Die Bourne Intrige / Jason Bourne Bd.7
Roman
Nach einem mörderischen Zweikampf mit Leonid Arkadin flieht Jason Bourne schwer verletzt nach Bali. Er täuscht seinen Tod vor und nimmt eine neue Identität an. Im Geheimen plant er die finale Hetzjagd auf den Killer. Doch Arkadin hat ihn längst durchschaut.
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Produktinformationen zu „Die Bourne Intrige / Jason Bourne Bd.7 “
Nach einem mörderischen Zweikampf mit Leonid Arkadin flieht Jason Bourne schwer verletzt nach Bali. Er täuscht seinen Tod vor und nimmt eine neue Identität an. Im Geheimen plant er die finale Hetzjagd auf den Killer. Doch Arkadin hat ihn längst durchschaut.
Klappentext zu „Die Bourne Intrige / Jason Bourne Bd.7 “
Er ist eine tödliche Waffe - Jason BourneNach einem mörderischen Zweikampf mit dem russischen Killer Leonid Arkadin taucht Jason Bourne schwer verletzt auf Bali unter. Er täuscht seinen Tod vor und nimmt eine neue Identität an. Im Geheimen plant er die finale Hetzjagd auf den Killer. Doch Arkadin hat Bournes Manöver längst durchschaut. Ein teuflisches Katz-und-Maus-Spiel nimmt seinen Lauf.
Lese-Probe zu „Die Bourne Intrige / Jason Bourne Bd.7 “
Die Bourne Intrige von Robert Ludlum und Eric van LustbaderPROLOG
MÜNCHEN, DEUTSCHLAND / BALI, INDONESIEN
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»Ich spreche ganz gut Russisch«, sagte Verteidigungsminister Bud Halliday, »aber ich würde lieber Englisch sprechen.«
»Das ist mir recht«, betonte der russische Oberst mit schwerem Akzent. »Ich unterhalte mich immer gern in einer fremden Sprache.«
Halliday reagierte mit einem säuerlichen Lächeln auf den Seitenhieb des Russen. Es war wohlbekannt, dass Amerikaner auch im Ausland nur Englisch sprechen wollten.
»Gut. Dann werden wir die Sache schnell erledigt haben.« Doch statt zu beginnen, starrte er nur auf eine Wand voll mit schlechten Porträtfotos von Jazzgrößen wie Miles Davis und John Coltrane - zweifellos Kopien von Pressefotos.
Jetzt, wo er dem Oberst zum ersten Mal gegenübersaß, kamen ihm Zweifel, ob dieses Treffen eine gute Idee war. Zum einen war er jünger, als Halliday gedacht hatte. Er hatte dichtes blondes Haar, kurz geschnitten, wie es für russische Militärs typisch war. Zum anderen sah er aus wie ein Mann, der seine Zeit nicht hinter einem Schreibtisch verbrachte. Halliday sah, wie sich die Muskeln unter dem billigen Anzug wölbten. Der Mann strahlte eine seltsame Ruhe aus, die Halliday irgendwie beunruhigte. Aber es waren seine Augen - diese blassen, tiefliegenden, starr dreinblickenden Augen -, die den Minister wirklich nervös machten. Es kam ihm vor, als würde er ein Foto vor sich sehen und nicht echte Augen. Die Knollennase verstärkte nur den unerbittlichen Eindruck dieser Augen; es war, als wäre da keine Seele dahinter, nur ein unbeugsamer Wille, etwas Uraltes und Böses, wie aus einer der Geschichten von H. P. Lovecraft, die Halliday in seiner Jugend verschlungen hatte.
Er unterdrückte seinen Drang, einfach aufzustehen und hinauszugehen. Immerhin hatte er die weite Reise aus einem bestimmten Grund gemacht, rief er sich in Erinnerung.
Der Smog, der über München hing - und der den gleichen schmutzig grauen Farbton hatte wie Karpows Augen -, spiegelte genau Hallidays Stimmung wider. Am liebsten hätte er diese trübe graue Stadt auf der Stelle wieder verlassen, aber das war nun einmal nicht möglich. Und so saß er hier in diesem verrauchten Jazzkeller, nachdem er in der von Touristen überschwemmten Rumfordstraße aus einer gepanzerten Lincoln-Limousine gestiegen war. Was hatte dieser Russe so Besonderes an sich, dass der amerikanische Verteidigungsminister 6800 Kilometer zurücklegte, um sich mit ihm in einer Stadt zu treffen, die er nicht mochte? Boris Karpow war Oberst im sogenannten FSB-2, der mächtigen russischen Antidrogenbehörde. Der kometenhafte Aufstieg des FSB-2 an die Macht drückte sich auch darin aus, dass ein Vertreter der Organisation in der Lage war, dem amerikanischen Verteidigungsminister eine direkte Botschaft zukommen zu lassen und ihn aus Washington herauszulocken.
Aber Karpow hatte angedeutet, dass er etwas anzubieten habe, was für Halliday sehr wertvoll sei. Der Verteidigungsminister hätte sich fragen können, was das sein mochte, aber er war zu sehr mit der Frage beschäftigt, was der Russe dafür verlangen würde. Bei solchen Geschäften bekam man nichts ohne Gegenleistung, das wusste Halliday nur zu gut. Er hatte jahrzehntelange Erfahrung in dem politischen Machtpoker im Umfeld des Präsidenten. Er hatte sich auch auf Geschäfte eingelassen, die ihm nicht leichtgefallen waren, aber Kompromisse gehörten nun einmal dazu, im eigenen Land wie auf der internationalen Bühne.
Dennoch hätte Halliday Karpows Angebot wahrscheinlich nicht einmal in Erwägung gezogen, wenn seine eigene Position beim Präsidenten nicht so geschwächt gewesen wäre. Der erschreckend abrupte Absturz von Luther LaValle, der als Geheimdienstzar für ihn tätig war, hatte Hallidays Machtbasis erschüttert. Hinter seinem Rücken wurde er selbst von Freunden und Verbündeten kritisiert, und er fragte sich schon, wer von ihnen ihm als Erster das sprichwörtliche Messer in den Rücken stoßen würde.
