Der Ruf des weißen Raben
Roman. Originalausgabe
Myra wird Zeugin eines geheimnisvollen Rituals, bei dem der Indianer Chad Blue Knife die Geister ruft. Sie ahnt, dass das ihre Zukunft komplett verändern wird. Und dass ihr Leben und das von Chad dadurch untrennbar miteinander verbunden werden.
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Produktinformationen zu „Der Ruf des weißen Raben “
Myra wird Zeugin eines geheimnisvollen Rituals, bei dem der Indianer Chad Blue Knife die Geister ruft. Sie ahnt, dass das ihre Zukunft komplett verändern wird. Und dass ihr Leben und das von Chad dadurch untrennbar miteinander verbunden werden.
Klappentext zu „Der Ruf des weißen Raben “
Die Trommeln und Stimmen verstummen, als die wirbelnden Rauchschwaden aufsteigen. Myras Herz pocht beinahe schmerzhaft in ihrer Brust. Sie ahnt nicht, dass sie Zeugin eines Rituals ist, mit dem der Indianer Chad Blue Knife die Geister ruft. Es wird ihre Zukunft und alles, woran sie glaubt, verändern. Sie spürt, dass ihr Leben und das von Chad auf alle Zeiten untrennbar miteinander verwoben sind ...Lese-Probe zu „Der Ruf des weißen Raben “
Der Ruf des weißen Raben von Sanna Seven DeersBegegnung
Wie ein Schleier umhüllte die Dämmerung das
große Zeremonienhaus. Die mächtigen Zedern,
die das aus massiven Holzplanken errichtete Gebäude
umgaben, waren nur noch als dunkle Schatten zu erkennen,
und die ersten Sterne zeigten sich am mondlosen
Himmel. Stille legte sich über die Wildnis und auch
über das nahe am Highway gelegene Zeremonienhaus
der Elk Creek First Nation.
Im Inneren des Hauses hingegen herrschte große Anspannung.
In der Mitte des Zeremonienplatzes, der das
Zentrum des Gebäudes bildete, brannten in einigem
Abstand zueinander zwei große Feuer unter runden
Öffnungen im Dach, und auf den Sitzbänken aus breiten
Zedernplanken, die den oval geformten Platz wie
eine Tribüne umgaben, bereiteten sich die Mitglieder
des Stammes auf eine wichtige Zeremonie vor.
Chad Blue Knife betrat den Zeremonienplatz durch
einen der vier engen Gänge, die die Tribüne auf jeder
Seite durchschnitten. Jeder dieser Gänge war einer Himmelsrichtung
zugeordnet und mit einem aus Zedernholz
geschnitzten sechzig Zentimeter großen, runden Tiersymbol
versehen.
Chad ließ seine Finger sachte über den sorgfältig
geschnitzten Raben gleiten, der den Gang schmückte,
durch den er den Zeremonienplatz betrat. Er hatte für
den heutigen Abend alle beruflichen Verpflichtungen
beiseitegeschoben, um seine Familie bei dieser Zeremonie
zu unterstützen. Es war Heather gewesen, seine
Großtante, die ihn gebeten hatte, am heutigen Abend
anwesend zu sein. Heather zählte zu den angesehensten
Ältesten des Stammes, und ihre Bitte durfte man nicht
ablehnen.
... mehr
Chad Blue Knife strich sich eine lange schwarze
Haarsträhne aus dem Gesicht und schüttelte unmerklich
den Kopf, als er sich daran erinnerte, wie viel Zeit
verstrichen war, seit er zum letzten Mal einer Zeremonie
beigewohnt hatte. In den Tagen seiner Jugend hatte er
an vielen Zeremonien teilgenommen, aber seit seinem
Studium hatte er weniger Zeit im Kreise seiner Familie
verbracht, als ihm lieb gewesen war. Jetzt, mit Anfang
dreißig, war er endlich in der Lage, wieder ganz in der
Gemeinschaft seines Stammes zu leben. Und so hatte
er an diesem Abend nicht gezögert, dem Aufruf seiner
Großtante zu folgen und an der geplanten Zeremonie
teilzunehmen. Worum es dabei ging, lag für ihn und die
anderen Stammesmitglieder noch im Verborgenen, aber
auch er spürte, dass etwas Wichtiges vorgefallen sein
musste.
Chad beobachtete gespannt, wie sich die Ältesten in
der Mitte des Zeremonienplatzes versammelten. Sofort
breitete sich respektvolle Stille im Inneren des Hauses
aus. Jeder wartete darauf, dass einer der Ältesten das
Wort ergriff, und fragte sich im Stillen nach dem Grund
für die Zeremonie. Eigentlich fanden Zeremonien dieser
Art während der Wintermonate statt. Heute hingegen
war Sommersonnenwende.
Chad richtete seinen Blick auf Joseph Rock Horse,
einen Mann, den er schon seit seiner Kindheit kannte.
Joseph war Anfang sechzig. Sein schulterlanges Haar
war schon silbergrau, aber er war noch immer eine
stattliche Erscheinung. An diesem Abend hatte er sich in
eine schwarz-rote Decke gehüllt, die mit verschiedenen
Tiermotiven verziert war. Er gehörte zu den Ältesten,
und er würde an diesem Abend die Zeremonie leiten.
Endlich wandte Joseph Rock Horse sich in der wohlklingenden
Sprache des Stammes an die versammelte
Menge. »Wir sind heute Abend hier zusammengekommen,
um die Geistwesen um Rat zu bitten. Unser Volk
steht vor einer schweren Aufgabe. Die Welt, in der unsere
Kinder heute aufwachsen müssen, ist nicht mehr die
Welt, in der unsere Ahnen Tausende von Jahren gelebt
haben. Das Gleichgewicht ist gestört. Unserem Volk
wurde alles genommen und die indianische Lebensweise
beinahe vernichtet. Eisenbahn, Städte, moderne
Wissenschaft - sie nennen es Fortschritt. Uns hat dieser
Fortschritt Tränen und Tod gebracht. Nun wappnen
sich die dunklen Mächte der Gegenwart erneut für einen
Angriff. Zerstörung und Verwüstung drohen unserer
Welt. Unsere Kinder werden weinen, sie werden aufschreien
aus Verzweiflung. Ihnen wird nichts bleiben.
