Der wandernde Turm
Die Erzählungen
Eine literarische Sensation: Der Komponist Sergej Prokofjev als begnadeter Erzähler!
In der Wohnung Sergej Eisensteins fand der Gitarrist Lucian Plessner in einer vergilbten Zeitschrift Erzählungen des großen Komponisten Sergej Prokofjev...
In der Wohnung Sergej Eisensteins fand der Gitarrist Lucian Plessner in einer vergilbten Zeitschrift Erzählungen des großen Komponisten Sergej Prokofjev...
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Produktinformationen zu „Der wandernde Turm “
Eine literarische Sensation: Der Komponist Sergej Prokofjev als begnadeter Erzähler!
In der Wohnung Sergej Eisensteins fand der Gitarrist Lucian Plessner in einer vergilbten Zeitschrift Erzählungen des großen Komponisten Sergej Prokofjev und landete damit eine literarische Sensation: Lange war nicht bekannt, dass der Komponist auch schriftstellerisch tätig war. Auf seinen unzähligen Reisen schrieb er humorvoll-skurrile Geschichten, die die gesellschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit aufs Korn nehmen: Da begibt sich der Eiffelturm aus Sehnsucht nach dem Turm der Türme auf Wanderschaft nach Babylon, ein eitler Offizier und ein verliebter Maler wetteifern um eine Frau und legen sich dafür mit Schopenhauer an, oder ein Ingenieur verliert seine Frau und den Verstand. In seinem erzählerischen Werk, das hier vollständig vorliegt, spiegeln sich Prokofjevs Vorliebe für märchenhafte Stoffe, Zeiteinflüsse wie Dada und Surrealismus, aber auch die russische Erzähltradition eines Dostojewski, Gogol oder Tschechow.
In der Wohnung Sergej Eisensteins fand der Gitarrist Lucian Plessner in einer vergilbten Zeitschrift Erzählungen des großen Komponisten Sergej Prokofjev und landete damit eine literarische Sensation: Lange war nicht bekannt, dass der Komponist auch schriftstellerisch tätig war. Auf seinen unzähligen Reisen schrieb er humorvoll-skurrile Geschichten, die die gesellschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit aufs Korn nehmen: Da begibt sich der Eiffelturm aus Sehnsucht nach dem Turm der Türme auf Wanderschaft nach Babylon, ein eitler Offizier und ein verliebter Maler wetteifern um eine Frau und legen sich dafür mit Schopenhauer an, oder ein Ingenieur verliert seine Frau und den Verstand. In seinem erzählerischen Werk, das hier vollständig vorliegt, spiegeln sich Prokofjevs Vorliebe für märchenhafte Stoffe, Zeiteinflüsse wie Dada und Surrealismus, aber auch die russische Erzähltradition eines Dostojewski, Gogol oder Tschechow.
Klappentext zu „Der wandernde Turm “
Eine literarische Sensation: Der Komponist Sergej Prokofjev als begnadeter Erzähler!In der Wohnung Sergej Eisensteins fand der Gitarrist Lucian Plessner in einer vergilbten Zeitschrift Erzählungen des großen Komponisten Sergej Prokofjev und landete damit eine literarische Sensation: Lange war nicht bekannt, dass der Komponist auch schriftstellerisch tätig war. Auf seinen unzähligen Reisen schrieb er humorvoll-skurrile Geschichten, die die gesellschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit aufs Korn nehmen: Da begibt sich der Eiffelturm aus Sehnsucht nach dem Turm der Türme auf Wanderschaft nach Babylon, ein eitler Offizier und ein verliebter Maler wetteifern um eine Frau und legen sich dafür mit Schopenhauer an, oder ein Ingenieur verliert seine Frau und den Verstand. In seinem erzählerischen Werk, das hier vollständig vorliegt, spiegeln sich Prokofjevs Vorliebe für märchenhafte Stoffe, Zeiteinflüsse wie Dada und Surrealismus, aber auch die russische Erzähltradition eines Dostojewski, Gogol oder Tschechow.
Ausstattung: Mit 11 Illustrationen
Lese-Probe zu „Der wandernde Turm “
Der wandernde Turm von Sergej ProkofjevDer wandernde Turm
I
... mehr
Marcel Vautour war zweifellos ein bemerkenswerter Mann und sein Name ein Begriff in den gebildeten Kreisen von Paris. Zwar hielten Sesselgelehrte, ihr Wissen hinter dunklen Brillengläsern verbergend, und feinsinnige Denker, ihre Gedanken unter den Gewölben ihrer hohen weißen Stirnen bewahrend, ihn für einen komischen Kauz, gestanden ihm aber einen scharfen und wendigen, wenn auch bisweilen fehlgeleiteten Verstand zu. Herablassend lächelten sie und sagten, selbst wenn sein Verstand ihn unter die Erde in die Tiefe babylonischer Ausgrabungen zöge, so entführe ihn leider seine um vieles stärkere Phantasie immer wieder hoch hinaus, weswegen er und seine Forschung recht häufig über den Wolken schweben würden, von wo er im Übrigen ganz spannende Dinge zu vermelden habe.
