Der Schandkasten
Roman
Im riesigen osmanischen Reich ist Albanien nur der kleinste Zipfel. Doch seine Einwohner gelten als rebellisch und widerspenstig. Wie Ali Pascha, ihr Anführer, genannt der Unselige. Wird auch er mit seinem Leben dafür bezahlen müssen? Denn wer sich dem...
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Produktinformationen zu „Der Schandkasten “
Klappentext zu „Der Schandkasten “
Im riesigen osmanischen Reich ist Albanien nur der kleinste Zipfel. Doch seine Einwohner gelten als rebellisch und widerspenstig. Wie Ali Pascha, ihr Anführer, genannt der Unselige. Wird auch er mit seinem Leben dafür bezahlen müssen? Denn wer sich dem Willen des Sultans widersetzt, dessen Kopf wird in der Hauptstadt des Reiches im 'Schandkasten' ausgestellt. Ismail Kadares nachtschwarze, zutiefst unheimliche Parabel erzählt in wortgewaltigen Bildern vom Schicksal Albaniens unter der Fremdherrschaft der Osmanen.
Lese-Probe zu „Der Schandkasten “
Der Schandkasten von Ismail Kadare Kapitel 1
Im Zentrum des Reiches
Immer wieder begegneten seine Augen den Blicken der Passanten und Touristen, die von allen Seiten auf den Platz strömten. So wie alle Massen in Bewegung, hatten auch die Touristenscharen leichte und flüchtige Blicke, doch diese erstarrten schon beim ersten Kontakt. Zuerst schienen sich die überrumpelten Pupillen tief in die Höhlen verkriechen zu wollen, und nur, weil dies nicht glückte, blieben sie an ihrem Platz und ertrugen den Anblick. Die meisten erbleichten, einigen wurde übel, und nur ganz wenige schauten weiter standhaft in seine Augen. Diese waren gleichgültig und von einer Farbe, die sich so wenig als blau bezeichnen ließ, wie sie grau oder weiß genannt werden durfte, ja, man konnte überhaupt kaum von Farbe reden, denn eher als eine Farbe war es der Widerschein einer fernen Leere.
... mehr
Wenn es den Touristenscharen dann schließlich gelungen war, ihre Blicke loszureißen, erkundigten sie sich eilig nach dem Weg zur Hagia Sophia, zu den Türben der erhabenen Sultane, zur Bank, zu den alten Bädern, zum Palast der Träume. Und obwohl sie fragten und fragten, gingen die meisten doch nicht weg, sondern irrten über den Platz, als seien sie in eine Falle geraten. Vielleicht lag dies daran, daß der Platz zwar nicht sehr groß, aber immerhin einer der charakteristischen Plätze im Zentrum des vielhundertjährigen Reiches war. Mit grünlich schimmerndem Granit gepflastert, sah er wie in Bronze gegossen aus. Der Eindruck von Solidität, den das Pflaster vermittelte, wurde noch durch die metallenen Löwenköpfe hinter den Eisengittern am Gebäude des Zentralen Staatsarchivs betont, dessen einer Flügel den Platz begrenzte, durch die Bleikuppel der Sultansmoschee, eine mit Hieroglyphen bedeckte Säule, die vor Jahrhunderten als Trophäe aus dem eroberten Ägypten mitgebracht worden war, verschiedene in Metall gegossene Insignien und Symbole des Imperiums und schließlich eben durch das Kanonentor, in dessen Mauern der Schandkasten eingelassen war. Die Einheimischen nannten die Nische Ibret Tasch, also »Stein der Warnung« oder, in freierer Übersetzung, »Lehre aus dem Unheil«.
Unschwer zu erraten, weshalb man den Kasten für die abgeschnittenen Köpfe rebellischer Wesire oder in Ungnade gefallener Größen des Reiches gerade an diesem Platz eingerichtet hatte. Nirgendwo sonst hätte der Kontrast zwischen der gewichtigen Statik des altehrwürdigen Platzes und dem abgehackten Menschenkopf, der sich dagegen zu empören gewagt hatte, einem Passanten augenfälliger werden können. Man sah sofort, daß der Platz für den Kasten in der Mauer so gewählt worden war, daß sich der Eindruck vermittelte, die erloschenen Augen des Kopfes überschauten den ganzen Platz samt allem, was sich darauf befand. Alles hatte den Zweck, auch noch den phantasielosesten Passanten dazu zu verleiten, sich den eigenen Kopf in dieser unnatürlichen Höhe vorzustellen, knapp übermannshoch, doch etwas niedriger als das Haupt eines Berittenen.
Der Platz war wirklich von ungeheurer Solidität. Allenthalben offenbarte sich die Liaison von Metall und Stein. Sogar auf der Terrasse des Kaffeehauses gegenüber, wo den ganzen Tag lang Mokka getrunken wurde, hatte es das Metall in Form schwerer Kupferkannen und -kessel offenbar schnell verstanden, alles, was an den Gebärden des Kaffeetrinkens träge und anheimelnd war, mit seiner Gegenwart zu umgeben.
Dort nahmen gewöhnlich auch die betagten Exherolde des Staates ihren Kaffee ein, wenn sie wegen ihres Alters oder Stimmverlust, ihre Berufskrankheit, in Pension geschickt worden waren. Sie waren Veteranen der letzten Meldung, und der Wirt hatte Abdullah, dem Aufseher des Schandkastens, erzählt, daß es in ihren Gesprächen um nichts anderes ging als um Nachrichten und Erlasse, die sie einst allerorts im Reich verkündet hatten.
