Die blinde Kommissarin
Kriminalroman. Deutsche Erstausgabe
Hochsommer in Neapel. Blanca Occhiuzzi, Hauptkommissarin der örtlichen Polizei schön, charismatisch und von Geburt an blind wird immer dann gerufen, wenn ein Fall aussichtslos erscheint. Als der bekannte Musiker und Lebemann Vittorio Vialdi ermordet wird,...
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Produktinformationen zu „Die blinde Kommissarin “
Hochsommer in Neapel. Blanca Occhiuzzi, Hauptkommissarin der örtlichen Polizei schön, charismatisch und von Geburt an blind wird immer dann gerufen, wenn ein Fall aussichtslos erscheint. Als der bekannte Musiker und Lebemann Vittorio Vialdi ermordet wird, gibt es viele, die ein Motiv haben. Zu viele. Ein Fall für Blanca und ihr besonderes Gespür für menschliche Abgründe. Lüge und Täuschung: Niemand macht der Kommissarin etwas vor. Diese Gabe bringt oft den Erfolg. In diesem Fall bringt sie Blanca jedoch in höchste Gefahr.
Klappentext zu „Die blinde Kommissarin “
Herbst in Neapel. Blanca Occhiuzzi, Hauptkommissarin der örtlichen Polizei - schön, charismatisch und blind - wird immer dann gerufen, wenn ein Fall aussichtslos erscheint. Als der bekannte Musiker und Lebemann Jerry Vialdi ermordet wird, gibt es viele, die ein Motiv haben. Zu viele. Ein Fall für Blanca und ihr besonderes Gespür für menschliche Abgründe. Lüge und Täuschung: Niemand macht der Kommissarin etwas vor. Diese Gabe bringt oft den Erfolg. In diesem Fall bringt sie Blanca jedoch in höchste Gefahr.
Lese-Probe zu „Die blinde Kommissarin “
Die blinde Kommissarin von Patrizia Rinaldi1.
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Inspektor Arcangelo Liguori durchlebte einen Augenblick der Dankbarkeit.
Nicht den kleinsten Hauch von Unvollkommenheit bemerkte er, und das steigerte sein Glück. Trotz seiner fünfzig Lebensjahre, die eigentlich noch einige mehr waren, kam er sich wieder jung und nützlich vor.
Möglicherweise lag das daran, dass er den August auf Sizilien und in Irland verbracht, seine Liebesaffären ad acta gelegt und den eigenen Körper wiederentdeckt hatte, indem er alles Mögliche nachgeholt hatte. Vielleicht war es aber auch die Belohnung dafür, dass er über Zusammenhänge nachdachte, die ihn eigentlich nichts angingen, ihn dadurch aber erst recht neugierig machten. Die Leere hatte sich mit wirren, aber schönen Verstrickungen gefüllt.
Es ging ihm gut, und deshalb war er gefährlich. In seiner gehobenen Stimmung konnte er sich auf das besinnen, was er am besten beherrschte: den anderen die Stimmung vermiesen, vor allem Commissario Martusciello.
In diesem Oktober hatte er noch nicht einen Deziliter des wiedergewonnenen Lebenssaftes verloren, und so betrat er das Kommissariat in Pozzuoli und suchte Martusciello. Bis vor kurzem war Liguori noch im Kommissariat in Fuorigrotta gewesen.
Commissario Vincenzo Martusciello hatte den kurzen Sommerurlaub mit seiner Ehefrau Santina, seiner Tochter Giulia und der Enkelin in einem Billigklub verbracht.
Ausgerechnet er, der im August nie nach Procida fuhr, weil er die Menschenmassen nicht ertrug, hatte sich dazu breitschlagen lassen, die Familienwürde gegen einen Klubaufenthalt zu tauschen, in dem die Kinder sich nicht pathologisch danebenbenahmen. Warum, wusste er nicht.
Im Billigklub war das Meer flach, der Sandstrand dreckig gewesen. Die Sonne hatte die Brise erstickt und in traurigen Eistruhen begraben.
Schon nach kurzer Zeit sah Martusciello sich nicht mehr als Ehemann, Vater, Großvater und dachte über die Verhaltensweisen gewisser Landtiere nach, die sich ohne Unterlass reproduzierten.
