Der Mann, der Verlorenes wiederfindet
Novelle
Eine Geschichte über das, was im Leben wichtig ist.
Antonius ist ein Mensch wie alle Menschen, mit seiner Krankheit, seinen Erinnerungen, seiner Kindheit und seinem Tod. Doch einmal hat er die Berufung gespürt, und in der Zukunft wird er...
Antonius ist ein Mensch wie alle Menschen, mit seiner Krankheit, seinen Erinnerungen, seiner Kindheit und seinem Tod. Doch einmal hat er die Berufung gespürt, und in der Zukunft wird er...
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Produktinformationen zu „Der Mann, der Verlorenes wiederfindet “
Eine Geschichte über das, was im Leben wichtig ist.
Antonius ist ein Mensch wie alle Menschen, mit seiner Krankheit, seinen Erinnerungen, seiner Kindheit und seinem Tod. Doch einmal hat er die Berufung gespürt, und in der Zukunft wird er ein Heiliger sein. Bestsellerautor Michael Köhlmeier erzählt von einem Mann, der zur Legende wird und doch unbekannt geblieben ist.
Der Österreicher Michael Köhlmeier schreibt nicht nur sehr erfolgreich Romane, sondern ist auch für seine Gedichtbände und freien Nacherzählungen antiker Sagen, Märchen und Geschichten bekannt.
„Wenn Michael Köhlmeier erzählt, gibt es plötzlich keine Zeitalter mehr, nur noch Menschen und ihre Emotionen" Dorothea Zanon, Der Standard
Klappentext zu „Der Mann, der Verlorenes wiederfindet “
Antonius liegt auf dem Platz vor der Kirche. Er hatte die Schmerzen nicht mehr ertragen, die Straße nach Padua war gepflastert und der Wagen hart gefedert. Jetzt liegt er da und sieht den italienischen Himmel. Und er erinnert sich an alles, was ihn hierhergebracht hat, von der Kindheit in Portugal bis in den Orden des heiligen Franziskus. - Michael Köhlmeier erzählt, wie nur er es kann, von einer sehr fernen Zeit, doch er macht uns den Bruder Antonius zum Zeitgenossen. In einer Epoche voller Gewalt fragt sich Antonius, wie kommt das Böse in die Welt? Habe ich etwas dagegen bewirkt mit meinen Reden? Köhlmeier erzählt von dem Menschen Antonius, und der geht uns alle an.
Lese-Probe zu „Der Mann, der Verlorenes wiederfindet “
Michael Köhlmeier - Der Mann, der Verlorenes wiederfindet1
Der Mann, der Verlorenes wiederfindet, nun lag er in Arcella
auf dem Platz vor dem Kloster.
Er hatte die Schmerzen nicht mehr ertragen. Die Straße
von Camposampiero nach Padua war gepflastert und der
Wagen hart gefedert, da war dem Kutscher befohlen worden,
noch vor dem Ziel anzuhalten. Aus dem Kloster waren
die Klarissinnen zu Hilfe geeilt, die bereits von einem Pater
verständigt worden waren, und sie hatten eine Decke und
eine Rolle für den Nacken gebracht und eine Pritsche, die
war mit Seilen bespannt. Die Brüder hatten ihn zur Piazza
getragen, Antonius war ohnmächtig geworden. Als er ruhig
lag und die Sonne auf seine dünnen Lider schien, kam er
wieder zu sich.
... mehr
Er sah den Himmel. Er sah die Giebel der Häuser, über
die der Himmel emporwuchs. Erst hörte er noch die Amseln.
