Der Weg der Töchter
Roman
Der Überraschungsbestseller aus Kanada: Ein mutiges, mitreißendes Romandebüt über eine Kindheit in Nigerias Millionenstadt Ibadan. Das Mädchen Morayo erlebt das Erwachsenwerden behütet, aber voller Tabus: es wird eine Odyssee,...
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Produktinformationen zu „Der Weg der Töchter “
Klappentext zu „Der Weg der Töchter “
Der Überraschungsbestseller aus Kanada: Ein mutiges, mitreißendes Romandebüt über eine Kindheit in Nigerias Millionenstadt Ibadan. Das Mädchen Morayo erlebt das Erwachsenwerden behütet, aber voller Tabus: es wird eine Odyssee, aus der sie stark und voller Zukunftspläne hervorgeht. Sie ist pfiffig und temperamentvoll, die kleine Morayo, die mit ihrer geliebten Schwester in einer modernen nigerianischen Familie aufwächst. Eine herrliche Großfamilie, wo viel gekocht und gefeiert, aber auch hart gearbeitet wird. So ist es das Normalste der Welt, dass Bros T, der charmante, etwas halbstarke Cousin der Mädchen hier aufgenommen wird. Anfänglich ist Morayo begeistert von diesem Familienzuwachs, aber dann überfordert, als Bros T sie nachts bedrängt...Ein dichtes Netz des Schweigens legt sich plötzlich über das Haus, und Morayo erfährt von ihren Eltern keinen Trost, im Gegenteil, es ist, als sei sie selbst schuld. Bei Morenike, die seinerzeit ein ähnliches Schicksal erlitten hat, findet sie ein neues Zuhause und eine weibliche Verbundenheit, die sie zu einer starken und engagierten Persönlichkeit werden lässt. Das erkennt auch Kachi, Morayos erste Liebe aus der Schulzeit...
Lese-Probe zu „Der Weg der Töchter “
Der Weg der Töchter von Yejide KilankoProlog
Meine früheste Erinnerung ist die an Eniayo. Ich war fünf. Ich machte Luftsprünge vor Freude, als Mummy mir sagte, ihr dicker Bauch bedeute ein Schwesterchen oder Brüderchen zum Spielen. »Ach, bitte, lass es ein Mädchen sein!«
Mummy bekam Lachfältchen um die braunen Augen. »Das liegt bei Gott«, sagte sie und strickte weiter an ihrer großen Babydecke. Aufmerksam verfolgte ich, wie gekonnt ihre Silbernadeln die gelbe Wolle rein- und rauszogen. Ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel und lief aus dem Zimmer.
Wenig später holte mich Mr Bello, Fahrer für Daddys Firma, an einem leuchtenden Nachmittag von der Schule ab. Ich sah seine lange Gestalt vom Klassenzimmerfenster aus die wenigen Stufen hochspringen. »Madam hat eben ihr Kind bekommen«, sagte er zu unserer Lehrerin Mrs Abe. »Sie möchte, dass man Morayo zu ihr bringt.«
Mrs Abe meinte, ich solle rasch zusammenpacken, und entließ mich. »Und Grüße bitte deine Mutter von mir.«
»Ja, Ma.«
Ich saß hinten im roten Peugeot 505 und trat gegen den Vordersitz, bis Mr Bello sich umwandte. »Schluss jetzt, Morayo«, sagte er mit strenger Miene.
Ich hob zerknirscht den Blick. »Ja, aber es dauert so lange.«
Seine Gesichtszüge wurden weich. »Keine Sorge, wir sind gleich da.«
... mehr
Unruhig rutschte ich auf der Rückbank hin und her, während mir von draußen in Wellen die Hitze durchs offene Fenster übers Gesicht strich. Am Bodijamarkt war Stau. Mehrere Kühe überquerten mit träge schlagenden Schwänzen hoheitsvoll die Straße. Als sich eine von ihnen mitten auf der Fahrbahn niederließ, ging ein Hupkonzert los. Erst als die Hirten sie minutenlang mit ihren langen Stäben gestupst hatten, hievte sie sich hoch und schritt gemessen an den Straßenrand, um dort lange Gräser zu rupfen.
Daddy sagte gern, Herr der Straße wären in Wahrheit die Kühe, denn gegen die hätte nicht mal ein Auto eine Chance.