Die Warteschlange vor der Schaukel stürzte ihn in tiefe Melancholie und veranlasste ihn zu einer schwerwiegenden Überlegung: Die Zukunftsperspektive war noch toter als die Brise in der Eistruhe.
Während er im fröhlichen Ghiglia Resort urlaubte, das er insgeheim in »Geiler Reste-Ort« umgetauft hatte, gab er sich der Illusion hin, dass er nach der Rückkehr wieder gern zur Arbeit gehen würde. Sogar die morgendliche Fahrt in der alten U-Bahn - ein übertriebener Name für ausrangierte Züge auf müden Gleisen - würde annehmbar werden.
Doch dem war nicht so.
Klebrig und melancholisch legte sich der Salzgeruch der Langeweile Martusciello ums Herz, unter die Fußsohlen und auf den Dauerschmerz in der rechten Hüfte.
Zu Hause gesellte sich zu den alten Wehwehchen noch ein neues lästiges, und Martusciello verbrachte eine Woche in der Krankenkassen-Vertragsklinik Mareblu. Dort wurde ihm ein Teil seines Körpers entfernt, worüber er aber nicht reden wollte.
Auf all dies reagierte er im Oktober mit Faulheit. Er spazierte nicht mehr ziellos durch die Straßen. Die Menschen interessierten ihn nicht mehr, auch nicht die Tiere oder die Aussicht von Plätzen und Gassen und schon gar nicht die einfühlende und logische Denkweise, die seine Verhöre immer zu einer Art Marathonlauf werden ließ.
Seine Empörung hatte sich verkrochen und mit ihr die Lebenslust, sich wie ein sturer Dorfesel zu benehmen, der nur den ihm bekannten Weg entlangtrottet, auch wenn dieser bereits aus der Mode gekommen ist.
Seine Frau Santina, die aus irgendwelchen unbekannten Gründen immer jünger wurde, sah ihn mit einem Blick voll verbrauchter Liebe an, der ihm auf die Nerven ging.
»Arbeitest du heute Abend nicht? Gehst du nicht aus?«
»Ich gehe nicht aus.«
»Warum nicht?«
»All die Jahre hast du mich mit deinem Warum bleibst du nicht? gequält, und jetzt nervst du mit deinem Warum gehst du nicht?.«
»Mach doch, was du willst.«
Was du willst. Tja, das war das Problem. Er wollte nichts, es interessierte ihn nichts. Er wollte nur nicht mehr vor der Schaukel anstehen.
Auf dem Weg zu Martusciello machte Liguori einen weiten Umweg durch die Korridore, damit er dem Agente Scelto Peppino Càrita nicht über den Weg lief. Seit dieser einen Theaterworkshop besuchte, wollte er Giuseppe Càrita genannt werden, also mit dem Akzent auf dem ersten a anstatt auf dem letzten.
Als Liguori eintrat, tat Martusciello so, als spräche er in das Bakelittelefon, das ihn schon während seiner ganzen Polizeilaufbahn begleitete.
Liguori setzte sich und gab ihm zu verstehen, dass er es nicht eilig hatte. Dann schaute er den Commissario mit seinem schiefen Lächeln, einer Mischung aus Genervtheit und Spott, an.
Martusciello wies mit dem Kinn auf das Telefon und kreiste mit der freien Hand in der Luft: Das kann dauern. Liguori zog den anderen Mundwinkel zu einem Lächeln hoch: Ich habe Zeit. Er stand auf, ging zum Fenster und schaute hinaus.
Es war zwar schon fast Mittag, doch noch waren die Farben nicht mit dem schwülen Schleier aus Luftfeuchtigkeit und Sonnenlicht überzogen. Das Meer war klar erkennbar, die kleinen Wellen, die auf den Strand schwappten, trugen Schaumkronen. Auch in der Ferne war das Blau noch blau, und das Weiß war weiß. Nur wenige ausländische Touristen gingen an Bord der Fähren, die zu den Inseln fuhren. Liguori betrachtete die Uniformen der provisorischen Seeleute. Er strich mit der Hand über sein Leinenhemd, bevor er in die Tasche der Stoffhose griff, die sich kunstvoll über den Lederschuhen faltete, die einen halben Monatslohn von Giuseppe Càrita gekostet hatten.
