Der Kinderzähler
Polizeipsychologin Tally White bekommt eine Kinderleiche quasi "frei Haus" geliefert. Das tote Mädchen, das liebevoll in eine Decke eingewickelt wurde, trägt zudem die rätselhafte Botschaft: "Sünden der Väter". Wurde sie das Opfer...
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Produktinformationen zu „Der Kinderzähler “
Polizeipsychologin Tally White bekommt eine Kinderleiche quasi "frei Haus" geliefert. Das tote Mädchen, das liebevoll in eine Decke eingewickelt wurde, trägt zudem die rätselhafte Botschaft: "Sünden der Väter". Wurde sie das Opfer eines Ritualmordes? Wer steckt dahinter?
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Lese-Probe zu „Der Kinderzähler “
Der Kinderzähler von Vicki Stiefel1
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Ich hasse Besuche beim Tierarzt, und Penny hasst so was noch mehr als ich. Ich muss meinen dreibeinigen Hund, ein früheres Mitglied der Hundestaffel, förmlich an der gespannten Leine dorthin schleifen und sie mit Hundeleckerlis den ganzen Weg und durch die Tür locken. Und dann habe ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich zu fest ziehe und ...
Aber dieses Mal war es anders. Dieses Mal hatte ich eine Riesenangst. Penny hatte eine Geschwulst, einen gigantischen Knoten, der anscheinend über Nacht aufgetaucht war. Das Ding war rund und hart und hatte die Größe eines Golfballs. Es war genau am Kniegelenk ihres verbliebenen Vorderbeines.
Was, wenn ... ? Nein. Meine dreibeinige Freundin hatte genug durchgemacht. Das hier war bestimmt harmlos, eine Zyste, die nach einem Kratzer oder einem Abszess entstanden war.
Meine Penny konnte nicht mit zwei Beinen leben. »Auf geht's, Pens«, sagte ich.
Ich drehte den kalten Türknauf, der zu Dr. Jobys Wartezimmer führte. In dem großen Raum roch es nach Pinienholz, und der Linoleumboden glänzte vom Sonnenlicht, das durch die Oberlichter fiel. Verflixt. Ich wollte, dass der Tag so düster war wie meine Stimmung.
Ich trat ein. Penny grub die Krallen in den Boden und rührte sich nicht. Aus ihren schokobraunen Augen sah sie mich tieftraurig, ein wenig schuldbewusst und äußerst entschlossen an.
»Du magst Dr. Joby doch, Pens. Wirklich. Sie arbeitet mit der Tierklinik hier in Boston zusammen. Du weißt schon, mit den Leuten, die sich um dich gekümmert haben, als dein Bein ...«
Meine Stimme war nur noch ein Flüstern. Warum redete ich so dummes Zeug? »Ke mne«, sagte ich auf Tschechisch. »Komm.«
Stolz hob sie den Kopf und marschierte auf ihren drei Beinen vorwärts.
Wir teilten uns das Wartezimmer mit zwei Möpsen und einem Boston Terrier, dessen Hinterteil beim Anblick meines Deutschen Schäferhundes wie verrückt zu wackeln anfing.
Als ich mich gesetzt hatte, zerrte der Terrier an seiner Leine zu Penny hinüber. Oje - Pens und der Terrier begannen schnüffelnd, leckend und hüpfend einen typisch hündischen Balztanz aufzuführen. Ich lachte laut, genau wie der Besitzer des Terriers, ein weißer Oberschicht-Typ im Tweed-Sakko. Wir lächelten uns an, und er grinste einladend. Wirklich ein gut aussehender Mann.
Egal. Mein griesgrämiger Sheriff aus Maine stach mit seinem leichten Buddha-Bäuchlein und dem stacheligen Schnauzbart diesen Mr Terrier locker aus. Aber Mr Terriers Grinsen wurde breiter. Himmel, jetzt zwinkerte er mir auch noch zu!
»Tally?«, sagte die Sprechstundenhilfe. »Penny kann jetzt reinkommen.«
Ich atmete tief durch. Hoffentlich ist alles in Ordnung, bitte. Dann folgten wir ihr.
Dr. Beth Joby kauerte sich vor meinen zitternden Hund. »Ssscht.« Die Ärztin lächelte Penny an. Sie strich sich eine
graue Haarsträhne aus dem Gesicht. »Gutes Mädchen.« »Wie sieht es aus, Beth?«, fragte ich.
Beth Joby nickte, während sie mit den Händen über Pennys kräftige Hinterbeine fuhr. Sie legte eine gichtgekrümmte Hand an Pennys Bauch, hob die Pfoten hoch, begutachtete ihre Zähne und leuchtete mit einer Lampe in jedes Auge. Sie kraulte Penny hinter den Ohren.
Ich hielt es nicht mehr aus. »Der Knoten?« Ich klang verzweifelt.
»Der Reihe nach.« Die Ärztin schloss die Augen und tastete vorsichtig über Pennys Beinstummel und dann über ihr unversehrtes Vorderbein, an dem die Geschwulst saß. Sie runzelte kurz die Stirn. Eine Assistentin kam mit einem Tablett voller Spritzen herein. Sie hielt Penny fest und redete beruhigend auf sie ein, während die Ärztin ihr Blut abnahm. Sie nahm eine zweite Spritze zur Hand und entnahm Flüssigkeit aus dem Knoten.
