Der Rest ist Schweigen
Roman
Das Wort trifft den kleinen Tommy wie ein Schlag, als er bei einem Familienfest unter dem Tisch hockt und lauscht: Selbstmord. Seine geliebte Mutter hat ihn freiwillig verlassen. Während der zarte Junge sich auf die Suche nach der verschwiegenen Wahrheit...
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Produktinformationen zu „Der Rest ist Schweigen “
Klappentext zu „Der Rest ist Schweigen “
Das Wort trifft den kleinen Tommy wie ein Schlag, als er bei einem Familienfest unter dem Tisch hockt und lauscht: Selbstmord. Seine geliebte Mutter hat ihn freiwillig verlassen. Während der zarte Junge sich auf die Suche nach der verschwiegenen Wahrheit macht, ringen sein Vater, der arrivierte Chirurg, und dessen zweite Frau Alma ihrerseits mit all dem Unsagbaren, Ungesagten, an dem sie fast zu ersticken drohen. Wie Planeten mit einem heißen Kern aus Sehnsucht kreisen Tommy, Juan und Alma umeinander und bleiben sich auf ihren Umlaufbahnen doch fern. Erst als das Leben brutal dazwischenfährt, scheint so etwas wie Nähe wieder möglich - doch der Preis ist hoch. Carla Guelfenbein macht ihren Figuren ein Geschenk: sie lässt sie reden, von sich und denen, die sie lieben. In wechselnden Stimmen entfaltet sich so das Drama einer modernen Familie - bestürzend in seiner Unausweichlichkeit, aber auch voller Zärtlichkeit und Hoffnung.
»Für dieses Buch brauchen Sie viele Taschentücher, hat ein Kritiker gesagt. Bei mir ging es ohne, aber genau das macht dieses Buch so wunderbar. Es ist traurig, aber nie rührselig.« Christine Westermann
Lese-Probe zu „Der Rest ist Schweigen “
Der Rest ist Schweigen von Carla Guelfenbein1
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Wörter sind manchmal wie Pfeile. Fliegen hin und her, verletzen und töten, genau wie im Krieg. Deshalb nehme ich die Gespräche von Erwachsenen gern auf. Besonders wenn jeder von sich redet und plötzlich wie durch einen Zaubertrick alle auf einmal loslachen.
Beine, die hin und her gehen, gibt es hier unten reichlich. Fast von jeder Tierart sind welche dabei: Kamelbeine, Kaninchenbeine, Flamingobeine, Affenbeine und Beine von Tieren, die ich noch nicht kenne. An meinen Tisch haben sich drei Frauen gesetzt mit Knöcheln, so dick wie Elefantenfüße, ein Mann mit Golferschuhen und eine Giraffe, die sofort ihre goldenen Sandalen abstreift. Alle reden durcheinander, und ich kann nachher wahrscheinlich wenig damit anfangen, schalte meinen Mp3-Player aber trotzdem ein und nehme auf:
»Tere und ihr Mann sind nicht im selben Auto gekommen, hast du gesehen?«
»Nein, ist mir entgangen, wundert mich aber nicht.«
Im Park stellt sich das Brautpaar für den Fotografen vor Großvaters Voliere. Mein Cousin Miguel grinst, als hätte er ein Essstäbchen quer im Mund. Zwischen den bunten Kleidern sehe ich Alma. Sie bewegt die Hände und malt beim Sprechen Figuren in die Luft. Ihr Haar ist rot, und sie heißt wie das größte Radioteleskop der Erde. Die wichtigste Aufgabe von ALMA ist die Erforschung der Sternenentstehung. Kájef, mein bester Freund, und ich haben herausgefunden, dass man damit organische Teilchen analysieren kann, zum Beispiel Kohlenstoff, und das könnte die Große Frage beantworten, wie das Leben entstanden ist. Unglaublich, was ALMA alles sieht. Dagegen ist die Alma, die Papa geheiratet hat, manchmal nicht richtig bei der Sache. Was mir aber nichts ausmacht. Sie stört es ja auch nicht, dass ich ein bisschen langsam bin und ungeschickt. Hin und wieder tun wir Dinge, die Papa nicht gefallen. Zum Beispiel hat sie ihn heute überredet, dass ich nicht wie sonst bei wichtigen Anlässen diesen Totengräberanzug tragen muss. Meine Cousins würden sonst über mich lachen. Dabei wissen wir beide, dass es egal ist, was ich anhabe. Nicht dass meine Cousins nicht nett wären, aber sie tun ständig so, als müssten sie ganz schnell einen fernen Schatz finden, und ich bin zu der Suche nie eingeladen.
»Nein, wenn ich's dir sage, die kennen sich gar nicht.«
Die Stimme der Frau ist heiser wie die einer Kröte. Ich halte meinen Player ein bisschen höher.
»Ich dachte, sie wären Freundinnen. Schau, dort steht sie, beim Brautpaar, vor der Voliere.«
Von allen Vögeln in Großvaters Käfig gefallen mir die Goldfasane am besten.