Schließlich bog Mr Bello in die große Straße ein, die aufs Riesengelände des University College Hospital führte, und ganz weit hinten sah ich meine Großmutter stehen. Mama Ejiwunmi lebte in Oyo, war aber schon vor einer Woche gekommen, um zur Geburt bei Mummy zu sein - jetzt wartete sie am Eingang auf mich. Sie trug ein sehr blaues Gewand, iro und buba, im Knüpfbatikstil adire. Ihr rundes, tiefschwarzes Gesicht leuchtete auf, als sie mich sah, und ich warf mich ihr in die Arme.
Fest hielt ich Mama Ejiwunmis Hand umklammert, als wir den Korridor zu Mummy und meiner neuen Schwester hinabgingen, von dem strengen Geruch der Chlor- bleiche wurde mir fast übel. Beißend stieg er mir in die Nase, setzte sich in den Härchen darin fest. Ich machte große Augen, als Schwestern in kurzen weißen Kleidern mit kleinen, festgesteckten weißen Hütchen vorbeigingen.
Wir waren auf halber Höhe des Korridors, als die spitzen Schreie einer Frau mich erstarren ließen. Ich blieb wie angewurzelt stehen und sah zu meiner Großmutter auf.
Sie drückte meine Hand, lächelte ermutigend und sagte in gedämpftem Ton: »Schon gut, Kind. Es ist bloß die Klage einer Frau, die gerade ihr Baby zur Welt bringt. Schon bald ist aller Schmerz vorbei, und dann kommt die Freude.« Ich nickte, war aber doch erleichtert, als wir die Säuglingsstation erreichten und die Schreie aufhörten.
Mama Ejiwunmi zeigte mir hinter der Scheibe meine neue Schwester. Ich drehte mich verwirrt zu ihr um. Das sollte meine Schwester sein? Ich sah wieder auf das Baby. Sie war mir kein bisschen ähnlich. Sie glich mehr der blonden, blauäugigen Puppe, die Daddy mir auf seiner letzten Reise nach Lagos bei Leventis gekauft hatte. Unser Baby war ... weiß?
Großmutter zog an meinem Arm. »Morayo, möchtest du dein Schwesterchen halten?«
»Halten?«
Sie nickte. »Ja. Du sollst deine Schwester auf der Welt willkommen heißen.«
Ich folgte ihr widerstrebend in den Raum.
Eine Schwester hob die Brauen, als sie uns sah. »Mama, Kinder dürfen hier nicht rein.« In der hohen Stimme schwang Ärger mit.
»Die Kleine möchte doch bloß ihr Schwesterchen sehen«, bat Mama Ejiwunmi.
Ich klammerte mich an Mama Ejiwunmis Wickelrock, ihren wrapper, und hoffte, dass die Schwester Nein sagen würde. Doch sie spitzte die lippen. »Aber nur kurz.«
»Gott segne Sie.«
Mama Ejiwunmi hob Eniayo aus ihrem kleinen Holzgitterbett und legte sie mir in die Arme. Als Eniayo die Augen aufmachte, gefror mir das Blut. Sie waren rosa, ganz und gar nicht vom warmen Braun der meinen oder aller anderen, die ich kannte. Eniayo glich niemandem in unserer Familie.
Das war der Tag, an dem das Wort afin in meine Welt hereinbrach.
Die Nachricht von Eniayos Geburt und ihrem Albinismus verbreitete sich in der Familie wie ein Lauffeuer, sobald Mummy aus der Klinik zurück war.
Der Yorubatradition gemäß wurde die Namensgebung für Eniayo acht Tage nach ihrer Geburt gefeiert. Nach der Zeremonie hörte ich zwei Nachbarinnen tuscheln. »Was glaubst du, wo das afin-Kind herkommt?«, sagte die eine.
»Was weiß ich«, meinte die andere und hustete, bis ihr Dreifachkinn wackelte. »Ich weiß nur, dass es nichts Gutes verheißt. Die jüngere Schwester einer Freundin hat im letzten Jahr ein afin geboren. Drei Monate später verlor ihr Mann seinen Job. Im Monat darauf fiel die Frau in voller Fahrt von einem okada und brach sich den Arm. Manche Kinder bringen Gunst und Wohlstand. Ein afin aber«, zischte die Frau und schnippte mit den Fingern, um Übel abzuwehren, »bringt nur Unglück.«
Ein paar Tage später kam die Urgroßtante meines Vaters, Iya Agba, zu uns, um Eniayo zu begrüßen. Sie war die Älteste der Familie meines Vaters.