Martusciello beendete das Telefonat mit dem nicht vorhandenen Gesprächsteilnehmer.
»Cavaliere«, sagte er.
»Oh, schon lange hat mich keiner mehr mit einem Titel angeredet, der mir zusteht.«
Martusciello betitelte Liguori als Cavaliere, Ritter, Großgrundbesitzer, Wissenschaftler, Prinz, Professore, Graf und mit allen möglichen anderen Namen, die mit Reichtum und Wissen in Verbindung standen. Er betonte gerne, dass Inspektor Liguori sich aus einer Laune heraus für die Polizeiarbeit entschieden hatte und nicht aus wirtschaftlicher Notwendigkeit oder Familientradition.
Liguoris Familie gehörte seit Jahrhunderten zum angesehenen, aber politisch unbedeutenden neapolitanischen Adel. Martusciello betonte die Unterschiede ihrer Herkunft, indem er Dialekt sprach und volkstümliche Redewendungen benutzte.
»Was willst du?«
»Man hat Vialdi ermordet, den Schlagersänger.«
»Weiß ich. Und was soll ich da machen?«
»Commissario, was heißt, was soll ich da machen?, hast du den Job gewechselt und mir nichts gesagt?«
»Leider nicht, aber das Elend mit Vialdi fällt in die Zuständigkeit von Commissario Malanò und seinem Büro in Fuorigrotta. So wie man Vialdi aufgefunden hat, werden da allerdings noch viele andere Leute mitmischen wollen. So wie du. Du wirst schon sehen.«
Agente Scelto Peppino Càrita, alias Giuseppe Càrita, betrat das Zimmer, in der Hand ein Tablett mit einer Espressotasse.
Martusciello verdrehte die Augen.
Càrita achtete nicht auf ihn und stelzte mit übertrieben aufgerichtetem Oberkörper auf den Schreibtisch zu.
Liguori lachte.
»Trägst du Absätze? Zeig mal, zieh die Hosenbeine hoch.«
Càrita blieb stehen.
»Keine Absätze, Signore.«
»Signore?« Martusciello ging ihm entgegen, nahm ihm das Tablett ab und stellte es auf den Schreibtisch. »Peppino, seit du Theater spielst, tickst du nicht mehr ganz richtig. Und warum machst du den Kaffee nicht mehr selbst, sondern holst ihn aus der Bar?«
»Giuseppe bitte. Nirgendwo ist festgehalten, dass ich für das Kaffeekochen zuständig wäre«, sagte Càrita.
Martusciello verharrte mit der Tasse in der Luft.
»Festgehalten? Zuständig wäre? Tu mir einen Gefallen, Peppino, verschwinde.«
Càrita deutete eine Verbeugung an und ging hinaus. Martusciello starrte Liguori an: »Begleitest du ihn nicht?«
Er schüttelte den Kopf und hob eine Augenbraue.
»Schade.«
»Martusciello, es ist nämlich so: Commissario Malanò bittet uns um Amtshilfe. Vialdi lebte seit ein paar Jahren in Pozzuoli. Soll ich es dir erzählen? Oder soll ich dir lieber ein Protokoll von meinem Gespräch mit Commissario Malanò schreiben?«
»Mach das. Und am besten gleich in doppelter Ausführung, dann lese ich keine von beiden.«
2. Sovrintendente Blanca Occhiuzzi zog sich einen der Kopfhörerstöpsel aus dem Ohr, durch die Mozart bis in die letzten Windungen ihres Gehirns vordrang.
Trotz der Musik hatte sie ein Geräusch auf der Straße gehört, das selbst bei dem starken Verkehr zu dieser Uhrzeit ungewöhnlich war.
Sie wohnte in Fuorigrotta, gegenüber vom San-Paolo- Stadion, und war an Stimmen und Autos gewöhnt. Aber an diesem Morgen meldeten die Geräusche etwas Ungewöhnliches. Sie zog sich auch den anderen Ohrstöpsel heraus.
Auf dem Balkon verwandelte sich das Tageslicht für sie nur in einen helleren Schatten. Blanca ertastete das kühle Metallgeländer und lehnte sich dagegen.