Aber er war lange genug im Geschäft, um zu wissen, dass die Rettung manchmal in scheinbar unangenehmer Gestalt auftauchen konnte. Er hoffte, dass Karpows Geschäft ihm das politische Kapital liefern würde, mit dem er sein Ansehen beim Präsidenten zurückgewinnen und seine Machtbasis innerhalb der Rüstungsindustrie stärken konnte.
Während das Trio auf der Bühne seinen lauten Klangteppich entfaltete, ging Halliday noch einmal in Gedanken die Akte über Boris Karpow durch - so als könnte er jetzt irgendwelche Einzelheiten darin finden, die ihm beim Lesen entgangen waren. Doch die Informationen, die sie über den Mann besaßen, waren äußerst spärlich. Es gab nicht einmal ein Foto, nur die vier dürftigen Absätze, die auf einem einzigen Blatt Papier Platz hatten, das mit dem Vermerk TOP SECRET versehen war. Nachdem Russland für die jetzige Regierung keine große Rolle mehr spielte, hatte die NSA nur beschränkte Kenntnisse davon, was sich in Russland hinter den Kulissen abspielte. Noch weniger wusste man von den Aktivitäten des FSB-2, dessen wahre Mission absolut geheim war, viel geheimer noch als die des Inlandsgeheimdienstes FSB, der Nachfolgeorganisation des einst allmächtigen KGB.
»Mr. Smith, Sie wirken zerstreut«, bemerkte der Russe. Sie hatten sich darauf geeinigt, in der Öffentlichkeit die Pseudonyme Mr. Smith und Mr. Jones zu verwenden.
Der Kopf des Ministers wirbelte herum. Er fühlte sich zutiefst unwohl in diesem Kellerraum - im Gegensatz zu Karpow, der ihm immer mehr wie ein Geschöpf der Dunkelheit vorkam. »Da irren Sie sich, Mr. Jones«, erwiderte Halliday mit lauter Stimme, um sich bei dem rhythmischen Lärm verständlich zu machen. »Ich genieße nur sozusagen als Tourist das stimmungsvolle Ambiente, das Sie für unser Treffen ausgesucht haben.«
Der Oberst lachte leise. »Sie haben einen schrägen Humor, was?«
»Sie haben mich durchschaut, Mr. Jones.«
Der Oberst lachte laut. »Da bin ich mir nicht so sicher, Mr. Smith. Nachdem wir nicht einmal die eigene Ehefrau wirklich kennen, kann ich mir schwer vorstellen, unsere ... Ansprechpartner zu kennen.«
Bei Karpows kurzem Zögern hatte sich Halliday gefragt, ob der Russe vielleicht Gegner oder Gegenspieler sagen würde und nicht das neutrale Wort, das er schließlich wählte. Er dachte gar nicht darüber nach, wie viel Karpow über seine politische Stellung wusste, weil es ohnehin keine Rolle spielte. Was ihn interessierte, war ausschließlich, ob ihm das Geschäft, das der Russe ihm anzubieten hatte, nützlich sein konnte oder nicht.
Die Musik wechselte das Tempo, der einzige Anhaltspunkt für den Minister, dass das Trio auf der Bühne nahtlos zu einem anderen Titel übergegangen war. Halliday beugte sich über sein viel zu bitteres Bier, das er noch kaum angerührt hatte. Natürlich hatten sie kein Coors in dieser Spelunke. »Kommen wir doch bitte zur Sache, ja?«
»Gern.« Oberst Karpow legte seine Hände auf die bronzefarbenen Unterarme. Die Fingerknöchel waren narbig und gelb von Schwielen, so dass sie aussahen wie die Bergkämme der Rockies. »Mr. Smith, ich brauche Ihnen sicher nicht zu erklären, wer Jason Bourne ist, nicht wahr?«
Hallidays Gesichtsausdruck verhärtete sich, als er den Namen hörte. Es war ihm, als hätte ihn der Russe mit Freon angesprüht. »Was wollen Sie mir sagen?«, fragte er hölzern.
»Was ich Ihnen sagen will, ist Folgendes: Ich werde Jason Bourne für Sie töten.«
Halliday verschwendete keine Zeit damit zu fragen, woher Karpow wusste, dass er Bournes Tod wollte - die NSA war im vergangenen Monat so aktiv in Moskau gewesen, als Bourne in der Stadt war, dass selbst einem taubstummen Blinden nicht entgangen wäre, dass ihn der amerikanische Militärgeheimdienst beseitigen wollte.
»Sehr großzügig von Ihnen, Mr. Jones.«
»Nein, Sir, großzügig ist das nicht. Ich habe meine eigenen Gründe.«
Der Minister entspannte sich ein wenig. »Also gut, sagen wir, Sie töten Bourne. Was wollen Sie dafür?«
Jeder andere hätte nur ein Funkeln in Karpows Augen gesehen, aber dem Verteidigungsminister, der ihn immer noch einzuschätzen versuchte, kam es so vor, als hätte ihm der Tod zugezwinkert.
»Ich weiß, was Sie denken, Mr. Smith. Sie erwarten das Schlimmste - eine hohe Summe. Aber ich will etwas an deres dafür, dass Sie mir grünes Licht geben, Jason Bourne auszuschalten, ohne dass ich mit irgendwelchen Konsequenzen wegen etwaiger Kollateralschäden zu rechnen hätte. Ich will, dass Sie jemanden eliminieren, der mir ein Dorn im Auge ist.«
»Jemand, den Sie nicht selbst ausschalten können.« Karpow nickte. »Sie haben mich durchschaut, Mr. Smith.«
Die beiden Männer lachten gleichzeitig, wenn auch in völlig unterschiedlichem Ton.