Ehe sich morgens der Platz belebte, blickte Abdullah, Aufseher des Schandkastens, oft lange zur Kaffeehausterrasse hinüber. Nach Dienstschluß wäre er gerne an einem der kleinen Tische gesessen, doch er tat es nur selten, weil ihm der Arzt den Kaffee als seiner Gesundheit abträglich verboten hatte. Abdullah war einunddreißig, doch seine langen Glieder waren schwächlich; überdies machte ihm ab und zu ein Brausen in den Ohren zu schaffen, das seinen ganzen Körper lähmte. Und auf diesem Platz war der Kaffee so stark wie alles andere. Trotzdem wagte es Abdullah ab und zu, sich ein Täßchen zu bestellen. Dabei setzte er sich gerne zu den alten Herolden an den Tisch. Ihre Kehlen, von denen einst Scheiben erbebt waren, gaben nun nur noch ein elendes Krächzen von sich. Doch war das nicht schwer zu verstehen, wie der Wirt meinte, denn nach ihrer Meinung waren die Erlasse damals, verglichen mit heute, sehr viel bedeutender, so wie sie selbst auch, verglichen mit den heutigen Herolden. Vom Herrn des Kaffeehauses hatte Abdullah auch erfahren, daß ausnahmslos alle der Ausrufer, die ihre Stimme verloren hatten, sich präzise des Tages erinnerten, an dem dies eingetreten war, und nicht nur des Tages, sondern auch des Fermans, den sie gerade verkündet hatten, ja sogar des Satzes, bei dem ihnen die Stimme weggeblieben war. So sind sie nun einmal, die Leute, fuhr er heftig fort, sie vergessen nichts.
Wenn er während der Dienststunden keine Lust mehr hatte, zum Kaffeehaus hinüberzuschauen, wanderte sein Blick zu den Speeren der beiden Posten hinüber, die den Kasten Tag und Nacht bewachten. Doch das war ein mehr als langweiliger Anblick, und nur, wenn der Platz ganz verlassen dalag, kam er überhaupt auf diese Idee. Füllte sich der Platz dann mit Menschen, beobachtete er am liebsten das Pupillenspiel der Passanten oder Touristen, wenn sie zum ersten Mal dem Kopf direkt gegenüberstanden. Er wußte, daß keiner den Anblick eines abgeschnittenen Hauptes gewohnt war, und dennoch hatte er immer wieder das Gefühl, der Schrecken und die Erschütterung, die in den Gesichtern der Betrachter festzustellen waren, überschritten das Maß alles Vorhersehbaren. Er vermutete, daß der tiefste Eindruck von den Augen des Kopfes ausging, aber nicht vor allem deswegen, weil es tote Augen waren, sondern weil die Leute menschliche Augen üblicherweise in einem bestimmten Verhältnis zum ganzen Körper einschließlich der Hände und Füße wahrnahmen, weshalb dann deren Fehlen, so glaubte Abdullah, die Augen größer und wichtiger erscheinen ließ, als sie es tatsächlich waren.
Überhaupt kam es Abdullah so vor, als ob die Menschen weniger wichtig wären, als sie sich selber nahmen. Manchmal, wenn die Dämmerung niedersank und der Mond zu früh auf den Platz herableuchtete, erschienen ihm die Menschen, ihn selber eingeschlossen, wie eine bloße Unreinlichkeit auf dem erhabenen Platz, die seine Würde und Harmonie beeinträchtigte. Er konnte es dann kaum erwarten, bis der Platz wieder gänzlich menschenleer war, damit er, obwohl seine Dienststunden schon vorüber waren, das eisige Glitzern des Mondes genießen konnte, das sich ringsumher ausbreitete. Ab und zu fiel das Mondlicht schräg auf den Kasten, und dann nahm der beleuchtete Kopf, je nach dem Stand des Mondes über dem Horizont, einen spöttischen oder gänzlich apathischen Ausdruck an. Doch Abdullah kam es so vor, als ob der von menschlichen Gliedern wie von etwas Überflüssigem befreite Kopf nun des Zusammenseins mit den jahrhundertealten Insignien und Symbolen auf dem Platz erheblich würdiger sei. In solchen Momenten spürte er, von selbstzerstörerischer Ekstase ergriffen, irgendwo tief in seinem Innern den Wunsch, sich des langen und lästigen Plunders, der seine Glieder waren, zu entledigen und ganz Kopf zu werden. Doch dieser Wunsch blieb so konturlos, daß er niemals an die Oberfläche seines Bewußtseins zu gelangen vermochte.
Tagsüber war Abdullahs Miene selbstverständlich stets starr, denn immerhin war er im Dienst und hatte sich bis zu einem gewissen Grad mit der Statik des Platzes in Harmonie zu befinden. Er war der Aufseher über eines der Wahrzeichen des Platzes, und sein Erscheinungsbild hatte der Aufgabe zu entsprechen. Doch obwohl Abdullah nur ein paar Schritte vom Kasten entfernt stand und unschwer als sein Aufseher zu erkennen war, beachtete ihn merkwürdigerweise kein Mensch. Alle starrten wie gebannt auf den Kasten. Schwache Eifersucht breitete sich, wie in einem großen Topf mit anderen Gefühlen durchmischt, allmählich in dem Aufseher aus.
