
Sie schob die Gedanken an die Bank beiseite und goss sich ihre dritte Tasse Kaffee ein.
Am Morgen darauf erwachte Irene bereits um sieben Uhr, obwohl es ihr freier Samstag war. Krister war am Vorabend erst spät aus dem Restaurant heimgekommen. Sie hörte seine ruhigen, leise zischenden Atemzüge neben sich. Er würde noch eine Weile gut schlafen. Sie stahl sich aus der Wärme des Bettes. Als sie aus dem Bad kam, zog sie ihre Joggingsachen an und streifte sich wie immer auch den elastischen Knieschutz über. Inzwischen bekam sie Schmerzen, wenn sie ihn beim Laufen nicht benutzte. Der Verfall setzt ein, dachte sie grimmig.
Sie öffnete die Haustür und nahm die Treppe mit einem Satz. Dann blieb sie einige Sekunden bewegungslos mit nach vorne gerichtetem Blick stehen. Ganz langsam drehte sie sich um. Die prächtigen Herbstastern waren aus den Kübeln gerissen worden und lagen verstreut auf dem Rasen.
»Viktor würde so etwas nie tun!« Malin, Viktors Mutter, verschränkte die Arme vor der Brust und sah ausgesprochen beleidigt aus. Irene versuchte es mit einem versöhnlichen Tonfall.
»Ehrlich gesagt, glaube ich auch nicht, dass ...«, begann sie.
»Warum kommen Sie dann und beschuldigen ihn, wenn Sie selbst nicht daran glauben?«, fauchte Malin.
Irene sah ein, dass dieser Wortwechsel den nachbarschaftlichen Beziehungen nicht sonderlich zuträglich war. Ihr berufliches Ich musste darüber hinaus zugeben, dass es sich um keine geglückte Vernehmung handelte.
»Ich beschuldige ihn ja gar nicht. Ich will nur alle Möglichkeiten in Betracht ziehen und mich erkundigen, ob er vielleicht was weiß«, versuchte Irene sich zu rechtfertigen.
»Verdammter Polizeimissbrauch!«, schrie Malin und knallte die Tür zu.
Polizeimissbrauch? Sie meinte wohl Machtmissbrauch. Irene konnte Malins Entrüstung gut verstehen, obwohl sie fand, dass sie überreagierte. Warum eigentlich, wenn sie von der Unschuld ihres Sohnes überzeugt war?
Wie als Antwort auf ihre Überlegungen kam Viktor selbst angestiefelt. Er öffnete die Gartenpforte und lächelte fröhlich. »Hallo«, sagte er.
»Hallo, Viktor. Du ... Ich habe deine Mutter gerade etwas gefragt. Sie wurde sehr böse auf mich.« Viktors Lächeln erlosch, und er sah sie unsicher an. Irene lächelte ihm aufmunternd zu und sagte freundlich:
»Jemand hat in unserem Garten komische Sachen angestellt, unsere kleine Bank herumgetragen und ein paar Blumen zerstört. Ich wollte dich nur fragen, ob du etwas darüber weißt.«
Der Junge schüttelte den Kopf. Er wirkte aufrichtig erstaunt.
Irene sah Viktor in die Augen und lächelte ihn erneut an. Er schaute unsicher zu ihr auf, beantwortete aber dann ihr Lächeln. So sah kein schuldbewusster Zehnjähriger aus.
Aber wenn nicht Viktor die Blumen zerstört und die Bank verschoben hatte, wer dann?
Mein Liebling gibt eine Einladung. Das gefällt mir nicht. Männer und Frauen, alle halten sie Gläser in den Händen. Alkohol. Und führe sie nicht in Versuchung, sondern erlöse sie von dem Bösen.
Ich bin für sie da. Sie weiß, dass ich über sie wache. Wir sind in unserer Liebe vereinigt. Auf ewig. Amen. Zwei Männer und zwei Frauen. Sie sitzen am Tisch und essen. Und trinken. Immer dieser Alkohol. Sie muss weg von diesen verderblichen Einflüssen. Siehe, ich werde dir einen Engel senden, der dich auf dem Weg halten und zu dem Platz führen wird, den ich ausersehen habe. Ich werde mich um dich kümmern, mein Liebling. Wir werden auf ewig in unserer Liebe vereint sein.
Ich bin da und wache. Ich bin der Wächter.
Das andere Paar ist gegangen, er aber nicht. Sie haben sich geküsst und ... mehr. Obwohl sie die meisten Lampen gelöscht hat, sehe ich mehr als genug. Sie hat ihr Haar geöffnet. Er beginnt, sie auszuziehen. Ihre Brüste sind groß und ... eklig. Sie zeigt ihr wahres Ich. Die Fassade ist zersplittert. Sie sieht aus wie eine Hexe. Ein Troll.