Den Kopf zur Seite drehen, um zu sehen, was um ihn
vorging, mochte er nicht. Eine Handbreit über der Erde lag
er, seine nackten Fersen berührten das Pflaster, aber sein
Blick ging in den Himmel, und der war blau und ohne eine
Wolke an diesem späten Juninachmittag. Ein Gemurmel
kam von weit her gekrochen und überdeckte den Gesang
der Amseln, glitt auf den Platz und umschloss ihn, als würde
es an den Fassaden entlanggespült. Dreitausend waren
es, die dem Pferdewagen von Camposampiero nachgefolgt
waren, eine lange und breite Prozession, die Felder rechts
und links des Weges hatten sie zertrampelt, aber die Bauern
und die Knechte und die Mägde hatten nicht geflucht,
sondern hatten die Forken weggeworfen und waren ihnen
nachgelaufen in ihren erdverklebten Schuhen und hatten
sich ihnen angeschlossen und mit ihnen gesungen und gebetet:
Ave Maria, gratia plena. Dominus tecum. Benedicta tu
in mulieribus ... - hundertundfünfzig Mal, nach jedem Zehner
ein Paternoster und wieder von vorne.
In Camposampiero hatte Antonius diesen Menschen
noch gepredigt, und seine Stimme war kräftig gewesen,
und seine Worte hatten die Erwartungen übertroffen.
Obendrein war versprochen worden, er werde ihnen die
Beichte abnehmen, allen. Allen? Dreitausend Menschen?
Jawohl, hätte es darauf geheißen, würde jemand in dieser
Weise gefragt haben, was niemand hatte; jawohl, dieser
Beichtvater benötige pro Seele nur einen Blick; er könne
hinunterschauen
wie in einen ausgeleuchteten Brunnenschacht,
dorthin, wo die Seele hocke und bocke und leide
und hoffe. Kein Mann, keine Frau brauche vor ihm das
Übel, das nun einmal jede Seele ausschwitze, zusammen9
zukratzen und ans Licht zu heben und in sein Ohr zu
schmieren. Er wisse alles. Drei spanische Wände auf dem
Platz vor der Klostermauer dienten als Beichtstuhl, darüber
werde ein Sonnensegel gespannt und fertig. In seinen Daumen,
hieß es weiter, ritze er am Beginn der Prozedur mit
einem Messerchen das Zeichen des Kreuzes, und den Daumen
drücke er zur Absolution dem Beichtling auf die Stirn,
nachdem er einen Blutstropfen herausgequetscht habe, so
werde Zeit gespart, und dreitausend Sündern könne an
einem einzigen Tag Erleichterung verschafft werden. Der
heilige Mann aber, wie er genannt wurde - il Santo -, sei
hinterher um dreitausend Blutstropfen ärmer. Solches war
ohne Beispiel in der ganzen Christenheit.
Bis er nicht mehr weiterkonnte, hatte er zu den Dreitausend
gepredigt. Und als er nicht mehr weiterkonnte, weil
ihm schwarz wurde und er ins Wanken geriet, waren ihm
seine Brüder zu Hilfe geeilt und hatten ihn von der zusammengenagelten
Kanzel geholt und in das Kloster geschleppt,
in den Schatten. Antonius aber, das wurde gewusst
und weitergesagt, habe darum gebeten, dass man
ihn nach Padua fahre, denn in Padua wolle er sterben - weil
der Weg über das Meer zu weit sei, nach Lissabon, in seine
Heimat, wo Mutter und Vater lebten und auch seine
Schwester, die er nun wahrscheinlich erst in der Seligkeit
wiedersehe. Also waren zwei Pferde vor den Wagen gespannt
worden, auf dem man üblicherweise das Bier trans10
portierte, für das die Minderbrüder vom Kloster in Camposampiero
berühmt waren. Neben dem Kutscher auf dem
Bock zu sitzen, hätte seinen Bauch zu arg gequetscht, im
Bauch aber war das Zentrum des Schmerzes, der inzwischen
bis in die Fingerspitzen und die Fußsohlen ausstrahlte;
also legte man ihn hinten auf die Ladebretter und
klemmte ihn zwischen zwei Fässer, damit er nicht vom
Wagen fiele. Aber das Pflaster war grausam grob, und der
Wagen rumpelte und pumpelte, und die Brüder, die ihn
begleiteten, hatten beschlossen, in Arcella anzuhalten, um
Antonius ein wenig Ruhe zu gönnen. Sein Wunsch sei es
gewesen, ihn auf den Platz unter den Himmel zu legen,
denn in den Himmel wollte er schauen. Nun sprach er nur
mehr portugiesisch - »Eu quero olhar para o céu ...« Bruder
Martinho, der, um sein Idol zu sehen, vor einem Jahr aus
Lissabon gekommen war, musste übersetzen.