Immerhin aber ging Marcel Vautour niemandem auf die Nerven, versuchte niemandem seine Ansichten aufzuzwingen, sondern verschwand lieber für ein oder zwei Jahre in sein geliebtes Assyrien, wo er dank weitreichender Beziehungen und des nötigen Kleingelds nach Herzenslust in Sand und Ruinen buddeln, tausendjährige Tafeln mit befremdlichen Keilschriften finden, sie entziffern und genialische Mutmaßungen darüber anstellen konnte, um dann, zurück in Paris, mit einem brillanten Artikel aufzutrumpfen, der die unglaublichsten Dinge enthielt. Der Artikel war immer eine Sensation, die Ausgabe des schicken Journals bald vergriffen, in den Salons ging es hoch her, und seine Freunde gaben ihm zu Ehren ein Bankett. Da er aber auf keine Kanzel stieg, es nicht auf Dispute mit den Herren der Lehre anlegte, niemandem seine Ansichten aufzudrängen versuchte, war es jedermann zufrieden - die Gelehrten konnten weiterhin lächeln und weiterhin sagen, selbstverständlich sei er sehr scharfsinnig, aber er schwebe eben über den Wolken.
II
Diesmal blieb er nicht ein oder zwei Jahre in Assyrien verschollen, sondern gleich fünf. Seine Verleger, die nach einem reißerischen Artikel gierten, telegrafierten mal nach Damaskus, mal nach Bagdad, aber er hatte sich zwischen Euphrat und Tigris mitsamt seiner kleinen Karawane im Sand Alt-Mesopotamiens eingegraben, war mit Haut und Haar dem verblassten Zauber der Akkader und Sumerer verfallen, den beinahe ausgelöschten Mythen dieser einst so hochstehenden Kultur. Die Geschicke Nebukadnezars schienen ihm bedeutender zu sein als die Geschicke von Paris und sandige Höhlen allemal gemütlicher als die erlesensten Salons. Und aus den Tiefen solcher Höhlen tauschte er sich durch komplizierte Hieroglyphen mit Kulturen aus, die in jenen weit zurückliegenden Zeiten geblüht hatten, da Marcels Vorfahren, nicht ganz dem Evolutionsstadium der Affen entronnen, noch auf Bäumen saßen, wo heute Paris ist.
Einer seiner Assistenten, der an Gelbfieber erkrankt und deshalb in sein Heimatland zurückgekehrt war, berichtete, dass im Vorjahr Marcel Vautour, von einer hartnäckigen Idee beseelt, sich darangemacht hatte, in jener Gegend, wo einst das antike Babylon gestanden hatte, die Überreste des Turms zu Babel auszugraben. Eine ganze Serie von Zeitungsartikeln stürzte sich auf diese Nachricht, in den Salons wurde geredet, aber studierte Assyriologen schüttelten ihre Köpfe und sagten lächelnd, dass dies natürlich unterhaltsam sei, dieser Turm zu Babel, aber unser lieber Marcel schwebe, zusammen mit seinem vielsprachigen Bauwerk, wie gewöhnlich über den Wolken.
Irgendwann waren die fünf Jahre um, und Marcel Vautour kehrte höchstpersönlich nach Paris zurück. Er reiste an im eigenen Eisenbahnwaggon, randvoll beladen mit großen und kleinen Kisten und irgendwelchen sorgsam und dick verpackten Gegenständen. Aus dem brillanten Gelehrten, der einst Paris verzaubert hatte, war ein sonnenverbrannter Kupferkopf geworden, der auch noch mit einem Bart bewachsen war. Aber der Bart konnte seine feinen Gesichtszüge nicht verbergen, und der bronzene Teint betonte nur noch ihre Schärfe.
Über all dies schrieben die Reporter sofort, aber dann geriet die Berichterstattung ins Stocken - in der Wildnis Asiens war unserem liebenswürdigen Assyriologen nämlich die großstädtische Liebenswürdigkeit abhandengekommen, und so empfing er niemanden und gab auch keine Interviews. Allein seinen Freunden teilte er mit, die Ergebnisse seiner Untersuchungen seien bedeutsam, bedeutsamer, als sich die moderne Menschheit das träumen lassen mochte. Jetzt jedoch sei er müde von der Reise, dazu Opfer von Fieberattacken, die auch ihn nicht verschonten, doch nichtsdestoweniger werde er sich gleich am folgenden Tage daransetzen, die gewaltige Materialfülle seiner bereits vor Ort vorsortierten Sammlung endgültig in eine Ordnung zu bringen. Am Ende werde er dann einen Vortrag über den Turm zu Babel halten und in diesem Vortrag Fakten nennen, die möglicherweise die gesamte Geschichtsschreibung auf den Kopf stellen, die Wissenschaft verblüffen und vielleicht selbst die Bibel ins Wanken bringen würden. Er sprach ernsthaft, in geschäftsmäßigem Ton, ohne im Geringsten zu prahlen, aber so müde sah er dabei aus, dass seine Freunde ihn nicht länger mit ihrer Anwesenheit belästigen wollten, sich empfahlen und auf ihre Salons verteilten. Dort ahmten sie den jungen Gelehrten nach, setzten ernste Mienen auf und riefen aus: »Oh, unser Marcel hat bemerkenswerte Dinge entdeckt!«
III
Die Gerüchte um das außergewöhnliche Material, welches in der Wüste Mesopotamiens ausgegraben worden war, Material, das der Geschichtsschreibung und sogar den Legenden der Bibel Brüche zuzufügen drohte, versprachen DAS Thema der interessierten Kreise von Paris zu werden, und dies noch vor einer tatsächlichen Veröffentlichung durch den heimgekehrten Gelehrten.