Das müssen wir verhindern.«
Im Zeremonienhaus herrschte Stille. Allen stockte
der Atem. Die Ältesten nahmen ihre Aufgabe sehr ernst,
und ihre Worte zweifelte man nicht an, aber ... So etwas
hatte bisher noch niemand aus ihrem Munde gehört!
Joseph Rock Horse blickte finster in die Runde. »Es
ist nicht nur die Natur, die von den dunklen Mächten
zerstört zu werden droht. Wir selbst sind die Opfer.
Seit Jahren verschwinden Angehörige unseres Volkes,
ohne eine Spur zu hinterlassen, und keiner der Weißen
kümmert sich darum. Vor ein paar Tagen ist nun auch
die Tochter von Susie Standing Bear auf dem Weg nach
Fort Duffey spurlos verschwunden. Die Freundin, die
mit ihr unterwegs war, sagt aus, dass sie kurz an einer
Raststätte angehalten hätten. Susies Tochter hätte die
Toilette aufgesucht. Danach wurde sie nie wiedergesehen.
Die Polizei rührt keinen Finger. Susie hat den Rat
der Ältesten um Hilfe gebeten. Wir sind erschüttert,
doch die Zeichen sind eindeutig. Alle Ältesten haben sie
gesehen ... Uns bleibt nichts anderes übrig, als dem Vorbild
unserer Ahnen zu folgen und in heiliger Zeremonie
unsere Bitte um Rat und Beistand an den Großen Geist
zu übergeben, den Schöpfer aller Dinge.«
Er räusperte sich und fuhr dann fort: »Der Rat der
Ältesten hat mich zum Sprecher für den heutigen Abend
bestimmt. Und so hört den Beschluss und die Weisheit
von allen Ältesten: Wir werden heute nicht nur den
Großen Geist um seinen großzügigen Rat bitten, sondern
auch all diejenigen, die diese Erde vor uns durchwandert
haben.«
Ein Raunen durchzog die Stille.
Chad Blue Knife hörte, wie jemand neben ihm Ahnenzeremonie
flüsterte. Ein Schauer lief ihm über den
Rücken. Diese Zeremonie war eine der ältesten und
kraftvollsten. Sie hatte ihren Ursprung in längst vergangenen
Zeiten, und ihr Ablauf war ein streng gehütetes
Geheimnis. Nur wenige der Anwesenden hatten eine
solche Zeremonie jemals erlebt.
Chad wusste, dass die Ältesten nicht über ihre Entscheidung
diskutieren würden. Sie hatten einen Beschluss
gefasst, und dieser würde ausgeführt werden.
Der Stamm würde im Reich der Toten um Beistand
bitten ...
Die achtundzwanzigjährige Myra Morgenstern strich
sich energisch über die Stirn. Sie durfte nicht einschlafen!
Es war schon sehr spät, die Nacht brach herein,
und sie hatte noch eine weite Strecke zu fahren, aber
sie wollte Boulder Landing unbedingt heute noch erreichen.
Zu lange war sie fort gewesen, zu heftig hatten
die Ereignisse des vergangenen Tages sie erschüttert. In
dieser für sie sehr schweren Zeit gab es für Myra nur
einen Gedanken: Sie musste in die Berge zurückkehren,
wo sie ihre glückliche Kindheit verbracht hatte, um sich
Klarheit über ihre Situation und über ihre Gefühle zu
verschaffen!
Über zwei Jahre waren vergangen, seit Myra dem
Dorf Boulder Landing im Westen von British Columbia,
in das sie als Dreijährige mit ihren aus Deutschland
eingewanderten Eltern gezogen war, zum letzten Mal
einen Besuch abgestattet hatte. Vieles hatte sich seitdem
verändert. Ihre Eltern waren aus Boulder Landing
weggezogen. Myras Vater litt seit jeher an einem Lungenleiden,
das er sich noch vor der Auswanderung nach
Kanada als Arbeiter im Bergwerk in Goslar zugezogen
hatte. Als er älter geworden war, hatte sich das Leiden
verschlimmert, und in der Großstadt war die ärztliche
Versorgung einfach besser. Schweren Herzens hatten
Myras Eltern sich daher entschlossen, ihr kleines Holzhaus
in der Wildnis der kanadischen Berge zu verkaufen
und nach Vancouver zu ziehen.
Myra hatte sich vorgenommen, in der Nähe von
Boulder Landing ein paar ruhige Tage zu verbringen
und beim Bergsteigen ihre Gedanken zu ordnen.
Sie blickte angestrengt in die von den Scheinwerfern
angestrahlte Nacht hinaus. Sogar die Straßen schienen
anders zu sein, als sie es in Erinnerung hatte. Wieder
rieb sie sich über die Stirn. Auf dem unbeleuchteten
nächtlichen Highway zu fahren war anstrengender, als
sie angenommen hatte. Vielleicht hätte sie doch lieber
irgendwo einkehren und bis zum Morgen warten sollen.
Sie kurbelte das Seitenfenster ihres alten Autos hinunter
und ließ die kühle Abendluft herein. Sie atmete tief
durch und lächelte. Heimatluft!
Plötzlich tauchte ein imposantes Holzgebäude neben
dem Highway auf. Zu dieser späten Stunde schien es
noch gut besucht zu sein, denn der Parkplatz war voller
Autos. Myra konnte sich nicht erinnern, das Gebäude
jemals zuvor gesehen zu haben. Es machte einen sehr
gepflegten Eindruck, und sie beschloss, anzuhalten und
zu sehen, ob sie dort vielleicht einen starken schwarzen
Tee bekommen könnte.
Sie parkte ihren Wagen nahe den großen, massiven
Eingangstoren, über denen Elk Creek First Nation
Spiritual Centre geschrieben stand. Sie stieg aus, und
durch die kühle Abendluft fühlte sie sich sofort munterer.