Die Dreitausend aber waren dem Wagen gefolgt, bis auf
den letzten Mann und die letzte Frau; keiner hatte sich umgedreht
und war in die andere Richtung davon, weil er
glaubte, genug gesehen und gehört zu haben. Alle wollten
Zeuge sein, wenn Gott seinen Heiligen zu sich holte. Keiner
sprach laut, auch die Kinder nicht, aber doch sprachen sie
alle. Sie wollten einander versichern, dass es gleich geschehen
würde, das Unausdenkbare. Viele Fragen waren. Die
wurden gemurmelt, von Mund zu Ohr. Männer und Frauen,
die einander nie zuvor gesehen hatten, die von Montebel11
luna heruntergekommen waren und von Ferrara herauf,
von Bologna und Mantua herüber, von Verona und Venedig,
sie vertrauten einander. Einer vertraute dem anderen,
dass er ein Fachmann sei in punkto Auffahrung eines Heiligen
in den Himmel. Einer fragte den anderen, und einer
antwortete dem anderen. Daraus wurden Spekulationen,
die den Dialogen des großen Gregor Ehre gemacht hätten,
und ein Gemurmel, das den Amselgesang übertönte.
Das Unausdenkbare war die Heimholung eines Heiligen
durch Gott. Unausdenkbar, weil, erstens, Gott selbst unausdenkbar
war; zweitens, weil seit der Himmelfahrt Christi -
beschrieben beim Evangelisten Lukas - Und während er sie
segnete, verließ er sie und wurde zum Himmel emporgehoben
... und in der Apostelgeschichte: Als er das gesagt hatte,
wurde er vor ihren Augen emporgehoben, und eine Wolke
nahm ihn auf und entzog ihn ihren Blicken ... - nie mehr
beobachtet worden war, wie ein Mensch - oder besser
müsste man sagen: einer, der bis dahin ein Mensch gewesen
war - eben regelrecht vom Boden emporgehoben, von
unsichtbaren Händen und Armen, und weiter in die Luft
gleichsam geworfen oder geblasen oder eigentlich: angesaugt
wurde von den mächtigen Lungen des Mächtigsten,
hoch und höher und immer höher, bis er winzig klein
im Blauen verschwand. Geschehe dies, wurde gemurmelt,
müsse man eine kleine Weile warten, wie lange genau,
das würde ein anwesender geistlicher Herr bekanntgeben,
dann könne man - vorausgesetzt, jedermann halte sein
Maul und wetze nicht und trample nicht mit den genagelten
Schuhen - ein Türgehen hören weit oben, und das bedeute,
der Heilige sei aufgenommen. Woraufhin getrost in
Jubel ausgebrochen werden dürfe.
2
Antonius sah in den Himmel. Erst war er blau, gleich wurde
er golden, und aus seiner Mitte löste sich ein Schatten, der
war wie der Umriss eines Mannes, und der erhob sich und
drehte sich, als schickte er sich an zu tanzen. Oder war es
die Wolkensäule aus Exodus: Und der Herr zog vor ihnen her,
am Tage in einer Wolkensäule, um sie den rechten Weg zu führen,
und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten,
damit sie Tag und Nacht wandern konnten ... - Er wusste, das
hatte nichts zu bedeuten; so spielt das Auge, wenn man es
ungeschützt in den gleißenden Nachmittagshimmel hält,
ebenso, wenn man die Handballen gegen die Augäpfel
presst. So hatte er sich als Kind und als junger Mann Gespenster
vorgezaubert und sich mit ihnen unterhalten.