Jedoch ausgerechnet in dieser selben Nacht versetzte ein besonderer Vorfall Paris in Angst und Schrecken, und dieser Vorfall ging der Stadt viel näher als das entfernte Babylon.
Genau um drei Uhr in der Früh klingelten die Telefone Sturm, Ambulanzen wurden gerufen, und Ärzte rückten aus. Man sagte, Häuser seien eingestürzt - wieso und warum, war nicht klar - es habe Verletzte unter der Bevölkerung gegeben und es sei sogar die Order ergangen, den Präsidenten zu wecken. Jeder hatte etwas gehört, jeder hatte Angst, was aber passiert war, wusste im Detail niemand. In einer solchen Verfassung begrüßte Paris also den frühen Morgen.
Marcel Vautour, die Haare zerzaust und ohne Schlips, hastete aus seiner Wohnung und die Treppe hinunter. Im Eingang stieß er beinahe mit seiner Mutter zusammen.
Die ältere Dame, glücklich über die Rückkehr ihres verlorenen Sohnes und soeben extra aus Bordeaux angereist, blickte freudig einem angenehmen Wiedersehen mit ihm entgegen. Aber Marcel rief angesichts ihrer einladend ausgebreiteten Arme nur: »Gehen Sie weg! Gehen Sie weg! Können Sie nicht sehen, dass ich so leer bin wie ein Koffer, dem man die Geige entnommen hat?«
Mit den Händen herumfuchtelnd, rannte er hinaus auf die Straße. Die verwirrte Dame sank in ihrer Bestürzung auf einen Stuhl, die Arme nach ihrem anderen Sohn ausstreckend, einem Arzt, der hinter Marcel die Treppe herab gekommen war.
»Auguste, um Gottes willen ... Ist er verrückt geworden?«, fragte die Mutter.
»Ich renne ja selbst hinter ihm her und verstehe überhaupt nichts«, antwortete Auguste, trat auf sie zu und küsste ihr die Hände. »Er hat mir gesagt, er leide an Gelbfieberattacken, aber in meiner ganzen Praxis habe ich noch nie erlebt, dass die Anfälle in solcher Form auftreten.«
»Vielleicht ist etwas mit seiner Sammlung?«
»Seine Sammlung ist unversehrt bei uns zu Hause. Wir haben bis drei Uhr heute früh gebraucht, sie zu ordnen.«
Mutter und Sohn saßen einander gegenüber und fuchtelten ratlos mit den Händen.
IV
Marcel Vautour lief die Straße hinunter und fand sich vielleicht zehn Minuten später am Ufer der Seine wieder. Dort hatte sich eine enorme Menge erstaunter und aufgebrachter Menschen versammelt. Der Eiffelturm, der hier an dieser Stelle gestanden hatte, war verschwunden. Verstört schauten die Leute sich um, der Turm aber blieb verschwunden, hatte sich buchstäblich in Luft aufgelöst.
Zwei Gentlemen mit Zylinder, umringt von dichten Reihen Neugieriger, erzählten schon zum zehnten Mal, was sie gesehen hatten. Die Gentlemen waren von jener Sorte junger Männer, die am Morgen zu Bett gehen und abends aufstehen und übersät sind von golden glänzenden Pickeln, weshalb sie als jeunesse dorée bezeichnet werden.
Um drei Uhr früh waren sie von Mariette zu Alexandrine gefahren und Zeugen eines magischen Spektakels geworden. Der Eiffelturm habe plötzlich zu zittern begonnen, sei auf- und abgesprungen, habe sich schließlich von seinen Fundamenten losgerissen und sei dann mit langen Schritten, jawohl, langen Schritten, auf allen vieren von der Seine wegmarschiert. Was hinterher geschehen war, hatten die Gentlemen nicht mehr gesehen, denn sie waren vor lauter Angst aus ihrem Fiaker gesprungen und hatten sich, ohne zurückzuschauen, aus dem Staub gemacht.
Kaum hatte Marcel Vautour ihre Geschichte gehört, boxte er sich durch die dicht gedrängte Menge hindurch und nahm die Richtung, die der wandernde Turm eingeschlagen hatte. Bald stieß er auf eine andere Menschenmenge, die sich um ein Gebäude geschart hatte, dessen Front eingerissen war und den Blick freigab auf Wohn-, Arbeits- und Schlafzimmer. In einem der Zimmer war noch der Tisch vom Abendessen gedeckt. Apfelsinen lagen über das Tischtuch und den Fußboden verstreut. Es hieß, dass es Verletzte gegeben habe, die mit dem Krankenwagen weggebracht worden seien. Augenscheinlich war der Turm recht ungeschickt umhergeschritten und hatte mit seinem Bein ein Stück der Fassade aufgerissen.
Marcel verweilte vielleicht eine Minute vor dem Gebäude, gerade genug, um Luft zu holen. Dann eilte er schleunigst weiter.