»Also«, sagte Halliday schließlich, »wer ist das Ziel?« »Abdulla Khoury.«
Hallidays Herz sank. »Der Führer der Östlichen Bruderschaft. Herrgott im Himmel, da können Sie gleich von mir verlangen, den Papst auszuschalten.«
»Den Papst auszuschalten - davon hätten wir beide nichts. Aber bei Abdulla Khoury sieht das ganz anders aus, nicht wahr?«
»Ja, natürlich. Der Mann ist ein islamistischer Fanatiker und eine Bedrohung. Er ist ein enger Verbündeter des iranischen Präsidenten. Aber die Östliche Bruderschaft ist eine weltweite Organisation. Khoury hat viele mächtige Freunde.« Der Minister schüttelte energisch den Kopf. »Wer ihn ausschalten will, der begeht politischen Selbstmord.«
Karpow nickte. »Was Sie sagen, ist alles richtig. Aber was ist mit den terroristischen Aktivitäten der Bruderschaft?«
Halliday schnaubte verächtlich. »Gerüchte gibt es genug, aber nichts Handfestes. Niemand in unseren Geheimdiensten hat auch nur den kleinsten Beweis dafür gefunden, dass sie Verbindungen zu terroristischen Organisationen hat. Und glauben Sie mir, wir haben wirklich gründlich gesucht.«
»Daran zweifle ich nicht. Das heißt also, Sie haben in Professor Specters Haus keine Hinweise auf terroristische Aktivitäten gefunden.«
»Es besteht kein Zweifel, dass der gute Professor ein Terroristenjäger war, aber was die Behauptungen betrifft, dass er noch etwas anderes gewesen sein könnte ...« Halliday zuckte die Achseln.
Plötzlich wurde Karpows Gesicht von einem Lächeln erhellt, und im nächsten Augenblick lag ein unbeschriebener Umschlag zwischen ihnen auf dem Tisch. »Dann werden Sie das hier überaus hilfreich finden.« Wie ein Schachspieler, der mit seiner Dame den entscheidenden Zug macht, um den Gegner schachmatt zu setzen, schob Karpow dem Minister den Umschlag zu.
»Wie Sie wissen«, fuhr der Oberst fort, während Halliday den Umschlag öffnete und den Inhalt begutachtete, »beschäftigt sich der FSB-2 hauptsächlich mit dem internationalen Drogenhandel.«
»Das habe ich gehört«, bemerkte Halliday trocken, denn er wusste verdammt gut, dass der FSB-2 ein viel breiteres Betätigungsfeld hatte.
»Vor zehn Tagen«, fuhr Karpow fort, »begannen wir mit der letzten Phase einer Aktion in Mexiko, an der wir mehr als zwei Jahre gearbeitet hatten, weil eine der Moskauer Mafiaorganisationen, die Kazanskaja, sich vor einiger Zeit auch auf den Drogenhandel verlegt hat und jetzt nach einem sicheren Vertriebsweg sucht.«
Halliday nickte. Er wusste ein paar Dinge über die Kazanskaja, eine der berüchtigtsten Moskauer Mafiaorganisationen, und ihren Kopf Dimitri Maslow.
»Ich darf hinzufügen, dass wir auf der ganzen Linie erfolgreich waren«, sagte der Oberst. »Als wir das Haus des toten Drogenbarons Gustavo Moreno durchsuchten, konnten wir ein Notebook sicherstellen. Die Informationen, die Sie hier lesen, stammen von dessen Festplatte.«
Hallidays Fingerspitzen fühlten sich kalt an. Die Seiten waren dicht bedruckt mit Zahlen, Querverweisen und Anmerkungen. »Das belegt, woher das Geld gekommen ist. Der mexikanische Drogenring wurde von der Östlichen Bruderschaft finanziert. Fünfzig Prozent der Gewinne wurden für Waffen aufgewendet, die mit Air Africa in den Nahen und Mittleren Osten transportiert wurden.«
»Also mit einer Fluglinie, die zu hundert Prozent Nikolaj Jewsen gehört, dem größten Waffenhändler der Welt.« Der Oberst räusperte sich. »Wissen Sie, Mr. Smith, es gibt sehr einflussreiche Personen bei uns, die mit dem Iran zusammenarbeiten, weil wir sein Öl wollen und er unser Uran. Heute dreht sich alles um Energie, stimmt's? Und so bin ich jetzt in der ungünstigen Position, dass ich zwar Beweise in der Hand habe, die eindeutig belegen, dass Abdulla Khoury in terroristische Aktivitäten verwickelt ist, dass ich aber absolut nichts unternehmen kann.« Er legte den Kopf auf die Seite. »Vielleicht können Sie mir da helfen.«
Halliday bemühte sich, seinen pochenden Herzschlag zu beruhigen. »Warum wollen Sie Khoury eliminieren?«
»Ich könnte es Ihnen sagen«, antwortete Karpow, »aber dann müsste ich Sie leider töten.«
Es war ein alter, abgedroschener Witz, doch da war erneut dieses unheimliche Funkeln in den blassen unerbittlichen Augen des Mannes, das dem amerikanischen Verteidigungsminister einen kalten Schauer über den Rücken jagte, und ihm kam absurderweise der Gedanke, dass Karpow es vielleicht gar nicht im Scherz meinte. Doch Halliday wollte gar nicht so genau wissen, wie es der Oberst gemeint hatte, und so traf er eine schnelle Entscheidung.
»Schalten Sie Jason Bourne aus, dann werde ich die ganze Macht der amerikanischen Regierung einsetzen, um Abdulla Khoury dorthin zu schicken, wo er hingehört: hinter Gitter.«
Doch der Oberst schüttelte bereits den Kopf. »Das reicht mir nicht, Mr. Smith. Eine Hand wäscht die andere, nicht wahr? Und das heißt in diesem Fall: Auge um Auge.«
»Wir ermorden nicht einfach Leute, Oberst Karpow«, betonte Halliday steif.
Der Russe lachte spöttisch. »Natürlich nicht«, erwiderte er trocken und zuckte die Achseln. »Wie auch immer, Minister Halliday. Ich habe jedenfalls keine solchen Skrupel.«
Halliday zögerte einen Moment. »Ja, natürlich, ich habe kurz unsere Vereinbarung vergessen, Mr. Jones. Schicken Sie mir den gesamten Inhalt der Festplatte, dann wird es erledigt.« Er nahm sich zusammen und sah in diese stahlgrauen Augen. »Einverstanden?«
Boris Karpow nickte militärisch knapp. »Einverstanden.«
Als der Oberst den Jazzkeller verließ, sah er Hallidays Lincoln und seine Bodyguards vom Secret Service, die wie Zinnsoldaten an der Rumfordstraße postiert waren. Er ging in die andere Richtung, bog um die Ecke, griff in seinen Mund und nahm die Kunststoffprothese heraus, die seine Kieferpartie verändert hatte. Er zog auch die Knollennase aus Gummi und das Weichplastik von seinem Gesicht und nahm die grauen Kontaktlinsen heraus. Er lachte, nachdem er nun wieder ganz er selbst war. Es gab tatsächlich einen Oberst namens Boris Karpow im FSB-2 - ja, Karpow und Bourne waren sogar befreundet, weshalb Leonid Danilowitsch Arkadin auch als Karpow aufgetreten war. Die Ironie gefiel ihm: Bournes Freund bot an, ihn zu beseitigen. Außerdem war Karpow ein Faden in dem Netz, das er im Begriff war zu spinnen.