Lange, dünne, verbogene Boten waren es gewesen, und es
war ihnen nicht anzusehen, woher sie kamen, ob von unten
oder von oben, und auch nicht, welche Botschaft sie
brachten. Als Kind nicht weniger als jetzt auf seiner Sterbepritsche
vor Arcella in einem leeren Radius von zwanzig
Schritten, eingekreist von dreitausend Sterbensneugierigen,
war er sich jedoch gewiss gewesen, dass jedes Wort,
das zwischen ihm und diesen Chimären gesprochen wurde,
von nirgendwo anders herkam als aus ihm selbst, aus seinem
eigenen Geist und seiner eigenen Seele, die beide seiner
Verantwortung oblagen und nur seiner; dass also er, angenommen,
die Boten würden aus der Hölle steigen, mit
ihnen in der Sprache der Hölle spräche, wenn er ihnen
Redezeit überließ. Dass also er die Sprache der Hölle beherrschte.
Gelernt hatte er später im Priesterseminar der Augustiner
Chorherren in Coimbra, als er zehn Stunden am Tag
nichts anderes tat als lesen - zuvorderst natürlich den Augustinus
von Hippo, den klügsten Mann seit dem Apostel
Paulus, aber auch den Dionysius Areopagita und den Boethius
(von diesem die Consolatio philosophiae, über die er
einen Kommentar verfasste, der bis hinauf zum Abtprimas
gereicht wurde), des weiteren den durchaus unter Argwohn
stehenden Johannes Scottus Eriugena (der zur Erleichterung
der jungen Gewissen im Seminar gegen die
radikale Prädestinationslehre, der zufolge im Uranfang bestimmt
worden war, wer in der Gnade sein wird und wer
verdammt, das schlagende Argument ins Feld führte: Gott,
weil er das Etwas sei, könne niemals das Böse, also das
Nichts, wollen, er könne es nicht einmal kennen, und eine
von Anfang an festgelegte Verdammung sei nun einmal
böse) -, hatte er als sechzehnjähriger Studiosus mithilfe
dieser verehrten Lehrer also gelernt, die Boten der Hölle
zu erkennen, wenn sie, zwar kraft seiner eigenen Fantasie,
aber eben doch, vor sein gepresstes Auge traten.
Zum Exempel den Asmodäus, den gelenkigen Dämon,
der mit Luxus lockt. Wenn der seinen Nebeltanz zu Ende
getanzt hatte, drehte er ihm den Rücken zu, hob einen Arm,
als wollte er nach einem Haken im Himmel greifen, schob
den Kopf unter der Achsel hindurch und grüßte mit immer
denselben Worten: Meinst du, dass du Gott umsonst
fürchtest? Und legte, ohne eine Antwort abzuwarten, sogleich
mit den geschicktesten Wendungen auseinander,
dass menschlicher Gottesglaube nichts anderes sei als Verzicht
auf Genuss und zwar aus Ängstlichkeit, aus purer,
purer Ängstlichkeit.
Die scheinbar so fromme Inbrunst krache
allerdings schon angesichts eines pekuniär gepolsterten
Eherings oder eines Araberhengstes, spätestens aber
angesichts einer als Besitz in Aussicht gestellten wertvollen
Schriftrolle, sagen wir De beata vita des heiligen Augustinus,
in sich zusammen wie die Mauern von Jericho, nachdem
die Israeliten siebenmal um die Stadt gezogen und in
die Posaunen gepustet hatten. Glaube, Inbrunst, Frömmigkeit
seien die Mimikry von Duckmäusern, die ohne Mucks
einen Arschtritt in Kauf nehmen, solange es nur keine
Kopfnüsse
hagelt. Das Reich der Ideen verpuffe unter dem
ersten scharfen Blick der Vernunft; übrig blieben ein paar
Tröpfchen vom Speichel der Eiferer und sonst nichts. Gött16
lich sei allein die Materie. Geist und Seele sollten gefälligst
dem mit Händen zu Greifenden dienen und nicht
Wahnbilder entwerfen, die, nehmen wir nur ihre Schönheit,
nicht einmal mit einem Kieselstein konkurrieren können,
ganz zu schweigen mit dessen Haltbarkeit. - Konter
gegeben wurde
dem Asmodäus mit dem Psalm: Es wird
dir kein Übel begegnen, und keine Plage wird sich deinem
Hause nahen. Denn er hat seinen Engeln befohlen, dass sie
dich behüten
auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf den
Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.