»Beth, ich ...« Mir blieben die Worte im Hals stecken. Beth Joby bedeutete ihrer Assistentin, sich vorzubeugen.
Die Ärztin flüsterte ihr etwas ins Ohr. Die Assistentin nickte. Ich schluckte, aber meine Kehle war so ausgedörrt, dass ich
husten musste. »Beth?«, krächzte ich.
Die Ärztin massierte Penny zwischen den Schulterblättern, gab ihr einen Klaps auf den Hinterlauf und stand auf. »Es scheint alles in Ordnung zu sein, Tally. Wir machen nur noch ein Röntgenbild von ihrem Bein.«
»An dem der Knoten ist.«
Die Ärztin nickte.
»Warum?«
»Eine sinnvolle Maßnahme.«
»Das erklärt nicht, warum.«
»Nein.« Sie gab Penny eine Belohnung. »Ich bin nicht sicher, ob mir gefällt, was ich da getastet habe.«
»Nicht?«
Sie zuckte die Achseln. »Höchstwahrscheinlich völlig harmlos, aber du weißt ja, wie vorsichtig ich bin.«
Das wusste ich, aber ich dachte trotzdem, dass Beth Joby log, dass Penny dem Tod geweiht war, dass sie mich verlassen würde - dabei war sie noch viel zu jung - und ich dann ... »Wie lange dauert das mit dem Röntgen?«
»Eine halbe Stunde, vielleicht auch eine Dreiviertelstunde.« Ich atmete laut aus. »Ich komme mit ihr.«
»Du bist viel zu aufgewühlt«, sagte sie. »Wir kümmern uns schon um sie. Das weißt du doch.«
Ich nickte. Genau diese Worte hatte auch ich schon zu zahllosen Angehörigen von Mordopfern gesagt, wenn sie die Leichen ihrer Liebsten im Kummerladen identifizieren mussten, wie ich die Gerichtsmedizin von Massachusetts nannte, den Ort, an dem ich arbeitete.
Ich wusste alles über Kummer und Trauer. Trug es sozusagen in mir. Trotzdem wollte ich Penny immer bei mir haben. »Also gut«, sagte ich schließlich. »Ich warte solange im Wartezimmer.«
Ich kniete mich hin und erklärte Penny alles. Ihre Augen verrieten mir, dass es ihr lieber wäre, wenn ich bei ihr bliebe. Ich drückte sie fest an mich. »Ich bin ganz in der Nähe.«
Die Ärztin hakte Pennys Leine ein und wollte sie hinausführen. Aber Penny rührte sich nicht.
»Komm!«, sagte Dr. Joby.
Penny saß wie angewurzelt auf dem Boden.
Beth Joby lächelte entnervt. »Ich dachte, Penny kennt die englischen Kommandos inzwischen.«
»Tut sie auch«, sagte ich. »Aber das vertraute Tschechisch ist ihr lieber. Das haben sie nämlich bei der Hundestaffel auch immer benutzt.« Ich wandte mich an Penny. » Volno!«, sagte ich. »Geh.«
Penny sah sich nach mir um. Ich drückte sie schnell noch einmal. Sie leckte mir über Ohr, Wange und Nase. »Ich liebe dich, Pens«, flüsterte ich. Volno. «
Penny lief los, und die Assistentin schloss die Tür hinter ihr.
Ich blätterte in irgendeiner Hundezeitschrift und tat, als würde sie mich interessieren. Ich hatte wahnsinnige Angst um meinen geliebten Hund. Wie dumm. Wie dumm ich mich benahm. Ich übertrieb mal wieder.
Mr Terrier war weg, Gott sei Dank. Die Sonne knallte herein, und ich zog meine Jacke aus. Wenn das Wetter an einem Apriltag schon so tun musste, als wäre es bereits Juni, warum ausgerechnet an diesem?
Mit dem Röntgen sollten sie inzwischen fertig sein. Ich sah auf die Uhr. Fünf Minuten. Erst fünf Minuten waren vergangen.
Ich zog mein Handy hervor, um Hank anzurufen und ihm zu erzählen ...
Mein Telefon vibrierte, und auf dem Display war »Gerichtsmedizin« zu lesen. Der Anruf aus dem Kummerladen kam nicht unerwartet. Denn die Durchwahl gehörte zum »Massachusetts Grief Assistance Program«, einer Organisation für Trauerarbeit, kurz MGAP. Und diese Organisation war mein Zuständigkeitsbereich.
Ich bin die Leiterin des MGAP, und meine Mitarbeiter sind unvergleichlich. Obwohl wir uns im Gebäude der Rechtsmedizin eingemietet haben, sind wir eine private, gemeinnützige Organisation. Unser Job ist es, den Betroffenen beizustehen, wenn Angehörige Opfer eines Mordes werden. Wir begleiten sie in der Zeit nach ihrem verheerenden Verlust, wir bieten psychologische Betreuung - oft über viele, viele Jahre - und wir stehen ihnen auch bei alltäglicheren Dingen bei, wie in rechtlichen Angelegenheiten, vor Gericht, gegenüber der Presse und der Polizei.
In den Vereinigten Staaten gibt es weniger als sechzig amtliche Berater für Angehörige von Mordopfern, und ich bin stolz darauf, eine von ihnen zu sein.