Zum tausendsten Mal betrachtete er der Reihe nach all die Sehenswürdigkeiten auf dem Platz, gleichsam als wolle er sich davon überzeugen, daß er noch zu weit von der Vollendung entfernt war, um sich ihnen zur Seite stellen zu dürfen. Das einzig Dünne und weniger Großartige waren die Hieroglyphen auf der ägyptischen Säule; sie kamen ihm wie Insekten vor, die im Darüberkriechen erstarrt waren. Wenn er sich manchmal nicht so wohl fühlte, wollten ihm die Hieroglyphen unversehens zum Leben erwachen, begannen sich zu regen, versuchten wohl diese steinerne und metallene Gleichförmigkeit für immer hinter sich zu lassen, um wie Nomaden in ihrer Wüste zu verschwinden. Doch das geschah selten und in Momenten der Ermüdung, während es ihm noch seltener, in Augenblicken der Schwäche, so schien, als sei eigentlich er selbst es, der wie ein Insekt dieser granitenen Falle entfliehen wollte.
Es war Morgen. Aus der Straße der Islamischen Waffen, von der Kreuzung, auf der sich die Tokmakhan-Säule erhob, vom benachbarten Platz des Halbmonds und auf den drei anderen Straßen kamen die Passanten und die Touristenscharen auf den Platz geströmt. Reglosen Auges beobachtete Abdullah das hektische Treiben. Ein kühner Tourist hatte sich dem Kasten auf wenige Schritte genähert. Die gerunzelte Stirn und der angestrengte Blick ließen erkennen, daß er den knappen Hinweis unter dem Kasten zu entziffern versuchte. Abdullah kannte den Text auswendig: »Dies ist des Wesirs Bugrachan Pascha Kopf, den der Sultan, unser Herr, bestrafte, da er, vom Hochverräter Ali Tepelena, ehedem Albaniens Gouverneur, im Krieg bezwungen, sich mit Schande bedeckte.«
Die Uhr auf dem benachbarten Platz des Halbmonds schlug zehnmal. Abdullah tat einige Schritte auf die Mauer zu, hin zu den Holzstufen unter dem Kasten, und begleitet von einem gleichermaßen bestürzten wie verwunderten Getuschel stieg er langsam die Stufen hinauf. Er wußte, daß die Menge hinter seinem Rücken in erwartungsvoller Starre verharrte. Gewisper war zu hören: Was ist das? Was wird er tun? Dies war einer der erfreulichsten Momente des Tages. Endlich rückte er in den Mittelpunkt des Interesses. Natürlich war er nicht berechtigt, irgend etwas an dem Kopf zu verändern. Er durfte ihn noch nicht einmal berühren. Es war seine einzige Pflicht, ihn auf den allgemeinen Zustand hin zu begutachten, um dann, sofern ihm etwas auffiel, sogleich den Arzt zu verständigen.
Wie stets vermied es Abdullah, dem Haupt in die Augen zu blicken. Statt dessen musterte er ein paar Sekunden lang prüfend die kleine Kupferpfanne, auf der, von einer dünnen Honigschicht gehalten, der Hals ruhte. Der Honig war fest geworden. Nun im Dezember sanken die Temperaturen ständig. Immer noch mit dem Rücken zu der Menge stieg Abdullah vorsichtig die Stufen herab. Nach und nach verstummte das Gewisper: Was ist das? Was tut er da? Jetzt stand er wieder an seinem üblichen Platz. Einige Augenblicke lang betrachteten ihn die Passanten und Touristen ehrfurchtsvoll, doch dann war es damit auch schon vorbei, denn eine neue Welle von Menschen schwappte heran, die von der Inspektion nichts mitbekommen hatten, und allmählich rutschte Abdullah aus der Aufmerksamkeit wieder hinaus. Um vier Uhr nachmittags wiederholte sich das Schauspiel. Nach den Vorschriften war die Inspektion des Kopfes zweimal pro Tag im Winter und viermal im Sommer vorzunehmen. Dabei war im Sommer natürlich alles schwieriger. Ständig mußte er darauf achten, daß genug Eisstücke und Salz in der Kupferpfanne waren, und außerdem wurde der kurze Bericht, den er dem Arzt im Winter nur zweimal in der Woche zu senden hatte, während des Sommers am Ende eines jeden Tages fällig.