©HANSER
Er sah den Himmel. Er sah die Giebel der Häuser, über
die der Himmel emporwuchs. Erst hörte er noch die Amseln.
Den Kopf zur Seite drehen, um zu sehen, was um ihn
vorging, mochte er nicht. Eine Handbreit über der Erde lag
er, seine nackten Fersen berührten das Pflaster, aber sein
Blick ging in den Himmel, und der war blau und ohne eine
Wolke an diesem späten Juninachmittag. Ein Gemurmel
kam von weit her gekrochen und überdeckte den Gesang
der Amseln, glitt auf den Platz und umschloss ihn, als würde
es an den Fassaden entlanggespült. Dreitausend waren
es, die dem Pferdewagen von Camposampiero nachgefolgt
waren, eine lange und breite Prozession, die Felder rechts
und links des Weges hatten sie zertrampelt, aber die Bauern
und die Knechte und die Mägde hatten nicht geflucht,
sondern hatten die Forken weggeworfen und waren ihnen
nachgelaufen in ihren erdverklebten Schuhen und hatten
sich ihnen angeschlossen und mit ihnen gesungen und gebetet:
Ave Maria, gratia plena. Dominus tecum. Benedicta tu
in mulieribus ... - hundertundfünfzig Mal, nach jedem Zehner
ein Paternoster und wieder von vorne.
In Camposampiero hatte Antonius diesen Menschen
noch gepredigt, und seine Stimme war kräftig gewesen,
und seine Worte hatten die Erwartungen übertroffen.
Obendrein war versprochen worden, er werde ihnen die
Beichte abnehmen, allen. Allen? Dreitausend Menschen?
Jawohl, hätte es darauf geheißen, würde jemand in dieser
Weise gefragt haben, was niemand hatte; jawohl, dieser
Beichtvater benötige pro Seele nur einen Blick; er könne
hinunterschauen
wie in einen ausgeleuchteten Brunnenschacht,
dorthin, wo die Seele hocke und bocke und leide
und hoffe. Kein Mann, keine Frau brauche vor ihm das
Übel, das nun einmal jede Seele ausschwitze, zusammen9
zukratzen und ans Licht zu heben und in sein Ohr zu
schmieren. Er wisse alles. Drei spanische Wände auf dem
Platz vor der Klostermauer dienten als Beichtstuhl, darüber
werde ein Sonnensegel gespannt und fertig. In seinen Daumen,
hieß es weiter, ritze er am Beginn der Prozedur mit
einem Messerchen das Zeichen des Kreuzes, und den Daumen
drücke er zur Absolution dem Beichtling auf die Stirn,
nachdem er einen Blutstropfen herausgequetscht habe, so
werde Zeit gespart, und dreitausend Sündern könne an
einem einzigen Tag Erleichterung verschafft werden. Der
heilige Mann aber, wie er genannt wurde - il Santo -, sei
hinterher um dreitausend Blutstropfen ärmer. Solches war
ohne Beispiel in der ganzen Christenheit.
Bis er nicht mehr weiterkonnte, hatte er zu den Dreitausend
gepredigt. Und als er nicht mehr weiterkonnte, weil
ihm schwarz wurde und er ins Wanken geriet, waren ihm
seine Brüder zu Hilfe geeilt und hatten ihn von der zusammengenagelten
Kanzel geholt und in das Kloster geschleppt,
in den Schatten. Antonius aber, das wurde gewusst
und weitergesagt, habe darum gebeten, dass man
ihn nach Padua fahre, denn in Padua wolle er sterben - weil
der Weg über das Meer zu weit sei, nach Lissabon, in seine
Heimat, wo Mutter und Vater lebten und auch seine
Schwester, die er nun wahrscheinlich erst in der Seligkeit
wiedersehe. Also waren zwei Pferde vor den Wagen gespannt
worden, auf dem man üblicherweise das Bier trans10
portierte, für das die Minderbrüder vom Kloster in Camposampiero
berühmt waren. Neben dem Kutscher auf dem
Bock zu sitzen, hätte seinen Bauch zu arg gequetscht, im
Bauch aber war das Zentrum des Schmerzes, der inzwischen
bis in die Fingerspitzen und die Fußsohlen ausstrahlte;
also legte man ihn hinten auf die Ladebretter und
klemmte ihn zwischen zwei Fässer, damit er nicht vom
Wagen fiele. Aber das Pflaster war grausam grob, und der
Wagen rumpelte und pumpelte, und die Brüder, die ihn
begleiteten, hatten beschlossen, in Arcella anzuhalten, um
Antonius ein wenig Ruhe zu gönnen. Sein Wunsch sei es
gewesen, ihn auf den Platz unter den Himmel zu legen,
denn in den Himmel wollte er schauen. Nun sprach er nur
mehr portugiesisch - »Eu quero olhar para o céu ...« Bruder
Martinho, der, um sein Idol zu sehen, vor einem Jahr aus
Lissabon gekommen war, musste übersetzen.