Wieder vibrierte das Telefon. Gert, meine Assistentin, würde schon klarkommen. Genau wie Donna oder jeder andere unserer Mitarbeiter. Ich sah auf und ertappte die Sprechstundenhilfe dabei, wie sie mich anstarrte. Sie wusste, was ich beruflich machte, und an ihrem Gesichtsausdruck konnte man ablesen, dass sie sich fragte, ob es bei dem Anruf mal wieder um eine Leiche ging.
So ziemlich jeder fand meine Berufswahl seltsam.
Ein weiteres Vibrieren. Mist, schon wieder das Büro. Ich drückte die Sprechtaste. »Tally Whyte.«
»Ich bin's«, nuschelte Gert.
»Was'n los? Ich bin mit Penny beim Tierarzt und ... « »Du musst herkommen. Sofort.«
»Du kommst schon klar, Gertie. Du kommst mit allem klar, was ich ... «
»Stimmt was nicht mit Penny?«, fragte sie, und ihre Stimme klang eine Oktave höher.
»Nein, nein. Nicht wirklich. Ist nur ... zur Vorsorge.«
»Du lügst doch«, sagte sie, und ihr Brooklyn-Akzent trat deutlicher hervor. »Du musst aber deinen Hintern trotzdem herbewegen. Wir haben ein echtes Problem.«
»Glaub mir, Gert, du bist jeder Herausforderung gewachsen.«
»Meistens schon, glaube ich. Aber es geht nicht ums MGAP. In der Gerichtsmedizin geht gerade was Gruseliges vor sich.«
Ich begann, auf und ab zu gehen. »Ich versteh dich nicht. Was meinst du damit, Gert?«
»Keine Ahnung, was ich meine«, sagte sie. »Hier ist alles abgeriegelt, wie im Knast. Keiner redet mit mir. Vor den Türen ist überall Absperrband. Keiner darf raus oder rein. Und in der Lobby unten findet gerade so 'ne Art Polizeitagung statt.«
»Wo steckt Veda?«
»Keine Ahnung. Dr. Barrow ist nicht hier. Und keiner macht den Mund auf. Ist echt unheimlich. Und wir haben hier so'n armes Pärchen, deren Kind erstochen worden ist. Die sitzen hier fest.«
Ich sah die Sprechstundenhilfe an, die meinen Blick erwiderte. »Ich ruf Sie an«, meinte sie. »Sobald Penny mit dem Röntgen fertig ist.«
»Ich bin unterwegs, Gert.«
Zum Kummerladen gehört neben dem Verwaltungstrakt natürlich auch das ganze Tagesgeschäft der Leichenbeschauer von Massachusetts.
Wir sind in der Albany Street in einem unauffälligen, dreigeschossigen Ziegelgebäude untergebracht, das ganz im Schatten anderer medizinischer Einrichtungen wie dem Boston City Hospital steht.
Im Kummerladen arbeiten Pathologen, ein forensischer Anthropologe, die Verwaltung und eine für die Spurensicherung zuständige Eliteeinheit der State Police, genau wie die Leiterin der Rechtsmedizin, Dr. Veda Barrow, die zufällig auch meine Pflegemutter ist.
Zur Rechtsmedizin gehören eine Einrichtung für forensische Pathologie, ein großer und ein kleiner Seziersaal, ein großer Kühlraum und ein kleiner für verweste Leichen, ein Raum für die Proben der Spurensicherung und eine Reihe von Räumen unserer Organisation zur Familienberatung und Identifikation menschlicher Überreste.
Das mit dem Kummerladen klingt alles ganz wissenschaftlich und sachlich. Das ist aber nur die eine Seite.
Als ich wenig später durch die Tür der Rechtsmedizin hereinplatzte, herrschte überall Chaos. Die übliche Ruhe in der Eingangshalle wurde von umherwuselnden Menschen gestört - einigen Polizisten und Leuten von den Crime Scene Services, kurz CSS, also der Spurensicherung. Einer der Rechtsmediziner rannte mit flatternden weißen Rockschößen umher. Ich konnte Veda nicht sehen, die sicher weiter hinten war, wo die wahre Arbeit der Gerichtsmedizin stattfand.
In den zwölf Jahren, die ich in diesem Gebäude gearbeitet hatte, war mir so etwas noch nicht begegnet.
Ich bahnte mir einen Weg durch die Halle zu den Räumen des MGAP, fand das in Tränen aufgelöste Paar bei Gert und bot ihnen mein Büro an, um die Anrufe zu machen oder die Vorkehrungen zu treffen, die für ihren verstorbenen Sohn vonnöten waren. Ich ließ sie in Gerts fähigen Händen zurück.
Der Menge in der Lobby ausweichend, verschaffte ich mir dann über das codegesicherte Tastenfeld der Tür Zugang zu den inneren Räumlichkeiten des Gebäudes.
Auch der hintere Korridor war seltsam überfüllt. Ich entdeckte einen Riesenkerl in einem zerknitterten blauen Anzug - Sergeant Rob Kranak, der hier in der Rechtsmedizin zuständige CSS-Beamte. Er winkte mich zu sich.
»Was zum Teufel ist hier los, Rob?«, sagte ich.