Am Ende des vergangenen Sommers (dem ersten und auch schwierigsten seines Dienstes) hatte eine Generalinspektion des Platzes stattgefunden. Für ihn waren diese Tage ein wahrer Alptraum gewesen. Ein paarmal schien es soweit zu sein, daß er für immer die Arbeit verlor, und nicht nur die Arbeit. Die Regierungskommission, der die Inspektion oblag, war außerordentlich streng. Der Aufseher der Tokmakhan-Säule war lebenslänglich in den Kerker gewandert, weil links an der Westfront, eine Handbreit über der Erde, ein Rostfleck festgestellt worden war. Lange war die Kommission vor dem Schandkasten geblieben. Damals hatte sich der Kopf des rebellischen Wesirs von Trapezunt darin befunden. Weil man einen Vorwand suchte, um dem Arzt und dem Aufseher Verstöße gegen die »Vorschrift zu Bewahrung der Köpfe« unterstellen zu können, hatten die Kommissionsmitglieder angefangen, wegen der angeblich übermäßig gelben Färbung des Wesirsgesichts und der Blässe der Augen hinterhältige Fragen zu stellen. Abdullah verschlug es vollständig die Sprache, doch der Arzt begann sich mutig zu verteidigen. Er wies die Kommission darauf hin, daß der Wesir auch zu Lebzeiten immer ziemlich gelb gewesen war, wie alle, denen Rebellion und Verrat im Blut liegen, und was die Farbe der Augen betraf (die in Wahrheit unübersehbar zu faulen begonnen hatten), so erinnerte der Arzt die Kommission noch einmal an den alten Satz, daß die Augen Spiegel der Seele sind, und, so fügte er hinzu, dementsprechend ist es ziemlich sinnlos, Farbe in den Augen eines Menschen zu suchen, der niemals eine Seele gehabt hat. Sicherlich klangen die Ausführungen des Arztes für die Ohren der Kommission wenig überzeugend, wenn nicht sogar hohl, doch gerade solchen Aussagen war nicht viel entgegenzusetzen. So sah man sich zu einem allmählichen Rückzug gezwungen, und die ganze Geschichte zog lediglich eine Verwarnung mit Entlassungsandrohung für Abdullah nach sich.
Im Kopf des Wesirs von Trapezunt hatte Abdullah ein böses Omen für seine Karriere erblickt, und er war erst beruhigt, als dieser endlich aus dem Kasten entfernt wurde, um dem Haupt des siebenunddreißigjährigen Gouverneurs Nuri Pascha, zu Lebzeiten wegen der hellen Färbung seiner Haare und Haut auch »der blonde Pascha« genannt, Platz zu machen. An diesem Abend nahm Abdullah nach dem Dienst zum ersten Mal im Café gegenüber Platz, um ein Täßchen Mokka zu trinken. Der Wirt, der den Aufseher kannte, empfing ihn mit Ehrerbietung. Er war ein wenig gelb im Gesicht, hatte schmale Augen, und seine Schläfen pulsierten, sooft er mit dem Kännchen in der Hand herankam. Mit dem Kaffee brachte er ein Geplauder mit, das so natürlich floß wie der Kaffeestrahl aus der Schnauze der Kanne. Die Leute sind böse und unbelehrbar, erklärte er, während er Abdullah die Tasse vollgoß. Der stellte später fest, daß der Wirt fast alle seine Gespräche mit den Gästen so begann. Von diesen gaben manche durch eine Geste zu verstehen, daß sie nichts hören wollten, andere ohne Geste, nur durch ihren frostigen Gesichtsausdruck, der die Unterhaltung sofort zum Erliegen brachte. Andere wieder ermunterten den Wirt durch eine Bemerkung zum Weiterreden. Die kupferne Schnauze konnte versiegen, er jedoch nie. Die Leute sind so verdorben, fuhr er fort. Wenn sie den abgeschnittenen Kopf sehen, dann müßten sie doch eigentlich allen Frevel aus ihren Gedanken verbannen, doch kaum drehen sie sich um, haben sie auch schon nichts mehr als ihre Schandtaten im Kopf.
Bereits damals war Abdullah eine gewisse Ähnlichkeit des Wirtsgesichts mit dem Kupferkännchen aufgefallen. Irgend etwas in seinen Zügen fand sich an dem Kännchen wieder, die Hautfarbe vielleicht oder der Schwung der Nase. Oder, anders herum, sein Gesicht hatte im Lauf der Jahre etwas von dem kupfernen Kännchen angenommen. Andernfalls, fuhr der Wirt, der sich durch einen Blick Abdullahs ermuntert fühlte, fort, hätten all diese Köpfe im Schandkasten doch eine Lehre bei den Menschen bewirken müssen. Der Kaffeestrom aus der Kännchentülle riß ab, der Wirt aber sprach weiter. Er ließ sich sogar für eine Weile am Tisch nieder, um Abdullah davon zu unterrichten, daß er auch mit seinen beiden Vorgängern im Amt des Schandkastenaufsehers gut befreundet gewesen sei. Abdullah wußte, daß es den Kasten noch nicht allzu viele Jahre gab. Der Kaffeehausbesitzer wiederum erinnerte sich genau an Tag und Stunde der Einweihung. Er hatte sogar den Tag im Gedächtnis behalten, an dem die Inspektoren des kaiserlichen Palastes zum ersten Mal auf dem Platz erschienen, ihn abschritten, Markierungen setzten, worauf sich dann zwei Handwerker einstellten, die schließlich mit Hammer und Meißel die ersten Schläge gegen die Mauer des Kanonentors taten. Nicht einmal die Handwerker wußten damals, zu welchem Zweck das Loch in die jahrhundertealte Mauer geschlagen wurde. Auch als es dann fertig war, blieb das Geheimnis noch ungelüftet, bis sich an jenem denkwürdigen Wintertag (Dezember war's, so wie jetzt auch, setzte der Wirt hinzu) des Morgens plötzlich ein Menschenkopf in dem steinernen Kasten fand. Es war Dezember, wiederholte der Wirt, und es schneite. Das Haupt war grau. Schneeflocken trieben über den Platz, und es schien, als ob Kopf und Himmel eine Liaison miteinander eingegangen wären.