Die Dreitausend aber waren dem Wagen gefolgt, bis auf
den letzten Mann und die letzte Frau; keiner hatte sich umgedreht
und war in die andere Richtung davon, weil er
glaubte, genug gesehen und gehört zu haben. Alle wollten
Zeuge sein, wenn Gott seinen Heiligen zu sich holte. Keiner
sprach laut, auch die Kinder nicht, aber doch sprachen sie
alle. Sie wollten einander versichern, dass es gleich geschehen
würde, das Unausdenkbare. Viele Fragen waren. Die
wurden gemurmelt, von Mund zu Ohr. Männer und Frauen,
die einander nie zuvor gesehen hatten, die von Montebel11
luna heruntergekommen waren und von Ferrara herauf,
von Bologna und Mantua herüber, von Verona und Venedig,
sie vertrauten einander. Einer vertraute dem anderen,
dass er ein Fachmann sei in punkto Auffahrung eines Heiligen
in den Himmel. Einer fragte den anderen, und einer
antwortete dem anderen. Daraus wurden Spekulationen,
die den Dialogen des großen Gregor Ehre gemacht hätten,
und ein Gemurmel, das den Amselgesang übertönte.
Das Unausdenkbare war die Heimholung eines Heiligen
durch Gott. Unausdenkbar, weil, erstens, Gott selbst unausdenkbar
war; zweitens, weil seit der Himmelfahrt Christi -
beschrieben beim Evangelisten Lukas - Und während er sie
segnete, verließ er sie und wurde zum Himmel emporgehoben
... und in der Apostelgeschichte: Als er das gesagt hatte,
wurde er vor ihren Augen emporgehoben, und eine Wolke
nahm ihn auf und entzog ihn ihren Blicken ... - nie mehr
beobachtet worden war, wie ein Mensch - oder besser
müsste man sagen: einer, der bis dahin ein Mensch gewesen
war - eben regelrecht vom Boden emporgehoben, von
unsichtbaren Händen und Armen, und weiter in die Luft
gleichsam geworfen oder geblasen oder eigentlich: angesaugt
wurde von den mächtigen Lungen des Mächtigsten,
hoch und höher und immer höher, bis er winzig klein
im Blauen verschwand. Geschehe dies, wurde gemurmelt,
müsse man eine kleine Weile warten, wie lange genau,
das würde ein anwesender geistlicher Herr bekanntgeben,
dann könne man - vorausgesetzt, jedermann halte sein
Maul und wetze nicht und trample nicht mit den genagelten
Schuhen - ein Türgehen hören weit oben, und das bedeute,
der Heilige sei aufgenommen. Woraufhin getrost in
Jubel ausgebrochen werden dürfe.
2
Antonius sah in den Himmel. Erst war er blau, gleich wurde
er golden, und aus seiner Mitte löste sich ein Schatten, der
war wie der Umriss eines Mannes, und der erhob sich und
drehte sich, als schickte er sich an zu tanzen. Oder war es
die Wolkensäule aus Exodus: Und der Herr zog vor ihnen her,
am Tage in einer Wolkensäule, um sie den rechten Weg zu führen,
und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten,
damit sie Tag und Nacht wandern konnten ... - Er wusste, das
hatte nichts zu bedeuten; so spielt das Auge, wenn man es
ungeschützt in den gleißenden Nachmittagshimmel hält,
ebenso, wenn man die Handballen gegen die Augäpfel
presst. So hatte er sich als Kind und als junger Mann Gespenster
vorgezaubert und sich mit ihnen unterhalten.