V
Um elf Uhr kamen die Extrablätter der Tageszeitungen heraus, die in buchstäblich fünf Minuten vergriffen waren. Berichten zufolge hatte der Turm Paris auf kürzestem Weg verlassen, immer bemüht, vorsichtig aufzutreten und keine Häuser zu zerstören. Seine eisernen Füße waren auf der Straßenmitte gelandet, auf leeren Boulevards und in Höfen, und hatten nur hier und dort mal ein Gebäude gestreift, meist wenn es sonst keinen freien Platz gab.
Es stimmte, in die Fassade des Hauses, vor dem Marcel Vautour gestanden hatte, musste der Turm seinen Fuß unvorsichtig gesetzt haben. Dieses Gebäude blickte auf einen Platz, der Turm hätte also über ausreichend Raum für seine Füße verfügen können. Aber man sollte nicht vergessen, dass dieses Missgeschick ihm zu Beginn seines Laufes passiert war, als er sich vermutlich überstürzt von seinem Unterbau gelöst hatte, und zwar ohne jemals zuvor gelaufen zu sein, ohne gelernt zu haben, seine vier Füße zu beherrschen, dass er das Gebäude also rein zufällig zerstörte, sozusagen aus Versehen.
In den Straßen, wo seine schweren Fersen aufgeschlagen waren, hatte es die Laternen umgebogen, die Bürgersteige waren eingesunken, in einer Straße sogar bis zu einer U-Bahn-Station hinunter. Hier konnte man auch einen angekohlten Fladen erkennen - die Überreste eines Autos, welchem das Unglück widerfahren war, unter den eisernen Fuß des Turms zu geraten.
Als der Turm die Stadt hinter sich gelassen hatte, war er schnurstracks gen Süden gezogen und mit solchem Tempo hinter dem Horizont verschwunden, dass es einem vorkam, als wäre er nur ein Trugbild gewesen. So erzählten jedenfalls die Leute aus der Umgebung von Paris.
VI
Als Marcel Vautour an den Fahrkartenschalter trat, durchzuckte ihn mit jähem Schrecken die Frage, ob er überhaupt genügend Geld bei sich habe. Er konnte sich nicht erinnern, die Brieftasche eingesteckt zu haben, als er am Morgen so hastig seine Wohnung verließ - er konnte sich an überhaupt nichts erinnern -, fand aber doch einige Goldmünzen, und sie reichten für eine Fahrkarte. Vautour bestieg einen Expresszug und ließ Paris hinter sich.
Zusammengekauert in eine Ecke, hockte er in seinem Abteil. Nur wenn er von Zeit zu Zeit mit sehnsuchtsvollen Augen aus dem Fenster starrte und versuchte, den Turm zu erspähen, wirkte er für einen Moment geistesgegenwärtig. Da er ihn aber nicht sah, versank er wieder in Gedanken, und sein Blick wurde leer. Offen standen seine Augen, jedoch ohne jeglichen Ausdruck. Auf dem Platz Marcel Vautours saß ein leerer Koffer, dem man die Geige entnommen hatte.
Am Nachmittag um fünf kam der Zug in Lyon an. Die Zeitungsjungen wedelten mit frisch gedruckten Sonderausgaben, riefen laut und eifrig das ungewöhnliche Ereignis aus. Vautour stieg aus dem Waggon und kaufte sich eine Zeitung.
Der Turm, so las er, war mit ungeheurer Geschwindigkeit durch ganz Frankreich gerast und sogar schon in Marseille gesehen worden. Er hatte einen schnurgeraden Weg genommen, hatte Flüsse überquert, Wälder durchbrochen, Städte und Dörfer indes hatte er umgangen.
Eine ganze Anzahl von Telegrammen und Telefonreportagen berichtete von der Panik, die die Einwohner jener Orte ergriffen hatte, in deren Nähe jenes Objekt vorübergelaufen war, welches vormals so ruhig in Paris gestanden.
Das interessanteste Telegramm allerdings war das letzte, aus Marseille: Der Turm hatte unweit der Stadt die Küste erreicht und war, mit den schweren Tritten seiner Füße eine gigantische Fontäne auslösend, in die Fluten gestiegen. Selbst nachdem er so weit gewatet war, dass seine Füße nicht mehr zu sehen waren, wurde seine Geschwindigkeit nicht etwa geringer - ganz im Gegenteil, sie schien sich noch zu erhöhen. Meerwasser, das in seinen Tiefen aufgewirbelt worden war, brodelte um den Turm herum. So ging es immer weiter, bis über dem Wasser nur noch der Kopf des Turms sichtbar blieb, seine oberste Aussichtsplattform. Die vor Staunen blöd gewordenen Küstenbewohner und die Matrosen auf den vorüberfahrenden Schiffen dachten, das eiserne Monster werde jeden Moment versinken. Jedoch hielt der Turm ganz plötzlich seine Bewegung an und blieb abrupt stehen. Es schien, als habe der Turm eine schwierige Aufgabe zu lösen - sollte er vorwärts gehen, wohin er von einer unsichtbaren Macht gezogen wurde, oder lieber aufgeben angesichts der unüberwindbaren Meerestiefe, die sogar seine eigene gigantische Größe übertraf?