Trolle darf man nicht am Leben lassen.
Es ist verboten, Hunde auf dem Friedhof Gassi zu führen, aber die Not kennt kein Gebot. Egon musste raus. Also eine kurze Runde über den Westfriedhof. Um diese Zeit war auch kaum jemand dort, der sich daran stören konnte, dass sie den Haufen nicht aufsammelte. Er war ohnehin nicht der Rede wert. Wegen ihres Asthmas fiel es ihr schwer, sich zu bücken. Sie hatte Glück und fand einen Parkplatz direkt neben dem Tor. Schwer atmend und mit Mühe stieg sie aus ihrem Skoda. Bevor sie den Hund aus dem Auto ließ, nahm sie ihn an die Leine. Dann ging sie durchs Tor. Der Dackel folgte ihr widerwillig. Er hätte gerne noch an ein paar interessanten Ecken geschnuppert.
»Egon! Komm jetzt! Wir haben keine Zeit.«
Sie schimpfte auf den Hund ein, der sich jetzt erst recht weigerte. Schließlich setzte er sich resolut auf die Erde. Mit einem Ruck seines Kopfes gelang es ihm, sich seines ausgeleierten Halsbandes zu entledigen. Ha! Frei! Egon verschwendete keine Zeit und verschwand über die Wiese, so schnell ihn seine kurzen Beine trugen. Aus einem Gebüsch an der Mauer drangen liebliche Düfte. Mit Wohlbehagen bohrte er seine Schnauze in das nasse Laub und atmete all die Pheromone ein, die eine unbekannte Schönheit zurückgelassen hatte. Wäre sein Frauchen nicht gewesen, hätte er stundenlang verweilen können. Er hörte ihre schweren, schlurfenden Schritte auf der Wiese, und obwohl er ihre schrille Stimme zu ignorieren versuchte, erkannte er die Tonlage: Frauchen war nicht froh. In der Tat klang sie richtig wütend. Als sie sich mit hoch erhobener Leine näherte, wurde ihm bewusst, dass es vermutlich das Gesündeste war, noch eine Weile
auf Abstand zu bleiben. Er verzog sich in die Rhododendronbüsche. Frauchens Stimme wurde noch schriller und wütender, aber dort drinnen würde sie ihn nicht zu fassen kriegen. Ein anderer Geruch mischte sich mit dem Duft der Hündin. Zunächst blieb Egon unschlüssig zwischen den Sträuchern stehen, aber schließlich gewann seine Neugier doch die Oberhand. Er musste herausfinden, was so seltsam roch. Entschlossen neigte er seine Schnauze zu Boden und nahm die Fährte auf. Hinter den Büschen und ungesehen von seinem Frauchen folgte er der Ziegelmauer. Wo das Gebüsch zu Ende war, lag die Quelle der seltsamen Gerüche. Egon kläffte aufgeregt. Er begann an der dicken Folie zu nagen, die den Geruch einschloss. Er wurde unvorsichtig und merkte plötzlich, wie ihm das Halsband wieder über den Kopf gezogen wurde. Aber statt zu fluchen und ihn anzuschreien starrte sein Frauchen nur auf das in Folie eingeschlagene Paket. Plötzlich stieß sie kurze, schrille Geräusche aus, die ihn in den Ohren schmerzten. Egon kauerte sich verängstigt zusammen. Seine empfindliche Nase nahm einen Geruch wahr, der jenen, der aus dem interessanten Paket drang, überlagerte. Ein beißender Gestank kam aus jeder Pore seines Frauchens: Angst. Sie war vor Schreck gelähmt.
Ich sitze mit ihrem Foto vor mir da. Scheinbar unschuldig und schön. Aber ich habe sie durchschaut. Eine falsche Lügnerin. Auch sie hat gegen unsere Abmachung verstoßen. Fleischeslust. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Das ist absolut unverzeihlich. Ich muss ein Exempel statuieren. Niemand darf sich gegen mich und Gottes Gebote auflehnen. Für dieses Verbrechen gibt es nur eine Strafe: den Tod. Denn ich suche die Missetat der Väter bis ins dritte und vierte Glied heim, wenn man mich hasst.
Ich bin der Strafende.