Damals, so erinnerte sich Abdullah, hatte er zum ersten Mal das Wort »Separatismus« gehört. Nun war es richtig in Mode gekommen. Er konnte es sogar aus dem Stakkato ausländischer Touristen heraushören. Der Kasten war eingerichtet worden, als die separatistischen Bestrebungen erneut auflebten. Schon in den alten Chroniken im Staatsarchiv waren reichlich lokale Rebellionen vermeldet, doch in den letzten Jahren hatten diese noch erheblich zugenommen. Das Reich war der mächtigste Staat der Zeit, ein wahrer Überstaat, wie seine Feinde meinten, der sich über drei Kontinente hinweg erstreckte, neunundzwanzig Völker, dreiunddreißig Nationen und vierzig Sprachen umfaßte.
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
Wenn es den Touristenscharen dann schließlich gelungen war, ihre Blicke loszureißen, erkundigten sie sich eilig nach dem Weg zur Hagia Sophia, zu den Türben der erhabenen Sultane, zur Bank, zu den alten Bädern, zum Palast der Träume. Und obwohl sie fragten und fragten, gingen die meisten doch nicht weg, sondern irrten über den Platz, als seien sie in eine Falle geraten. Vielleicht lag dies daran, daß der Platz zwar nicht sehr groß, aber immerhin einer der charakteristischen Plätze im Zentrum des vielhundertjährigen Reiches war. Mit grünlich schimmerndem Granit gepflastert, sah er wie in Bronze gegossen aus. Der Eindruck von Solidität, den das Pflaster vermittelte, wurde noch durch die metallenen Löwenköpfe hinter den Eisengittern am Gebäude des Zentralen Staatsarchivs betont, dessen einer Flügel den Platz begrenzte, durch die Bleikuppel der Sultansmoschee, eine mit Hieroglyphen bedeckte Säule, die vor Jahrhunderten als Trophäe aus dem eroberten Ägypten mitgebracht worden war, verschiedene in Metall gegossene Insignien und Symbole des Imperiums und schließlich eben durch das Kanonentor, in dessen Mauern der Schandkasten eingelassen war. Die Einheimischen nannten die Nische Ibret Tasch, also »Stein der Warnung« oder, in freierer Übersetzung, »Lehre aus dem Unheil«.
Unschwer zu erraten, weshalb man den Kasten für die abgeschnittenen Köpfe rebellischer Wesire oder in Ungnade gefallener Größen des Reiches gerade an diesem Platz eingerichtet hatte. Nirgendwo sonst hätte der Kontrast zwischen der gewichtigen Statik des altehrwürdigen Platzes und dem abgehackten Menschenkopf, der sich dagegen zu empören gewagt hatte, einem Passanten augenfälliger werden können. Man sah sofort, daß der Platz für den Kasten in der Mauer so gewählt worden war, daß sich der Eindruck vermittelte, die erloschenen Augen des Kopfes überschauten den ganzen Platz samt allem, was sich darauf befand. Alles hatte den Zweck, auch noch den phantasielosesten Passanten dazu zu verleiten, sich den eigenen Kopf in dieser unnatürlichen Höhe vorzustellen, knapp übermannshoch, doch etwas niedriger als das Haupt eines Berittenen.
Der Platz war wirklich von ungeheurer Solidität. Allenthalben offenbarte sich die Liaison von Metall und Stein. Sogar auf der Terrasse des Kaffeehauses gegenüber, wo den ganzen Tag lang Mokka getrunken wurde, hatte es das Metall in Form schwerer Kupferkannen und -kessel offenbar schnell verstanden, alles, was an den Gebärden des Kaffeetrinkens träge und anheimelnd war, mit seiner Gegenwart zu umgeben.
Dort nahmen gewöhnlich auch die betagten Exherolde des Staates ihren Kaffee ein, wenn sie wegen ihres Alters oder Stimmverlust, ihre Berufskrankheit, in Pension geschickt worden waren. Sie waren Veteranen der letzten Meldung, und der Wirt hatte Abdullah, dem Aufseher des Schandkastens, erzählt, daß es in ihren Gesprächen um nichts anderes ging als um Nachrichten und Erlasse, die sie einst allerorts im Reich verkündet hatten.
Ehe sich morgens der Platz belebte, blickte Abdullah, Aufseher des Schandkastens, oft lange zur Kaffeehausterrasse hinüber. Nach Dienstschluß wäre er gerne an einem der kleinen Tische gesessen, doch er tat es nur selten, weil ihm der Arzt den Kaffee als seiner Gesundheit abträglich verboten hatte. Abdullah war einunddreißig, doch seine langen Glieder waren schwächlich; überdies machte ihm ab und zu ein Brausen in den Ohren zu schaffen, das seinen ganzen Körper lähmte. Und auf diesem Platz war der Kaffee so stark wie alles andere. Trotzdem wagte es Abdullah ab und zu, sich ein Täßchen zu bestellen. Dabei setzte er sich gerne zu den alten Herolden an den Tisch. Ihre Kehlen, von denen einst Scheiben erbebt waren, gaben nun nur noch ein elendes Krächzen von sich. Doch war das nicht schwer zu verstehen, wie der Wirt meinte, denn nach ihrer Meinung waren die Erlasse damals, verglichen mit heute, sehr viel bedeutender, so wie sie selbst auch, verglichen mit den heutigen Herolden. Vom Herrn des Kaffeehauses hatte Abdullah auch erfahren, daß ausnahmslos alle der Ausrufer, die ihre Stimme verloren hatten, sich präzise des Tages erinnerten, an dem dies eingetreten war, und nicht nur des Tages, sondern auch des Fermans, den sie gerade verkündet hatten, ja sogar des Satzes, bei dem ihnen die Stimme weggeblieben war. So sind sie nun einmal, die Leute, fuhr er heftig fort, sie vergessen nichts.