Und der Turm gab auf. Langsam machte er kehrt und ging, weit ausschreitend mit seinen Füßen, klatschnass, zurück an Land. Die Menschenmenge, die sich gerade erst gebildet hatte, zerstreute sich augenblicklich, als klar wurde, dass der Turm zurückkehrte. Die Bewohner der bezaubernden Villen am Strand verließen diese fluchtartig in Automobilen und Kutschen und mitsamt ihren Diamanten und Wertgegenständen. Der Turm aber stand noch lange ohne sich zu rühren am Ufer, als könne er sein Vorhaben, das Meer zu durchqueren, nicht so einfach aufgeben. Der aufgebrachte Ameisenhaufen war längst auseinandergelaufen, als der Turm sich erneut rührte. Er machte ein paar langsame Schritte, um dann, die Füße vorsichtig zwischen die Villen setzend, in nordöstliche Richtung zu verschwinden.
Nachdem Marcel Vautour diese Nachricht zu Ende gelesen hatte, zerknüllte er die Zeitung und warf sie auf den Perron. Genf - las er auf einem langen Eisenbahnwaggon, der an einen anderen Zug angekoppelt war. Nicht Gedanken steuerten Marcels Taten, sondern magische Ströme. Er bestieg den langen Waggon und begab sich in die Schweiz.
...
Übersetzung: Lucian Plessner und A. Kravtsova
© der deutschen Erstausgabe 2012 by
Edition Elke Heidenreich bei C. Bertelsmann, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Marcel Vautour war zweifellos ein bemerkenswerter Mann und sein Name ein Begriff in den gebildeten Kreisen von Paris. Zwar hielten Sesselgelehrte, ihr Wissen hinter dunklen Brillengläsern verbergend, und feinsinnige Denker, ihre Gedanken unter den Gewölben ihrer hohen weißen Stirnen bewahrend, ihn für einen komischen Kauz, gestanden ihm aber einen scharfen und wendigen, wenn auch bisweilen fehlgeleiteten Verstand zu. Herablassend lächelten sie und sagten, selbst wenn sein Verstand ihn unter die Erde in die Tiefe babylonischer Ausgrabungen zöge, so entführe ihn leider seine um vieles stärkere Phantasie immer wieder hoch hinaus, weswegen er und seine Forschung recht häufig über den Wolken schweben würden, von wo er im Übrigen ganz spannende Dinge zu vermelden habe.
Immerhin aber ging Marcel Vautour niemandem auf die Nerven, versuchte niemandem seine Ansichten aufzuzwingen, sondern verschwand lieber für ein oder zwei Jahre in sein geliebtes Assyrien, wo er dank weitreichender Beziehungen und des nötigen Kleingelds nach Herzenslust in Sand und Ruinen buddeln, tausendjährige Tafeln mit befremdlichen Keilschriften finden, sie entziffern und genialische Mutmaßungen darüber anstellen konnte, um dann, zurück in Paris, mit einem brillanten Artikel aufzutrumpfen, der die unglaublichsten Dinge enthielt. Der Artikel war immer eine Sensation, die Ausgabe des schicken Journals bald vergriffen, in den Salons ging es hoch her, und seine Freunde gaben ihm zu Ehren ein Bankett. Da er aber auf keine Kanzel stieg, es nicht auf Dispute mit den Herren der Lehre anlegte, niemandem seine Ansichten aufzudrängen versuchte, war es jedermann zufrieden - die Gelehrten konnten weiterhin lächeln und weiterhin sagen, selbstverständlich sei er sehr scharfsinnig, aber er schwebe eben über den Wolken.
II
Diesmal blieb er nicht ein oder zwei Jahre in Assyrien verschollen, sondern gleich fünf. Seine Verleger, die nach einem reißerischen Artikel gierten, telegrafierten mal nach Damaskus, mal nach Bagdad, aber er hatte sich zwischen Euphrat und Tigris mitsamt seiner kleinen Karawane im Sand Alt-Mesopotamiens eingegraben, war mit Haut und Haar dem verblassten Zauber der Akkader und Sumerer verfallen, den beinahe ausgelöschten Mythen dieser einst so hochstehenden Kultur. Die Geschicke Nebukadnezars schienen ihm bedeutender zu sein als die Geschicke von Paris und sandige Höhlen allemal gemütlicher als die erlesensten Salons. Und aus den Tiefen solcher Höhlen tauschte er sich durch komplizierte Hieroglyphen mit Kulturen aus, die in jenen weit zurückliegenden Zeiten geblüht hatten, da Marcels Vorfahren, nicht ganz dem Evolutionsstadium der Affen entronnen, noch auf Bäumen saßen, wo heute Paris ist.
Einer seiner Assistenten, der an Gelbfieber erkrankt und deshalb in sein Heimatland zurückgekehrt war, berichtete, dass im Vorjahr Marcel Vautour, von einer hartnäckigen Idee beseelt, sich darangemacht hatte, in jener Gegend, wo einst das antike Babylon gestanden hatte, die Überreste des Turms zu Babel auszugraben. Eine ganze Serie von Zeitungsartikeln stürzte sich auf diese Nachricht, in den Salons wurde geredet, aber studierte Assyriologen schüttelten ihre Köpfe und sagten lächelnd, dass dies natürlich unterhaltsam sei, dieser Turm zu Babel, aber unser lieber Marcel schwebe, zusammen mit seinem vielsprachigen Bauwerk, wie gewöhnlich über den Wolken.