Sie hatte frei, nachdem sie den ganzen Sommer über gearbeitet hatte. Im August war Ninì, ihre Pfl egetochter, nach London geflogen: Mit fünfzehn war sie zum ersten Mal allein verreist. Blanca hingegen war die Lust auf Urlaub vergangen. Stattdessen hatte sie ein paar Fälle gelöst.
Sie hatte Ninì zu dieser Reise gedrängt, und dafür strengte sich das Mädchen nun doppelt an, ihr die Augen zu ersetzen, die nur Hell und Dunkel unterscheiden konnten. Nicht besonders vernünftig.
Am ersten Abend von Ninìs Abwesenheit hatte Blanca am Kissen ihrer Tochter geschnuppert und den Glyzinienduft eingesogen. Blancas verbliebene Sinne hatten sich verfeinert. Seit sie mit dreizehn Jahren bei einem Brand einen Großteil ihrer Sehfähigkeit und noch vieles andere verloren hatte, hörte, roch und tastete sie besser.
Sie roch an Ninìs Kissen. Dann schwor sie sich, dass sie das nie wieder tun würde.
»Du und ich, wir haben schon zu viel verloren. Warum sollst du deinen Augen all das vorenthalten, was dir zusteht, nur um sie mit mir zu teilen?«
Blanca nutzte Ninìs Abwesenheit und suchte sich eine Begleitperson, die sie eigentlich nie gewollt hatte. Sie entschied sich für Sergio Manzione, einen zwanzigjährigen Studenten von außerhalb. Sie wählte ihn wegen seiner respektlosen Art, die sie jedem Anzeichen von Mitleid vorzog. Sie kaufte einen Gebrauchtwagen und stellte sich langsam darauf ein, sich zumindest teilweise wieder von Ninì zu lösen.
Die Geräusche auf der Straße wurden lauter: Sirenen, Bremsen, Türenschlagen. Von unten stieg der Gestank von Benzin und Verbranntem auf, es roch nach Frittierfett und Müll. Blanca hielt sich den Pulloverärmel vors Gesicht, dann griff sie zum Telefon, zählte und drückte die Taste für die Kurzwahl.
»Sergio, was ist passiert?«
»Keine Ahnung. Ich hab geschlafen. Lass es dir von Ninì erklären.«
»Ninì ist in der Schule. Lernst du eigentlich auch mal was?«
»Fang nicht damit an, Tante, das frag ich mich selbst schon oft genug.«
»Nenn mich nicht Tante.«
»Und du denk nicht immer an meinen universitären Misserfolg. Was soll man denn mit einem Abschluss in klassischer Literatur anfangen?«
»Selbst schuld, oder hat man dich in Handschellen zur Uni geschleift?«
»Brauchst du was, Blanca?«
»Komm her, ich muss nachsehen, was hier los ist.«
Eine Viertelstunde später klopfte Sergio an der Tür. Blanca lehnte den Arm ab, den er ihr anbot, und lief die Treppe hin unter.
Sie bewegte sich geschmeidig. Ihr Körper schien die Hindernisse zu bemerken, noch bevor er sie berührte. Blancas Schönheit lag nicht in körperlichen Attributen, sondern in der Kombination von Kontrasten. Ihre Stimme klang jünger, als sie war. Die kurzen Haare unterstrichen die Weiblichkeit ihres Gesichts. Die vollen, geschwungenen Lippen verbargen unregelmäßige, leicht vorstehende Schneidezähne. Und wenn sie lächelte, war nicht klar, ob sie beißen oder küssen wollte.
»Bleib dicht neben mir, aber fass mich nicht an. Ich greife schon nach dir.«
»Ach, wenn die anderen dich nur hören könnten, Tante. «
»Was fällt dir ein? Wenn ich dich so höre, vermisse ich meinen Hund.«
»Ich hab dich auch gern.«
Sie traten auf die Straße. Sergio erklärte ihr, dass überall Polizei war, der Verkehr sich staute und Menschen in Gruppen herumstanden.
Blanca legte den Kopf in den Nacken.