Von dem amerikanischen Politiker drohte keine Gefahr. Arkadin wusste, dass Hallidays Leute keine Ahnung hatten, wie Karpow aussah. Seine Treadstone-Ausbildung hatte ihn zwar gelehrt, nichts dem Zufall zu überlassen und keine unnötigen Risiken einzugehen, doch er hatte seine Gründe, warum er sich als Boris Karpow ausgegeben hatte.
Unerkannt und anonym in der Menge der Fahrgäste, stieg er am Marienplatz in die U-Bahn ein. Drei Haltestellen und vier Blocks weiter sah er an der vereinbarten Stelle ein völlig unscheinbares Auto, das auf ihn wartete. Sobald er eingestiegen war, fuhr der Wagen los in Richtung Flughafen Franz Josef Strauß. Er hatte den Lufthansaflug um 1:20 Uhr nach Singapur gebucht, wo er um 9:35 Uhr nach Denpasar, Bali, weiterfliegen würde. Er hatte ohne Schwierigkeiten herausgefunden, wo sich Bourne aufhielt - die Leute von NextGen Energy Solutions, wo Moira Trevor arbeitete, wussten, wohin die beiden geflogen waren. Viel schwerer war es gewesen, Gustavo Morenos Laptop zu stehlen. Aber er hatte seine Leute in der Kazanskaja. Zum Glück war einer von ihnen in Morenos Haus, kurz bevor die Antidrogenoperation des FSB-2 begann. Er machte sich mit dem Beweismaterial aus dem Staub, das nun dafür sorgen würde, dass Abdulla Khoury ins Jenseits befördert wurde. Sobald Arkadin selbst Jason Bourne erledigt hatte.
Jason Bourne verspürte einen tiefen inneren Frieden. Er hatte seine lange Trauer um Marie überwunden und fühlte sich endlich auch frei von Schuldgefühlen. Er lag neben Moira auf einem Bale, einer großen Liege mit einem Strohdach, die auf vier geschnitzten Holzpfosten ruhte. Das Bale stand vor einer Steinmauer an einem Infinity-Pool über drei Ebenen mit Aussicht auf die Lombok-Straße, die Meerenge zwischen Bali und Lombok. Weil die Balinesen stets an alles dachten und nichts vergaßen, stand ihr Bale jeden Morgen für sie bereit, wenn sie vor dem Frühstück schwimmen gingen, und ihre Kellnerin brachte unaufgefordert das Getränk, das Moira am liebsten hatte: einen Bali Sunrise aus den Säften von Pomeranze, Mango und Maracuja.
»Hier ist Zeit etwas anderes als bei uns daheim - sie vergeht nicht, sie ist einfach«, sagte Moira verträumt. »Bitte übersetzen«, raunte Bourne.
»Weißt du, wie spät es ist?«
»Es ist mir egal.«
»Genau das meine ich«, sagte sie. »Wir sind jetzt zehn Tage hier - und es kommt mir vor wie zehn Monate.« Sie lachte. »Und das meine ich im besten Sinn.«
Mauersegler flogen von Baum zu Baum oder zogen über den Pool hinweg. Von unten drang das gedämpfte Rauschen der Brandung herauf. Vor wenigen Augenblicken hatten ihnen zwei kleine balinesische Mädchen eine Handvoll frischer Blüten in einer Schüssel aus Palmenblättern gebracht, die sie selbst geflochten hatten. Nun war die Luft von den exotischen Düften von Frangipani und Tuberose erfüllt.
Moira wandte sich ihm zu. »Es ist schon so, wie man es immer hört: Auf Bali steht die Zeit still, und in dieser zeitlosen Stille liegt eine ganze Ewigkeit.«
Bourne träumte mit halb geschlossenen Augen von einem anderen Leben - seinem Leben -, aber die Bilder waren dunkel und verschwommen, wie durch einen Projektor mit einer defekten Lampe betrachtet. Er war schon einmal hier gewesen, das wusste er. Er empfing gewisse Schwingungen vom Wind, vom ruhigen Meer, von den lächelnden Menschen und der Insel selbst - Schwingungen, die etwas in ihm zum Klingen brachten. Es war ein Déjà-vu-Erlebnis, sicher, aber auch mehr als das. Irgendetwas hatte ihn hierher zurückgerufen, hatte ihn angezogen wie ein Magnet, und jetzt, wo er hier war, konnte er es fast mit Händen greifen. Trotzdem wollte es ihm einfach nicht gelingen, sich zu erinnern.
Was war hier passiert? Etwas Wichtiges, etwas, an das er sich unbedingt erinnern musste. Er sank tiefer in seinen Traum von einem vergangenen Leben hinab. In seinem Traum durchstreifte er die Insel, bis er an die Küste des Indischen Ozeans kam. Dort erhob sich eine Feuersäule aus der Brandung. Sie stieg zum klaren blauen Himmel empor, bis die Spitze die Sonne berührte. Wie ein Schatten huschte er über den weichen Sand, um mit den Flammen zu verschmelzen.
Er erwachte und wollte Moira von seinem Traum erzählen, aber aus unerfindlichem Grund tat er es nicht.