Irgendwann waren die fünf Jahre um, und Marcel Vautour kehrte höchstpersönlich nach Paris zurück. Er reiste an im eigenen Eisenbahnwaggon, randvoll beladen mit großen und kleinen Kisten und irgendwelchen sorgsam und dick verpackten Gegenständen. Aus dem brillanten Gelehrten, der einst Paris verzaubert hatte, war ein sonnenverbrannter Kupferkopf geworden, der auch noch mit einem Bart bewachsen war. Aber der Bart konnte seine feinen Gesichtszüge nicht verbergen, und der bronzene Teint betonte nur noch ihre Schärfe.
Über all dies schrieben die Reporter sofort, aber dann geriet die Berichterstattung ins Stocken - in der Wildnis Asiens war unserem liebenswürdigen Assyriologen nämlich die großstädtische Liebenswürdigkeit abhandengekommen, und so empfing er niemanden und gab auch keine Interviews. Allein seinen Freunden teilte er mit, die Ergebnisse seiner Untersuchungen seien bedeutsam, bedeutsamer, als sich die moderne Menschheit das träumen lassen mochte. Jetzt jedoch sei er müde von der Reise, dazu Opfer von Fieberattacken, die auch ihn nicht verschonten, doch nichtsdestoweniger werde er sich gleich am folgenden Tage daransetzen, die gewaltige Materialfülle seiner bereits vor Ort vorsortierten Sammlung endgültig in eine Ordnung zu bringen. Am Ende werde er dann einen Vortrag über den Turm zu Babel halten und in diesem Vortrag Fakten nennen, die möglicherweise die gesamte Geschichtsschreibung auf den Kopf stellen, die Wissenschaft verblüffen und vielleicht selbst die Bibel ins Wanken bringen würden. Er sprach ernsthaft, in geschäftsmäßigem Ton, ohne im Geringsten zu prahlen, aber so müde sah er dabei aus, dass seine Freunde ihn nicht länger mit ihrer Anwesenheit belästigen wollten, sich empfahlen und auf ihre Salons verteilten. Dort ahmten sie den jungen Gelehrten nach, setzten ernste Mienen auf und riefen aus: »Oh, unser Marcel hat bemerkenswerte Dinge entdeckt!«
III
Die Gerüchte um das außergewöhnliche Material, welches in der Wüste Mesopotamiens ausgegraben worden war, Material, das der Geschichtsschreibung und sogar den Legenden der Bibel Brüche zuzufügen drohte, versprachen DAS Thema der interessierten Kreise von Paris zu werden, und dies noch vor einer tatsächlichen Veröffentlichung durch den heimgekehrten Gelehrten.
Jedoch ausgerechnet in dieser selben Nacht versetzte ein besonderer Vorfall Paris in Angst und Schrecken, und dieser Vorfall ging der Stadt viel näher als das entfernte Babylon.
Genau um drei Uhr in der Früh klingelten die Telefone Sturm, Ambulanzen wurden gerufen, und Ärzte rückten aus. Man sagte, Häuser seien eingestürzt - wieso und warum, war nicht klar - es habe Verletzte unter der Bevölkerung gegeben und es sei sogar die Order ergangen, den Präsidenten zu wecken. Jeder hatte etwas gehört, jeder hatte Angst, was aber passiert war, wusste im Detail niemand. In einer solchen Verfassung begrüßte Paris also den frühen Morgen.
Marcel Vautour, die Haare zerzaust und ohne Schlips, hastete aus seiner Wohnung und die Treppe hinunter. Im Eingang stieß er beinahe mit seiner Mutter zusammen.
Die ältere Dame, glücklich über die Rückkehr ihres verlorenen Sohnes und soeben extra aus Bordeaux angereist, blickte freudig einem angenehmen Wiedersehen mit ihm entgegen. Aber Marcel rief angesichts ihrer einladend ausgebreiteten Arme nur: »Gehen Sie weg! Gehen Sie weg! Können Sie nicht sehen, dass ich so leer bin wie ein Koffer, dem man die Geige entnommen hat?«
Mit den Händen herumfuchtelnd, rannte er hinaus auf die Straße. Die verwirrte Dame sank in ihrer Bestürzung auf einen Stuhl, die Arme nach ihrem anderen Sohn ausstreckend, einem Arzt, der hinter Marcel die Treppe herab gekommen war.
»Auguste, um Gottes willen ... Ist er verrückt geworden?«, fragte die Mutter.
»Ich renne ja selbst hinter ihm her und verstehe überhaupt nichts«, antwortete Auguste, trat auf sie zu und küsste ihr die Hände. »Er hat mir gesagt, er leide an Gelbfieberattacken, aber in meiner ganzen Praxis habe ich noch nie erlebt, dass die Anfälle in solcher Form auftreten.«
»Vielleicht ist etwas mit seiner Sammlung?«
»Seine Sammlung ist unversehrt bei uns zu Hause. Wir haben bis drei Uhr heute früh gebraucht, sie zu ordnen.«
Mutter und Sohn saßen einander gegenüber und fuchtelten ratlos mit den Händen.
