Der Wolkenatlas
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Der Wolkenatlas von David Mitchell
LESEPROBE
Donnerstag, 7. November
Jenseits des indischen Weilers, aneinem einsamen Gestade, stieß ich auf eine Spur frischer Fußabdrücke. Überfauligen Riementang, Meerescocosnüsse u. Bannbusführten sie mich zu ihrem Verursacher, einem Weißen mit flott gestutztem Barteu. übergroßem Biberhut, welcher, Hosenbeine u. Ärmelseiner Seemannsjacke aufgekrempelt, mit einem Teelöffel so andächtig den grobenSand durchschaufelte u. siebte, daß er mich erstbemerkte, als ich ihn aus etwa zehn Schritt Entfernung anrief. Auf diese Weisemachte ich Bekanntschaft mit Dr. Henry Goose,Chirurg der Londoner feinen Gesellschaft. Seine Staatszugehörigkeit erstauntemich nicht. Sollte es irgendwo ein so verlassenes Nest geben, eine so abgelegeneInsel, (laß man dort Zuflucht finden könnte, ohne einemEngländer in die Arme zu laufen, so ist dieser Ort auf keiner mir bekanntenLandkarte verzeichnet.
Ob er an diesem trostlosen Uferetwas verloren habe? Könne ich ihm behülflichsein? Dr. Goose schüttelte den Kopf, knüpfte seinSchnupftuch auf u. breitete mit sichtlichem Stolze dessen Inhalt aus. «Zähne,Sir, sind emaillierte Schätze u. der Gegenstand meiner Suche. In früheren Tagenhielten an diesem idyllischen Gestade Cannibalen ihreFestgelage ab, während deren die Starken sich gierig an den Schwachen labten.Die Zähne spuckten sie aus, wie Sie u. ich Kirschkerne ausspeien. Aber dieseBackenzähne hier werden sich zu Gold verwandeln! Wie das? Ein Künstler inPiccadilly, der Gebisse für den Adel fertigt, zahlt ein hübsches Sümmchen fürmenschliche Beißerchen. Wissen Sie, was ein Viertelpfund von dieser Wareeinbringt, Sir?»
Nein, bekannte ich, das wisse ichnicht.
«Dann werde ich Ihnen auch keinLicht aufstecken, Sir, denn das ist ein Berufsgeheimniß!» Er tippte sich auf die Nase. «Kennen Siedie Marquise Grace of Mayfair, Mr. Ewing? Nein? Um so besserfür Sie, sie ist nämlich ein Cadaver in Unterröcken!Fünf Jahre ist es nun her, seit die alte Vettel meinen Namen beschmutzt hat,ja, u. zwar mit Anschuldigungen, die zu meinem Ausschlußaus der guten Gesellschaft führten.» Dr. Gooseblickte hinaus aufs Meer. «In jener finstren Stunde begann mein Auszug in dieFremde!»
Ich bekundete seiner Misere meine Antheilnahme.
«Ich danke Ihnen, Sir, ich dankeIhnen vielmals, aber diese Zähne», er schüttelte sein Schnupftuch, «sind meineEngel der Erlösung. Lassen Sie mich das erklären: Die Marquise trägt künstlicheZähne, hergestellt von vorgenanntem Dentisten. Kommende Weihnachtszeit, wenndie parfumierte Schnepfe auf dem Botschafterballe dasWort ergreift, werde ich, jawohl ich, Henry Goose,mich erheben u. vor allen Anwesenden verkünden, daßunsere Gastgeberin mit Cannibalenzähnen kaut!Sogleich wird mich Sir Hubert scharf attaquieren.<Legen Sie Ihre Beweise vor>, wird der Flegel pöbeln, <oder geben Siemir Genugthuung!> Ich werde erwidern: <Beweise,Sir Hubert? Wohlan, ich sammelte die Zähne Ihrer Mutter eigenhändig aus dein Spucknapfe des Südpacifik!Hier, Sir, hier sind noch einige von derselben Sorte!> Dann werfe ichebendiese Zähne hier in die Suppenterrine aus Schildpatt, u. das, Sir, gibtdann mir Genugthuung. Die scharfzüngigen Schreiher werden die eiskalte Marquise in ihrenKlatschjournalen gar kochen, u. in der nächsten Saison wird sie sich glücklichschätzen, wenn sie noch eine Einladung zum Armenhausballe erhält!»