Ich lungerte unbemerkt hinter dem Durchgang zum Wohnzimmer und beobachtete, wie meine Mutter Eniayo mit feierlichem Ernst in Iya Agbas gebrechliche Arme legte. Die greise Iya Agba konnte Eniayo nur mit Mühe halten. Ihre milchig trüben Augen erforschten das Gesicht meiner Schwester.
Mummy, Daddy und Mama Ejiwunmi saßen reglos daneben, als hielten sie den Atem an.
Iya Agba wiegte den Kopf, und ihr tiefer Seufzer hallte durchs Zimmer. »Es ist also wahr!«, murmelte sie wie zu sich selbst. »Paga! Wehe!«
»Bist du...« - sie keuchte, als sie sich Mummy zuwandte - »... während der Schwangerschaft draußen gewesen, wenn die Sonne hoch am Himmel stand?«
Mich juckte mein verschwitzter Rücken, also rieb ich mich vorsichtig an der grobkörnigen Wandfarbe. Ich schob mich näher an den Durchgang heran, um die Antwort nicht zu verpassen.
Mummy wechselte rasch einen Blick mit Daddy. Dann wandte sie sich Iya Agba zu und murmelte etwas.
»Eh?«, herrschte Iya Agba sie an.
»Ja, Ma«, sagte Mummy leise.
Iya Agba klappte der Kinnladen herunter. »Ha! Bisoye!« Sie drehte sich nach Daddy um. »Owolabi, hast du gehört, was deine Frau gerade gesagt hat? Hast du gehört?«
Daddy nickte, sagte aber klugerweise kein Wort. Mummy erhob sich von ihrem Stuhl und kniete vor Iya Agba auf dem zerschlissenen braunen Teppich. Sie verschränkte die Hände im Rücken und beugte den Nacken. Dann hob sie den Kopf, und ich sah, dass ihr Tränen übers Gesicht liefen. Mir brannten die Augen.
Iya Agba schlug die Knie unwillig zusammen und zeterte: »Bisoye! Bisoye!«
Eniayo, die inzwischen ganz schief in Iya Agbas Armen hing, begann zu weinen.
Mama Ejiwunmi stemmte sich mühsam hoch und beugte sich vor, um ihr Eniayo abzunehmen. Doch Iya Agba nahm keine Notiz, sie schimpfte weiter mit Mummy, als wäre die ein ungezogenes Kind. Die Falten auf ihrer Stirn wurden tiefer, ihre Krächzstimme bebte: »Bisoye! Habe ich dich nicht gewarnt? Habe ich dich nicht gewarnt, dass die tückischen bösen Geister ihr Unwesen um die Mittagszeit treiben, wenn sie einen Menschenkörper suchen, den sie besetzen können? Nun sieh, was du angerichtet hast!« Sie keuchte. »Dein Ungehorsam hat diesem armen Kind und der gesamten Familie Unglück gebracht.« Ihr gebeugter Körper schwankte. Das Baby kippte in ihren Armen vor. Ich hielt den Atem an und betete, dass sie meine kleine Schwester nicht fallen ließe. »War es ein Fehler, Yams zum Haus deines Vaters zu bringen und um deine Hand anzuhalten? Waren wir schlecht beraten?«
Mama Ejiwunmis tiefer Seufzer füllte den Raum. Sanft befreite sie Eniayo aus Iya Agbas Umklammerung, drückte sie an die eigenen schlaffen Brüste und sah hilflos zu, wie ihre Tochter weinte.
Das trübe Neonlicht in der Diele wurde plötzlich bedrohlich. Die Holzmasken, die die Wände zierten, erwachten zum Leben, ihre glühenden Augen fixierten mich. Mich schauderte, und Gänsehaut überlief mich.
Das neue Baby, die neue Schwester, das afin ... war in Wahrheit ein böser Geist!
Am Abend wies Agba die Speisen zurück, die ihr vorgesetzt wurden, als Ausdruck der tiefen und bleibenden Enttäuschung, die Mummy ihr bereitet hatte. Für den Besuch hatte Mummy extra Iya Agbas lieblingssuppe zubereitet: amala-gbegiri mit Buschfleisch, Trockenfisch und Rinderschwanzstücken.