Wenn er während der Dienststunden keine Lust mehr hatte, zum Kaffeehaus hinüberzuschauen, wanderte sein Blick zu den Speeren der beiden Posten hinüber, die den Kasten Tag und Nacht bewachten. Doch das war ein mehr als langweiliger Anblick, und nur, wenn der Platz ganz verlassen dalag, kam er überhaupt auf diese Idee. Füllte sich der Platz dann mit Menschen, beobachtete er am liebsten das Pupillenspiel der Passanten oder Touristen, wenn sie zum ersten Mal dem Kopf direkt gegenüberstanden. Er wußte, daß keiner den Anblick eines abgeschnittenen Hauptes gewohnt war, und dennoch hatte er immer wieder das Gefühl, der Schrecken und die Erschütterung, die in den Gesichtern der Betrachter festzustellen waren, überschritten das Maß alles Vorhersehbaren. Er vermutete, daß der tiefste Eindruck von den Augen des Kopfes ausging, aber nicht vor allem deswegen, weil es tote Augen waren, sondern weil die Leute menschliche Augen üblicherweise in einem bestimmten Verhältnis zum ganzen Körper einschließlich der Hände und Füße wahrnahmen, weshalb dann deren Fehlen, so glaubte Abdullah, die Augen größer und wichtiger erscheinen ließ, als sie es tatsächlich waren.
Überhaupt kam es Abdullah so vor, als ob die Menschen weniger wichtig wären, als sie sich selber nahmen. Manchmal, wenn die Dämmerung niedersank und der Mond zu früh auf den Platz herableuchtete, erschienen ihm die Menschen, ihn selber eingeschlossen, wie eine bloße Unreinlichkeit auf dem erhabenen Platz, die seine Würde und Harmonie beeinträchtigte. Er konnte es dann kaum erwarten, bis der Platz wieder gänzlich menschenleer war, damit er, obwohl seine Dienststunden schon vorüber waren, das eisige Glitzern des Mondes genießen konnte, das sich ringsumher ausbreitete. Ab und zu fiel das Mondlicht schräg auf den Kasten, und dann nahm der beleuchtete Kopf, je nach dem Stand des Mondes über dem Horizont, einen spöttischen oder gänzlich apathischen Ausdruck an. Doch Abdullah kam es so vor, als ob der von menschlichen Gliedern wie von etwas Überflüssigem befreite Kopf nun des Zusammenseins mit den jahrhundertealten Insignien und Symbolen auf dem Platz erheblich würdiger sei. In solchen Momenten spürte er, von selbstzerstörerischer Ekstase ergriffen, irgendwo tief in seinem Innern den Wunsch, sich des langen und lästigen Plunders, der seine Glieder waren, zu entledigen und ganz Kopf zu werden. Doch dieser Wunsch blieb so konturlos, daß er niemals an die Oberfläche seines Bewußtseins zu gelangen vermochte.
Tagsüber war Abdullahs Miene selbstverständlich stets starr, denn immerhin war er im Dienst und hatte sich bis zu einem gewissen Grad mit der Statik des Platzes in Harmonie zu befinden. Er war der Aufseher über eines der Wahrzeichen des Platzes, und sein Erscheinungsbild hatte der Aufgabe zu entsprechen. Doch obwohl Abdullah nur ein paar Schritte vom Kasten entfernt stand und unschwer als sein Aufseher zu erkennen war, beachtete ihn merkwürdigerweise kein Mensch. Alle starrten wie gebannt auf den Kasten. Schwache Eifersucht breitete sich, wie in einem großen Topf mit anderen Gefühlen durchmischt, allmählich in dem Aufseher aus.
Zum tausendsten Mal betrachtete er der Reihe nach all die Sehenswürdigkeiten auf dem Platz, gleichsam als wolle er sich davon überzeugen, daß er noch zu weit von der Vollendung entfernt war, um sich ihnen zur Seite stellen zu dürfen. Das einzig Dünne und weniger Großartige waren die Hieroglyphen auf der ägyptischen Säule; sie kamen ihm wie Insekten vor, die im Darüberkriechen erstarrt waren. Wenn er sich manchmal nicht so wohl fühlte, wollten ihm die Hieroglyphen unversehens zum Leben erwachen, begannen sich zu regen, versuchten wohl diese steinerne und metallene Gleichförmigkeit für immer hinter sich zu lassen, um wie Nomaden in ihrer Wüste zu verschwinden. Doch das geschah selten und in Momenten der Ermüdung, während es ihm noch seltener, in Augenblicken der Schwäche, so schien, als sei eigentlich er selbst es, der wie ein Insekt dieser granitenen Falle entfliehen wollte.