Als sie an diesem Abend zu dem Strandklub am Fuße der Klippe hinuntergingen, auf der ihr Hotel stand, blieb Moira bei einem der vielen Schreine stehen, die es hier gab. Er war aus Stein und mit einem schwarz-weiß karierten Tuch geschmückt. Der obere Teil lag im Schatten eines kleinen gelben Schirms; darauf lagen Blumengaben in geflochtenen Palmenblättern. Das Tuch und der Schirm zeigten, dass der Geist des Ortes anwesend war. Das Muster des Tuches hatte eine bestimmte Bedeutung: Weiß und Schwarz standen für den Dualismus allen Seins, der sich in dem Gegenüber von Göttern und Dämonen, von Gut und Böse ausdrückte.
Moira streifte ihre Sandalen ab und trat auf den Stein vor dem Schrein. Sie legte die Handflächen in Stirnhöhe aneinander und senkte den Kopf.
»Ich hab gar nicht gewusst, dass du praktizierende Hindu bist«, sagte Bourne, als sie fertig war.
»Ich hab mich bei dem Geist für unsere Zeit hier bedankt, für die vielen Geschenke, die man von Bali bekommt«, erklärte sie ihm und sah ihn mit einem bitteren Lächeln an. »Und ich habe mich beim Geist des Ferkels bedankt, das wir gestern gegessen haben und das sich für uns hat opfern müssen.«
Sie hatten den Strandklub heute Abend für sich allein gebucht. Handtücher warteten ebenso auf sie wie zwei Gläser Mango-Lassi und Krüge mit tropischen Fruchtsäften und Eiswasser. Die Bediensteten hatten sich diskret in die fensterlose Küche zurückgezogen.
Sie verbrachten eine Stunde im Meer und schwammen die Küste auf und ab. Das Wasser war warm und fühlte sich samtweich auf der Haut an. An dem dunklen Strand krabbelten Einsiedlerkrebse mit ihren Schneckenhäusern über den Sand, und an einer Höhle am anderen Ende des Strandes sah man Fledermäuse ein- und ausfliegen.
Nach dem Schwimmen tranken sie ihre Mango-Lassis im Pool, bewacht von einem riesigen lächelnden Holzschwein mit einer Krone hinter den Ohren.
»Es lächelt«, sagte Moira, »weil ich unserem Spanferkel meine Ehrerbietung erwiesen habe.«
Sie schwammen ein paar Runden, dann trafen sie sich am Ende des Pools unter einem wundervollen Frangipani-Baum mit seinen weiß-gelben Blüten. Unter seinen Ästen hielten sie sich in den Armen und betrachteten den Mond, wie er hinter den Wolken verschwand und wieder auftauchte. Ein Windstoß schüttelte die Wedel der zehn Meter hohen Palmen, die die Strandseite des Pools säumten.
»Es ist fast vorüber, Jason.«
»Was?«
»Das hier.« Moira schlängelte ihre Hand durchs Wasser, als wäre sie ein Fisch. »Das alles. In ein paar Tagen werden wir weg sein.«
Er sah zu, wie der Mond langsam hinter den Wolken verschwand, und spürte die ersten dicken Tropfen auf seinem Gesicht. Im nächsten Augenblick fiel der Regen und überzog die Wasseroberfläche wie mit einer Gänsehaut.
Sie legte ihren Kopf an seine Schulter, und sie suchten Schutz unter den Zweigen des Frangipani-Baumes. »Und was wird aus uns?«
Er wusste, dass sie keine Antwort erwartete, sondern einfach nur laut nachdachte. Er spürte ihr Gewicht, ihre Wärme durch das Wasser hindurch an seinem Herz. Es fühlte sich gut an und machte ihn schläfrig.
»Jason, was wirst du tun, wenn wir zurück sind?«
»Ich weiß es nicht«, sagte er wahrheitsgemäß. »Ich habe noch nicht darüber nachgedacht.« Aber er fragte sich jetzt, ob er mit ihr zurückfliegen würde. Wie konnte er weggehen, wenn hier irgendetwas aus seiner Vergangenheit auf ihn wartete, so nah, dass er den Atem im Nacken spürte? Er sagte ihr nichts davon, weil es nach einer Erklärung verlangt hätte, und er hatte keine. Nur so ein Gefühl. Und wie oft hatte dieses Gefühl ihm nicht das Leben gerettet?
»Ich gehe nicht zu NextGen zurück«, sagte sie.
Seine Aufmerksamkeit kehrte ganz zu ihr zurück. »Wann bist du zu diesem Entschluss gekommen?«
»Irgendwann hier«, antwortete sie lächelnd. »Bali öffnet einem irgendwie einen Weg zu wichtigen Entscheidungen. Kurz bevor ich zu Black River ging, war ich ebenfalls hier. Es scheint eine Insel der Veränderung zu sein, zumindest für mich.«
»Was hast du vor?«
»Ich will meine eigene Sicherheitsfirma gründen.« »Nett.« Er lächelte. »In direkter Konkurrenz zu Black River.«
»Wenn du's so sehen willst.«
»Die anderen werden es so sehen.«
Es regnete jetzt stärker; die Palmwedel klatschten gegeneinander, und man konnte den Himmel nicht mehr sehen.
»Das könnte gefährlich sein«, fügte er hinzu.
»Das ganze Leben ist gefährlich, Jason, so wie alles, was vom Chaos beherrscht wird.«
»Da kann ich dir nicht widersprechen. Aber was ist mit deinem ehemaligen Chef, Noah Petersen?«
»Das ist nicht sein richtiger Name. In Wirklichkeit heißt er Perlis.«
Bourne blickte zu den weißen Blüten auf, die nun rings um sie wie Schnee herabfielen. Der süße Frangipaniduft mischte sich mit dem frischen Geruch des Regens.