IV
Marcel Vautour lief die Straße hinunter und fand sich vielleicht zehn Minuten später am Ufer der Seine wieder. Dort hatte sich eine enorme Menge erstaunter und aufgebrachter Menschen versammelt. Der Eiffelturm, der hier an dieser Stelle gestanden hatte, war verschwunden. Verstört schauten die Leute sich um, der Turm aber blieb verschwunden, hatte sich buchstäblich in Luft aufgelöst.
Zwei Gentlemen mit Zylinder, umringt von dichten Reihen Neugieriger, erzählten schon zum zehnten Mal, was sie gesehen hatten. Die Gentlemen waren von jener Sorte junger Männer, die am Morgen zu Bett gehen und abends aufstehen und übersät sind von golden glänzenden Pickeln, weshalb sie als jeunesse dorée bezeichnet werden.
Um drei Uhr früh waren sie von Mariette zu Alexandrine gefahren und Zeugen eines magischen Spektakels geworden. Der Eiffelturm habe plötzlich zu zittern begonnen, sei auf- und abgesprungen, habe sich schließlich von seinen Fundamenten losgerissen und sei dann mit langen Schritten, jawohl, langen Schritten, auf allen vieren von der Seine wegmarschiert. Was hinterher geschehen war, hatten die Gentlemen nicht mehr gesehen, denn sie waren vor lauter Angst aus ihrem Fiaker gesprungen und hatten sich, ohne zurückzuschauen, aus dem Staub gemacht.
Kaum hatte Marcel Vautour ihre Geschichte gehört, boxte er sich durch die dicht gedrängte Menge hindurch und nahm die Richtung, die der wandernde Turm eingeschlagen hatte. Bald stieß er auf eine andere Menschenmenge, die sich um ein Gebäude geschart hatte, dessen Front eingerissen war und den Blick freigab auf Wohn-, Arbeits- und Schlafzimmer. In einem der Zimmer war noch der Tisch vom Abendessen gedeckt. Apfelsinen lagen über das Tischtuch und den Fußboden verstreut. Es hieß, dass es Verletzte gegeben habe, die mit dem Krankenwagen weggebracht worden seien. Augenscheinlich war der Turm recht ungeschickt umhergeschritten und hatte mit seinem Bein ein Stück der Fassade aufgerissen.
Marcel verweilte vielleicht eine Minute vor dem Gebäude, gerade genug, um Luft zu holen. Dann eilte er schleunigst weiter.
V
Um elf Uhr kamen die Extrablätter der Tageszeitungen heraus, die in buchstäblich fünf Minuten vergriffen waren. Berichten zufolge hatte der Turm Paris auf kürzestem Weg verlassen, immer bemüht, vorsichtig aufzutreten und keine Häuser zu zerstören. Seine eisernen Füße waren auf der Straßenmitte gelandet, auf leeren Boulevards und in Höfen, und hatten nur hier und dort mal ein Gebäude gestreift, meist wenn es sonst keinen freien Platz gab.
Es stimmte, in die Fassade des Hauses, vor dem Marcel Vautour gestanden hatte, musste der Turm seinen Fuß unvorsichtig gesetzt haben. Dieses Gebäude blickte auf einen Platz, der Turm hätte also über ausreichend Raum für seine Füße verfügen können. Aber man sollte nicht vergessen, dass dieses Missgeschick ihm zu Beginn seines Laufes passiert war, als er sich vermutlich überstürzt von seinem Unterbau gelöst hatte, und zwar ohne jemals zuvor gelaufen zu sein, ohne gelernt zu haben, seine vier Füße zu beherrschen, dass er das Gebäude also rein zufällig zerstörte, sozusagen aus Versehen.
In den Straßen, wo seine schweren Fersen aufgeschlagen waren, hatte es die Laternen umgebogen, die Bürgersteige waren eingesunken, in einer Straße sogar bis zu einer U-Bahn-Station hinunter. Hier konnte man auch einen angekohlten Fladen erkennen - die Überreste eines Autos, welchem das Unglück widerfahren war, unter den eisernen Fuß des Turms zu geraten.
Als der Turm die Stadt hinter sich gelassen hatte, war er schnurstracks gen Süden gezogen und mit solchem Tempo hinter dem Horizont verschwunden, dass es einem vorkam, als wäre er nur ein Trugbild gewesen. So erzählten jedenfalls die Leute aus der Umgebung von Paris.
VI
Als Marcel Vautour an den Fahrkartenschalter trat, durchzuckte ihn mit jähem Schrecken die Frage, ob er überhaupt genügend Geld bei sich habe. Er konnte sich nicht erinnern, die Brieftasche eingesteckt zu haben, als er am Morgen so hastig seine Wohnung verließ - er konnte sich an überhaupt nichts erinnern -, fand aber doch einige Goldmünzen, und sie reichten für eine Fahrkarte. Vautour bestieg einen Expresszug und ließ Paris hinter sich.
Zusammengekauert in eine Ecke, hockte er in seinem Abteil. Nur wenn er von Zeit zu Zeit mit sehnsuchtsvollen Augen aus dem Fenster starrte und versuchte, den Turm zu erspähen, wirkte er für einen Moment geistesgegenwärtig. Da er ihn aber nicht sah, versank er wieder in Gedanken, und sein Blick wurde leer. Offen standen seine Augen, jedoch ohne jeglichen Ausdruck. Auf dem Platz Marcel Vautours saß ein leerer Koffer, dem man die Geige entnommen hatte.