»Wo denkst du hin, niemals. Du kennst doch Marisol. «
Der Wind vom Meer hebt die Tischdecke an. Ein Paar Männerschuhe bleiben vor dem Tisch stehen, unter dem ich hocke.
»Carmen, wie schön, dich zu sehen!«
Das ist Papa mit seiner Doktorstimme, die er nie zu Hause lässt. Wenn er mich hier erwischt, wie ich die Erwachsenen aufnehme, gibt es ein Donnerwetter. Er sagt, ich »verletze die Privatsphäre der Leute«. Aber so richtig verstehe ich nicht, was »die Privatsphäre« ist. Ich dachte, privat ist das, was man tut und fühlt, wenn man allein ist. Diese Gespräche kommen mir nicht privat vor.
Eine der Frauen bewegt einen Fuß hin und her, so als hätte sie einen Stein im Schuh.
»Nein, bitte, bleibt doch sitzen«, sagt Papa.
Ich halte den Atem an, umklammere den Player. »Wir haben uns Jahre nicht gesehen«, sagt die Frau. »Fünf? Sechs?«
»Mindestens.«
»Du siehst großartig aus, Carmen. Wie schön, dass du gekommen bist. Und Jorge?« Papa redet bedächtig und gleichzeitig heiter, genau in dem Tonfall, den er benutzt, wenn ihn jemand um Rat fragt.
»Ist vor zwei Jahren mit so einer Schnepfe durchgebrannt. Seiner Sekretärin«, erklärt die Frau und lacht auf. »Keine Bange, ich bin froh, dass ich ihn los bin. Er war ein Klotz am Bein.«
»Wenn du meinst«, antwortet Papa.
»Das meinen wir alle«, sagt hastig eine andere. Sie klingt, als hätte sie jemand mit einer Nadel gepikst.
Kurz darauf gehen Papas Schuhe weg. Ein Glück, dass er mich nicht entdeckt hat. Papa und Alma bleiben heute Nacht hier, und ich muss mit einem von meinen Onkeln nach Santiago zurückfahren. »Wir brauchen ein bisschen Erholung von euch«, hat Alma ganz sanft und mit einem strahlenden Lächeln gesagt. Aber ich fand es trotzdem ungerecht.
»Juan hat wieder geheiratet, nicht?«
»Ja, eine Jüngere. Etwas dürr und bleich, wenn du mich fragst«, sagen die Golfschuhe.
Den Erwachsenen kleben Zettel auf der Stirn, da stehen Sachen drauf wie: »Du bist der langweiligste Mensch, den ich kenne« oder: »Du riechst schlecht« oder: »Ich würde dich sehr gern küssen.« Aber natürlich kann ich die hier unter dem Tisch nicht sehen. Ich bin es leid, weiter zusammengekauert dazuhocken, aber mittlerweile wäre es reichlich sonderbar, wenn ich rausspazierte, als wäre nichts gewesen.
»Die echte Krönung ist die Braut«, reden sie wieder.
»Du meinst Julia? Ja, zu klein und zu dunkel geraten. Ihre Familie ist aus dem Süden. Kein Mensch kennt die«, bemerkt die Giraffe und dehnt dabei die Wörter, als würde sie auf etwas sehr Zähem herumkauen.
»Jedenfalls ist es ein Glück, dass Juan wieder geheiratet hat; wo Soledads Krankheit so schlimm war und so plötzlich kam. «
»Krankheit? Nicht zu fassen, was für Märchen sie einem auftischen«, sagt die Elefantenfrau.
»Wieso denn Märchen?«
»Ach, gütiger Himmel, ich hätte den Mund halten sollen. Entschuldigt. Bitte fragt mich nicht.«
Weil ich unter dem Tisch sitze, kann ich den Zettel der Elefantin nicht sehen, aber ich könnte wetten, sie möchte weiterreden.
»Du kannst uns doch so jetzt nicht hängenlassen. «
Die Elefantin bleibt einen Augenblick stumm, und dann sagt sie:
»Soledad ist nicht an einer Krankheit gestorben. Sie hat sich umgebracht.«
»Hatte sie nicht eine Hirnblutung?«
»Das wurde behauptet, damit es kein Gerede gibt, aber Soledad hat sich umgebracht, das kann ich dir schriftlich geben.«
Ich spüre einen Schmerz in der Brust. Der Player fällt mir aus der Hand und landet mit einem harten Klack auf dem Boden. Mama ist krank geworden, als ich drei war. Sie ist plötzlich krank geworden, haben sie mir gesagt. Und von uns gegangen.
»Das ist eins der am besten gehüteten Geheimnisse der Familie Montes. «
»Aber Soledad ging es doch blendend, und sie wirkte immer so fröhlich, so zufrieden.«
»Ha! Nach außen vielleicht. Aber dass Soledad einen glücklichen Eindruck gemacht hat, heißt nicht, dass sie es war. Immerhin ist sie vor ihrem Selbstmord etliche Monate in einer Klinik gewesen. In Aguas Claras. «
»Das glaube ich nicht. Ich war dort mal als Ehrenamtliche. Das war doch nichts für Soledad. Der Park ist ganz schön, aber der Rest ist zum Weglaufen.«
Erst habe ich ständig an Mama gedacht. Aber eines Tages habe ich gemerkt, dass ich mich anstrengen kann, wie ich will, aber trotzdem weiter wachse. Und vergesse. Beides passiert zusammen und ist gar nicht zu trennen.