»Sie sagen, dass man Jerry Vialdi ermordet hat, den Sänger. Sie haben seine Leiche in einem Tor vom San Paolo gefunden. Bring mich zu einem Polizisten, aber such einen cleveren aus.«
»Wie hast du das aus all diesem Chaos herausgehört?«
»Ich lese von den Lippen.«
»Ein Punkt für dich.«
Nachdem sie mit einem Inspektor vom Kommissariat Fuorigrotta gesprochen hatte, bat Blanca Occhiuzzi Sergio, sie in ihr Büro in Pozzuoli zu fahren.
»Der Urlaub ist zu Ende.«
© Ullstein Buchverlage, Berlin
Inspektor Arcangelo Liguori durchlebte einen Augenblick der Dankbarkeit.
Nicht den kleinsten Hauch von Unvollkommenheit bemerkte er, und das steigerte sein Glück. Trotz seiner fünfzig Lebensjahre, die eigentlich noch einige mehr waren, kam er sich wieder jung und nützlich vor.
Möglicherweise lag das daran, dass er den August auf Sizilien und in Irland verbracht, seine Liebesaffären ad acta gelegt und den eigenen Körper wiederentdeckt hatte, indem er alles Mögliche nachgeholt hatte. Vielleicht war es aber auch die Belohnung dafür, dass er über Zusammenhänge nachdachte, die ihn eigentlich nichts angingen, ihn dadurch aber erst recht neugierig machten. Die Leere hatte sich mit wirren, aber schönen Verstrickungen gefüllt.
Es ging ihm gut, und deshalb war er gefährlich. In seiner gehobenen Stimmung konnte er sich auf das besinnen, was er am besten beherrschte: den anderen die Stimmung vermiesen, vor allem Commissario Martusciello.
In diesem Oktober hatte er noch nicht einen Deziliter des wiedergewonnenen Lebenssaftes verloren, und so betrat er das Kommissariat in Pozzuoli und suchte Martusciello. Bis vor kurzem war Liguori noch im Kommissariat in Fuorigrotta gewesen.
Commissario Vincenzo Martusciello hatte den kurzen Sommerurlaub mit seiner Ehefrau Santina, seiner Tochter Giulia und der Enkelin in einem Billigklub verbracht.
Ausgerechnet er, der im August nie nach Procida fuhr, weil er die Menschenmassen nicht ertrug, hatte sich dazu breitschlagen lassen, die Familienwürde gegen einen Klubaufenthalt zu tauschen, in dem die Kinder sich nicht pathologisch danebenbenahmen. Warum, wusste er nicht.
Im Billigklub war das Meer flach, der Sandstrand dreckig gewesen. Die Sonne hatte die Brise erstickt und in traurigen Eistruhen begraben.
Schon nach kurzer Zeit sah Martusciello sich nicht mehr als Ehemann, Vater, Großvater und dachte über die Verhaltensweisen gewisser Landtiere nach, die sich ohne Unterlass reproduzierten.
Die Warteschlange vor der Schaukel stürzte ihn in tiefe Melancholie und veranlasste ihn zu einer schwerwiegenden Überlegung: Die Zukunftsperspektive war noch toter als die Brise in der Eistruhe.
Während er im fröhlichen Ghiglia Resort urlaubte, das er insgeheim in »Geiler Reste-Ort« umgetauft hatte, gab er sich der Illusion hin, dass er nach der Rückkehr wieder gern zur Arbeit gehen würde. Sogar die morgendliche Fahrt in der alten U-Bahn - ein übertriebener Name für ausrangierte Züge auf müden Gleisen - würde annehmbar werden.
Doch dem war nicht so.
Klebrig und melancholisch legte sich der Salzgeruch der Langeweile Martusciello ums Herz, unter die Fußsohlen und auf den Dauerschmerz in der rechten Hüfte.
Zu Hause gesellte sich zu den alten Wehwehchen noch ein neues lästiges, und Martusciello verbrachte eine Woche in der Krankenkassen-Vertragsklinik Mareblu. Dort wurde ihm ein Teil seines Körpers entfernt, worüber er aber nicht reden wollte.
Auf all dies reagierte er im Oktober mit Faulheit. Er spazierte nicht mehr ziellos durch die Straßen. Die Menschen interessierten ihn nicht mehr, auch nicht die Tiere oder die Aussicht von Plätzen und Gassen und schon gar nicht die einfühlende und logische Denkweise, die seine Verhöre immer zu einer Art Marathonlauf werden ließ.