Mummy mahnte sanft, dass das Essen kalte werde, aber Iya Agba wandte sich zischend ab. »Owolabi, bring mir meine Sachen. Ich werde bei Gbadebo übernachten. Deine Frau hat gezeigt, dass sie meinen Rat gering schätzt. Offenbar fehlen in ihrer Familie die Ältesten.«
Mummy zuckte zusammen. Mama Ejiwunmis Knie wippten heftig. Daddy, der bisher geschwiegen hatte, warf sich bäuchlings vor Iya Agba hin. »Bitte, geh nicht. Es tut uns sehr leid.«
Iya Agba wandte das Gesicht ab. Da alles Bitten nichts nützte, gab Daddy klein bei und brachte sie für die Nacht ins Haus seines Vetters.
Nachdem sie aufgebrochen waren, hörte ich Mummy in ihrem Schlafzimmer leise weinen. Gerade wollte ich die Tür öffnen, da erschien Mama Ejiwunmi im Flur. Sie scheuchte mich fuchtelnd weg.
Allein und mit Herzklopfen saß ich im leeren Wohnzimmer. Ehe das Baby kam, war unser Haus voll lachen und Glück gewesen. Doch plötzlich gab es nur noch Tränen, Geschrei und Trauer.
In den ersten Wochen wollte ich nicht in Eniayos Nähe sein. Wenn Mummy mich bat, das Fläschchen zu halten, klagte ich über plötzliches Bauchweh und rannte auf die Toilette. Wenn sie mit Eniayo zur Besänftigung durchs Wohnzimmer tanzte, trollte ich mich zu Aunty Adunni in die Küche. Das ist eine Verwandte von Mummy, die zu uns gekommen war, als Mama Ejiwunmi zurück nach Hause musste. Und wann immer Mummy Eniayo in die Küche trug, um nachzusehen, was Aunty Adunni uns zu Abend kochte, floh ich die Stufen hinab in den Hof.
Ganz gleich aber, wie schnell ich mich davonmachte, die unheimlichen rosa Augen folgten mir überallhin. Und wenn Aunty Adunni sich Eniayo bei der Hausarbeit auf den Rücken band, gab es auf der Flucht von einem Zimmer ins nächste kein Entrinnen vor dem Blick meiner Schwester.
Schließlich packte mich Mummy eines Tages, als ich mich an ihr vorbeidrücken wollte, am Arm. »Morayo, was ist eigentlich los? Wovor läufst du davon?«
»Ich fürchte mich vor Eniayo«, gestand ich kleinlaut und trat von einem Fuß auf den anderen.
Sie schaute verdattert. »Warum das denn?«
Ich wiederholte, was ich Iya Agba bei ihrem Besuch hatte sagen hören.
Die Verwunderung auf Mummys Gesicht verwandelte sich in Zorn. Normalerweise wäre auf mein Geständnis eine Strafe gefolgt. Schließlich wusste ich genau, dass Kinder die Gespräche von Erwachsenen nicht belauschen durften. Doch an diesem Tag seufzte Mummy bloß. »Komm«, sagte sie und nahm mich mit in ihr Schlafzimmer, während Eniayo nebenan schlief. Sie zog mich an sich. »Meine liebe Morayo«, sagte sie sanft, »deine Schwester ist kein böser Geist. Sie ist ein afin, und das liegt an dem, was die Ärzte ein rezessives Gen nennen, weißt du.« Mehrere Minuten lang erklärte mir Mummy gestikulierend, was die Ärzte gesagt hatten. Das meiste davon verstand ich nicht, aber ich war überglücklich zu hören, dass ich nicht auch noch nachts im Schlaf die Augen offen halten müsste.
Ich sah in Mummys Gesicht auf. Sie tätschelte mir den Kopf. Aber eines brannte mir noch auf der Seele. »Müssen wir Eniayo im Haus verstecken?«
Sie runzelte die Stirn. »Verstecken?«
Ich senkte die Stimme. »So wie Bolude.«
Bolude war der taubstumme Sohn unserer Nachbarn, der kaum je die Wohnung verließ. Oft stand er morgens am Wohnzimmerfenster und sah seiner jüngeren Schwester und mir nach, wenn wir zur Schule aufbrachen. Einmal hatte er mein zaghaftes Winken erwidert. Da war seine Schwester mit schreckgeweiteten Augen herumgefahren und hatte meine Hand runtergerissen. »Hör auf!«, hatte sie gezischt. »Sonst sieht es noch jemand.«
»Bei Bolude liegt der Fall anders«, sagte Mummy mit einem Kopfschütteln. »Wir brauchen uns nicht zu schämen. «
Aber das befriedigte mich nicht ganz. Hatten denn Boludes Eltern etwas falsch gemacht? Was hatten sie denn getan?