Am Nachmittag um fünf kam der Zug in Lyon an. Die Zeitungsjungen wedelten mit frisch gedruckten Sonderausgaben, riefen laut und eifrig das ungewöhnliche Ereignis aus. Vautour stieg aus dem Waggon und kaufte sich eine Zeitung.
Der Turm, so las er, war mit ungeheurer Geschwindigkeit durch ganz Frankreich gerast und sogar schon in Marseille gesehen worden. Er hatte einen schnurgeraden Weg genommen, hatte Flüsse überquert, Wälder durchbrochen, Städte und Dörfer indes hatte er umgangen.
Eine ganze Anzahl von Telegrammen und Telefonreportagen berichtete von der Panik, die die Einwohner jener Orte ergriffen hatte, in deren Nähe jenes Objekt vorübergelaufen war, welches vormals so ruhig in Paris gestanden.
Das interessanteste Telegramm allerdings war das letzte, aus Marseille: Der Turm hatte unweit der Stadt die Küste erreicht und war, mit den schweren Tritten seiner Füße eine gigantische Fontäne auslösend, in die Fluten gestiegen. Selbst nachdem er so weit gewatet war, dass seine Füße nicht mehr zu sehen waren, wurde seine Geschwindigkeit nicht etwa geringer - ganz im Gegenteil, sie schien sich noch zu erhöhen. Meerwasser, das in seinen Tiefen aufgewirbelt worden war, brodelte um den Turm herum. So ging es immer weiter, bis über dem Wasser nur noch der Kopf des Turms sichtbar blieb, seine oberste Aussichtsplattform. Die vor Staunen blöd gewordenen Küstenbewohner und die Matrosen auf den vorüberfahrenden Schiffen dachten, das eiserne Monster werde jeden Moment versinken. Jedoch hielt der Turm ganz plötzlich seine Bewegung an und blieb abrupt stehen. Es schien, als habe der Turm eine schwierige Aufgabe zu lösen - sollte er vorwärts gehen, wohin er von einer unsichtbaren Macht gezogen wurde, oder lieber aufgeben angesichts der unüberwindbaren Meerestiefe, die sogar seine eigene gigantische Größe übertraf?
Und der Turm gab auf. Langsam machte er kehrt und ging, weit ausschreitend mit seinen Füßen, klatschnass, zurück an Land. Die Menschenmenge, die sich gerade erst gebildet hatte, zerstreute sich augenblicklich, als klar wurde, dass der Turm zurückkehrte. Die Bewohner der bezaubernden Villen am Strand verließen diese fluchtartig in Automobilen und Kutschen und mitsamt ihren Diamanten und Wertgegenständen. Der Turm aber stand noch lange ohne sich zu rühren am Ufer, als könne er sein Vorhaben, das Meer zu durchqueren, nicht so einfach aufgeben. Der aufgebrachte Ameisenhaufen war längst auseinandergelaufen, als der Turm sich erneut rührte. Er machte ein paar langsame Schritte, um dann, die Füße vorsichtig zwischen die Villen setzend, in nordöstliche Richtung zu verschwinden.
Nachdem Marcel Vautour diese Nachricht zu Ende gelesen hatte, zerknüllte er die Zeitung und warf sie auf den Perron. Genf - las er auf einem langen Eisenbahnwaggon, der an einen anderen Zug angekoppelt war. Nicht Gedanken steuerten Marcels Taten, sondern magische Ströme. Er bestieg den langen Waggon und begab sich in die Schweiz.
...
Übersetzung: Lucian Plessner und A. Kravtsova
© der deutschen Erstausgabe 2012 by
Edition Elke Heidenreich bei C. Bertelsmann, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Sergej Prokofjev
Sergej Prokofjew, geboren 1891 in der Ukraine. Sergei Sergejewitsch Prokofjew schrieb bereits als Fünfjähriger erste Kompositionen. Mit zwölf Jahren trat er ins St. Petersburger Konservatorium ein und machte sich als Komponist und Pianist bald einen Namen. Sergei Sergejewitsch Prokofjew war zwei Mal verheiratet; seine zweite Ehefrau war Mira Mendelson. Am 5. März 1953 starb er in Moskau.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sergej Prokofjev
- 2012, Deutsche Erstausgabe, 191 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 13,4 x 20,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Herausgegeben: Lucian Plessner
- Übersetzer: Lucian Plessner
- Verlag: C. Bertelsmann
- ISBN-10: 3570580342
- ISBN-13: 9783570580349
- Erscheinungsdatum: 28.02.2012
Rezension zu „Der wandernde Turm “
"Mit seinen frühen Erzählungen wird ein kleiner Schatz gehoben, trefflich übersetzt von Lucian Plessner und vignettenhaft illustriert von Babette Klingenberg. Schöne Bizarrerien."
Pressezitat
"Mit seinen frühen Erzählungen wird ein kleiner Schatz gehoben, trefflich übersetzt von Lucian Plessner und vignettenhaft illustriert von Babette Klingenberg. Schöne Bizarrerien." Die Welt
Kommentar zu "Der wandernde Turm"
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