Trotzdem musste sie ein Gähnen unterdrücken.
Als sie die gläserne Eingangstür erreichte, entdeckte sie
ihr Spiegelbild und sog entsetzt die Luft ein. So konnte
sie nicht unter Leute gehen! Sie schob die Schultern
zurück, richtete sich auf und strich sich das lange hellbraune
Haar zurecht. Sie war nie eine klassische Schönheit
gewesen, aber sie hatte eine schlanke Gestalt, ein
hübsches ovales Gesicht und ein offenes, fröhliches Wesen.
Entschlossen öffnete sie die große Eingangstür und
betrat den hell erleuchteten Vorraum.
Sie hatte gehofft, einen Getränkestand oder etwas
Ähnliches vorzufinden, doch zu ihrer Enttäuschung war
der große Vorraum leer. Verwundert blickte Myra sich
um. Wo waren die Gäste? Es standen doch so viele Autos
auf dem Parkplatz. Unentschlossen sah sie sich um.
Ihr Blick blieb an den mit indianischen Schnitzereien
reichverzierten Pfählen hängen, die die Dachkonstruktion
zu tragen schienen. Sie entdeckte Lachse, Bären,
Wölfe und viele andere Tiere. Wie schön und wie ausdrucksstark
die Schnitzereien waren! Sie konnte den
Blick kaum davon losreißen.
Schließlich beschloss sie, die Toilette aufzusuchen,
bevor sie weiterfuhr, und blickte sich suchend um. Sie
entdeckte ein paar Türen, an denen jedoch keine Schilder
angebracht waren. Vorsichtig drückte sie die Klinke
der ersten Tür, einer massiven Zederntür, hinunter und
öffnete sie einen kleinen Spalt.
Chad, der an diesem Abend zu den Tänzern gehören
würde, wartete gespannt auf seinen Einsatz. Er beobachtete,
wie die beiden Hüter der Feuer ihre Position
neben den lodernden Flammen einnahmen. Wie immer
handelte es sich bei den Hütern um einen Mann und
um eine Frau, die - wie die beiden Feuer, die in der
Mitte des Zeremonienplatzes brannten - die gegensätzlichen
Kräfte aller Dinge verkörperten. Beide waren
in einen Umhang aus weichen Zedernrindenfasern
gehüllt, der ihnen fast bis zu den Knien reichte. Ihre
langen schwarzen Haare trugen sie offen. Als Hüter der
Feuer war es ihre Aufgabe, während der Zeremonie die
Feuer zu schüren und ihnen ausgewählte Kräuter beizugeben.
So wurde der Gegensatz der Feuer, nämlich
weiblich und männlich, Licht und Dunkelheit, Leben
und Tod, nicht nur dem unmittelbaren Betrachter
durch die unterschiedlichen Farben, die die Kräuter den
Flammen verliehen, erkenntlich gemacht, sondern auch
den Geistwesen, denn die unterschiedlichen Kräuter
verliehen dem Rauch der Feuer gegensätzliche Aromen,
süß und herb. Der Rauch der Feuer würde den Ältesten
helfen, die Geistwesen zu erreichen und ihre Bitte vorzutragen.
Die wohlriechenden Kräuter zeigten den Geistwesen
nicht nur die Wichtigkeit der Zeremonie an, sie sorgten
auch dafür, dass die richtigen Geistwesen angesprochen
wurden. Denn die Anwesenheit von Geistwesen machte
sich oft durch Gerüche bemerkbar, nicht durch sichtbare
Formen. Unangenehme Gerüche wurden mit negativen
Geistwesen in Verbindung gebracht, wohlriechende Gerüche
mit positiven. Bei Zeremonien wiederum wurden
die Aromen der Kräuter dazu benutzt, mit den richtigen
Geistwesen in Verbindung zu treten.
Chad warf einen Blick über die aus dicken Zedernplanken
gezimmerten Sitzbänke, wo die übrigen Stammesmitglieder
ihre Plätze eingenommen hatten. Jedes
Stammesmitglied durfte der heutigen Zeremonie als
Zeuge beiwohnen, und so waren viele Familien anwesend.
Zeugen spielten bei den Stammeszeremonien eine
wichtige Rolle. Denn was vor Zeugen gesagt und getan
wurde, war bindend, dem durfte nicht zuwidergehandelt
werden. Es waren jedoch nur die Ältesten und einige
auserwählte Tänzer, die auf dem Zeremonienplatz an
der Zeremonie selbst teilnehmen würden.
Die obersten Tribünenreihen waren in Dunkelheit
gehüllt. Nur die vorderen Reihen wurden vom Schein
der Feuer erleuchtet. Ein gleichmäßiges Stampfen von
Hunderten Füßen setzte ein, begleitet von einem lauten
Klicken, das vom Aufeinanderschlagen unzähliger
kleiner geschnitzter Zedernpaddeln herrührte, die jeder
Zuschauer in der Hand hielt.
In der Mitte des Zeremonienplatzes stimmten die
Ältesten ihren feierlichen Gesang an und begannen, in
rhythmischem Takt auf ihre Trommeln aus Zedernholz
und Elchhäuten zu schlagen. Joseph Rock Horse, der
die heutige Zeremonie leitete, hielt statt einer Trommel
ein großes Paddel in den Händen. Es war ein wichtiger
Bestandteil der Zeremonie, denn laut Stammesglauben
trat ein Mensch seine letzte Reise in das Reich der Toten
in einem Kanu an, in dem sich seine engsten Freunde
befanden. Das Paddel stand stellvertretend für diese
letzte Reise und würde es Joseph Rock Horse, zusammen
mit dem Rauch der Feuer und dem rhythmischen
Trommeln, erleichtern, die Verbindung mit der Geisterwelt
herzustellen.
Nun traten Chad Blue Knife und die anderen Tänzer
auf den Zeremonienplatz. Es waren Männer und Frauen
verschiedenen Alters, die aufgrund ihrer spirituellen Fähigkeiten
ausgewählt worden waren. Sie alle hatten sich
für diese feierliche Zeremonie mit den traditionellen, aus
weichen Zedernrindenfasern angefertigten knielangen
rotbraun schimmernden Umhängen geschmückt. Dazu
trugen sie aus Zedernholz geschnitzte, mit langen Streifen
aus Zedernrinde verzierte und in den traditionellen
Farben Weiß, Rot und Schwarz bemalte Tiermasken.