Mummy schnalzte mit der Zunge. »Du stellst zu viele Fragen«, schalt sie und drückte mich an ihr Herz. »Denk dran, du bist meine Große. Und das heißt, dass du immer gut auf Eniayo aufpassen musst. Hörst du?«
»Ja, Mummy.«
Sie lächelte zufrieden. »Komm, lass uns nachsehen, ob wir Adunni mit dem Essen helfen können.«
Die Tage und Monate vergingen, und irgendwie fielen mir die hellrosa Augen gar nicht mehr auf. Ich sah nur noch Eniayo, die nervige kleine Schwester, die ständig nach mir rief und mir partout überallhin folgen musste. Mit den Jahren wurden mir Eniayos einst so befremdlichen Züge - das gelbliche Haar, die rosa Augen und die milchweiße Haut - so vertraut wie am Himmel die Sonne.
© der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin.
Unruhig rutschte ich auf der Rückbank hin und her, während mir von draußen in Wellen die Hitze durchs offene Fenster übers Gesicht strich. Am Bodijamarkt war Stau. Mehrere Kühe überquerten mit träge schlagenden Schwänzen hoheitsvoll die Straße. Als sich eine von ihnen mitten auf der Fahrbahn niederließ, ging ein Hupkonzert los. Erst als die Hirten sie minutenlang mit ihren langen Stäben gestupst hatten, hievte sie sich hoch und schritt gemessen an den Straßenrand, um dort lange Gräser zu rupfen.
Daddy sagte gern, Herr der Straße wären in Wahrheit die Kühe, denn gegen die hätte nicht mal ein Auto eine Chance.
Schließlich bog Mr Bello in die große Straße ein, die aufs Riesengelände des University College Hospital führte, und ganz weit hinten sah ich meine Großmutter stehen. Mama Ejiwunmi lebte in Oyo, war aber schon vor einer Woche gekommen, um zur Geburt bei Mummy zu sein - jetzt wartete sie am Eingang auf mich. Sie trug ein sehr blaues Gewand, iro und buba, im Knüpfbatikstil adire. Ihr rundes, tiefschwarzes Gesicht leuchtete auf, als sie mich sah, und ich warf mich ihr in die Arme.
Fest hielt ich Mama Ejiwunmis Hand umklammert, als wir den Korridor zu Mummy und meiner neuen Schwester hinabgingen, von dem strengen Geruch der Chlor- bleiche wurde mir fast übel. Beißend stieg er mir in die Nase, setzte sich in den Härchen darin fest. Ich machte große Augen, als Schwestern in kurzen weißen Kleidern mit kleinen, festgesteckten weißen Hütchen vorbeigingen.
Wir waren auf halber Höhe des Korridors, als die spitzen Schreie einer Frau mich erstarren ließen. Ich blieb wie angewurzelt stehen und sah zu meiner Großmutter auf.
Sie drückte meine Hand, lächelte ermutigend und sagte in gedämpftem Ton: »Schon gut, Kind. Es ist bloß die Klage einer Frau, die gerade ihr Baby zur Welt bringt. Schon bald ist aller Schmerz vorbei, und dann kommt die Freude.« Ich nickte, war aber doch erleichtert, als wir die Säuglingsstation erreichten und die Schreie aufhörten.
Mama Ejiwunmi zeigte mir hinter der Scheibe meine neue Schwester. Ich drehte mich verwirrt zu ihr um. Das sollte meine Schwester sein? Ich sah wieder auf das Baby. Sie war mir kein bisschen ähnlich. Sie glich mehr der blonden, blauäugigen Puppe, die Daddy mir auf seiner letzten Reise nach Lagos bei Leventis gekauft hatte. Unser Baby war ... weiß?
Großmutter zog an meinem Arm. »Morayo, möchtest du dein Schwesterchen halten?«
»Halten?«
Sie nickte. »Ja. Du sollst deine Schwester auf der Welt willkommen heißen.«
Ich folgte ihr widerstrebend in den Raum.