Lange, dünne, verbogene Boten waren es gewesen, und es
war ihnen nicht anzusehen, woher sie kamen, ob von unten
oder von oben, und auch nicht, welche Botschaft sie
brachten. Als Kind nicht weniger als jetzt auf seiner Sterbepritsche
vor Arcella in einem leeren Radius von zwanzig
Schritten, eingekreist von dreitausend Sterbensneugierigen,
war er sich jedoch gewiss gewesen, dass jedes Wort,
das zwischen ihm und diesen Chimären gesprochen wurde,
von nirgendwo anders herkam als aus ihm selbst, aus seinem
eigenen Geist und seiner eigenen Seele, die beide seiner
Verantwortung oblagen und nur seiner; dass also er, angenommen,
die Boten würden aus der Hölle steigen, mit
ihnen in der Sprache der Hölle spräche, wenn er ihnen
Redezeit überließ. Dass also er die Sprache der Hölle beherrschte.
Gelernt hatte er später im Priesterseminar der Augustiner
Chorherren in Coimbra, als er zehn Stunden am Tag
nichts anderes tat als lesen - zuvorderst natürlich den Augustinus
von Hippo, den klügsten Mann seit dem Apostel
Paulus, aber auch den Dionysius Areopagita und den Boethius
(von diesem die Consolatio philosophiae, über die er
einen Kommentar verfasste, der bis hinauf zum Abtprimas
gereicht wurde), des weiteren den durchaus unter Argwohn
stehenden Johannes Scottus Eriugena (der zur Erleichterung
der jungen Gewissen im Seminar gegen die
radikale Prädestinationslehre, der zufolge im Uranfang bestimmt
worden war, wer in der Gnade sein wird und wer
verdammt, das schlagende Argument ins Feld führte: Gott,
weil er das Etwas sei, könne niemals das Böse, also das
Nichts, wollen, er könne es nicht einmal kennen, und eine
von Anfang an festgelegte Verdammung sei nun einmal
böse) -, hatte er als sechzehnjähriger Studiosus mithilfe
dieser verehrten Lehrer also gelernt, die Boten der Hölle
zu erkennen, wenn sie, zwar kraft seiner eigenen Fantasie,
aber eben doch, vor sein gepresstes Auge traten.
Zum Exempel den Asmodäus, den gelenkigen Dämon,
der mit Luxus lockt. Wenn der seinen Nebeltanz zu Ende
getanzt hatte, drehte er ihm den Rücken zu, hob einen Arm,
als wollte er nach einem Haken im Himmel greifen, schob
den Kopf unter der Achsel hindurch und grüßte mit immer
denselben Worten: Meinst du, dass du Gott umsonst
fürchtest? Und legte, ohne eine Antwort abzuwarten, sogleich
mit den geschicktesten Wendungen auseinander,
dass menschlicher Gottesglaube nichts anderes sei als Verzicht
auf Genuss und zwar aus Ängstlichkeit, aus purer,
purer Ängstlichkeit.
Die scheinbar so fromme Inbrunst krache
allerdings schon angesichts eines pekuniär gepolsterten
Eherings oder eines Araberhengstes, spätestens aber
angesichts einer als Besitz in Aussicht gestellten wertvollen
Schriftrolle, sagen wir De beata vita des heiligen Augustinus,
in sich zusammen wie die Mauern von Jericho, nachdem
die Israeliten siebenmal um die Stadt gezogen und in
die Posaunen gepustet hatten. Glaube, Inbrunst, Frömmigkeit
seien die Mimikry von Duckmäusern, die ohne Mucks
einen Arschtritt in Kauf nehmen, solange es nur keine
Kopfnüsse
hagelt. Das Reich der Ideen verpuffe unter dem
ersten scharfen Blick der Vernunft; übrig blieben ein paar
Tröpfchen vom Speichel der Eiferer und sonst nichts. Gött16
lich sei allein die Materie. Geist und Seele sollten gefälligst
dem mit Händen zu Greifenden dienen und nicht
Wahnbilder entwerfen, die, nehmen wir nur ihre Schönheit,
nicht einmal mit einem Kieselstein konkurrieren können,
ganz zu schweigen mit dessen Haltbarkeit. - Konter
gegeben wurde
dem Asmodäus mit dem Psalm: Es wird
dir kein Übel begegnen, und keine Plage wird sich deinem
Hause nahen. Denn er hat seinen Engeln befohlen, dass sie
dich behüten
auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf den
Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.