Seine Empörung hatte sich verkrochen und mit ihr die Lebenslust, sich wie ein sturer Dorfesel zu benehmen, der nur den ihm bekannten Weg entlangtrottet, auch wenn dieser bereits aus der Mode gekommen ist.
Seine Frau Santina, die aus irgendwelchen unbekannten Gründen immer jünger wurde, sah ihn mit einem Blick voll verbrauchter Liebe an, der ihm auf die Nerven ging.
»Arbeitest du heute Abend nicht? Gehst du nicht aus?«
»Ich gehe nicht aus.«
»Warum nicht?«
»All die Jahre hast du mich mit deinem Warum bleibst du nicht? gequält, und jetzt nervst du mit deinem Warum gehst du nicht?.«
»Mach doch, was du willst.«
Was du willst. Tja, das war das Problem. Er wollte nichts, es interessierte ihn nichts. Er wollte nur nicht mehr vor der Schaukel anstehen.
Auf dem Weg zu Martusciello machte Liguori einen weiten Umweg durch die Korridore, damit er dem Agente Scelto Peppino Càrita nicht über den Weg lief. Seit dieser einen Theaterworkshop besuchte, wollte er Giuseppe Càrita genannt werden, also mit dem Akzent auf dem ersten a anstatt auf dem letzten.
Als Liguori eintrat, tat Martusciello so, als spräche er in das Bakelittelefon, das ihn schon während seiner ganzen Polizeilaufbahn begleitete.
Liguori setzte sich und gab ihm zu verstehen, dass er es nicht eilig hatte. Dann schaute er den Commissario mit seinem schiefen Lächeln, einer Mischung aus Genervtheit und Spott, an.
Martusciello wies mit dem Kinn auf das Telefon und kreiste mit der freien Hand in der Luft: Das kann dauern. Liguori zog den anderen Mundwinkel zu einem Lächeln hoch: Ich habe Zeit. Er stand auf, ging zum Fenster und schaute hinaus.
Es war zwar schon fast Mittag, doch noch waren die Farben nicht mit dem schwülen Schleier aus Luftfeuchtigkeit und Sonnenlicht überzogen. Das Meer war klar erkennbar, die kleinen Wellen, die auf den Strand schwappten, trugen Schaumkronen. Auch in der Ferne war das Blau noch blau, und das Weiß war weiß. Nur wenige ausländische Touristen gingen an Bord der Fähren, die zu den Inseln fuhren. Liguori betrachtete die Uniformen der provisorischen Seeleute. Er strich mit der Hand über sein Leinenhemd, bevor er in die Tasche der Stoffhose griff, die sich kunstvoll über den Lederschuhen faltete, die einen halben Monatslohn von Giuseppe Càrita gekostet hatten.
Martusciello beendete das Telefonat mit dem nicht vorhandenen Gesprächsteilnehmer.
»Cavaliere«, sagte er.
»Oh, schon lange hat mich keiner mehr mit einem Titel angeredet, der mir zusteht.«
Martusciello betitelte Liguori als Cavaliere, Ritter, Großgrundbesitzer, Wissenschaftler, Prinz, Professore, Graf und mit allen möglichen anderen Namen, die mit Reichtum und Wissen in Verbindung standen. Er betonte gerne, dass Inspektor Liguori sich aus einer Laune heraus für die Polizeiarbeit entschieden hatte und nicht aus wirtschaftlicher Notwendigkeit oder Familientradition.
Liguoris Familie gehörte seit Jahrhunderten zum angesehenen, aber politisch unbedeutenden neapolitanischen Adel. Martusciello betonte die Unterschiede ihrer Herkunft, indem er Dialekt sprach und volkstümliche Redewendungen benutzte.