Es war Morgen. Aus der Straße der Islamischen Waffen, von der Kreuzung, auf der sich die Tokmakhan-Säule erhob, vom benachbarten Platz des Halbmonds und auf den drei anderen Straßen kamen die Passanten und die Touristenscharen auf den Platz geströmt. Reglosen Auges beobachtete Abdullah das hektische Treiben. Ein kühner Tourist hatte sich dem Kasten auf wenige Schritte genähert. Die gerunzelte Stirn und der angestrengte Blick ließen erkennen, daß er den knappen Hinweis unter dem Kasten zu entziffern versuchte. Abdullah kannte den Text auswendig: »Dies ist des Wesirs Bugrachan Pascha Kopf, den der Sultan, unser Herr, bestrafte, da er, vom Hochverräter Ali Tepelena, ehedem Albaniens Gouverneur, im Krieg bezwungen, sich mit Schande bedeckte.«
Die Uhr auf dem benachbarten Platz des Halbmonds schlug zehnmal. Abdullah tat einige Schritte auf die Mauer zu, hin zu den Holzstufen unter dem Kasten, und begleitet von einem gleichermaßen bestürzten wie verwunderten Getuschel stieg er langsam die Stufen hinauf. Er wußte, daß die Menge hinter seinem Rücken in erwartungsvoller Starre verharrte. Gewisper war zu hören: Was ist das? Was wird er tun? Dies war einer der erfreulichsten Momente des Tages. Endlich rückte er in den Mittelpunkt des Interesses. Natürlich war er nicht berechtigt, irgend etwas an dem Kopf zu verändern. Er durfte ihn noch nicht einmal berühren. Es war seine einzige Pflicht, ihn auf den allgemeinen Zustand hin zu begutachten, um dann, sofern ihm etwas auffiel, sogleich den Arzt zu verständigen.
Wie stets vermied es Abdullah, dem Haupt in die Augen zu blicken. Statt dessen musterte er ein paar Sekunden lang prüfend die kleine Kupferpfanne, auf der, von einer dünnen Honigschicht gehalten, der Hals ruhte. Der Honig war fest geworden. Nun im Dezember sanken die Temperaturen ständig. Immer noch mit dem Rücken zu der Menge stieg Abdullah vorsichtig die Stufen herab. Nach und nach verstummte das Gewisper: Was ist das? Was tut er da? Jetzt stand er wieder an seinem üblichen Platz. Einige Augenblicke lang betrachteten ihn die Passanten und Touristen ehrfurchtsvoll, doch dann war es damit auch schon vorbei, denn eine neue Welle von Menschen schwappte heran, die von der Inspektion nichts mitbekommen hatten, und allmählich rutschte Abdullah aus der Aufmerksamkeit wieder hinaus. Um vier Uhr nachmittags wiederholte sich das Schauspiel. Nach den Vorschriften war die Inspektion des Kopfes zweimal pro Tag im Winter und viermal im Sommer vorzunehmen. Dabei war im Sommer natürlich alles schwieriger. Ständig mußte er darauf achten, daß genug Eisstücke und Salz in der Kupferpfanne waren, und außerdem wurde der kurze Bericht, den er dem Arzt im Winter nur zweimal in der Woche zu senden hatte, während des Sommers am Ende eines jeden Tages fällig.
Am Ende des vergangenen Sommers (dem ersten und auch schwierigsten seines Dienstes) hatte eine Generalinspektion des Platzes stattgefunden. Für ihn waren diese Tage ein wahrer Alptraum gewesen. Ein paarmal schien es soweit zu sein, daß er für immer die Arbeit verlor, und nicht nur die Arbeit. Die Regierungskommission, der die Inspektion oblag, war außerordentlich streng. Der Aufseher der Tokmakhan-Säule war lebenslänglich in den Kerker gewandert, weil links an der Westfront, eine Handbreit über der Erde, ein Rostfleck festgestellt worden war. Lange war die Kommission vor dem Schandkasten geblieben. Damals hatte sich der Kopf des rebellischen Wesirs von Trapezunt darin befunden. Weil man einen Vorwand suchte, um dem Arzt und dem Aufseher Verstöße gegen die »Vorschrift zu Bewahrung der Köpfe« unterstellen zu können, hatten die Kommissionsmitglieder angefangen, wegen der angeblich übermäßig gelben Färbung des Wesirsgesichts und der Blässe der Augen hinterhältige Fragen zu stellen. Abdullah verschlug es vollständig die Sprache, doch der Arzt begann sich mutig zu verteidigen. Er wies die Kommission darauf hin, daß der Wesir auch zu Lebzeiten immer ziemlich gelb gewesen war, wie alle, denen Rebellion und Verrat im Blut liegen, und was die Farbe der Augen betraf (die in Wahrheit unübersehbar zu faulen begonnen hatten), so erinnerte der Arzt die Kommission noch einmal an den alten Satz, daß die Augen Spiegel der Seele sind, und, so fügte er hinzu, dementsprechend ist es ziemlich sinnlos, Farbe in den Augen eines Menschen zu suchen, der niemals eine Seele gehabt hat. Sicherlich klangen die Ausführungen des Arztes für die Ohren der Kommission wenig überzeugend, wenn nicht sogar hohl, doch gerade solchen Aussagen war nicht viel entgegenzusetzen. So sah man sich zu einem allmählichen Rückzug gezwungen, und die ganze Geschichte zog lediglich eine Verwarnung mit Entlassungsandrohung für Abdullah nach sich.