»Es sollte keiner etwas davon wissen. In der Klinik La Europea wäre ihnen bestimmt jemand über den Weg gelaufen. Der Sohn von María Elena wurde ja auch zu der Zeit eingeliefert, aber in La Europea natürlich.«
Meine Erinnerungen an sie sind so ähnlich wie Filme. Es gibt eine Szene, die kommt immer wieder. Wir liegen auf dem Boden in einem leeren Zimmer, Mama und ich. Sie hält mich im Arm. In der Zimmerdecke ist ein Fenster, durch das wir den Himmel betrachten. Manchmal schließe ich die Augen und stelle mir vor, ich bin dort. Am Ende wünsche ich mir immer, es wäre wirklich so.
»Armer Juan.«
»Er wird wohl sein Teil dazu beigetragen haben, oder? Immerhin war sie seine Frau.«
»Red keinen Unsinn. Juan ist ein Engel.«
»Wenn wir gerade dabei sind, wer sein Teil zu was beiträgt, habt ihr das von Totis Exmann gehört?«
Wenn Mama sich das Leben genommen hat, heißt das, sie hat mich nicht lieb gehabt. Ich halte den Atem an und zähle: zehn, neun, acht, sieben, ich bin sicher, dass ich zurückgehen kann, zurück dahin, bevor ich mich unter dem Tisch versteckt habe, sechs, fünf, die Elefantenkuh bringt es fertig und erzählt irgendwas, bloß um ihre Freundinnen zu beeindrucken, vier, drei, zwei ... In meinem Kopf dreht sich alles, und ich spüre tausend Stiche im Magen, als hätte ich einen Propeller im Bauch. Ich kann nicht mehr. Ich stolpere aus meinem Versteck. Ich rutsche und falle. Ich schürfe mir die Knie und die Hände auf.
Ich bin bis ans Ende des Gartens gerannt, wo es steil zum Meer runtergeht. Das Licht am Himmel ist weiß. Meine Cousins spielen weiter oben im Park Ball. Ich setze mich ins Gras. Ich schlinge meine Arme um die Knie und stecke meinen Kopf dazwischen. Ich stinke erbärmlich. Keine Ahnung, in welchem Moment das in die Hose ging. Jetzt bin ich wirklich erledigt.
Manchmal weiß ich, was Unglücklichsein ist: darauf warten, dass es dunkel wird und ich mich unter die Bettdecke verkriechen kann, dort die Augen schließen und für immer in Käjefs Einbaum wegfahren. Ist es das, was Mama gefühlt hat?
2
Auf der Tanzfläche haben die Jüngeren zu tanzen begonnen. Ich ziehe meine hochhackigen Sandaletten aus und gehe über den Kiesweg in den Garten. Beim Peumos-Wäldchen lege ich mich ins Gras. Der Abend ist warm, und die Wellen laufen sachte über dem Algenstreifen aus. Hinter dem Haus kann man auf der grünen Weite des Golfclubs die Silhouetten einiger Spieler erahnen. Ich muss daran denken, wie ich zum ersten Mal hierherkam, ins Sommerhaus der Familie Montes. Heute, sieben Jahre später, ist von dem Zauber und von der Furcht, die ich damals empfand, nichts geblieben.
Ich sehe Juans Vater noch deutlich vor mir in seinem Louis-XV-Sessel, seine hohe Stirn und die schmale Nase - ganz bissiger Aristokrat - und die Trägheit, mit der er den Kopf hebt und mich anschaut. Er war durchaus freundlich, wahrte jedoch zugleich die Distanz wie einer, der die Menschen ringsum nie wirklich für voll nimmt. Dass ich einen Kinderwagen dabeihatte und darin ein wenige Monate altes Baby, das offensichtlich nicht die Frucht der neuen Verbindung zwischen mir und seinem Sohn war, muss ihn getroffen haben. Und doch veränderte sich sein Ausdruck nicht im Geringsten. Dieses zwanglose und zugleich kühle Benehmen war vor der Kulisse von Haus und Mobiliar perfekt in Szene gesetzt. Ich hatte Mühe, mir an diesem in der Vergangenheit festgefrorenen Ort einen Platz vorzustellen, an dem ich mich wohl-fühlen würde, und doch sehnte ich mich vom ersten Augenblick an nur danach, diesen Platz zu finden.
Nach dem Mittagessen gingen wir im Park spazieren. Juan schob Lolas Kinderwagen, und zusammen mit seinem Vater schlenderten wir über die Wege zwischen Buchsbaumkugeln und Springbrunnen, in denen sich die wechselnden Farben des Himmels spiegelten. Hin und wieder lächelte Juan mir zu und versuchte, mit dem Blick meine Reaktionen zu ergründen. Unendlich viel trennte uns voneinander, machte uns verschieden, aber damals war ich nicht bereit, darüber nachzudenken.