»Was willst du?«
»Man hat Vialdi ermordet, den Schlagersänger.«
»Weiß ich. Und was soll ich da machen?«
»Commissario, was heißt, was soll ich da machen?, hast du den Job gewechselt und mir nichts gesagt?«
»Leider nicht, aber das Elend mit Vialdi fällt in die Zuständigkeit von Commissario Malanò und seinem Büro in Fuorigrotta. So wie man Vialdi aufgefunden hat, werden da allerdings noch viele andere Leute mitmischen wollen. So wie du. Du wirst schon sehen.«
Agente Scelto Peppino Càrita, alias Giuseppe Càrita, betrat das Zimmer, in der Hand ein Tablett mit einer Espressotasse.
Martusciello verdrehte die Augen.
Càrita achtete nicht auf ihn und stelzte mit übertrieben aufgerichtetem Oberkörper auf den Schreibtisch zu.
Liguori lachte.
»Trägst du Absätze? Zeig mal, zieh die Hosenbeine hoch.«
Càrita blieb stehen.
»Keine Absätze, Signore.«
»Signore?« Martusciello ging ihm entgegen, nahm ihm das Tablett ab und stellte es auf den Schreibtisch. »Peppino, seit du Theater spielst, tickst du nicht mehr ganz richtig. Und warum machst du den Kaffee nicht mehr selbst, sondern holst ihn aus der Bar?«
»Giuseppe bitte. Nirgendwo ist festgehalten, dass ich für das Kaffeekochen zuständig wäre«, sagte Càrita.
Martusciello verharrte mit der Tasse in der Luft.
»Festgehalten? Zuständig wäre? Tu mir einen Gefallen, Peppino, verschwinde.«
Càrita deutete eine Verbeugung an und ging hinaus. Martusciello starrte Liguori an: »Begleitest du ihn nicht?«
Er schüttelte den Kopf und hob eine Augenbraue.
»Schade.«
»Martusciello, es ist nämlich so: Commissario Malanò bittet uns um Amtshilfe. Vialdi lebte seit ein paar Jahren in Pozzuoli. Soll ich es dir erzählen? Oder soll ich dir lieber ein Protokoll von meinem Gespräch mit Commissario Malanò schreiben?«
»Mach das. Und am besten gleich in doppelter Ausführung, dann lese ich keine von beiden.«
2. Sovrintendente Blanca Occhiuzzi zog sich einen der Kopfhörerstöpsel aus dem Ohr, durch die Mozart bis in die letzten Windungen ihres Gehirns vordrang.
Trotz der Musik hatte sie ein Geräusch auf der Straße gehört, das selbst bei dem starken Verkehr zu dieser Uhrzeit ungewöhnlich war.
Sie wohnte in Fuorigrotta, gegenüber vom San-Paolo- Stadion, und war an Stimmen und Autos gewöhnt. Aber an diesem Morgen meldeten die Geräusche etwas Ungewöhnliches. Sie zog sich auch den anderen Ohrstöpsel heraus.
Auf dem Balkon verwandelte sich das Tageslicht für sie nur in einen helleren Schatten. Blanca ertastete das kühle Metallgeländer und lehnte sich dagegen.
Sie hatte frei, nachdem sie den ganzen Sommer über gearbeitet hatte. Im August war Ninì, ihre Pfl egetochter, nach London geflogen: Mit fünfzehn war sie zum ersten Mal allein verreist. Blanca hingegen war die Lust auf Urlaub vergangen. Stattdessen hatte sie ein paar Fälle gelöst.
Sie hatte Ninì zu dieser Reise gedrängt, und dafür strengte sich das Mädchen nun doppelt an, ihr die Augen zu ersetzen, die nur Hell und Dunkel unterscheiden konnten. Nicht besonders vernünftig.
Am ersten Abend von Ninìs Abwesenheit hatte Blanca am Kissen ihrer Tochter geschnuppert und den Glyzinienduft eingesogen. Blancas verbliebene Sinne hatten sich verfeinert. Seit sie mit dreizehn Jahren bei einem Brand einen Großteil ihrer Sehfähigkeit und noch vieles andere verloren hatte, hörte, roch und tastete sie besser.
Sie roch an Ninìs Kissen. Dann schwor sie sich, dass sie das nie wieder tun würde.
