Der Tote im Fleet
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Der Tote im Fleet von Boris Meyn
LESEPROBE
Der Tote im Fleet
Hendrik Bischop ging zügigen Schrittes über die alteGraskellerbrücke, bog links zum Rödingsmarkt ein undüberquerte das enge Fleet der Görttwiete imnächtlichen Schatten der Kirchenbaustelle von St. Nicolai. Jenseits derFleetbebauung zog es ihn hinab zu den steilen Ufertrep-pen,deren moderige Holzdalben an manchen Stellen nurknapp über dem Wasserspiegel lagen. Überspülungen zwangen ihn immer wiederhinauf zu den Deichwegen. Nur wenige 1 landbreit neben ihm neigten sich diehohen Giebel der alten Fachwerkhäuser wie gespenstische Riesen zurgegenüberliegenden Fleetseite. Ihre Fassaden wirkten noch unheimlicher, seitdie Fensterhöhlen nur noch als schwarze Löcher im rissigen Mauerwerk klafften.Auch das Mondlicht, das ins Brackwasser der Fleete tanzte, konnte sich darinnicht mehr spiegeln. Stattdessen gewährten sie nun Einblicke in die toteKulisse der Fachwerkgerüste, die sich vor dem nächtlichen Himmel abzeichnete.Der Anblick dieser Gemäuer, die den Straßenzügen einst den Charakter bürgerlicherSelbstgewissheit verliehen hatten, erschien dem Commissariuswie ein Sinnbild der Vergänglichkeit. Noch nie war er sieh dessen so bewusstgewesen wie an diesem Abend. Fröstelnd zog er seinen Mantel enger um dieSchultern. Ein eisiger Wind kündigte den nahen Winter an.
Ein Bote hatte ihn zufast nächtlicher Stunde über den Fund informiert, und augenblicklich war eraufgebrochen. Nun zog es ihn auf kürzestem Wege zum Fundort, vorbei an denRudimenten des städtischen Bürgerstolzes, den verkohlten Resten der Speicherund Kaufmannshäuser zwischen Spital und Holzhafen. Der erdige Brandgeruch warimmer noch gegenwärtig. Hendrik Bischop hatte sich schonso daran gewöhnt, dass seine Nase die morastartigen Ausdünstungen desbrachliegenden und mit Kot und Abfällen vermengten Fleetschlicks und jenensüßlichen Geruch verbrannter Kultur nicht mehr auseinander halten konnte.Tagsüber fiel es dagegen leicht, die verbliebenen Reste städtischer Traditionvon den Wahrzeichen des Wiederaufbaus zu unterscheiden; der Glanz des Neuenverbot, über die Lethargie der letzten Jahre zu berichten. Es sollte nichtsbleiben, wie es gewesen war. Man hatte einen Engländer geholt, der die Stadtquasi aus ihrem Inneren heraus umkrempeln sollte. Als der Commissariusdie Trostbrücke erreichte, hatte der nächste Tag bereits begonnen.
Man hatte dem Toten einen Strick umdas Fußgelenk gebunden und versucht, ihn über die Brüstung hinaufzuziehen.Nun hing er kopfüber zwischen Brückenbogen und Fleet. Der herabgerutschteGehrock verdeckte Kopf Lind Schultern, und die Aufschläge berührten dieWasseroberfläche, sodass die menschliche Silhouette zur Hälfte verborgenblieb. Gut ein Dutzend Schaulustiger hatte sich im Licht der Laternenversammelt und beobachtete die Szene in stummem Entsetzen. Erst dieschaukelnden Boote der Fleetenkieker, die sichzwischen den ausgestellten Staken aneinander rieben, brachte wieder Leben indie Menge. Ruhig und konzentriert arbeiteten die Männer, bis der lebloseKörper auf das Straßenpflaster der Brücke fiel. Im flackernden Licht derFackeln und Laternen schien er sich noch zu bewegen.
«Ertrunken?», fragte der Commissarius und beendete das neugierige Schweigen derUmherstehenden.
Man befreite den leblosen Körper vonseinem nun vollends verknoteten Gehrock und reinigte sein Gesicht vom klebrigenDreck der städtischen Abfallstraße, um zumindest einen flüchtigen Blick aufden Unglücklichen werfen zu können.
«Wohl mehr ein bisschen ertränkt»,präzisierte Conrad Roever, zerrte zwei großeMauersteine aus den Taschen des loten und sah Hendrik bedeutungsvoll an. Amtsmedicus Roever war alsErster am Tatort zugegen gewesen. «Oder erschlagen », korrigierte er.
Dunkles Blut quoll zwischen denverklebten haaren des Toten hervor, als er von kräftig zupackenden Händen aufden Leiterwagen gezogen wurde.
«Fahrt den Karren in dieLeichenhalle; bei Tage werden wir sehen.» Medicus Roever vermied es, seinem Freund Hendrik Bischop im Rahmen dieser Amtshandlung die Hand zu reichen.«Der Dritte diese Woche. Aber er sieht anders aus, kein Vagabund. Die Kleidungist vornehm.»