Chad fiel auf, dass eine der Frauen an diesem Abend
eine besonders schön gearbeitete Maske trug. Sie stellte
eines seiner Lieblingstiere dar, einen Bären.
Begleitet vom Rhythmus der Trommeln und der
kleinen Paddel und vom Gesang der Ältesten, setzten
sich die Tänzer in Bewegung. Gegen den Uhrzeigersinn
zogen sie in wogenden Kreisen um die Ältesten und die
beiden rot und grün lodernden Feuer herum und ahmten
dabei die Bewegungen und Laute der Tiere nach, die
ihre Masken darstellten. Bären, Otter, Lachse, Hirsche
und viele andere, durch die Tänzer zum Leben erweckt,
zogen langsam ihre Kreise um die hell glühenden Feuer.
Der farbige Rauch stieg nicht sofort durch die Öffnungen
im Dach in den nächtlichen Himmel empor,
sondern wirbelte durch das Zeremonienhaus, wand
sich in Schwaden und schien während der gesamten
Zeremonie wie ein lebendiges Wesen über den Köpfen
der Tänzer zu schweben.
Der ruhige, gleichmäßige Takt und die monotonen
Gesänge der Ältesten versetzten alle im Saal innerhalb
kürzester Zeit in eine Art Bann, und schon bald konnte
niemand mehr sagen, wie lange die Zeremonie bereits
andauerte.
Chad Blue Knife, einen traditionellen Umhang aus
Zedernrinde um seine breiten Schultern geschlungen
und eine handgeschnitzte Wolfsmaske auf seinem markanten
Gesicht, konzentrierte sich auf jeden seiner tänzerischen
Schritte.
Wie die anderen Tänzer war auch er nicht mit der
ganzen Zeremonie vertraut, er wusste aber, dass sie erst
dann beendet sein würde, wenn die Ältesten ein Zeichen
aus dem Reich der Toten erhalten hatten, dass man ihre
Bitte erhört habe. Niemand vermochte zu sagen, wie
lange sie auf eine Antwort würden warten müssen, und
Chad hatte sich innerlich auf eine lange Nacht vorbereitet.
Hinter der Tür war es finster. Gedämpfte Stimmen,
Trommelschläge und ein helles hölzernes Klopfen drangen
an Myras Ohr. In der Luft lag der würzige Geruch
eines offenen Holzfeuers, und dünne Rauchschwaden
zogen über ihr hinweg. Von den Stimmen und den seltsamen
Klängen wie in einen Bann gezogen, schlüpfte
Myra durch den Türspalt und ertastete sich vorsichtig
ihren Weg. Ihre Hand glitt über eine Erhebung an der
Wand des Ganges, und ihr Herz machte einen Sprung.
Die Erhebung war rund und glatt und hatte hier und
da Vertiefungen. Erleichtert erkannte Myra, dass es sich
um eine Schnitzerei handeln musste. Was sie darstellte,
konnte Myra in der Dunkelheit jedoch nicht erkennen.
Erst jetzt bemerkte sie, dass der dunkle Raum, in
dem sie sich befand, in Wirklichkeit ein schmaler Gang
zwischen tribünenartig aufgebauten Sitzreihen war, an
deren Ende sich ein großer, vom Schein zweier Feuer
erleuchteter offener Platz befand. Vorsichtig ging sie
weiter. Der Gesang, das Trommeln und die hölzernen
Klickgeräusche wurden lauter und lauter. Im tanzenden
Licht von hohen Flammen konnte Myra die schattenhaften
Gestalten von Tänzern erkennen, und sie spürte,
dass viele Menschen in dem großen Raum waren ...
und noch mehr. Ein Schauer lief ihr über den Rücken,
und sie bekam eine Gänsehaut.
Sie wusste sofort, dass ihre Anwesenheit hier fehl am
Platz war.
Plötzlich hallte ein lauter Schrei, fast ein Wehklagen,
über den Zeremonienplatz. Chad fuhr erschrocken zusammen.
Die Trommeln und der Gesang der Ältesten
verstummten, die Tänzer, jäh aus ihrem Bann gerissen,
stießen gegeneinander, und auf den Tribünen stockte
das Stampfen und Klicken.
Chad blickte sich verwirrt um. War ihre Bitte schon
erhört worden?
Er sah zu den Ältesten hinüber und wusste sofort:
Joseph Rock Horse war aus der Welt der Ahnen zurückgekehrt.
Irgendetwas hatte die Aufmerksamkeit der Ältesten
auf sich gezogen. Chad folgte ihren Blicken und beobachtete,
wie die Rauchschleier, die eben noch den
Schritten der Tänzer gefolgt waren, nun in Richtung
eines der Gänge zogen, plötzlich anzuhalten schienen
und in einem letzten großen Wirbel zurück zur Mitte
strömten, von wo aus sie nach oben stiegen und durch
die Öffnungen im Dach in den Nachthimmel verschwanden.
In dem Augenblick, als das laute Wehklagen ertönte
und die Trommeln und Stimmen verstummten, fühlte
Myra, wie sich unzählige unsichtbare Augenpaare auf
sie richteten.
Rauchschleier umhüllten sie.
Ihr Herz pochte wie wild, und ein unbehagliches Gefühl
breitete sich in ihrem Bauch aus.
Rasch wandte sie sich um und hastete zurück in den
Vorraum. Sie verließ das Gebäude, ohne sich noch einmal
umzublicken, und lief zu ihrem Wagen. Sie konnte
den Rauch noch immer deutlich vernehmen. Es war, als
sei er Teil ihrer selbst geworden.
Sie ließ sich auf den Fahrersitz fallen, zog die Tür
hinter sich zu und atmete tief durch. Wo, um alles in
der Welt, war sie da nur hineingeraten?