Als wir ins Haus zurückkehrten, wollte Don Fernando mir seine Bibliothek zeigen. Juan entschuldigte sich, weil er einige Anrufe zu erledigen hatte. Ich folgte Don Fer nando durch den weiten, mit Terrakotta gefliesten Säulengang, bis wir am anderen Ende die Bibliothek betraten: hohe Decken, dicke Balken und Wände aus Bruchstein. Nachdem er mir seine Pfeifensammlung vorgeführt hatte, stieg Don Fernando auf eine Trittleiter und zog von einem Bord hoch oben ein Fotoalbum. Als er es mir reichte, klang seine Stimme hohl und drängend:
»Schlag es auf.«
Was ich fand, waren Dutzende Fotos von Juan, sie reichten von seiner frühen Jugend bis ins Erwachsenenalter. Seine Reisen, seine Freunde, die Sportarten, die er betrieben hatte, seine Metamorphosen. Doch im Gedächtnis sollten mir nicht die Bilder bleiben, sondern die Leerstellen dazwischen, unzählige Fotos, die jemand von den Seiten gerissen hatte.
»Seine Bilder von Soledad«, sagte Don Fernando. »Die beiden kannten sich von klein auf.«
Die Gründlichkeit, mit der Juan die Bilder seiner Frau entfernt hatte, erschreckte mich. Unter Don Fernandos aufmerksamem Blick blätterte ich Seite für Seite des Albums um. An diesem Nachmittag keimte in mir eine Frage, die immer wiederkehren sollte: Was lauerte unter der Oberfläche dieses so überlegten und ausgeglichenen Mannes? Wenn er die Fotos seiner verstorbenen Frau auf diese Weise beseitigt hatte, gab es in seinem Leben bestimmt noch einiges mehr, wovon ich nie erfahren würde: heimliche Wünsche, Ängste, Obsessionen. Vielleicht würde auch ich irgendwann zu einer Leerstelle in einem Fotoalbum.
Die einzige Frage, die Don Fernando mir an diesem Tag stellte und die mich aufhorchen ließ, war, ob ich jüdische Vorfahren hätte. Ich sagte nein. Mit einem Lächeln erklärte er, das freue ihn sehr. Da schob ich nach, wenn ich weit genug in meiner Vergangenheit grübe, fände sich wie in vielen Familien sicher auch in meiner ein jüdischer Urahn. Don Fernando ließ seinen Stock mit dem silbernen Holm durch die Luft kreisen und meinte, die Erde sei auch vor Kolumbus bereits rund gewesen, doch habe die Menschheit perfekt in der Vorstellung leben können, sie sei eckig. Das Bild schien mir ziemlich weit hergeholt. Vermutlich wollte er mir sagen, selbst wenn ich irgendwelche jüdischen Wurzeln hätte, könne ich mein Leben führen, als hätte ich sie nicht - solange ich nur nichts davon wüsste.
Als wir danach wieder mit Juan zusammensaßen, erwähnte ich nicht, dass ich sein Fotoalbum gesehen hatte. Ich habe es ihm nie gesagt. Vielleicht aus Furcht, damit etwas freizulegen, das mich verletzen oder einen Keil zwischen uns treiben könnte. Jahre später sprach ich ihn allerdings, ich weiß nicht mehr, aus welchem Anlass, auf die sonderbare Frage an, die Don Fernando mir gestellt hatte. In scharfem Ton meinte er, sein Vater sei alt und benehme sich so, um Aufmerksamkeit zu erregen. Das überzeugte mich nicht, aber ich ließ das Ganze lieber auf sich beruhen. Von Soledad habe ich bis heute nur das Foto gesehen, das Juan in einer Schublade seines Schreibtischs hütet.
Bevor wir nach Santiago zurückfuhren, öffnete Don Fernando eine Flasche Champagner und stieß auf uns an. Unsere Verbindung wäre ohne sein Einverständnis undenkbar gewesen. Als ich das Juan gegenüber einmal erwähnte, behauptete er rundheraus, das habe überhaupt nichts geändert, er lasse sich vom Urteil seines Vaters nicht beeinflussen und unsere Gefühle füreinander seien das Einzige, worauf es ankomme. Mit der Zeit ist mir allerdings klar geworden, wie wichtig die Ansichten seiner Familie für ihn sind. Außerdem habe ich irgendwann begriffen, dass Don Fernando und in der Folge auch der Rest der Familie nicht von ungefähr so freundlich zu mir waren. Mein nordisches Aussehen und der Hauch von Kultur, den ich aus Europa mitgebracht hatte, sprachen für mich. Wäre ich dunkelhäutig, klein und provinziell gewesen, wäre es ihnen schwerer gefallen, mich zu akzeptieren. Der Zeitgeist tat ein Übriges. Wer sich heute über Unterschiede in der Herkunft hinwegsetzt, darf sich besonders kultiviert fühlen. Auch wenn er sie im Stillen weiterhin bedauert. Don Fernando wird den Nutzen unserer Verbindung erkannt haben. Indem er mich freundlich aufnahm, konnte er gegenüber seinen Altersgenossen als modern denkender Mann auftreten, ohne damit größere Risiken einzugehen. Ich hatte mich von Anfang an ausreichend gefügig gezeigt und würde mich seinen Gewohnheiten und seinem Lebensstil schon anpassen.