Eine Schwester hob die Brauen, als sie uns sah. »Mama, Kinder dürfen hier nicht rein.« In der hohen Stimme schwang Ärger mit.
»Die Kleine möchte doch bloß ihr Schwesterchen sehen«, bat Mama Ejiwunmi.
Ich klammerte mich an Mama Ejiwunmis Wickelrock, ihren wrapper, und hoffte, dass die Schwester Nein sagen würde. Doch sie spitzte die lippen. »Aber nur kurz.«
»Gott segne Sie.«
Mama Ejiwunmi hob Eniayo aus ihrem kleinen Holzgitterbett und legte sie mir in die Arme. Als Eniayo die Augen aufmachte, gefror mir das Blut. Sie waren rosa, ganz und gar nicht vom warmen Braun der meinen oder aller anderen, die ich kannte. Eniayo glich niemandem in unserer Familie.
Das war der Tag, an dem das Wort afin in meine Welt hereinbrach.
Die Nachricht von Eniayos Geburt und ihrem Albinismus verbreitete sich in der Familie wie ein Lauffeuer, sobald Mummy aus der Klinik zurück war.
Der Yorubatradition gemäß wurde die Namensgebung für Eniayo acht Tage nach ihrer Geburt gefeiert. Nach der Zeremonie hörte ich zwei Nachbarinnen tuscheln. »Was glaubst du, wo das afin-Kind herkommt?«, sagte die eine.
»Was weiß ich«, meinte die andere und hustete, bis ihr Dreifachkinn wackelte. »Ich weiß nur, dass es nichts Gutes verheißt. Die jüngere Schwester einer Freundin hat im letzten Jahr ein afin geboren. Drei Monate später verlor ihr Mann seinen Job. Im Monat darauf fiel die Frau in voller Fahrt von einem okada und brach sich den Arm. Manche Kinder bringen Gunst und Wohlstand. Ein afin aber«, zischte die Frau und schnippte mit den Fingern, um Übel abzuwehren, »bringt nur Unglück.«
Ein paar Tage später kam die Urgroßtante meines Vaters, Iya Agba, zu uns, um Eniayo zu begrüßen. Sie war die Älteste der Familie meines Vaters.
Ich lungerte unbemerkt hinter dem Durchgang zum Wohnzimmer und beobachtete, wie meine Mutter Eniayo mit feierlichem Ernst in Iya Agbas gebrechliche Arme legte. Die greise Iya Agba konnte Eniayo nur mit Mühe halten. Ihre milchig trüben Augen erforschten das Gesicht meiner Schwester.
Mummy, Daddy und Mama Ejiwunmi saßen reglos daneben, als hielten sie den Atem an.
Iya Agba wiegte den Kopf, und ihr tiefer Seufzer hallte durchs Zimmer. »Es ist also wahr!«, murmelte sie wie zu sich selbst. »Paga! Wehe!«
»Bist du...« - sie keuchte, als sie sich Mummy zuwandte - »... während der Schwangerschaft draußen gewesen, wenn die Sonne hoch am Himmel stand?«
Mich juckte mein verschwitzter Rücken, also rieb ich mich vorsichtig an der grobkörnigen Wandfarbe. Ich schob mich näher an den Durchgang heran, um die Antwort nicht zu verpassen.
Mummy wechselte rasch einen Blick mit Daddy. Dann wandte sie sich Iya Agba zu und murmelte etwas.
»Eh?«, herrschte Iya Agba sie an.
»Ja, Ma«, sagte Mummy leise.
Iya Agba klappte der Kinnladen herunter. »Ha! Bisoye!« Sie drehte sich nach Daddy um. »Owolabi, hast du gehört, was deine Frau gerade gesagt hat? Hast du gehört?«
Daddy nickte, sagte aber klugerweise kein Wort. Mummy erhob sich von ihrem Stuhl und kniete vor Iya Agba auf dem zerschlissenen braunen Teppich. Sie verschränkte die Hände im Rücken und beugte den Nacken. Dann hob sie den Kopf, und ich sah, dass ihr Tränen übers Gesicht liefen. Mir brannten die Augen.
Iya Agba schlug die Knie unwillig zusammen und zeterte: »Bisoye! Bisoye!«
Eniayo, die inzwischen ganz schief in Iya Agbas Armen hing, begann zu weinen.