Die Ältesten flüsterten miteinander, und schließlich
war es Joseph Rock Horse, der sich an die versammelte
Menge wandte. Chad lauschte seinen Worten voller
Ehrfurcht.
»Unsere Bitte um Rat und Beistand ist erhört worden.
Die Ahnen sprachen von einer uralten Legende, und sie
versicherten, dass wir auf Hilfe hoffen können.« Er
machte eine kurze Pause. »Ich weiß, dass meine Worte
vielen von euch zu ungenau sind. Doch mehr vermag
ich nicht zu sagen. Seid versichert: Die Antwort, die wir
erhalten haben, war lauter und sehr viel deutlicher, als
wir erhofft hatten. Beistand wird kommen. Haltet eure
Augen und Ohren offen - und eure Herzen. Nehmt die
gesandte Hilfe an und unterstützt sie nach Kräften.«
Dann fügte er wie zu sich selbst hinzu: »Es ist vielleicht
die einzige Chance, die uns und unseren Mitmenschen
bleibt ... Möge der Große Geist uns beschützen.«
Chad lief ein Schauer über den Rücken, als ihm die
Bedeutung dieser Worte deutlich wurde. Alles hing jetzt
von ihnen ab, von den anderen Stammesmitgliedern -
auch von ihm selbst.
Sie mussten auf ein Zeichen hoffen und ihm mutig
Folge leisten. Sonst würde die Welt, so wie Chad sie
kannte, unweigerlich zerbrechen.
Chad Blue Knife strich sich eine lange schwarze
Haarsträhne aus dem Gesicht und schüttelte unmerklich
den Kopf, als er sich daran erinnerte, wie viel Zeit
verstrichen war, seit er zum letzten Mal einer Zeremonie
beigewohnt hatte. In den Tagen seiner Jugend hatte er
an vielen Zeremonien teilgenommen, aber seit seinem
Studium hatte er weniger Zeit im Kreise seiner Familie
verbracht, als ihm lieb gewesen war. Jetzt, mit Anfang
dreißig, war er endlich in der Lage, wieder ganz in der
Gemeinschaft seines Stammes zu leben. Und so hatte
er an diesem Abend nicht gezögert, dem Aufruf seiner
Großtante zu folgen und an der geplanten Zeremonie
teilzunehmen. Worum es dabei ging, lag für ihn und die
anderen Stammesmitglieder noch im Verborgenen, aber
auch er spürte, dass etwas Wichtiges vorgefallen sein
musste.
Chad beobachtete gespannt, wie sich die Ältesten in
der Mitte des Zeremonienplatzes versammelten. Sofort
breitete sich respektvolle Stille im Inneren des Hauses
aus. Jeder wartete darauf, dass einer der Ältesten das
Wort ergriff, und fragte sich im Stillen nach dem Grund
für die Zeremonie. Eigentlich fanden Zeremonien dieser
Art während der Wintermonate statt. Heute hingegen
war Sommersonnenwende.
Chad richtete seinen Blick auf Joseph Rock Horse,
einen Mann, den er schon seit seiner Kindheit kannte.
Joseph war Anfang sechzig. Sein schulterlanges Haar
war schon silbergrau, aber er war noch immer eine
stattliche Erscheinung. An diesem Abend hatte er sich in
eine schwarz-rote Decke gehüllt, die mit verschiedenen
Tiermotiven verziert war. Er gehörte zu den Ältesten,
und er würde an diesem Abend die Zeremonie leiten.
Endlich wandte Joseph Rock Horse sich in der wohlklingenden
Sprache des Stammes an die versammelte
Menge. »Wir sind heute Abend hier zusammengekommen,
um die Geistwesen um Rat zu bitten. Unser Volk
steht vor einer schweren Aufgabe. Die Welt, in der unsere
Kinder heute aufwachsen müssen, ist nicht mehr die
Welt, in der unsere Ahnen Tausende von Jahren gelebt
haben. Das Gleichgewicht ist gestört. Unserem Volk
wurde alles genommen und die indianische Lebensweise
beinahe vernichtet. Eisenbahn, Städte, moderne
Wissenschaft - sie nennen es Fortschritt. Uns hat dieser
Fortschritt Tränen und Tod gebracht. Nun wappnen
sich die dunklen Mächte der Gegenwart erneut für einen
Angriff. Zerstörung und Verwüstung drohen unserer
Welt. Unsere Kinder werden weinen, sie werden aufschreien
aus Verzweiflung. Ihnen wird nichts bleiben.
Das müssen wir verhindern.«
Im Zeremonienhaus herrschte Stille. Allen stockte
der Atem. Die Ältesten nahmen ihre Aufgabe sehr ernst,
und ihre Worte zweifelte man nicht an, aber ... So etwas
hatte bisher noch niemand aus ihrem Munde gehört!
Joseph Rock Horse blickte finster in die Runde. »Es
ist nicht nur die Natur, die von den dunklen Mächten
zerstört zu werden droht. Wir selbst sind die Opfer.
Seit Jahren verschwinden Angehörige unseres Volkes,
ohne eine Spur zu hinterlassen, und keiner der Weißen
kümmert sich darum. Vor ein paar Tagen ist nun auch
die Tochter von Susie Standing Bear auf dem Weg nach
Fort Duffey spurlos verschwunden. Die Freundin, die
mit ihr unterwegs war, sagt aus, dass sie kurz an einer
Raststätte angehalten hätten. Susies Tochter hätte die
Toilette aufgesucht. Danach wurde sie nie wiedergesehen.
Die Polizei rührt keinen Finger. Susie hat den Rat
der Ältesten um Hilfe gebeten. Wir sind erschüttert,
doch die Zeichen sind eindeutig. Alle Ältesten haben sie
gesehen ... Uns bleibt nichts anderes übrig, als dem Vorbild
unserer Ahnen zu folgen und in heiliger Zeremonie
unsere Bitte um Rat und Beistand an den Großen Geist
zu übergeben, den Schöpfer aller Dinge.«
Er räusperte sich und fuhr dann fort: »Der Rat der
Ältesten hat mich zum Sprecher für den heutigen Abend
bestimmt. Und so hört den Beschluss und die Weisheit
von allen Ältesten: Wir werden heute nicht nur den
Großen Geist um seinen großzügigen Rat bitten, sondern
auch all diejenigen, die diese Erde vor uns durchwandert
haben.«
Ein Raunen durchzog die Stille.