...
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
Wörter sind manchmal wie Pfeile. Fliegen hin und her, verletzen und töten, genau wie im Krieg. Deshalb nehme ich die Gespräche von Erwachsenen gern auf. Besonders wenn jeder von sich redet und plötzlich wie durch einen Zaubertrick alle auf einmal loslachen.
Beine, die hin und her gehen, gibt es hier unten reichlich. Fast von jeder Tierart sind welche dabei: Kamelbeine, Kaninchenbeine, Flamingobeine, Affenbeine und Beine von Tieren, die ich noch nicht kenne. An meinen Tisch haben sich drei Frauen gesetzt mit Knöcheln, so dick wie Elefantenfüße, ein Mann mit Golferschuhen und eine Giraffe, die sofort ihre goldenen Sandalen abstreift. Alle reden durcheinander, und ich kann nachher wahrscheinlich wenig damit anfangen, schalte meinen Mp3-Player aber trotzdem ein und nehme auf:
»Tere und ihr Mann sind nicht im selben Auto gekommen, hast du gesehen?«
»Nein, ist mir entgangen, wundert mich aber nicht.«
Im Park stellt sich das Brautpaar für den Fotografen vor Großvaters Voliere. Mein Cousin Miguel grinst, als hätte er ein Essstäbchen quer im Mund. Zwischen den bunten Kleidern sehe ich Alma. Sie bewegt die Hände und malt beim Sprechen Figuren in die Luft. Ihr Haar ist rot, und sie heißt wie das größte Radioteleskop der Erde. Die wichtigste Aufgabe von ALMA ist die Erforschung der Sternenentstehung. Kájef, mein bester Freund, und ich haben herausgefunden, dass man damit organische Teilchen analysieren kann, zum Beispiel Kohlenstoff, und das könnte die Große Frage beantworten, wie das Leben entstanden ist. Unglaublich, was ALMA alles sieht. Dagegen ist die Alma, die Papa geheiratet hat, manchmal nicht richtig bei der Sache. Was mir aber nichts ausmacht. Sie stört es ja auch nicht, dass ich ein bisschen langsam bin und ungeschickt. Hin und wieder tun wir Dinge, die Papa nicht gefallen. Zum Beispiel hat sie ihn heute überredet, dass ich nicht wie sonst bei wichtigen Anlässen diesen Totengräberanzug tragen muss. Meine Cousins würden sonst über mich lachen. Dabei wissen wir beide, dass es egal ist, was ich anhabe. Nicht dass meine Cousins nicht nett wären, aber sie tun ständig so, als müssten sie ganz schnell einen fernen Schatz finden, und ich bin zu der Suche nie eingeladen.
»Nein, wenn ich's dir sage, die kennen sich gar nicht.«
Die Stimme der Frau ist heiser wie die einer Kröte. Ich halte meinen Player ein bisschen höher.
»Ich dachte, sie wären Freundinnen. Schau, dort steht sie, beim Brautpaar, vor der Voliere.«
Von allen Vögeln in Großvaters Käfig gefallen mir die Goldfasane am besten.
»Wo denkst du hin, niemals. Du kennst doch Marisol. «
Der Wind vom Meer hebt die Tischdecke an. Ein Paar Männerschuhe bleiben vor dem Tisch stehen, unter dem ich hocke.
»Carmen, wie schön, dich zu sehen!«
Das ist Papa mit seiner Doktorstimme, die er nie zu Hause lässt. Wenn er mich hier erwischt, wie ich die Erwachsenen aufnehme, gibt es ein Donnerwetter. Er sagt, ich »verletze die Privatsphäre der Leute«. Aber so richtig verstehe ich nicht, was »die Privatsphäre« ist. Ich dachte, privat ist das, was man tut und fühlt, wenn man allein ist. Diese Gespräche kommen mir nicht privat vor.
Eine der Frauen bewegt einen Fuß hin und her, so als hätte sie einen Stein im Schuh.
»Nein, bitte, bleibt doch sitzen«, sagt Papa.
Ich halte den Atem an, umklammere den Player. »Wir haben uns Jahre nicht gesehen«, sagt die Frau. »Fünf? Sechs?«
»Mindestens.«
»Du siehst großartig aus, Carmen. Wie schön, dass du gekommen bist. Und Jorge?« Papa redet bedächtig und gleichzeitig heiter, genau in dem Tonfall, den er benutzt, wenn ihn jemand um Rat fragt.
»Ist vor zwei Jahren mit so einer Schnepfe durchgebrannt. Seiner Sekretärin«, erklärt die Frau und lacht auf. »Keine Bange, ich bin froh, dass ich ihn los bin. Er war ein Klotz am Bein.«
»Wenn du meinst«, antwortet Papa.
»Das meinen wir alle«, sagt hastig eine andere. Sie klingt, als hätte sie jemand mit einer Nadel gepikst.