Mama Ejiwunmi stemmte sich mühsam hoch und beugte sich vor, um ihr Eniayo abzunehmen. Doch Iya Agba nahm keine Notiz, sie schimpfte weiter mit Mummy, als wäre die ein ungezogenes Kind. Die Falten auf ihrer Stirn wurden tiefer, ihre Krächzstimme bebte: »Bisoye! Habe ich dich nicht gewarnt? Habe ich dich nicht gewarnt, dass die tückischen bösen Geister ihr Unwesen um die Mittagszeit treiben, wenn sie einen Menschenkörper suchen, den sie besetzen können? Nun sieh, was du angerichtet hast!« Sie keuchte. »Dein Ungehorsam hat diesem armen Kind und der gesamten Familie Unglück gebracht.« Ihr gebeugter Körper schwankte. Das Baby kippte in ihren Armen vor. Ich hielt den Atem an und betete, dass sie meine kleine Schwester nicht fallen ließe. »War es ein Fehler, Yams zum Haus deines Vaters zu bringen und um deine Hand anzuhalten? Waren wir schlecht beraten?«
Mama Ejiwunmis tiefer Seufzer füllte den Raum. Sanft befreite sie Eniayo aus Iya Agbas Umklammerung, drückte sie an die eigenen schlaffen Brüste und sah hilflos zu, wie ihre Tochter weinte.
Das trübe Neonlicht in der Diele wurde plötzlich bedrohlich. Die Holzmasken, die die Wände zierten, erwachten zum Leben, ihre glühenden Augen fixierten mich. Mich schauderte, und Gänsehaut überlief mich.
Das neue Baby, die neue Schwester, das afin ... war in Wahrheit ein böser Geist!
Am Abend wies Agba die Speisen zurück, die ihr vorgesetzt wurden, als Ausdruck der tiefen und bleibenden Enttäuschung, die Mummy ihr bereitet hatte. Für den Besuch hatte Mummy extra Iya Agbas lieblingssuppe zubereitet: amala-gbegiri mit Buschfleisch, Trockenfisch und Rinderschwanzstücken.
Mummy mahnte sanft, dass das Essen kalte werde, aber Iya Agba wandte sich zischend ab. »Owolabi, bring mir meine Sachen. Ich werde bei Gbadebo übernachten. Deine Frau hat gezeigt, dass sie meinen Rat gering schätzt. Offenbar fehlen in ihrer Familie die Ältesten.«
Mummy zuckte zusammen. Mama Ejiwunmis Knie wippten heftig. Daddy, der bisher geschwiegen hatte, warf sich bäuchlings vor Iya Agba hin. »Bitte, geh nicht. Es tut uns sehr leid.«
Iya Agba wandte das Gesicht ab. Da alles Bitten nichts nützte, gab Daddy klein bei und brachte sie für die Nacht ins Haus seines Vetters.
Nachdem sie aufgebrochen waren, hörte ich Mummy in ihrem Schlafzimmer leise weinen. Gerade wollte ich die Tür öffnen, da erschien Mama Ejiwunmi im Flur. Sie scheuchte mich fuchtelnd weg.
Allein und mit Herzklopfen saß ich im leeren Wohnzimmer. Ehe das Baby kam, war unser Haus voll lachen und Glück gewesen. Doch plötzlich gab es nur noch Tränen, Geschrei und Trauer.
In den ersten Wochen wollte ich nicht in Eniayos Nähe sein. Wenn Mummy mich bat, das Fläschchen zu halten, klagte ich über plötzliches Bauchweh und rannte auf die Toilette. Wenn sie mit Eniayo zur Besänftigung durchs Wohnzimmer tanzte, trollte ich mich zu Aunty Adunni in die Küche. Das ist eine Verwandte von Mummy, die zu uns gekommen war, als Mama Ejiwunmi zurück nach Hause musste. Und wann immer Mummy Eniayo in die Küche trug, um nachzusehen, was Aunty Adunni uns zu Abend kochte, floh ich die Stufen hinab in den Hof.
Ganz gleich aber, wie schnell ich mich davonmachte, die unheimlichen rosa Augen folgten mir überallhin. Und wenn Aunty Adunni sich Eniayo bei der Hausarbeit auf den Rücken band, gab es auf der Flucht von einem Zimmer ins nächste kein Entrinnen vor dem Blick meiner Schwester.