»Perlis war nicht gerade zufrieden mit dir, als wir ihn vor zwei Wochen in München trafen.«
»Noah ist nie zufrieden.« Moira schmiegte sich tiefer in seine Arme. »Ich konnte es ihm nie recht machen. Schon ein halbes Jahr, bevor ich von Black River wegging, habe ich aufgehört, mich zu bemühen. Es war sowieso sinnlos.«
»Trotzdem ist es eine Tatsache, dass wir mit dem Terroranschlag auf das Flüssiggasterminal Recht hatten und er Unrecht. Ich wette, das hat er nicht vergessen. Wenn du jetzt in sein Territorium eindringst, dann hast du bestimmt einen Feind mehr.«
Sie lachte leise. »Das musst du gerade sagen.« »Arkadin ist tot«, erwiderte Bourne ernüchtert. »Er hat vor der Küste von Long Beach einen Kopfsprung von dem LNG-Tanker gemacht. Das hat er nicht überlebt; so etwas überlebt keiner.«
»Er war ein Produkt von Treadstone, nicht wahr? Hat dir das nicht Willard gesagt?«
»Willard meint, Arkadin sei Alex Conklins erster Erfolg gewesen - und gleichzeitig sein erster Misserfolg. Semjon Ikupow, einer der beiden Köpfe der Schwarzen Legion und der Östlichen Bruderschaft, hat Arkadin zu Conklin geschickt. Am Ende ist es Ikupow nicht gut bekommen; Arkadin hat ihn getötet, weil Ikupow seine Freundin erschossen hat.«
»Und sein heimlicher Partner Asher Sever, dein ehemaliger Mentor, liegt im Dauerkoma.«
»Jeder bekommt am Ende, was er verdient«, sagte Bourne bitter.
Moira kehrte zum Thema Treadstone zurück. »Laut Willard war es Conklins Ziel, einen unbesiegbaren Krieger zu erschaffen - die perfekte Kampfmaschine.«
»Das war Arkadin auch«, sagte Bourne, »aber er brach das Treadstone-Programm ab und kehrte nach Russland zurück. Seine Fähigkeiten stellte er in den Dienst verschiedener Mafiaclans in Moskau.«
»Und du warst sein Nachfolger - Conklins Erfolgsgeschichte.«
»Ich glaube, diverse Geheimdienstchefs werden das ein bisschen anders sehen«, erwiderte Bourne. »Sie würden mich wohl auf der Stelle erschießen, wenn sie mich sehen.«
»Vielleicht, aber das hat sie nicht davon abgehalten, dich anzuheuern, wenn sie dich gebraucht haben.«
»Das ist alles vorbei«, sagte Bourne.
...
Übersetzung: Norbert Jakober
Copyright © 2011 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag,
München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
»Ich spreche ganz gut Russisch«, sagte Verteidigungsminister Bud Halliday, »aber ich würde lieber Englisch sprechen.«
»Das ist mir recht«, betonte der russische Oberst mit schwerem Akzent. »Ich unterhalte mich immer gern in einer fremden Sprache.«
Halliday reagierte mit einem säuerlichen Lächeln auf den Seitenhieb des Russen. Es war wohlbekannt, dass Amerikaner auch im Ausland nur Englisch sprechen wollten.
»Gut. Dann werden wir die Sache schnell erledigt haben.« Doch statt zu beginnen, starrte er nur auf eine Wand voll mit schlechten Porträtfotos von Jazzgrößen wie Miles Davis und John Coltrane - zweifellos Kopien von Pressefotos.
Jetzt, wo er dem Oberst zum ersten Mal gegenübersaß, kamen ihm Zweifel, ob dieses Treffen eine gute Idee war. Zum einen war er jünger, als Halliday gedacht hatte. Er hatte dichtes blondes Haar, kurz geschnitten, wie es für russische Militärs typisch war. Zum anderen sah er aus wie ein Mann, der seine Zeit nicht hinter einem Schreibtisch verbrachte. Halliday sah, wie sich die Muskeln unter dem billigen Anzug wölbten. Der Mann strahlte eine seltsame Ruhe aus, die Halliday irgendwie beunruhigte. Aber es waren seine Augen - diese blassen, tiefliegenden, starr dreinblickenden Augen -, die den Minister wirklich nervös machten. Es kam ihm vor, als würde er ein Foto vor sich sehen und nicht echte Augen. Die Knollennase verstärkte nur den unerbittlichen Eindruck dieser Augen; es war, als wäre da keine Seele dahinter, nur ein unbeugsamer Wille, etwas Uraltes und Böses, wie aus einer der Geschichten von H. P. Lovecraft, die Halliday in seiner Jugend verschlungen hatte.
Er unterdrückte seinen Drang, einfach aufzustehen und hinauszugehen. Immerhin hatte er die weite Reise aus einem bestimmten Grund gemacht, rief er sich in Erinnerung.
Der Smog, der über München hing - und der den gleichen schmutzig grauen Farbton hatte wie Karpows Augen -, spiegelte genau Hallidays Stimmung wider. Am liebsten hätte er diese trübe graue Stadt auf der Stelle wieder verlassen, aber das war nun einmal nicht möglich. Und so saß er hier in diesem verrauchten Jazzkeller, nachdem er in der von Touristen überschwemmten Rumfordstraße aus einer gepanzerten Lincoln-Limousine gestiegen war. Was hatte dieser Russe so Besonderes an sich, dass der amerikanische Verteidigungsminister 6800 Kilometer zurücklegte, um sich mit ihm in einer Stadt zu treffen, die er nicht mochte? Boris Karpow war Oberst im sogenannten FSB-2, der mächtigen russischen Antidrogenbehörde. Der kometenhafte Aufstieg des FSB-2 an die Macht drückte sich auch darin aus, dass ein Vertreter der Organisation in der Lage war, dem amerikanischen Verteidigungsminister eine direkte Botschaft zukommen zu lassen und ihn aus Washington herauszulocken.
Aber Karpow hatte angedeutet, dass er etwas anzubieten habe, was für Halliday sehr wertvoll sei. Der Verteidigungsminister hätte sich fragen können, was das sein mochte, aber er war zu sehr mit der Frage beschäftigt, was der Russe dafür verlangen würde. Bei solchen Geschäften bekam man nichts ohne Gegenleistung, das wusste Halliday nur zu gut. Er hatte jahrzehntelange Erfahrung in dem politischen Machtpoker im Umfeld des Präsidenten. Er hatte sich auch auf Geschäfte eingelassen, die ihm nicht leichtgefallen waren, aber Kompromisse gehörten nun einmal dazu, im eigenen Land wie auf der internationalen Bühne.
Dennoch hätte Halliday Karpows Angebot wahrscheinlich nicht einmal in Erwägung gezogen, wenn seine eigene Position beim Präsidenten nicht so geschwächt gewesen wäre. Der erschreckend abrupte Absturz von Luther LaValle, der als Geheimdienstzar für ihn tätig war, hatte Hallidays Machtbasis erschüttert. Hinter seinem Rücken wurde er selbst von Freunden und Verbündeten kritisiert, und er fragte sich schon, wer von ihnen ihm als Erster das sprichwörtliche Messer in den Rücken stoßen würde.