Chad Blue Knife hörte, wie jemand neben ihm Ahnenzeremonie
flüsterte. Ein Schauer lief ihm über den
Rücken. Diese Zeremonie war eine der ältesten und
kraftvollsten. Sie hatte ihren Ursprung in längst vergangenen
Zeiten, und ihr Ablauf war ein streng gehütetes
Geheimnis. Nur wenige der Anwesenden hatten eine
solche Zeremonie jemals erlebt.
Chad wusste, dass die Ältesten nicht über ihre Entscheidung
diskutieren würden. Sie hatten einen Beschluss
gefasst, und dieser würde ausgeführt werden.
Der Stamm würde im Reich der Toten um Beistand
bitten ...
Die achtundzwanzigjährige Myra Morgenstern strich
sich energisch über die Stirn. Sie durfte nicht einschlafen!
Es war schon sehr spät, die Nacht brach herein,
und sie hatte noch eine weite Strecke zu fahren, aber
sie wollte Boulder Landing unbedingt heute noch erreichen.
Zu lange war sie fort gewesen, zu heftig hatten
die Ereignisse des vergangenen Tages sie erschüttert. In
dieser für sie sehr schweren Zeit gab es für Myra nur
einen Gedanken: Sie musste in die Berge zurückkehren,
wo sie ihre glückliche Kindheit verbracht hatte, um sich
Klarheit über ihre Situation und über ihre Gefühle zu
verschaffen!
Über zwei Jahre waren vergangen, seit Myra dem
Dorf Boulder Landing im Westen von British Columbia,
in das sie als Dreijährige mit ihren aus Deutschland
eingewanderten Eltern gezogen war, zum letzten Mal
einen Besuch abgestattet hatte. Vieles hatte sich seitdem
verändert. Ihre Eltern waren aus Boulder Landing
weggezogen. Myras Vater litt seit jeher an einem Lungenleiden,
das er sich noch vor der Auswanderung nach
Kanada als Arbeiter im Bergwerk in Goslar zugezogen
hatte. Als er älter geworden war, hatte sich das Leiden
verschlimmert, und in der Großstadt war die ärztliche
Versorgung einfach besser. Schweren Herzens hatten
Myras Eltern sich daher entschlossen, ihr kleines Holzhaus
in der Wildnis der kanadischen Berge zu verkaufen
und nach Vancouver zu ziehen.
Myra hatte sich vorgenommen, in der Nähe von
Boulder Landing ein paar ruhige Tage zu verbringen
und beim Bergsteigen ihre Gedanken zu ordnen.
Sie blickte angestrengt in die von den Scheinwerfern
angestrahlte Nacht hinaus. Sogar die Straßen schienen
anders zu sein, als sie es in Erinnerung hatte. Wieder
rieb sie sich über die Stirn. Auf dem unbeleuchteten
nächtlichen Highway zu fahren war anstrengender, als
sie angenommen hatte. Vielleicht hätte sie doch lieber
irgendwo einkehren und bis zum Morgen warten sollen.
Sie kurbelte das Seitenfenster ihres alten Autos hinunter
und ließ die kühle Abendluft herein. Sie atmete tief
durch und lächelte. Heimatluft!
Plötzlich tauchte ein imposantes Holzgebäude neben
dem Highway auf. Zu dieser späten Stunde schien es
noch gut besucht zu sein, denn der Parkplatz war voller
Autos. Myra konnte sich nicht erinnern, das Gebäude
jemals zuvor gesehen zu haben. Es machte einen sehr
gepflegten Eindruck, und sie beschloss, anzuhalten und
zu sehen, ob sie dort vielleicht einen starken schwarzen
Tee bekommen könnte.
Sie parkte ihren Wagen nahe den großen, massiven
Eingangstoren, über denen Elk Creek First Nation
Spiritual Centre geschrieben stand. Sie stieg aus, und
durch die kühle Abendluft fühlte sie sich sofort munterer.
Trotzdem musste sie ein Gähnen unterdrücken.
Als sie die gläserne Eingangstür erreichte, entdeckte sie
ihr Spiegelbild und sog entsetzt die Luft ein. So konnte
sie nicht unter Leute gehen! Sie schob die Schultern
zurück, richtete sich auf und strich sich das lange hellbraune
Haar zurecht. Sie war nie eine klassische Schönheit
gewesen, aber sie hatte eine schlanke Gestalt, ein
hübsches ovales Gesicht und ein offenes, fröhliches Wesen.
Entschlossen öffnete sie die große Eingangstür und
betrat den hell erleuchteten Vorraum.
Sie hatte gehofft, einen Getränkestand oder etwas
Ähnliches vorzufinden, doch zu ihrer Enttäuschung war
der große Vorraum leer. Verwundert blickte Myra sich
um. Wo waren die Gäste? Es standen doch so viele Autos
auf dem Parkplatz. Unentschlossen sah sie sich um.
Ihr Blick blieb an den mit indianischen Schnitzereien
reichverzierten Pfählen hängen, die die Dachkonstruktion
zu tragen schienen. Sie entdeckte Lachse, Bären,
Wölfe und viele andere Tiere. Wie schön und wie ausdrucksstark
die Schnitzereien waren! Sie konnte den
Blick kaum davon losreißen.
Schließlich beschloss sie, die Toilette aufzusuchen,
bevor sie weiterfuhr, und blickte sich suchend um. Sie
entdeckte ein paar Türen, an denen jedoch keine Schilder
angebracht waren. Vorsichtig drückte sie die Klinke
der ersten Tür, einer massiven Zederntür, hinunter und
öffnete sie einen kleinen Spalt.