»Wir haben 'ne Leiche.«
»Himmel, das ist aber seltsam für die Gerichtsmedizin.«
»Ja, ist es.« Er bedeutete mir mit einem Kopfnicken, ihm zu einer Ecke im Korridor zu folgen. Er wandte dem Chaos hinter sich den Rücken und beugte sich zu mir. »Was ganz Übles, Tal.«
»Und wo ist Veda?«, fragte ich. »Die kommt schon damit klar.«
»Wer zum Teufel weiß schon, wo unsere verehrte Chefin steckt?« Kranak fuhr sich mit der Hand über seinen Bürstenschnitt. »Hier ist sie jedenfalls nicht.«
Das irritierte mich. »Sie ist immer hier. Aber egal. Was ist denn jetzt mit dieser komischen Leiche?«
»Komisch ist an der nichts. Sie liegt im Kühlraum. Komisch ist nur, wie sie dahin gekommen ist. Einer der Assistenten hat sie heute Morgen entdeckt.«
»Entdeckt?«
Er wippte auf seinen Absätzen. »Genau. War einfach so da. Wir haben sie nicht im PC erfasst, sie nie vorher gesehen. Kein Anhänger am Fuß. Keine Akte. Kein gar nichts. Sieht ziemlich schlimm aus. Alles deutet auf Erdrosseln hin, vielleicht waren auch Drogen im Spiel. Ist noch zu früh, um das zu sagen.«
»Also meinst du einen Mord, und der Leichnam ist gerade erst in der Leichenhalle aufgetaucht?«
Er nickte. »Genau das meine ich.«
»Heiliger Bimbam!«
»Es kommt noch schlimmer. Es ist eine Kinderleiche.«
Bei Kranaks Worten bekam ich Gänsehaut. Ein ermordetes Kind war schlimm genug, aber eines, das wie durch Zauberei in der Rechtsmedizin auftaucht, fühlte sich weitaus schlimmer an.
Er schob die Hände tief in die Taschen. »Echt heftig. Ein kleines Mädchen ... ein Kind ... Irgendwer hat es heute Morgen da bemerkt. Ich kann's dir gar nicht sagen, aber das stinkt doch zum Himmel ... Ich war schon ein paar Stunden da drin, hab Fotos gemacht und alle möglichen Proben genommen, von allem und jedem. Hätte nie gedacht, dass ich mal den Tag erlebe, an dem der Kühlraum zum Tatort wird.«
»Ich würde gerne reingehen und sie sehen«, sagte ich.
»Mmm. Sobald Fogarty weg ist.«
»Was hat El Creepo denn vor?«
Kranak richtete seinen Triefaugen auf die Stahltür, hinter der ein namenloses Kind auf einer Bahre lag. »Wir konnten Veda heute Morgen nicht erreichen. Fogarty ist ihr Vertreter, Tal. Akzeptier das endlich.«
Ich schnaubte verächtlich. »Nie im Leben. Veda mag zwar meine Pflegemutter sein, aber ich versteh einfach nicht, was sie in ihm sieht. Wie lange steckt er denn schon da drin?«
»Zehn Minuten vielleicht.« Er grinste. »Aber jetzt kommt's. Fogarty war nämlich bei irgend so einem Schicki-MickiBrunch. Hat einen Anfall bekommen, als ich angerufen habe. Hab ihm nämlich nicht wirklich erzählt, was Sache ist. Also kommt er total wütend reinmarschiert, und die Kameras haben ihn mit 'ner ziemlichen Fresse erwischt. Hat sich fast in die Hosen gemacht.«
»Nicht nett von dir, Rob.«
Er zuckte die Achseln. »Na ja, jetzt gefällt's ihm umso mehr. Ein breites Lächeln für die Presse, und dann tut er ganz ergriffen wegen der Kleinen, auf die er doch eigentlich scheißt. Aber pass auf, sobald er fertig ist, pack ich da drin mein Zeug zusammen. Ich hol dich dann rein. Wenn ich fertig bin, kommt sie wieder in den Kühlraum. Also erzähl ich dir besser jetzt was über sie.«
Ich legte eine Hand auf seinen Arm. »Lieber nicht. Du weißt doch, dass ich sie mir lieber unvoreingenommen ansehe. Das ist immer am besten.«
Wie würde sie aussehen? Weiß oder schwarz? Braunes Haar, blondes, rotes? Klein oder groß oder irgendwas dazwischen? War sie ein Kind mit Sinn für Humor oder war sie sehr ernst gewesen? Hatte sie Astronautin oder lieber Künstlerin werden wollen? War sie ... Herrje, wer brachte denn ein Kind um und legte es im Leichenschauhaus ab? Und wie war derjenige hier reingekommen?
In diesem Augenblick ging die Tür auf, und Fogarty kam herausgestürmt. Er hielt inne, um mich missbilligend anzusehen. Dicht hinter ihm ging eine weitere, weiß gewandete Pathologin, Dr. Judy Ethridge, die sich immer bei Fogarty ein-schleimte, weil sie darauf baute, dass er der nächste Leiter der Gerichtsmedizin von Massachusetts wurde. Nicht zu meinen Lebzeiten, hoffte ich.
Kranak bedeutete mir mitzukommen, und wir bahnten uns einen Weg durch das gute Dutzend Leute, die sich vor der Tür scharten.