Kurz darauf gehen Papas Schuhe weg. Ein Glück, dass er mich nicht entdeckt hat. Papa und Alma bleiben heute Nacht hier, und ich muss mit einem von meinen Onkeln nach Santiago zurückfahren. »Wir brauchen ein bisschen Erholung von euch«, hat Alma ganz sanft und mit einem strahlenden Lächeln gesagt. Aber ich fand es trotzdem ungerecht.
»Juan hat wieder geheiratet, nicht?«
»Ja, eine Jüngere. Etwas dürr und bleich, wenn du mich fragst«, sagen die Golfschuhe.
Den Erwachsenen kleben Zettel auf der Stirn, da stehen Sachen drauf wie: »Du bist der langweiligste Mensch, den ich kenne« oder: »Du riechst schlecht« oder: »Ich würde dich sehr gern küssen.« Aber natürlich kann ich die hier unter dem Tisch nicht sehen. Ich bin es leid, weiter zusammengekauert dazuhocken, aber mittlerweile wäre es reichlich sonderbar, wenn ich rausspazierte, als wäre nichts gewesen.
»Die echte Krönung ist die Braut«, reden sie wieder.
»Du meinst Julia? Ja, zu klein und zu dunkel geraten. Ihre Familie ist aus dem Süden. Kein Mensch kennt die«, bemerkt die Giraffe und dehnt dabei die Wörter, als würde sie auf etwas sehr Zähem herumkauen.
»Jedenfalls ist es ein Glück, dass Juan wieder geheiratet hat; wo Soledads Krankheit so schlimm war und so plötzlich kam. «
»Krankheit? Nicht zu fassen, was für Märchen sie einem auftischen«, sagt die Elefantenfrau.
»Wieso denn Märchen?«
»Ach, gütiger Himmel, ich hätte den Mund halten sollen. Entschuldigt. Bitte fragt mich nicht.«
Weil ich unter dem Tisch sitze, kann ich den Zettel der Elefantin nicht sehen, aber ich könnte wetten, sie möchte weiterreden.
»Du kannst uns doch so jetzt nicht hängenlassen. «
Die Elefantin bleibt einen Augenblick stumm, und dann sagt sie:
»Soledad ist nicht an einer Krankheit gestorben. Sie hat sich umgebracht.«
»Hatte sie nicht eine Hirnblutung?«
»Das wurde behauptet, damit es kein Gerede gibt, aber Soledad hat sich umgebracht, das kann ich dir schriftlich geben.«
Ich spüre einen Schmerz in der Brust. Der Player fällt mir aus der Hand und landet mit einem harten Klack auf dem Boden. Mama ist krank geworden, als ich drei war. Sie ist plötzlich krank geworden, haben sie mir gesagt. Und von uns gegangen.
»Das ist eins der am besten gehüteten Geheimnisse der Familie Montes. «
»Aber Soledad ging es doch blendend, und sie wirkte immer so fröhlich, so zufrieden.«
»Ha! Nach außen vielleicht. Aber dass Soledad einen glücklichen Eindruck gemacht hat, heißt nicht, dass sie es war. Immerhin ist sie vor ihrem Selbstmord etliche Monate in einer Klinik gewesen. In Aguas Claras. «
»Das glaube ich nicht. Ich war dort mal als Ehrenamtliche. Das war doch nichts für Soledad. Der Park ist ganz schön, aber der Rest ist zum Weglaufen.«
Erst habe ich ständig an Mama gedacht. Aber eines Tages habe ich gemerkt, dass ich mich anstrengen kann, wie ich will, aber trotzdem weiter wachse. Und vergesse. Beides passiert zusammen und ist gar nicht zu trennen.
»Es sollte keiner etwas davon wissen. In der Klinik La Europea wäre ihnen bestimmt jemand über den Weg gelaufen. Der Sohn von María Elena wurde ja auch zu der Zeit eingeliefert, aber in La Europea natürlich.«
Meine Erinnerungen an sie sind so ähnlich wie Filme. Es gibt eine Szene, die kommt immer wieder. Wir liegen auf dem Boden in einem leeren Zimmer, Mama und ich. Sie hält mich im Arm. In der Zimmerdecke ist ein Fenster, durch das wir den Himmel betrachten. Manchmal schließe ich die Augen und stelle mir vor, ich bin dort. Am Ende wünsche ich mir immer, es wäre wirklich so.
»Armer Juan.«
»Er wird wohl sein Teil dazu beigetragen haben, oder? Immerhin war sie seine Frau.«
»Red keinen Unsinn. Juan ist ein Engel.«
»Wenn wir gerade dabei sind, wer sein Teil zu was beiträgt, habt ihr das von Totis Exmann gehört?«
Wenn Mama sich das Leben genommen hat, heißt das, sie hat mich nicht lieb gehabt. Ich halte den Atem an und zähle: zehn, neun, acht, sieben, ich bin sicher, dass ich zurückgehen kann, zurück dahin, bevor ich mich unter dem Tisch versteckt habe, sechs, fünf, die Elefantenkuh bringt es fertig und erzählt irgendwas, bloß um ihre Freundinnen zu beeindrucken, vier, drei, zwei ... In meinem Kopf dreht sich alles, und ich spüre tausend Stiche im Magen, als hätte ich einen Propeller im Bauch. Ich kann nicht mehr. Ich stolpere aus meinem Versteck. Ich rutsche und falle. Ich schürfe mir die Knie und die Hände auf.