Chad, der an diesem Abend zu den Tänzern gehören
würde, wartete gespannt auf seinen Einsatz. Er beobachtete,
wie die beiden Hüter der Feuer ihre Position
neben den lodernden Flammen einnahmen. Wie immer
handelte es sich bei den Hütern um einen Mann und
um eine Frau, die - wie die beiden Feuer, die in der
Mitte des Zeremonienplatzes brannten - die gegensätzlichen
Kräfte aller Dinge verkörperten. Beide waren
in einen Umhang aus weichen Zedernrindenfasern
gehüllt, der ihnen fast bis zu den Knien reichte. Ihre
langen schwarzen Haare trugen sie offen. Als Hüter der
Feuer war es ihre Aufgabe, während der Zeremonie die
Feuer zu schüren und ihnen ausgewählte Kräuter beizugeben.
So wurde der Gegensatz der Feuer, nämlich
weiblich und männlich, Licht und Dunkelheit, Leben
und Tod, nicht nur dem unmittelbaren Betrachter
durch die unterschiedlichen Farben, die die Kräuter den
Flammen verliehen, erkenntlich gemacht, sondern auch
den Geistwesen, denn die unterschiedlichen Kräuter
verliehen dem Rauch der Feuer gegensätzliche Aromen,
süß und herb. Der Rauch der Feuer würde den Ältesten
helfen, die Geistwesen zu erreichen und ihre Bitte vorzutragen.
Die wohlriechenden Kräuter zeigten den Geistwesen
nicht nur die Wichtigkeit der Zeremonie an, sie sorgten
auch dafür, dass die richtigen Geistwesen angesprochen
wurden. Denn die Anwesenheit von Geistwesen machte
sich oft durch Gerüche bemerkbar, nicht durch sichtbare
Formen. Unangenehme Gerüche wurden mit negativen
Geistwesen in Verbindung gebracht, wohlriechende Gerüche
mit positiven. Bei Zeremonien wiederum wurden
die Aromen der Kräuter dazu benutzt, mit den richtigen
Geistwesen in Verbindung zu treten.
Chad warf einen Blick über die aus dicken Zedernplanken
gezimmerten Sitzbänke, wo die übrigen Stammesmitglieder
ihre Plätze eingenommen hatten. Jedes
Stammesmitglied durfte der heutigen Zeremonie als
Zeuge beiwohnen, und so waren viele Familien anwesend.
Zeugen spielten bei den Stammeszeremonien eine
wichtige Rolle. Denn was vor Zeugen gesagt und getan
wurde, war bindend, dem durfte nicht zuwidergehandelt
werden. Es waren jedoch nur die Ältesten und einige
auserwählte Tänzer, die auf dem Zeremonienplatz an
der Zeremonie selbst teilnehmen würden.
Die obersten Tribünenreihen waren in Dunkelheit
gehüllt. Nur die vorderen Reihen wurden vom Schein
der Feuer erleuchtet. Ein gleichmäßiges Stampfen von
Hunderten Füßen setzte ein, begleitet von einem lauten
Klicken, das vom Aufeinanderschlagen unzähliger
kleiner geschnitzter Zedernpaddeln herrührte, die jeder
Zuschauer in der Hand hielt.
In der Mitte des Zeremonienplatzes stimmten die
Ältesten ihren feierlichen Gesang an und begannen, in
rhythmischem Takt auf ihre Trommeln aus Zedernholz
und Elchhäuten zu schlagen. Joseph Rock Horse, der
die heutige Zeremonie leitete, hielt statt einer Trommel
ein großes Paddel in den Händen. Es war ein wichtiger
Bestandteil der Zeremonie, denn laut Stammesglauben
trat ein Mensch seine letzte Reise in das Reich der Toten
in einem Kanu an, in dem sich seine engsten Freunde
befanden. Das Paddel stand stellvertretend für diese
letzte Reise und würde es Joseph Rock Horse, zusammen
mit dem Rauch der Feuer und dem rhythmischen
Trommeln, erleichtern, die Verbindung mit der Geisterwelt
herzustellen.
Nun traten Chad Blue Knife und die anderen Tänzer
auf den Zeremonienplatz. Es waren Männer und Frauen
verschiedenen Alters, die aufgrund ihrer spirituellen Fähigkeiten
ausgewählt worden waren. Sie alle hatten sich
für diese feierliche Zeremonie mit den traditionellen, aus
weichen Zedernrindenfasern angefertigten knielangen
rotbraun schimmernden Umhängen geschmückt. Dazu
trugen sie aus Zedernholz geschnitzte, mit langen Streifen
aus Zedernrinde verzierte und in den traditionellen
Farben Weiß, Rot und Schwarz bemalte Tiermasken.
Chad fiel auf, dass eine der Frauen an diesem Abend
eine besonders schön gearbeitete Maske trug. Sie stellte
eines seiner Lieblingstiere dar, einen Bären.
Begleitet vom Rhythmus der Trommeln und der
kleinen Paddel und vom Gesang der Ältesten, setzten
sich die Tänzer in Bewegung. Gegen den Uhrzeigersinn
zogen sie in wogenden Kreisen um die Ältesten und die
beiden rot und grün lodernden Feuer herum und ahmten
dabei die Bewegungen und Laute der Tiere nach, die
ihre Masken darstellten. Bären, Otter, Lachse, Hirsche
und viele andere, durch die Tänzer zum Leben erweckt,
zogen langsam ihre Kreise um die hell glühenden Feuer.
Der farbige Rauch stieg nicht sofort durch die Öffnungen
im Dach in den nächtlichen Himmel empor,
sondern wirbelte durch das Zeremonienhaus, wand
sich in Schwaden und schien während der gesamten
Zeremonie wie ein lebendiges Wesen über den Köpfen
der Tänzer zu schweben.
Der ruhige, gleichmäßige Takt und die monotonen
Gesänge der Ältesten versetzten alle im Saal innerhalb
kürzester Zeit in eine Art Bann, und schon bald konnte
niemand mehr sagen, wie lange die Zeremonie bereits
andauerte.
Chad Blue Knife, einen traditionellen Umhang aus
Zedernrinde um seine breiten Schultern geschlungen
und eine handgeschnitzte Wolfsmaske auf seinem markanten
Gesicht, konzentrierte sich auf jeden seiner tänzerischen
Schritte.