Fogarty fuhr herum. »Nicht sie. Nicht jetzt.«
Ich wollte etwas entgegnen, aber Kranak berührte mich an der Schulter und sagte: »Oh doch, sie. Tally hat einen ganz anderen Blickwinkel als wir, Fogarty.«
Wir traten ein.
Übersetzung: Susanne Engelhardt
Ich hasse Besuche beim Tierarzt, und Penny hasst so was noch mehr als ich. Ich muss meinen dreibeinigen Hund, ein früheres Mitglied der Hundestaffel, förmlich an der gespannten Leine dorthin schleifen und sie mit Hundeleckerlis den ganzen Weg und durch die Tür locken. Und dann habe ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich zu fest ziehe und ...
Aber dieses Mal war es anders. Dieses Mal hatte ich eine Riesenangst. Penny hatte eine Geschwulst, einen gigantischen Knoten, der anscheinend über Nacht aufgetaucht war. Das Ding war rund und hart und hatte die Größe eines Golfballs. Es war genau am Kniegelenk ihres verbliebenen Vorderbeines.
Was, wenn ... ? Nein. Meine dreibeinige Freundin hatte genug durchgemacht. Das hier war bestimmt harmlos, eine Zyste, die nach einem Kratzer oder einem Abszess entstanden war.
Meine Penny konnte nicht mit zwei Beinen leben. »Auf geht's, Pens«, sagte ich.
Ich drehte den kalten Türknauf, der zu Dr. Jobys Wartezimmer führte. In dem großen Raum roch es nach Pinienholz, und der Linoleumboden glänzte vom Sonnenlicht, das durch die Oberlichter fiel. Verflixt. Ich wollte, dass der Tag so düster war wie meine Stimmung.
Ich trat ein. Penny grub die Krallen in den Boden und rührte sich nicht. Aus ihren schokobraunen Augen sah sie mich tieftraurig, ein wenig schuldbewusst und äußerst entschlossen an.
»Du magst Dr. Joby doch, Pens. Wirklich. Sie arbeitet mit der Tierklinik hier in Boston zusammen. Du weißt schon, mit den Leuten, die sich um dich gekümmert haben, als dein Bein ...«
Meine Stimme war nur noch ein Flüstern. Warum redete ich so dummes Zeug? »Ke mne«, sagte ich auf Tschechisch. »Komm.«
Stolz hob sie den Kopf und marschierte auf ihren drei Beinen vorwärts.
Wir teilten uns das Wartezimmer mit zwei Möpsen und einem Boston Terrier, dessen Hinterteil beim Anblick meines Deutschen Schäferhundes wie verrückt zu wackeln anfing.
Als ich mich gesetzt hatte, zerrte der Terrier an seiner Leine zu Penny hinüber. Oje - Pens und der Terrier begannen schnüffelnd, leckend und hüpfend einen typisch hündischen Balztanz aufzuführen. Ich lachte laut, genau wie der Besitzer des Terriers, ein weißer Oberschicht-Typ im Tweed-Sakko. Wir lächelten uns an, und er grinste einladend. Wirklich ein gut aussehender Mann.
Egal. Mein griesgrämiger Sheriff aus Maine stach mit seinem leichten Buddha-Bäuchlein und dem stacheligen Schnauzbart diesen Mr Terrier locker aus. Aber Mr Terriers Grinsen wurde breiter. Himmel, jetzt zwinkerte er mir auch noch zu!
»Tally?«, sagte die Sprechstundenhilfe. »Penny kann jetzt reinkommen.«
Ich atmete tief durch. Hoffentlich ist alles in Ordnung, bitte. Dann folgten wir ihr.
Dr. Beth Joby kauerte sich vor meinen zitternden Hund. »Ssscht.« Die Ärztin lächelte Penny an. Sie strich sich eine
graue Haarsträhne aus dem Gesicht. »Gutes Mädchen.« »Wie sieht es aus, Beth?«, fragte ich.
Beth Joby nickte, während sie mit den Händen über Pennys kräftige Hinterbeine fuhr. Sie legte eine gichtgekrümmte Hand an Pennys Bauch, hob die Pfoten hoch, begutachtete ihre Zähne und leuchtete mit einer Lampe in jedes Auge. Sie kraulte Penny hinter den Ohren.
Ich hielt es nicht mehr aus. »Der Knoten?« Ich klang verzweifelt.
»Der Reihe nach.« Die Ärztin schloss die Augen und tastete vorsichtig über Pennys Beinstummel und dann über ihr unversehrtes Vorderbein, an dem die Geschwulst saß. Sie runzelte kurz die Stirn. Eine Assistentin kam mit einem Tablett voller Spritzen herein. Sie hielt Penny fest und redete beruhigend auf sie ein, während die Ärztin ihr Blut abnahm. Sie nahm eine zweite Spritze zur Hand und entnahm Flüssigkeit aus dem Knoten.
»Beth, ich ...« Mir blieben die Worte im Hals stecken. Beth Joby bedeutete ihrer Assistentin, sich vorzubeugen.
Die Ärztin flüsterte ihr etwas ins Ohr. Die Assistentin nickte. Ich schluckte, aber meine Kehle war so ausgedörrt, dass ich
husten musste. »Beth?«, krächzte ich.