Schließlich packte mich Mummy eines Tages, als ich mich an ihr vorbeidrücken wollte, am Arm. »Morayo, was ist eigentlich los? Wovor läufst du davon?«
»Ich fürchte mich vor Eniayo«, gestand ich kleinlaut und trat von einem Fuß auf den anderen.
Sie schaute verdattert. »Warum das denn?«
Ich wiederholte, was ich Iya Agba bei ihrem Besuch hatte sagen hören.
Die Verwunderung auf Mummys Gesicht verwandelte sich in Zorn. Normalerweise wäre auf mein Geständnis eine Strafe gefolgt. Schließlich wusste ich genau, dass Kinder die Gespräche von Erwachsenen nicht belauschen durften. Doch an diesem Tag seufzte Mummy bloß. »Komm«, sagte sie und nahm mich mit in ihr Schlafzimmer, während Eniayo nebenan schlief. Sie zog mich an sich. »Meine liebe Morayo«, sagte sie sanft, »deine Schwester ist kein böser Geist. Sie ist ein afin, und das liegt an dem, was die Ärzte ein rezessives Gen nennen, weißt du.« Mehrere Minuten lang erklärte mir Mummy gestikulierend, was die Ärzte gesagt hatten. Das meiste davon verstand ich nicht, aber ich war überglücklich zu hören, dass ich nicht auch noch nachts im Schlaf die Augen offen halten müsste.
Ich sah in Mummys Gesicht auf. Sie tätschelte mir den Kopf. Aber eines brannte mir noch auf der Seele. »Müssen wir Eniayo im Haus verstecken?«
Sie runzelte die Stirn. »Verstecken?«
Ich senkte die Stimme. »So wie Bolude.«
Bolude war der taubstumme Sohn unserer Nachbarn, der kaum je die Wohnung verließ. Oft stand er morgens am Wohnzimmerfenster und sah seiner jüngeren Schwester und mir nach, wenn wir zur Schule aufbrachen. Einmal hatte er mein zaghaftes Winken erwidert. Da war seine Schwester mit schreckgeweiteten Augen herumgefahren und hatte meine Hand runtergerissen. »Hör auf!«, hatte sie gezischt. »Sonst sieht es noch jemand.«
»Bei Bolude liegt der Fall anders«, sagte Mummy mit einem Kopfschütteln. »Wir brauchen uns nicht zu schämen. «
Aber das befriedigte mich nicht ganz. Hatten denn Boludes Eltern etwas falsch gemacht? Was hatten sie denn getan?
Mummy schnalzte mit der Zunge. »Du stellst zu viele Fragen«, schalt sie und drückte mich an ihr Herz. »Denk dran, du bist meine Große. Und das heißt, dass du immer gut auf Eniayo aufpassen musst. Hörst du?«
»Ja, Mummy.«
Sie lächelte zufrieden. »Komm, lass uns nachsehen, ob wir Adunni mit dem Essen helfen können.«
Die Tage und Monate vergingen, und irgendwie fielen mir die hellrosa Augen gar nicht mehr auf. Ich sah nur noch Eniayo, die nervige kleine Schwester, die ständig nach mir rief und mir partout überallhin folgen musste. Mit den Jahren wurden mir Eniayos einst so befremdlichen Züge - das gelbliche Haar, die rosa Augen und die milchweiße Haut - so vertraut wie am Himmel die Sonne.
© der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin.
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Autoren-Porträt von Yejide Kilanko
Yejide Kilanko, geboren 1975 in Ibadan, Nigeria, wuchs als Tochter eines Universitätsprofessors und seiner Frau auf. Als Jugendliche entdeckte sie für sich Autoren wie Nadine Gordimer, Wole Soyinka und Chinua Achebe. Sie studierte Politikwissenschaften in Ibadan und zog 2000 mit ihrem Mann in die USA, später nach Kanada, wo sie heute als Kindertherapeutin arbeitet. Sie hat selbst drei Kinder.Uda Strätling lebt in Hamburg und hat u.a. Emily Dickinson, Henry David Thoreau, Sam Shepard, David Bowman, John Edgar Wideman und Andrew Sean Greer übersetzt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Yejide Kilanko
- 2013, 384 Seiten, Maße: 13,6 x 21,2 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Strätling, Uda
- Übersetzer: Uda Strätling
- Verlag: Graf Verlag
- ISBN-10: 386220037X
- ISBN-13: 9783862200375
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