»Du und ich, wir haben schon zu viel verloren. Warum sollst du deinen Augen all das vorenthalten, was dir zusteht, nur um sie mit mir zu teilen?«
Blanca nutzte Ninìs Abwesenheit und suchte sich eine Begleitperson, die sie eigentlich nie gewollt hatte. Sie entschied sich für Sergio Manzione, einen zwanzigjährigen Studenten von außerhalb. Sie wählte ihn wegen seiner respektlosen Art, die sie jedem Anzeichen von Mitleid vorzog. Sie kaufte einen Gebrauchtwagen und stellte sich langsam darauf ein, sich zumindest teilweise wieder von Ninì zu lösen.
Die Geräusche auf der Straße wurden lauter: Sirenen, Bremsen, Türenschlagen. Von unten stieg der Gestank von Benzin und Verbranntem auf, es roch nach Frittierfett und Müll. Blanca hielt sich den Pulloverärmel vors Gesicht, dann griff sie zum Telefon, zählte und drückte die Taste für die Kurzwahl.
»Sergio, was ist passiert?«
»Keine Ahnung. Ich hab geschlafen. Lass es dir von Ninì erklären.«
»Ninì ist in der Schule. Lernst du eigentlich auch mal was?«
»Fang nicht damit an, Tante, das frag ich mich selbst schon oft genug.«
»Nenn mich nicht Tante.«
»Und du denk nicht immer an meinen universitären Misserfolg. Was soll man denn mit einem Abschluss in klassischer Literatur anfangen?«
»Selbst schuld, oder hat man dich in Handschellen zur Uni geschleift?«
»Brauchst du was, Blanca?«
»Komm her, ich muss nachsehen, was hier los ist.«
Eine Viertelstunde später klopfte Sergio an der Tür. Blanca lehnte den Arm ab, den er ihr anbot, und lief die Treppe hin unter.
Sie bewegte sich geschmeidig. Ihr Körper schien die Hindernisse zu bemerken, noch bevor er sie berührte. Blancas Schönheit lag nicht in körperlichen Attributen, sondern in der Kombination von Kontrasten. Ihre Stimme klang jünger, als sie war. Die kurzen Haare unterstrichen die Weiblichkeit ihres Gesichts. Die vollen, geschwungenen Lippen verbargen unregelmäßige, leicht vorstehende Schneidezähne. Und wenn sie lächelte, war nicht klar, ob sie beißen oder küssen wollte.
»Bleib dicht neben mir, aber fass mich nicht an. Ich greife schon nach dir.«
»Ach, wenn die anderen dich nur hören könnten, Tante. «
»Was fällt dir ein? Wenn ich dich so höre, vermisse ich meinen Hund.«
»Ich hab dich auch gern.«
Sie traten auf die Straße. Sergio erklärte ihr, dass überall Polizei war, der Verkehr sich staute und Menschen in Gruppen herumstanden.
Blanca legte den Kopf in den Nacken.
»Sie sagen, dass man Jerry Vialdi ermordet hat, den Sänger. Sie haben seine Leiche in einem Tor vom San Paolo gefunden. Bring mich zu einem Polizisten, aber such einen cleveren aus.«
»Wie hast du das aus all diesem Chaos herausgehört?«
»Ich lese von den Lippen.«
»Ein Punkt für dich.«
Nachdem sie mit einem Inspektor vom Kommissariat Fuorigrotta gesprochen hatte, bat Blanca Occhiuzzi Sergio, sie in ihr Büro in Pozzuoli zu fahren.
»Der Urlaub ist zu Ende.«
© Ullstein Buchverlage, Berlin
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Autoren-Porträt von Patrizia Rinaldi
Patrizia Rinaldi wurde 1960 geboren. Sie hat Philosophie studiert und lebt in Neapel.
Bibliographische Angaben
- Autor: Patrizia Rinaldi
- 2014, 224 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Aus dem Italienischen übersetzt von Ulrike Schimming
- Übersetzer: Ulrike Schimming
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548286135
- ISBN-13: 9783548286136
- Erscheinungsdatum: 09.05.2014
Rezension zu „Die blinde Kommissarin “
"Die Hauptfiguren, allen voran Blanca, sind feinfühlig entwickelt, Rinaldi hat ihren Roman mit Anspielungen und Mehrdeutigkeiten versehen.", krimi-couch, Almut Oetjen, 01.07.2014
Kommentar zu "Die blinde Kommissarin"
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