Die Ärztin massierte Penny zwischen den Schulterblättern, gab ihr einen Klaps auf den Hinterlauf und stand auf. »Es scheint alles in Ordnung zu sein, Tally. Wir machen nur noch ein Röntgenbild von ihrem Bein.«
»An dem der Knoten ist.«
Die Ärztin nickte.
»Warum?«
»Eine sinnvolle Maßnahme.«
»Das erklärt nicht, warum.«
»Nein.« Sie gab Penny eine Belohnung. »Ich bin nicht sicher, ob mir gefällt, was ich da getastet habe.«
»Nicht?«
Sie zuckte die Achseln. »Höchstwahrscheinlich völlig harmlos, aber du weißt ja, wie vorsichtig ich bin.«
Das wusste ich, aber ich dachte trotzdem, dass Beth Joby log, dass Penny dem Tod geweiht war, dass sie mich verlassen würde - dabei war sie noch viel zu jung - und ich dann ... »Wie lange dauert das mit dem Röntgen?«
»Eine halbe Stunde, vielleicht auch eine Dreiviertelstunde.« Ich atmete laut aus. »Ich komme mit ihr.«
»Du bist viel zu aufgewühlt«, sagte sie. »Wir kümmern uns schon um sie. Das weißt du doch.«
Ich nickte. Genau diese Worte hatte auch ich schon zu zahllosen Angehörigen von Mordopfern gesagt, wenn sie die Leichen ihrer Liebsten im Kummerladen identifizieren mussten, wie ich die Gerichtsmedizin von Massachusetts nannte, den Ort, an dem ich arbeitete.
Ich wusste alles über Kummer und Trauer. Trug es sozusagen in mir. Trotzdem wollte ich Penny immer bei mir haben. »Also gut«, sagte ich schließlich. »Ich warte solange im Wartezimmer.«
Ich kniete mich hin und erklärte Penny alles. Ihre Augen verrieten mir, dass es ihr lieber wäre, wenn ich bei ihr bliebe. Ich drückte sie fest an mich. »Ich bin ganz in der Nähe.«
Die Ärztin hakte Pennys Leine ein und wollte sie hinausführen. Aber Penny rührte sich nicht.
»Komm!«, sagte Dr. Joby.
Penny saß wie angewurzelt auf dem Boden.
Beth Joby lächelte entnervt. »Ich dachte, Penny kennt die englischen Kommandos inzwischen.«
»Tut sie auch«, sagte ich. »Aber das vertraute Tschechisch ist ihr lieber. Das haben sie nämlich bei der Hundestaffel auch immer benutzt.« Ich wandte mich an Penny. » Volno!«, sagte ich. »Geh.«
Penny sah sich nach mir um. Ich drückte sie schnell noch einmal. Sie leckte mir über Ohr, Wange und Nase. »Ich liebe dich, Pens«, flüsterte ich. Volno. «
Penny lief los, und die Assistentin schloss die Tür hinter ihr.
Ich blätterte in irgendeiner Hundezeitschrift und tat, als würde sie mich interessieren. Ich hatte wahnsinnige Angst um meinen geliebten Hund. Wie dumm. Wie dumm ich mich benahm. Ich übertrieb mal wieder.
Mr Terrier war weg, Gott sei Dank. Die Sonne knallte herein, und ich zog meine Jacke aus. Wenn das Wetter an einem Apriltag schon so tun musste, als wäre es bereits Juni, warum ausgerechnet an diesem?
Mit dem Röntgen sollten sie inzwischen fertig sein. Ich sah auf die Uhr. Fünf Minuten. Erst fünf Minuten waren vergangen.
Ich zog mein Handy hervor, um Hank anzurufen und ihm zu erzählen ...
Mein Telefon vibrierte, und auf dem Display war »Gerichtsmedizin« zu lesen. Der Anruf aus dem Kummerladen kam nicht unerwartet. Denn die Durchwahl gehörte zum »Massachusetts Grief Assistance Program«, einer Organisation für Trauerarbeit, kurz MGAP. Und diese Organisation war mein Zuständigkeitsbereich.
Ich bin die Leiterin des MGAP, und meine Mitarbeiter sind unvergleichlich. Obwohl wir uns im Gebäude der Rechtsmedizin eingemietet haben, sind wir eine private, gemeinnützige Organisation. Unser Job ist es, den Betroffenen beizustehen, wenn Angehörige Opfer eines Mordes werden. Wir begleiten sie in der Zeit nach ihrem verheerenden Verlust, wir bieten psychologische Betreuung - oft über viele, viele Jahre - und wir stehen ihnen auch bei alltäglicheren Dingen bei, wie in rechtlichen Angelegenheiten, vor Gericht, gegenüber der Presse und der Polizei.
In den Vereinigten Staaten gibt es weniger als sechzig amtliche Berater für Angehörige von Mordopfern, und ich bin stolz darauf, eine von ihnen zu sein.
Wieder vibrierte das Telefon. Gert, meine Assistentin, würde schon klarkommen. Genau wie Donna oder jeder andere unserer Mitarbeiter. Ich sah auf und ertappte die Sprechstundenhilfe dabei, wie sie mich anstarrte. Sie wusste, was ich beruflich machte, und an ihrem Gesichtsausdruck konnte man ablesen, dass sie sich fragte, ob es bei dem Anruf mal wieder um eine Leiche ging.