©HANSER
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Autoren-Porträt von Michael Köhlmeier
Michael Köhlmeier, in Hard am Bodensee geboren, lebt in Hohenems/Vorarlberg und Wien. Bei Hanser erschienen die Romane "Abendland" (2007), "Madalyn" (2010), "Die Abenteuer des Joel Spazierer" (2013), "Spielplatz der Helden" (2014, Erstausgabe 1988), "Zwei Herren am Strand" (2014), "Das Mädchen mit dem Fingerhut" (2016), "Bruder und Schwester Lenobel" (2018), "Matou" (2021), "Frankie" (2023) und zuletzt "Das Philosophenschiff" (2024), außerdem die Gedichtbände "Der Liebhaber bald nach dem Frühstück" (Edition Lyrik Kabinett, 2012) und "Ein Vorbild für die Tiere" (Gedichte, 2017) sowie die Novelle "Der Mann, der Verlorenes wiederfindet" (2017), "Die Märchen" (mit Bildern von Nikolaus Heidelbach, 2019) und "Das Schöne" (59 Begeisterungen, 2023). Michael Köhlmeier wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. 2017 mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung sowie dem Marie Luise Kaschnitz-Preis für sein Gesamtwerk und 2019 mit dem Ferdinand-Berger-Preis.
Bibliographische Angaben
- Autor: Michael Köhlmeier
- 2017, 160 Seiten, Maße: 13,4 x 21,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: HANSER
- ISBN-10: 3446256458
- ISBN-13: 9783446256453
- Erscheinungsdatum: 19.07.2017
Pressezitat
"Eine mutige und ungemein dichte Novelle." Ulrich Deuter, WDR 3, 06.09.17"Köhlmeier erinnert uns mit seinem Antonius sowohl an die Menschlichkeit des Zweifelns als auch an das Urmotiv des Christentums: die Nächstenliebe. Sie kennt keine Glaubensunterschiede. So wird der Erzähler dieses kunstvoll komponierten Textes selbst zum Mann, der Verlorenes wiederfindet. Michael Köhlmeiers neue Novelle liest sich wie ein Klassiker." Carsten Otte, Der Tagesspiegel, 27.08.17
"Köhlmeier erschafft Erzählwelten, die aus eigenem Recht leuchten." Martin Oehlen, Frankfurter Rundschau, 23.08.17
"Die Aktualität dieses brillianten Textes liegt darin, dass er Antonius in seiner ganzen Menschenfreundlichkeit als Kontrapunkt gegen die Hassprediger, Demagogen und Religionskrieger der Gegenwart setzt." Christoph Schröder, Süddeutsche Zeitung, 07.08.17
"Köhlmeier erinnert uns sowohl an die Menschlichkeit des Zweifelns als auch an das Urmotiv des Christentums, nämlich an die Nächstenliebe, die keine Glaubensunterschiede kennt." Carsten Otte, SWR2, 31.07.17
"Michael Köhlmeier versteht es, auf betörende Weise die großen Figuren der Weltgeschichte auf ihre vermeintlich kleinen privaten Momente herunterzubrechen, um sie auf diese Weise aber nur umso mehr zum Leuchten zu bringen... Für die konzentrierte, im Ton zurückgenommene Strecke dieser Novelle legt man sich nur allzu gern neben Antonius auf das harte Pflaster und lässt sich von Köhlmeiers Sanftmut eine glückliche Weile tragen." Wiebke Porombka, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.07.17
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