Im Kopf des Wesirs von Trapezunt hatte Abdullah ein böses Omen für seine Karriere erblickt, und er war erst beruhigt, als dieser endlich aus dem Kasten entfernt wurde, um dem Haupt des siebenunddreißigjährigen Gouverneurs Nuri Pascha, zu Lebzeiten wegen der hellen Färbung seiner Haare und Haut auch »der blonde Pascha« genannt, Platz zu machen. An diesem Abend nahm Abdullah nach dem Dienst zum ersten Mal im Café gegenüber Platz, um ein Täßchen Mokka zu trinken. Der Wirt, der den Aufseher kannte, empfing ihn mit Ehrerbietung. Er war ein wenig gelb im Gesicht, hatte schmale Augen, und seine Schläfen pulsierten, sooft er mit dem Kännchen in der Hand herankam. Mit dem Kaffee brachte er ein Geplauder mit, das so natürlich floß wie der Kaffeestrahl aus der Schnauze der Kanne. Die Leute sind böse und unbelehrbar, erklärte er, während er Abdullah die Tasse vollgoß. Der stellte später fest, daß der Wirt fast alle seine Gespräche mit den Gästen so begann. Von diesen gaben manche durch eine Geste zu verstehen, daß sie nichts hören wollten, andere ohne Geste, nur durch ihren frostigen Gesichtsausdruck, der die Unterhaltung sofort zum Erliegen brachte. Andere wieder ermunterten den Wirt durch eine Bemerkung zum Weiterreden. Die kupferne Schnauze konnte versiegen, er jedoch nie. Die Leute sind so verdorben, fuhr er fort. Wenn sie den abgeschnittenen Kopf sehen, dann müßten sie doch eigentlich allen Frevel aus ihren Gedanken verbannen, doch kaum drehen sie sich um, haben sie auch schon nichts mehr als ihre Schandtaten im Kopf.
Bereits damals war Abdullah eine gewisse Ähnlichkeit des Wirtsgesichts mit dem Kupferkännchen aufgefallen. Irgend etwas in seinen Zügen fand sich an dem Kännchen wieder, die Hautfarbe vielleicht oder der Schwung der Nase. Oder, anders herum, sein Gesicht hatte im Lauf der Jahre etwas von dem kupfernen Kännchen angenommen. Andernfalls, fuhr der Wirt, der sich durch einen Blick Abdullahs ermuntert fühlte, fort, hätten all diese Köpfe im Schandkasten doch eine Lehre bei den Menschen bewirken müssen. Der Kaffeestrom aus der Kännchentülle riß ab, der Wirt aber sprach weiter. Er ließ sich sogar für eine Weile am Tisch nieder, um Abdullah davon zu unterrichten, daß er auch mit seinen beiden Vorgängern im Amt des Schandkastenaufsehers gut befreundet gewesen sei. Abdullah wußte, daß es den Kasten noch nicht allzu viele Jahre gab. Der Kaffeehausbesitzer wiederum erinnerte sich genau an Tag und Stunde der Einweihung. Er hatte sogar den Tag im Gedächtnis behalten, an dem die Inspektoren des kaiserlichen Palastes zum ersten Mal auf dem Platz erschienen, ihn abschritten, Markierungen setzten, worauf sich dann zwei Handwerker einstellten, die schließlich mit Hammer und Meißel die ersten Schläge gegen die Mauer des Kanonentors taten. Nicht einmal die Handwerker wußten damals, zu welchem Zweck das Loch in die jahrhundertealte Mauer geschlagen wurde. Auch als es dann fertig war, blieb das Geheimnis noch ungelüftet, bis sich an jenem denkwürdigen Wintertag (Dezember war's, so wie jetzt auch, setzte der Wirt hinzu) des Morgens plötzlich ein Menschenkopf in dem steinernen Kasten fand. Es war Dezember, wiederholte der Wirt, und es schneite. Das Haupt war grau. Schneeflocken trieben über den Platz, und es schien, als ob Kopf und Himmel eine Liaison miteinander eingegangen wären.
Damals, so erinnerte sich Abdullah, hatte er zum ersten Mal das Wort »Separatismus« gehört. Nun war es richtig in Mode gekommen. Er konnte es sogar aus dem Stakkato ausländischer Touristen heraushören. Der Kasten war eingerichtet worden, als die separatistischen Bestrebungen erneut auflebten. Schon in den alten Chroniken im Staatsarchiv waren reichlich lokale Rebellionen vermeldet, doch in den letzten Jahren hatten diese noch erheblich zugenommen. Das Reich war der mächtigste Staat der Zeit, ein wahrer Überstaat, wie seine Feinde meinten, der sich über drei Kontinente hinweg erstreckte, neunundzwanzig Völker, dreiunddreißig Nationen und vierzig Sprachen umfaßte.
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Autoren-Porträt von Ismail Kadare
Ismail Kadare, Albaniens berühmtester Autor, wurde 1936 im südalbanischen Gjirokastra geboren. Er studierte Literaturwissenschaften in Tirana und Moskau. Seine Werke wurden in vierzig Sprachen übersetzt, er gilt seit Jahren als Anwärter auf den Literaturnobelpreis. 2005 erhielt Kadare den Man Booker International Prize. 2015 wurde er mit dem Jerusalem Prize ausgezeichnet. Er ist Mitglied der französischen Ehrenlegion und lebt heute in Tirana und Paris. Joachim Röhm lebt als freier Übersetzer in Stuttgart, München und Tirana. Nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Albanien Ende der 70er Jahre, kehrte er 1980 nach Deutschland zurück. 2010 wurde er mit dem Jusuf Vrioni Übersetzerpreis der Republik Albanien ausgezeichnet.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ismail Kadare
- 2014, 1. Auflage, 240 Seiten, Maße: 12,3 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Joachim Röhm
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596191831
- ISBN-13: 9783596191833
- Erscheinungsdatum: 21.01.2014
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