So ziemlich jeder fand meine Berufswahl seltsam.
Ein weiteres Vibrieren. Mist, schon wieder das Büro. Ich drückte die Sprechtaste. »Tally Whyte.«
»Ich bin's«, nuschelte Gert.
»Was'n los? Ich bin mit Penny beim Tierarzt und ... « »Du musst herkommen. Sofort.«
»Du kommst schon klar, Gertie. Du kommst mit allem klar, was ich ... «
»Stimmt was nicht mit Penny?«, fragte sie, und ihre Stimme klang eine Oktave höher.
»Nein, nein. Nicht wirklich. Ist nur ... zur Vorsorge.«
»Du lügst doch«, sagte sie, und ihr Brooklyn-Akzent trat deutlicher hervor. »Du musst aber deinen Hintern trotzdem herbewegen. Wir haben ein echtes Problem.«
»Glaub mir, Gert, du bist jeder Herausforderung gewachsen.«
»Meistens schon, glaube ich. Aber es geht nicht ums MGAP. In der Gerichtsmedizin geht gerade was Gruseliges vor sich.«
Ich begann, auf und ab zu gehen. »Ich versteh dich nicht. Was meinst du damit, Gert?«
»Keine Ahnung, was ich meine«, sagte sie. »Hier ist alles abgeriegelt, wie im Knast. Keiner redet mit mir. Vor den Türen ist überall Absperrband. Keiner darf raus oder rein. Und in der Lobby unten findet gerade so 'ne Art Polizeitagung statt.«
»Wo steckt Veda?«
»Keine Ahnung. Dr. Barrow ist nicht hier. Und keiner macht den Mund auf. Ist echt unheimlich. Und wir haben hier so'n armes Pärchen, deren Kind erstochen worden ist. Die sitzen hier fest.«
Ich sah die Sprechstundenhilfe an, die meinen Blick erwiderte. »Ich ruf Sie an«, meinte sie. »Sobald Penny mit dem Röntgen fertig ist.«
»Ich bin unterwegs, Gert.«
Zum Kummerladen gehört neben dem Verwaltungstrakt natürlich auch das ganze Tagesgeschäft der Leichenbeschauer von Massachusetts.
Wir sind in der Albany Street in einem unauffälligen, dreigeschossigen Ziegelgebäude untergebracht, das ganz im Schatten anderer medizinischer Einrichtungen wie dem Boston City Hospital steht.
Im Kummerladen arbeiten Pathologen, ein forensischer Anthropologe, die Verwaltung und eine für die Spurensicherung zuständige Eliteeinheit der State Police, genau wie die Leiterin der Rechtsmedizin, Dr. Veda Barrow, die zufällig auch meine Pflegemutter ist.
Zur Rechtsmedizin gehören eine Einrichtung für forensische Pathologie, ein großer und ein kleiner Seziersaal, ein großer Kühlraum und ein kleiner für verweste Leichen, ein Raum für die Proben der Spurensicherung und eine Reihe von Räumen unserer Organisation zur Familienberatung und Identifikation menschlicher Überreste.
Das mit dem Kummerladen klingt alles ganz wissenschaftlich und sachlich. Das ist aber nur die eine Seite.
Als ich wenig später durch die Tür der Rechtsmedizin hereinplatzte, herrschte überall Chaos. Die übliche Ruhe in der Eingangshalle wurde von umherwuselnden Menschen gestört - einigen Polizisten und Leuten von den Crime Scene Services, kurz CSS, also der Spurensicherung. Einer der Rechtsmediziner rannte mit flatternden weißen Rockschößen umher. Ich konnte Veda nicht sehen, die sicher weiter hinten war, wo die wahre Arbeit der Gerichtsmedizin stattfand.
In den zwölf Jahren, die ich in diesem Gebäude gearbeitet hatte, war mir so etwas noch nicht begegnet.
Ich bahnte mir einen Weg durch die Halle zu den Räumen des MGAP, fand das in Tränen aufgelöste Paar bei Gert und bot ihnen mein Büro an, um die Anrufe zu machen oder die Vorkehrungen zu treffen, die für ihren verstorbenen Sohn vonnöten waren. Ich ließ sie in Gerts fähigen Händen zurück.
Der Menge in der Lobby ausweichend, verschaffte ich mir dann über das codegesicherte Tastenfeld der Tür Zugang zu den inneren Räumlichkeiten des Gebäudes.
Auch der hintere Korridor war seltsam überfüllt. Ich entdeckte einen Riesenkerl in einem zerknitterten blauen Anzug - Sergeant Rob Kranak, der hier in der Rechtsmedizin zuständige CSS-Beamte. Er winkte mich zu sich.
»Was zum Teufel ist hier los, Rob?«, sagte ich.