Wie die anderen Tänzer war auch er nicht mit der
ganzen Zeremonie vertraut, er wusste aber, dass sie erst
dann beendet sein würde, wenn die Ältesten ein Zeichen
aus dem Reich der Toten erhalten hatten, dass man ihre
Bitte erhört habe. Niemand vermochte zu sagen, wie
lange sie auf eine Antwort würden warten müssen, und
Chad hatte sich innerlich auf eine lange Nacht vorbereitet.
Hinter der Tür war es finster. Gedämpfte Stimmen,
Trommelschläge und ein helles hölzernes Klopfen drangen
an Myras Ohr. In der Luft lag der würzige Geruch
eines offenen Holzfeuers, und dünne Rauchschwaden
zogen über ihr hinweg. Von den Stimmen und den seltsamen
Klängen wie in einen Bann gezogen, schlüpfte
Myra durch den Türspalt und ertastete sich vorsichtig
ihren Weg. Ihre Hand glitt über eine Erhebung an der
Wand des Ganges, und ihr Herz machte einen Sprung.
Die Erhebung war rund und glatt und hatte hier und
da Vertiefungen. Erleichtert erkannte Myra, dass es sich
um eine Schnitzerei handeln musste. Was sie darstellte,
konnte Myra in der Dunkelheit jedoch nicht erkennen.
Erst jetzt bemerkte sie, dass der dunkle Raum, in
dem sie sich befand, in Wirklichkeit ein schmaler Gang
zwischen tribünenartig aufgebauten Sitzreihen war, an
deren Ende sich ein großer, vom Schein zweier Feuer
erleuchteter offener Platz befand. Vorsichtig ging sie
weiter. Der Gesang, das Trommeln und die hölzernen
Klickgeräusche wurden lauter und lauter. Im tanzenden
Licht von hohen Flammen konnte Myra die schattenhaften
Gestalten von Tänzern erkennen, und sie spürte,
dass viele Menschen in dem großen Raum waren ...
und noch mehr. Ein Schauer lief ihr über den Rücken,
und sie bekam eine Gänsehaut.
Sie wusste sofort, dass ihre Anwesenheit hier fehl am
Platz war.
Plötzlich hallte ein lauter Schrei, fast ein Wehklagen,
über den Zeremonienplatz. Chad fuhr erschrocken zusammen.
Die Trommeln und der Gesang der Ältesten
verstummten, die Tänzer, jäh aus ihrem Bann gerissen,
stießen gegeneinander, und auf den Tribünen stockte
das Stampfen und Klicken.
Chad blickte sich verwirrt um. War ihre Bitte schon
erhört worden?
Er sah zu den Ältesten hinüber und wusste sofort:
Joseph Rock Horse war aus der Welt der Ahnen zurückgekehrt.
Irgendetwas hatte die Aufmerksamkeit der Ältesten
auf sich gezogen. Chad folgte ihren Blicken und beobachtete,
wie die Rauchschleier, die eben noch den
Schritten der Tänzer gefolgt waren, nun in Richtung
eines der Gänge zogen, plötzlich anzuhalten schienen
und in einem letzten großen Wirbel zurück zur Mitte
strömten, von wo aus sie nach oben stiegen und durch
die Öffnungen im Dach in den Nachthimmel verschwanden.
In dem Augenblick, als das laute Wehklagen ertönte
und die Trommeln und Stimmen verstummten, fühlte
Myra, wie sich unzählige unsichtbare Augenpaare auf
sie richteten.
Rauchschleier umhüllten sie.
Ihr Herz pochte wie wild, und ein unbehagliches Gefühl
breitete sich in ihrem Bauch aus.
Rasch wandte sie sich um und hastete zurück in den
Vorraum. Sie verließ das Gebäude, ohne sich noch einmal
umzublicken, und lief zu ihrem Wagen. Sie konnte
den Rauch noch immer deutlich vernehmen. Es war, als
sei er Teil ihrer selbst geworden.
Sie ließ sich auf den Fahrersitz fallen, zog die Tür
hinter sich zu und atmete tief durch. Wo, um alles in
der Welt, war sie da nur hineingeraten?
Die Ältesten flüsterten miteinander, und schließlich
war es Joseph Rock Horse, der sich an die versammelte
Menge wandte. Chad lauschte seinen Worten voller
Ehrfurcht.
»Unsere Bitte um Rat und Beistand ist erhört worden.
Die Ahnen sprachen von einer uralten Legende, und sie
versicherten, dass wir auf Hilfe hoffen können.« Er
machte eine kurze Pause. »Ich weiß, dass meine Worte
vielen von euch zu ungenau sind. Doch mehr vermag
ich nicht zu sagen. Seid versichert: Die Antwort, die wir
erhalten haben, war lauter und sehr viel deutlicher, als
wir erhofft hatten. Beistand wird kommen. Haltet eure
Augen und Ohren offen - und eure Herzen. Nehmt die
gesandte Hilfe an und unterstützt sie nach Kräften.«
Dann fügte er wie zu sich selbst hinzu: »Es ist vielleicht
die einzige Chance, die uns und unseren Mitmenschen
bleibt ... Möge der Große Geist uns beschützen.«
Chad lief ein Schauer über den Rücken, als ihm die
Bedeutung dieser Worte deutlich wurde. Alles hing jetzt
von ihnen ab, von den anderen Stammesmitgliedern -
auch von ihm selbst.
Sie mussten auf ein Zeichen hoffen und ihm mutig
Folge leisten. Sonst würde die Welt, so wie Chad sie
kannte, unweigerlich zerbrechen.
... weniger
Autoren-Porträt von Sanna Seven Deers
Seven Deers, SannaSanna Seven Deers ist geborene Hamburgerin. Sie heiratete einen kanadischen Indianer und zog mit ihm in die Wildnis der Rocky Mountains. Dort leben die beiden mit ihren vier Kindern.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sanna Seven Deers
- 2011, 4. Aufl., 416 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548282954
- ISBN-13: 9783548282954
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