Als Irene Huss und ihr Kollege Kriminalinspektor Fredrik Stridh eintrafen, war der Fundort bereits abgesperrt. Beamte in Uniform hatten sich überall postiert, um neugierige Passanten fernzuhalten. Mehrere Streifenwagen sowie der Lieferwagen der Spurensicherung standen in der Nähe geparkt. Das im Dunkeln aufblitzende Blaulicht verlieh den Schaulustigen in regelmäßigen Abständen eine unheimliche, bläulich-bleiche Gesichtsfarbe. Bedachte man, dass es schon auf zehn Uhr zuging, war es erstaunlich, wie viele Leute sich auf dem Friedhof aufhielten. Auf einem feuchtkalten Friedhof herumzustehen konnte wohl kaum als Abendvergnügen gelten. Aber ein Mord lockte immer sensationslüsterne Zuschauer an, das wusste Irene nach vielen Jahren als Ermittlerin des Dezernats für Gewaltverbrechen. Irene hätte gerne etwas anderes getan, als um diese Zeit zum Westfriedhof aufzubrechen. Wäre nicht Jonny Blom und seine ganze Familie plötzlich von einer Magenverstimmung heimgesucht worden, dann wäre sie auch nicht hingefahren. Jonny Blom und Fredrik hatten eigentlich zusammen Wochenendbereitschaft. Und als die Meldung über den Fund auf dem Friedhof einging, rief Fredrik Irene an und bat sie, ihn zu begleiten. Am Montag würde er wieder zu seinem Ermittlerteam Bandenkriminalität zurückkehren, und jemand anderes aus ihrem Dezernat musste den Fall übernehmen. Warum nicht sie? Seufzend hatte sie eingewilligt. Krister arbeitete das ganze Wochenende, und sie war ohnehin allein zu Hause.
Irene und Fredrik zeigten ihren uniformierten Kollegen bei der Absperrung ihre Dienstausweise, hoben das Absperrband an und gingen zu dem hellerleuchteten Fundplatz. Die großen Rhododendronbüsche raubten den neugierigen Zuschauern effektiv die Sicht. Im Scheinwerferlicht tauchte ein in Plastikfolie eingeschlagenes Bündel auf. Dass es sich wirklich um eine Leiche handelte, war durch die durchsichtige Folie zu erkennen.
Sie begrüßten Svante Malm und die anderen Kriminaltechniker.
»Schon was gefunden?«, fragte Irene.
Svante Malm schüttelte bedauernd den Kopf.
»Nichts außer der verpackten Leiche. Die wird gleich zur Gerichtsmedizin gebracht, dann können wir das Terrain besser absuchen. Aber ich bin nicht sonderlich optimistisch. Hier liegt überall eine Unmenge Müll, den Leute einfach in die Büsche geschmissen haben. Irgendwas sagt mir, dass der Mörder vorsichtig war. Die sorgfältige Verpackung spricht dafür.«
Irene konnte ihm da nur recht geben. Das ganze Paket wurde von langen Streifen braunen Paketklebebands zusammengehalten. Irene wusste aus Erfahrung, dass sich die Herkunft von Klebeband nicht klären ließ. Es wurde in großen Mengen überall im Land, ja, auf der ganzen Welt, verkauft. Die einzige Hoffnung war, dass der Täter Spuren auf dem Plastik oder auf der Leiche hinterlassen hatte.
»Ich habe mit der Gerichtsmedizin gesprochen. Es ist okay, wenn wir es dort öffnen«, meinte Svante.
»Dann fahren wir mit zur Gerichtsmedizin«, entschied Irene.
Irene und Fredrik Stridh nahmen den neuen Kriminaltechniker Matti Berggren im Auto mit, als sie zur Gerichtsmedizin fuhren. Matti erzählte, er habe beim Staatlichen Kriminaltechnischen Labor in Linköping gearbeitet. Irene schätzte ihn auf fünfundzwanzig, aber wahrscheinlich war er ein paar Jahre älter, als er aussah. Ihr Kollege Fredrik Stridh war etwa so alt gewesen, als er beim Dezernat angefangen hatte. Vor zehn Jahren. Seither war
ein sehr guter Ermittler aus ihm geworden. Schade, dass die Abteilung für Bandenkriminalität auf ihn aufmerksam geworden war.
»Warum seufzst du?«, fragte Fredrik.
»Habe ich geseufzt? Vermutlich, weil ich gerade darüber nachgedacht habe, wie gemütlich es wäre, jetzt mit einem guten Glas Wein und Knabberspaß zu Hause einen Film anzuschauen. Dann früh ins Bett. Etwas in dieser Art. Schließlich ist das mein freies Wochenende«, sagte Irene.
»In einem anderen Leben, Irene«, erwiderte Fredrik todernst.
Die Jammerei war eher eine Vorführung für den Grünschnabel Matti. Doch es schien ihm nicht sonderlich zu imponieren. Er sah neugierig aus dem Fenster, als sie am Scandinavium vorbeifuhren. Die Abendveranstaltung war zu Ende, und das Publikum, Tausende von Menschen, strömte aus dem Gebäude.