Aber er war lange genug im Geschäft, um zu wissen, dass die Rettung manchmal in scheinbar unangenehmer Gestalt auftauchen konnte. Er hoffte, dass Karpows Geschäft ihm das politische Kapital liefern würde, mit dem er sein Ansehen beim Präsidenten zurückgewinnen und seine Machtbasis innerhalb der Rüstungsindustrie stärken konnte.
Während das Trio auf der Bühne seinen lauten Klangteppich entfaltete, ging Halliday noch einmal in Gedanken die Akte über Boris Karpow durch - so als könnte er jetzt irgendwelche Einzelheiten darin finden, die ihm beim Lesen entgangen waren. Doch die Informationen, die sie über den Mann besaßen, waren äußerst spärlich. Es gab nicht einmal ein Foto, nur die vier dürftigen Absätze, die auf einem einzigen Blatt Papier Platz hatten, das mit dem Vermerk TOP SECRET versehen war. Nachdem Russland für die jetzige Regierung keine große Rolle mehr spielte, hatte die NSA nur beschränkte Kenntnisse davon, was sich in Russland hinter den Kulissen abspielte. Noch weniger wusste man von den Aktivitäten des FSB-2, dessen wahre Mission absolut geheim war, viel geheimer noch als die des Inlandsgeheimdienstes FSB, der Nachfolgeorganisation des einst allmächtigen KGB.
»Mr. Smith, Sie wirken zerstreut«, bemerkte der Russe. Sie hatten sich darauf geeinigt, in der Öffentlichkeit die Pseudonyme Mr. Smith und Mr. Jones zu verwenden.
Der Kopf des Ministers wirbelte herum. Er fühlte sich zutiefst unwohl in diesem Kellerraum - im Gegensatz zu Karpow, der ihm immer mehr wie ein Geschöpf der Dunkelheit vorkam. »Da irren Sie sich, Mr. Jones«, erwiderte Halliday mit lauter Stimme, um sich bei dem rhythmischen Lärm verständlich zu machen. »Ich genieße nur sozusagen als Tourist das stimmungsvolle Ambiente, das Sie für unser Treffen ausgesucht haben.«
Der Oberst lachte leise. »Sie haben einen schrägen Humor, was?«
»Sie haben mich durchschaut, Mr. Jones.«
Der Oberst lachte laut. »Da bin ich mir nicht so sicher, Mr. Smith. Nachdem wir nicht einmal die eigene Ehefrau wirklich kennen, kann ich mir schwer vorstellen, unsere ... Ansprechpartner zu kennen.«
Bei Karpows kurzem Zögern hatte sich Halliday gefragt, ob der Russe vielleicht Gegner oder Gegenspieler sagen würde und nicht das neutrale Wort, das er schließlich wählte. Er dachte gar nicht darüber nach, wie viel Karpow über seine politische Stellung wusste, weil es ohnehin keine Rolle spielte. Was ihn interessierte, war ausschließlich, ob ihm das Geschäft, das der Russe ihm anzubieten hatte, nützlich sein konnte oder nicht.
Die Musik wechselte das Tempo, der einzige Anhaltspunkt für den Minister, dass das Trio auf der Bühne nahtlos zu einem anderen Titel übergegangen war. Halliday beugte sich über sein viel zu bitteres Bier, das er noch kaum angerührt hatte. Natürlich hatten sie kein Coors in dieser Spelunke. »Kommen wir doch bitte zur Sache, ja?«
»Gern.« Oberst Karpow legte seine Hände auf die bronzefarbenen Unterarme. Die Fingerknöchel waren narbig und gelb von Schwielen, so dass sie aussahen wie die Bergkämme der Rockies. »Mr. Smith, ich brauche Ihnen sicher nicht zu erklären, wer Jason Bourne ist, nicht wahr?«
Hallidays Gesichtsausdruck verhärtete sich, als er den Namen hörte. Es war ihm, als hätte ihn der Russe mit Freon angesprüht. »Was wollen Sie mir sagen?«, fragte er hölzern.
»Was ich Ihnen sagen will, ist Folgendes: Ich werde Jason Bourne für Sie töten.«
Halliday verschwendete keine Zeit damit zu fragen, woher Karpow wusste, dass er Bournes Tod wollte - die NSA war im vergangenen Monat so aktiv in Moskau gewesen, als Bourne in der Stadt war, dass selbst einem taubstummen Blinden nicht entgangen wäre, dass ihn der amerikanische Militärgeheimdienst beseitigen wollte.
»Sehr großzügig von Ihnen, Mr. Jones.«
»Nein, Sir, großzügig ist das nicht. Ich habe meine eigenen Gründe.«
Der Minister entspannte sich ein wenig. »Also gut, sagen wir, Sie töten Bourne. Was wollen Sie dafür?«
Jeder andere hätte nur ein Funkeln in Karpows Augen gesehen, aber dem Verteidigungsminister, der ihn immer noch einzuschätzen versuchte, kam es so vor, als hätte ihm der Tod zugezwinkert.
»Ich weiß, was Sie denken, Mr. Smith. Sie erwarten das Schlimmste - eine hohe Summe. Aber ich will etwas an deres dafür, dass Sie mir grünes Licht geben, Jason Bourne auszuschalten, ohne dass ich mit irgendwelchen Konsequenzen wegen etwaiger Kollateralschäden zu rechnen hätte. Ich will, dass Sie jemanden eliminieren, der mir ein Dorn im Auge ist.«
»Jemand, den Sie nicht selbst ausschalten können.« Karpow nickte. »Sie haben mich durchschaut, Mr. Smith.«
Die beiden Männer lachten gleichzeitig, wenn auch in völlig unterschiedlichem Ton.