Ich bin bis ans Ende des Gartens gerannt, wo es steil zum Meer runtergeht. Das Licht am Himmel ist weiß. Meine Cousins spielen weiter oben im Park Ball. Ich setze mich ins Gras. Ich schlinge meine Arme um die Knie und stecke meinen Kopf dazwischen. Ich stinke erbärmlich. Keine Ahnung, in welchem Moment das in die Hose ging. Jetzt bin ich wirklich erledigt.
Manchmal weiß ich, was Unglücklichsein ist: darauf warten, dass es dunkel wird und ich mich unter die Bettdecke verkriechen kann, dort die Augen schließen und für immer in Käjefs Einbaum wegfahren. Ist es das, was Mama gefühlt hat?
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Auf der Tanzfläche haben die Jüngeren zu tanzen begonnen. Ich ziehe meine hochhackigen Sandaletten aus und gehe über den Kiesweg in den Garten. Beim Peumos-Wäldchen lege ich mich ins Gras. Der Abend ist warm, und die Wellen laufen sachte über dem Algenstreifen aus. Hinter dem Haus kann man auf der grünen Weite des Golfclubs die Silhouetten einiger Spieler erahnen. Ich muss daran denken, wie ich zum ersten Mal hierherkam, ins Sommerhaus der Familie Montes. Heute, sieben Jahre später, ist von dem Zauber und von der Furcht, die ich damals empfand, nichts geblieben.
Ich sehe Juans Vater noch deutlich vor mir in seinem Louis-XV-Sessel, seine hohe Stirn und die schmale Nase - ganz bissiger Aristokrat - und die Trägheit, mit der er den Kopf hebt und mich anschaut. Er war durchaus freundlich, wahrte jedoch zugleich die Distanz wie einer, der die Menschen ringsum nie wirklich für voll nimmt. Dass ich einen Kinderwagen dabeihatte und darin ein wenige Monate altes Baby, das offensichtlich nicht die Frucht der neuen Verbindung zwischen mir und seinem Sohn war, muss ihn getroffen haben. Und doch veränderte sich sein Ausdruck nicht im Geringsten. Dieses zwanglose und zugleich kühle Benehmen war vor der Kulisse von Haus und Mobiliar perfekt in Szene gesetzt. Ich hatte Mühe, mir an diesem in der Vergangenheit festgefrorenen Ort einen Platz vorzustellen, an dem ich mich wohl-fühlen würde, und doch sehnte ich mich vom ersten Augenblick an nur danach, diesen Platz zu finden.
Nach dem Mittagessen gingen wir im Park spazieren. Juan schob Lolas Kinderwagen, und zusammen mit seinem Vater schlenderten wir über die Wege zwischen Buchsbaumkugeln und Springbrunnen, in denen sich die wechselnden Farben des Himmels spiegelten. Hin und wieder lächelte Juan mir zu und versuchte, mit dem Blick meine Reaktionen zu ergründen. Unendlich viel trennte uns voneinander, machte uns verschieden, aber damals war ich nicht bereit, darüber nachzudenken.
Als wir ins Haus zurückkehrten, wollte Don Fernando mir seine Bibliothek zeigen. Juan entschuldigte sich, weil er einige Anrufe zu erledigen hatte. Ich folgte Don Fer nando durch den weiten, mit Terrakotta gefliesten Säulengang, bis wir am anderen Ende die Bibliothek betraten: hohe Decken, dicke Balken und Wände aus Bruchstein. Nachdem er mir seine Pfeifensammlung vorgeführt hatte, stieg Don Fernando auf eine Trittleiter und zog von einem Bord hoch oben ein Fotoalbum. Als er es mir reichte, klang seine Stimme hohl und drängend:
»Schlag es auf.«
Was ich fand, waren Dutzende Fotos von Juan, sie reichten von seiner frühen Jugend bis ins Erwachsenenalter. Seine Reisen, seine Freunde, die Sportarten, die er betrieben hatte, seine Metamorphosen. Doch im Gedächtnis sollten mir nicht die Bilder bleiben, sondern die Leerstellen dazwischen, unzählige Fotos, die jemand von den Seiten gerissen hatte.
»Seine Bilder von Soledad«, sagte Don Fernando. »Die beiden kannten sich von klein auf.«
Die Gründlichkeit, mit der Juan die Bilder seiner Frau entfernt hatte, erschreckte mich. Unter Don Fernandos aufmerksamem Blick blätterte ich Seite für Seite des Albums um. An diesem Nachmittag keimte in mir eine Frage, die immer wiederkehren sollte: Was lauerte unter der Oberfläche dieses so überlegten und ausgeglichenen Mannes? Wenn er die Fotos seiner verstorbenen Frau auf diese Weise beseitigt hatte, gab es in seinem Leben bestimmt noch einiges mehr, wovon ich nie erfahren würde: heimliche Wünsche, Ängste, Obsessionen. Vielleicht würde auch ich irgendwann zu einer Leerstelle in einem Fotoalbum.