Sie hatten Glück. Zum einen war es recht ruhig in der Gerichtsmedizin, zum anderen hatte Morten Jensen Bereitschaft. Irene und Fredrik kannten ihn gut, da er schon seit mehreren Jahren dort arbeitete.
Und Jensen schien froh zu sein, Gesellschaft zu bekommen. Oder wie er es ausdrückte: »An einem Samstagabend kann es hier schon mal ziemlich tot sein.«
Matti Berggren zog die Augenbrauen hoch und lächelte dann höflich. Wahrscheinlich wusste er nicht, ob der Gerichtsmediziner Witze machte oder ob es ihm ernst war. Irene fand es immer befreiend, mit Morten Jensen zu tun zu haben. Er war viel unkomplizierter als seine Chefin, Prof. Yvonne Stridner, was allerdings kein großes Kunststück war, wie Irene fand. Eine große Mehrheit der Göteborger Polizeibeamten hätte ihr zugestimmt. Aber das Risiko, Yvonne Stridner an diesem Abend zu begegnen, war minimal. Professoren hatten nachts keine Dienstbereitschaft und am Wochenende schon gar nicht.
Matti nahm eine Probe von der Außenseite der Plastikfolie. Ein dunkelbrauner Fleck, groß wie eine Handfläche, interessierte ihn besonders. Er fiel ihnen auf, als sie die eingepackte Leiche umdrehten. An einigen anderen Stellen waren ähnliche, allerdings kleinere Flecken zu erkennen.
»Irgendein dünnes Öl ... wahrscheinlich Motorenöl«, murmelte er vor sich hin.
Er wirkte zufrieden, als er das Wattestäbchen mit dem Öl in ein steriles Reagenzglas fallen ließ. Anschließend entfernte er vorsichtig sämtliche Klebestreifen von der Folie und legte sie sorgfältig in verschiedene kleine Glasgefäße.
»Klebebänder können Unmengen von Informationen liefern. Dort bleiben Dinge hängen, die sich der Täter gar nicht vorstellen kann«, sagte er.
Er machte einen gründlichen und ernsthaften Eindruck. Es hieß, dass Svante Malm im nächsten Jahr in Pension gehen werde. Dieser junge Mann schien ein würdiger Nachfolger zu sein.
Behutsam wickelte Matti die Folie ab, die die Leiche umgab.
»Ziemlich viel Wasser auf der Innenseite«, stellte er fest.
Als die Leiche vollkommen freigelegt war, sahen sie, dass es sich um eine Frau mittleren Alters handelte. Der ganze Körper war feucht. Die Feuchtigkeit hatte sich auf der Innenseite der Folie gesammelt und war nicht verdunstet, da der Täter die Folie luftdicht verklebt hatte. Das schulterlange Haar lag feucht am Kopf an, es war zu vermuten, dass es blondiert war. Die Tote war relativ klein und mollig.
»Erdrosselt«, sagte Morten Jensen.
Aus seiner Stimme war jetzt jegliche scherzhafte Nuance verschwunden. Er deutete auf ein scheußlich dunkellila verfärbtes Würgemal, das um den Hals des Opfers verlief. Der Täter hatte so fest zugezogen, dass nur noch die langen Enden der Schlinge im Nacken der Toten zu sehen waren. Irene wusste, um was für eine Schnur es sich handelte. Genau so eine blaue Nylonleine...
Übersetzung: Lotta Rüegger und Holger Wolandt
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
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Autoren-Porträt von Helene Tursten
Helene Tursten, geboren 1954 in Göteborg, ist eine der beliebtesten schwedischen Kriminalautorinnen. Ihre Serie um die Göteborger Kriminalinspektorin Irene Huss hat nicht nur viele Fans, sondern wurde auch erfolgreich verfilmt. Neben neuen Fällen für die junge Polizistin Embla Nyström veröffentlicht Helene Tursten auch sehr erfolgreich Bände mit Krimigeschichten.
Bibliographische Angaben
- Autor: Helene Tursten
- 2012, 319 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Lotta Rüegger, Holger Wolandt
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 344274346X
- ISBN-13: 9783442743469
- Erscheinungsdatum: 03.04.2012
Rezension zu „Der im Dunkeln wacht / Kriminalinspektorin Irene Huss Bd.9 “
"Helene Turstens Bücher haben den Wallander-Touch: Sie beeindrucken durch ihre Nuancen in Handlung und Figuren. Besonders überzeugend: ihre Kriminalinspektorin Irene Huss."
Pressezitat
"Nervenzerreißend von der ersten bis zur letzten Seite." Berliner Kurier
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