In aller Eile entbot ich Henry Goose einen guten Tag. Ich glaube, dieser Mann istirrsinnig!
Freitag, 8. November
In der primitiven Schiffswerftunterhalb meines Fensters schreitet die Arbeit am Klüverbaum unter Mr. Sykes'Leitung voran. Mr. Walker, Ocean Bays einziger Kneipenwirth, ist auch der führende Holzhändler am Ort u.prahlt damit, er sei seinerzeit Schiffsbaumeister in Liverpool gewesen.(Mittlerweile bin ich mit der Etiquette der Antipodenausreichend vertraut, um solche unglaubwürdigen Wahrheiten auf sich beruhen zulassen.) Mr. Sykes berichtete mir, es bedürfe einer ganzen Woche, um die Prophetess nach «BristolerArt» wieder herzurichten. Sieben Tage in der Musketeingelocht zu sein ist wie eine grausame Strafe, doch wenn ich mir dieUrgewalt des tropischen Wirbelsturms u. die über Bord gespülten Seeleute in Erinnerungrufe, verliert mein gegenwärthiges Schicksal anHärte.
Heute morgenbegegnete ich Dr. Goose auf der Treppe, u. wir frühstücktengemeinsam. Er logiert schon seit Mitte October in derMusket, nachdem er mit der Namorados, einem brasilianischen Kauffahrteyschiffe, von Fidschi, wo er in einer Missionsstationseinen Beruf practicierte, hierherkam.Nun wartet er auf einen längst überfälligen australischen Robbenfänger, die Nellie,welcher ihn nach Sydney bringen soll. In der Coloniewird er sich eine Position an Bord eines Passagierschiffes nach dem heimathlichen London suchen.
Mein Urtheilüber Dr. Goose war ungerecht u. voreilig. Man muß schon cynisch sein wieDiogenes, um in meinem Berufe zu reüssieren, aber Cynismus kann einen fürhöhere Werthe blind machen. Der Doctorhat so seine Grillen, über die er für ein Gläschen portugiesischen Pisco (nie im Übermaße) mit Freuden berichtet, doch ichwill ihm zugestehen, daß er östlich von Sydney u.westlich von Valparaiso der einzige andere Gentleman in diesen Breiten ist.Vielleicht setze ich ihm sogar ein Empfehlungsschreiben für die Partridges in Sydney auf, zumal Dr. Gooseu. der liebe Fred aus ein u. demselben Holze geschnitzt sind.
Da mein morgendlicher Ausgang vonschlechtem Wetter vereitelt wurde, fabulierten wir beim Torffeuer, u. dieStunden entschwanden wie Minuten. Die meiste Zeit sprach ich von Tilda u. Jackson sowie von meinen Befürchtungenhinsichtlich des «Goldrausches» in San Francisco. Unsere Unterhaltung wandertevon meiner Heimathstadt zu meinen gegenwärthigenPflichten als Notar in Neusüdwales, von dort über Egel u. Eisenbahnen zu Gibbon,Malthus u. Goodwin. Eine gepflegte Unterhaltung ist wieBalsam, den ich an Bord der Propheten schmerzlichentbehre, u. der Doctor ist ein wahrerUniversalgelehrter. Darüber hinaus besitzt er eine hübsche Armeehandgeschnitzter Schachfiguren, von denen wir eifrig Gebrauch machen werden,bis entweder die Prophetess ausläuft oder die Nellie eintrifft. ()
© Rowohlt Verlag
Übersetzung: Volker Oldenburg
- Autor: David Mitchell
- 2006, 2. Aufl., 667 Seiten, Maße: 15 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Oldenburg, Volker
- Verlag: Rowohlt, Reinbek
- ISBN-10: 3498044990
- ISBN-13: 9783498044992
4.5 von 5 Sternen
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