Die einzige Frage, die Don Fernando mir an diesem Tag stellte und die mich aufhorchen ließ, war, ob ich jüdische Vorfahren hätte. Ich sagte nein. Mit einem Lächeln erklärte er, das freue ihn sehr. Da schob ich nach, wenn ich weit genug in meiner Vergangenheit grübe, fände sich wie in vielen Familien sicher auch in meiner ein jüdischer Urahn. Don Fernando ließ seinen Stock mit dem silbernen Holm durch die Luft kreisen und meinte, die Erde sei auch vor Kolumbus bereits rund gewesen, doch habe die Menschheit perfekt in der Vorstellung leben können, sie sei eckig. Das Bild schien mir ziemlich weit hergeholt. Vermutlich wollte er mir sagen, selbst wenn ich irgendwelche jüdischen Wurzeln hätte, könne ich mein Leben führen, als hätte ich sie nicht - solange ich nur nichts davon wüsste.
Als wir danach wieder mit Juan zusammensaßen, erwähnte ich nicht, dass ich sein Fotoalbum gesehen hatte. Ich habe es ihm nie gesagt. Vielleicht aus Furcht, damit etwas freizulegen, das mich verletzen oder einen Keil zwischen uns treiben könnte. Jahre später sprach ich ihn allerdings, ich weiß nicht mehr, aus welchem Anlass, auf die sonderbare Frage an, die Don Fernando mir gestellt hatte. In scharfem Ton meinte er, sein Vater sei alt und benehme sich so, um Aufmerksamkeit zu erregen. Das überzeugte mich nicht, aber ich ließ das Ganze lieber auf sich beruhen. Von Soledad habe ich bis heute nur das Foto gesehen, das Juan in einer Schublade seines Schreibtischs hütet.
Bevor wir nach Santiago zurückfuhren, öffnete Don Fernando eine Flasche Champagner und stieß auf uns an. Unsere Verbindung wäre ohne sein Einverständnis undenkbar gewesen. Als ich das Juan gegenüber einmal erwähnte, behauptete er rundheraus, das habe überhaupt nichts geändert, er lasse sich vom Urteil seines Vaters nicht beeinflussen und unsere Gefühle füreinander seien das Einzige, worauf es ankomme. Mit der Zeit ist mir allerdings klar geworden, wie wichtig die Ansichten seiner Familie für ihn sind. Außerdem habe ich irgendwann begriffen, dass Don Fernando und in der Folge auch der Rest der Familie nicht von ungefähr so freundlich zu mir waren. Mein nordisches Aussehen und der Hauch von Kultur, den ich aus Europa mitgebracht hatte, sprachen für mich. Wäre ich dunkelhäutig, klein und provinziell gewesen, wäre es ihnen schwerer gefallen, mich zu akzeptieren. Der Zeitgeist tat ein Übriges. Wer sich heute über Unterschiede in der Herkunft hinwegsetzt, darf sich besonders kultiviert fühlen. Auch wenn er sie im Stillen weiterhin bedauert. Don Fernando wird den Nutzen unserer Verbindung erkannt haben. Indem er mich freundlich aufnahm, konnte er gegenüber seinen Altersgenossen als modern denkender Mann auftreten, ohne damit größere Risiken einzugehen. Ich hatte mich von Anfang an ausreichend gefügig gezeigt und würde mich seinen Gewohnheiten und seinem Lebensstil schon anpassen.
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© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
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Autoren-Porträt von Carla Guelfenbein
Carla Guelfenbein, geboren 1959 in Santiago de Chile, gehört zu den erfolgreichsten Autorinnen ihres Landes. Als Reaktion auf das Regime Pinochets verließ sie als junge Frau Chile und studierte in England Biologie und Design. Heute lebt sie als Schriftstellerin und Drehbuchautorin wieder in ihrer Heimat. Ihre Romane wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt; auf Deutsch sind bereits erschienen »Die Frau unseres Lebens«, »Der Rest ist Schweigen« und» Nackt schwimmen«. Für ihren letzten Roman, »Stumme Herzen«, erhielt Carla Guelfenbein den renommierten Premio Alfaguara. Becker, SvenjaSvenja Becker, geboren 1967 in Kusel/Pfalz, arbeitet nach einigen Jahren als Steinmetzgesellin und Kneipenkollektivistin und einem Studium der VWL und Spanischen Sprach- und Literaturwissenschaften seit dem Jahr 2000 als freie Übersetzerin von Literatur aus Spanien und Lateinamerika. Sie hat unter anderem Werke von Isabel Allende, Carla Guelfenbein und Milena Busquets ins Deutsche übertragen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Carla Guelfenbein
- 2012, 336 Seiten, Maße: 12,5 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Svenja Becker
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596186285
- ISBN-13: 9783596186280
- Erscheinungsdatum: 08.10.2012
Kommentar zu "Der Rest ist Schweigen"