»Wir haben 'ne Leiche.«
»Himmel, das ist aber seltsam für die Gerichtsmedizin.«
»Ja, ist es.« Er bedeutete mir mit einem Kopfnicken, ihm zu einer Ecke im Korridor zu folgen. Er wandte dem Chaos hinter sich den Rücken und beugte sich zu mir. »Was ganz Übles, Tal.«
»Und wo ist Veda?«, fragte ich. »Die kommt schon damit klar.«
»Wer zum Teufel weiß schon, wo unsere verehrte Chefin steckt?« Kranak fuhr sich mit der Hand über seinen Bürstenschnitt. »Hier ist sie jedenfalls nicht.«
Das irritierte mich. »Sie ist immer hier. Aber egal. Was ist denn jetzt mit dieser komischen Leiche?«
»Komisch ist an der nichts. Sie liegt im Kühlraum. Komisch ist nur, wie sie dahin gekommen ist. Einer der Assistenten hat sie heute Morgen entdeckt.«
»Entdeckt?«
Er wippte auf seinen Absätzen. »Genau. War einfach so da. Wir haben sie nicht im PC erfasst, sie nie vorher gesehen. Kein Anhänger am Fuß. Keine Akte. Kein gar nichts. Sieht ziemlich schlimm aus. Alles deutet auf Erdrosseln hin, vielleicht waren auch Drogen im Spiel. Ist noch zu früh, um das zu sagen.«
»Also meinst du einen Mord, und der Leichnam ist gerade erst in der Leichenhalle aufgetaucht?«
Er nickte. »Genau das meine ich.«
»Heiliger Bimbam!«
»Es kommt noch schlimmer. Es ist eine Kinderleiche.«
Bei Kranaks Worten bekam ich Gänsehaut. Ein ermordetes Kind war schlimm genug, aber eines, das wie durch Zauberei in der Rechtsmedizin auftaucht, fühlte sich weitaus schlimmer an.
Er schob die Hände tief in die Taschen. »Echt heftig. Ein kleines Mädchen ... ein Kind ... Irgendwer hat es heute Morgen da bemerkt. Ich kann's dir gar nicht sagen, aber das stinkt doch zum Himmel ... Ich war schon ein paar Stunden da drin, hab Fotos gemacht und alle möglichen Proben genommen, von allem und jedem. Hätte nie gedacht, dass ich mal den Tag erlebe, an dem der Kühlraum zum Tatort wird.«
»Ich würde gerne reingehen und sie sehen«, sagte ich.
»Mmm. Sobald Fogarty weg ist.«
»Was hat El Creepo denn vor?«
Kranak richtete seinen Triefaugen auf die Stahltür, hinter der ein namenloses Kind auf einer Bahre lag. »Wir konnten Veda heute Morgen nicht erreichen. Fogarty ist ihr Vertreter, Tal. Akzeptier das endlich.«
Ich schnaubte verächtlich. »Nie im Leben. Veda mag zwar meine Pflegemutter sein, aber ich versteh einfach nicht, was sie in ihm sieht. Wie lange steckt er denn schon da drin?«
»Zehn Minuten vielleicht.« Er grinste. »Aber jetzt kommt's. Fogarty war nämlich bei irgend so einem Schicki-MickiBrunch. Hat einen Anfall bekommen, als ich angerufen habe. Hab ihm nämlich nicht wirklich erzählt, was Sache ist. Also kommt er total wütend reinmarschiert, und die Kameras haben ihn mit 'ner ziemlichen Fresse erwischt. Hat sich fast in die Hosen gemacht.«
»Nicht nett von dir, Rob.«
Er zuckte die Achseln. »Na ja, jetzt gefällt's ihm umso mehr. Ein breites Lächeln für die Presse, und dann tut er ganz ergriffen wegen der Kleinen, auf die er doch eigentlich scheißt. Aber pass auf, sobald er fertig ist, pack ich da drin mein Zeug zusammen. Ich hol dich dann rein. Wenn ich fertig bin, kommt sie wieder in den Kühlraum. Also erzähl ich dir besser jetzt was über sie.«
Ich legte eine Hand auf seinen Arm. »Lieber nicht. Du weißt doch, dass ich sie mir lieber unvoreingenommen ansehe. Das ist immer am besten.«
Wie würde sie aussehen? Weiß oder schwarz? Braunes Haar, blondes, rotes? Klein oder groß oder irgendwas dazwischen? War sie ein Kind mit Sinn für Humor oder war sie sehr ernst gewesen? Hatte sie Astronautin oder lieber Künstlerin werden wollen? War sie ... Herrje, wer brachte denn ein Kind um und legte es im Leichenschauhaus ab? Und wie war derjenige hier reingekommen?
In diesem Augenblick ging die Tür auf, und Fogarty kam herausgestürmt. Er hielt inne, um mich missbilligend anzusehen. Dicht hinter ihm ging eine weitere, weiß gewandete Pathologin, Dr. Judy Ethridge, die sich immer bei Fogarty ein-schleimte, weil sie darauf baute, dass er der nächste Leiter der Gerichtsmedizin von Massachusetts wurde. Nicht zu meinen Lebzeiten, hoffte ich.
Kranak bedeutete mir mitzukommen, und wir bahnten uns einen Weg durch das gute Dutzend Leute, die sich vor der Tür scharten.
Fogarty fuhr herum. »Nicht sie. Nicht jetzt.«
Ich wollte etwas entgegnen, aber Kranak berührte mich an der Schulter und sagte: »Oh doch, sie. Tally hat einen ganz anderen Blickwinkel als wir, Fogarty.«
Wir traten ein.
Übersetzung: Susanne Engelhardt
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Bibliographische Angaben
- Autor: Vicki Stiefel
- 2011, 1, 398 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868008470
- ISBN-13: 9783868008470
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