«Hat er irgendwelche Papiere beisich?», fragte Bischop.
«Nein, Geldstücke, nicht sehr viele,und ein Messer. Aber schaut die Hände», erwiderte der Mediziner und deutete aufdie prankengroßen und mit kräftiger Hornhaut überzogenen Handflächen, die inaugenfälligem Kontrast zu dem feinen Tuch der nun schlammgetränkten Kleidungstanden.
Bischop beugte sich auffordernd über die Brüstungund rief nach unten: «Wer hat ihn gefunden?»
« Ich habe ihn mit einer Stakegetroffen! Er steckte im Schlick », rief ein junger Fleetenkiekerzurück und zuckte mit den Schultern, als wenn ihn der Vorfall gänzlich unberührtließe.
«Irgendwelche Schweinereien findensie immer», murmelte der Nachtwächter, der gespannt zugeschaut hatte. «Manchmal fällt es schwer, Tier und Mensch auseinander zu halten.»
«Können wir weiter?», rief einer derFleetenkieker. «Die Kähne sitzen sonst fest! DasNiedrigwasser setzt schon ein.»
Der Commissariusnickte. «Aber findet euch mittags auf der Station ein! », rief er. « Wegen demProtokoll! » Dann sah er auf die entfernt aufragende Turmuhr von St.Catharinen, notierte die Uhrzeit und steckte den Zettel in sein Notizbuch. «Und stellen Sie bitte fest, ob die Wunde an seinem Kopf von der Stake stammt »,hat er Roever, wobei seine Amtsmiene augenblicklicheinem freundschaftlichen Ausdruck wich.
Conrad Roevernickte knapp. Ihrer beider Arbeitstag hatte frühbegonnen.
Die eisenbeschlagenen Holzräder desschmalen Karrens, auf dem die Leiche lag, setzten sich in Bewegung, und mitdem schmirgelnden Geräusch aufgeriebener Pflastersteine löste sich auch dieMenschenmenge im Schein ihrer Laternen auf.
Hendrik Bischophätte sich auf den Heimweg machen sollen, doch die Stimmung der nuneinsetzenden Morgendämmerung hatte ihn schon immer magisch angezogen. Erhasste die Nacht, denn er kannte alle ihre Nuancen nur zu gut. Wenn er gerufenwurde, war es stets Nacht. Nachdenklich stützte er sich auf dasBrückengeländer. Gerade an diesem Ort war der Wechsel von Alt und Neu wie an keineranderen Stelle erfahrbar. Er blickte auf das fast fertig gestellte Haus der«Gesellschaft», dessen Mauern dicht neben ihm in den morgendlichen Himmelragten. Es fehlte der Glanz des Neuen, und doch mochte er die düstere Form,die ihn an das in weiten Bereichen noch nachvollziehbare mittelalterlicheStadtgefüge erinnerte. Seine Hand zeichnete die burgartigen Formen der hohenMauerflächen nach. Gleichsam trat er in einen stillen Dialog mit einemsteinernen Zeugen.
Die ganze Stadt erneuerte sich.Überall lagen zwischen den spärlichen Resten der alten Gebäude jetzt großebrachliegende Flächen - Bauland, in das neue, gerade Straßenzüge eingezeichnetwaren. Allenortes entstanden strahlende Neubauten,die das düstere, natürlich gewachsene Viertel der Gänge und Gassen nach undnach verdrängten. Ebenso Reinheit, Sauberkeit und Glanz. Trotzdem wünschtesich Hendrik Bischop seine alte Stadt zurück, seineihm bekannten Wege und Abkürzungen, die Pinten und Spelunken, vor deren Türenund Fenstern er stets versucht hatte, (las aufgebrachte Kauderwelsch fremderHandelsfahrer den Nationalitäten der im Hafenbecken verweilenden Schiffezuzuordnen. Alles sollte sich ändern. Er blickte noch einmal zum Gebäude der«Gesellschaft» auf; es hatte etwas, nach dem er sich sehnte.
Als die ersten schwachenSonnenstrahlen den verbliebenen Rest des verkohlten Turmschaftesvon St. Petri erreichten, schwenkte der Commissariusum das kleine Alsterbecken in Richtung Arkaden. Sein Blick fiel auf den gewaltigenNeubau der Stadtpost. Noch standen sie still, die Zeiger des Telegrafen hochoben an der vermeintlichen Turmuhr, aber bald würden sie dem gemächlichen Treibenauf den Straßen ein Ende bereiten; die neue Zeit erfasste auch den Rhythmus destäglichen Lebens. Hendrik Bischop flüchtete in denTag und ging raschen Schrittes nach Hause.
© Rowohlt Verlag
- Autor: Boris Meyn
- 2000, 18. Auflage, 292 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 11,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 349922707X
- ISBN-13: 9783499227073
- Erscheinungsdatum: 01.08.2000
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