»Also«, sagte Halliday schließlich, »wer ist das Ziel?« »Abdulla Khoury.«
Hallidays Herz sank. »Der Führer der Östlichen Bruderschaft. Herrgott im Himmel, da können Sie gleich von mir verlangen, den Papst auszuschalten.«
»Den Papst auszuschalten - davon hätten wir beide nichts. Aber bei Abdulla Khoury sieht das ganz anders aus, nicht wahr?«
»Ja, natürlich. Der Mann ist ein islamistischer Fanatiker und eine Bedrohung. Er ist ein enger Verbündeter des iranischen Präsidenten. Aber die Östliche Bruderschaft ist eine weltweite Organisation. Khoury hat viele mächtige Freunde.« Der Minister schüttelte energisch den Kopf. »Wer ihn ausschalten will, der begeht politischen Selbstmord.«
Karpow nickte. »Was Sie sagen, ist alles richtig. Aber was ist mit den terroristischen Aktivitäten der Bruderschaft?«
Halliday schnaubte verächtlich. »Gerüchte gibt es genug, aber nichts Handfestes. Niemand in unseren Geheimdiensten hat auch nur den kleinsten Beweis dafür gefunden, dass sie Verbindungen zu terroristischen Organisationen hat. Und glauben Sie mir, wir haben wirklich gründlich gesucht.«
»Daran zweifle ich nicht. Das heißt also, Sie haben in Professor Specters Haus keine Hinweise auf terroristische Aktivitäten gefunden.«
»Es besteht kein Zweifel, dass der gute Professor ein Terroristenjäger war, aber was die Behauptungen betrifft, dass er noch etwas anderes gewesen sein könnte ...« Halliday zuckte die Achseln.
Plötzlich wurde Karpows Gesicht von einem Lächeln erhellt, und im nächsten Augenblick lag ein unbeschriebener Umschlag zwischen ihnen auf dem Tisch. »Dann werden Sie das hier überaus hilfreich finden.« Wie ein Schachspieler, der mit seiner Dame den entscheidenden Zug macht, um den Gegner schachmatt zu setzen, schob Karpow dem Minister den Umschlag zu.
»Wie Sie wissen«, fuhr der Oberst fort, während Halliday den Umschlag öffnete und den Inhalt begutachtete, »beschäftigt sich der FSB-2 hauptsächlich mit dem internationalen Drogenhandel.«
»Das habe ich gehört«, bemerkte Halliday trocken, denn er wusste verdammt gut, dass der FSB-2 ein viel breiteres Betätigungsfeld hatte.
»Vor zehn Tagen«, fuhr Karpow fort, »begannen wir mit der letzten Phase einer Aktion in Mexiko, an der wir mehr als zwei Jahre gearbeitet hatten, weil eine der Moskauer Mafiaorganisationen, die Kazanskaja, sich vor einiger Zeit auch auf den Drogenhandel verlegt hat und jetzt nach einem sicheren Vertriebsweg sucht.«
Halliday nickte. Er wusste ein paar Dinge über die Kazanskaja, eine der berüchtigtsten Moskauer Mafiaorganisationen, und ihren Kopf Dimitri Maslow.
»Ich darf hinzufügen, dass wir auf der ganzen Linie erfolgreich waren«, sagte der Oberst. »Als wir das Haus des toten Drogenbarons Gustavo Moreno durchsuchten, konnten wir ein Notebook sicherstellen. Die Informationen, die Sie hier lesen, stammen von dessen Festplatte.«
Hallidays Fingerspitzen fühlten sich kalt an. Die Seiten waren dicht bedruckt mit Zahlen, Querverweisen und Anmerkungen. »Das belegt, woher das Geld gekommen ist. Der mexikanische Drogenring wurde von der Östlichen Bruderschaft finanziert. Fünfzig Prozent der Gewinne wurden für Waffen aufgewendet, die mit Air Africa in den Nahen und Mittleren Osten transportiert wurden.«
»Also mit einer Fluglinie, die zu hundert Prozent Nikolaj Jewsen gehört, dem größten Waffenhändler der Welt.« Der Oberst räusperte sich. »Wissen Sie, Mr. Smith, es gibt sehr einflussreiche Personen bei uns, die mit dem Iran zusammenarbeiten, weil wir sein Öl wollen und er unser Uran. Heute dreht sich alles um Energie, stimmt's? Und so bin ich jetzt in der ungünstigen Position, dass ich zwar Beweise in der Hand habe, die eindeutig belegen, dass Abdulla Khoury in terroristische Aktivitäten verwickelt ist, dass ich aber absolut nichts unternehmen kann.« Er legte den Kopf auf die Seite. »Vielleicht können Sie mir da helfen.«
Halliday bemühte sich, seinen pochenden Herzschlag zu beruhigen. »Warum wollen Sie Khoury eliminieren?«
»Ich könnte es Ihnen sagen«, antwortete Karpow, »aber dann müsste ich Sie leider töten.«
Es war ein alter, abgedroschener Witz, doch da war erneut dieses unheimliche Funkeln in den blassen unerbittlichen Augen des Mannes, das dem amerikanischen Verteidigungsminister einen kalten Schauer über den Rücken jagte, und ihm kam absurderweise der Gedanke, dass Karpow es vielleicht gar nicht im Scherz meinte. Doch Halliday wollte gar nicht so genau wissen, wie es der Oberst gemeint hatte, und so traf er eine schnelle Entscheidung.
»Schalten Sie Jason Bourne aus, dann werde ich die ganze Macht der amerikanischen Regierung einsetzen, um Abdulla Khoury dorthin zu schicken, wo er hingehört: hinter Gitter.«
Doch der Oberst schüttelte bereits den Kopf. »Das reicht mir nicht, Mr. Smith. Eine Hand wäscht die andere, nicht wahr? Und das heißt in diesem Fall: Auge um Auge.«
»Wir ermorden nicht einfach Leute, Oberst Karpow«, betonte Halliday steif.
Der Russe lachte spöttisch. »Natürlich nicht«, erwiderte er trocken und zuckte die Achseln. »Wie auch immer, Minister Halliday. Ich habe jedenfalls keine solchen Skrupel.«
Halliday zögerte einen Moment. »Ja, natürlich, ich habe kurz unsere Vereinbarung vergessen, Mr. Jones. Schicken Sie mir den gesamten Inhalt der Festplatte, dann wird es erledigt.« Er nahm sich zusammen und sah in diese stahlgrauen Augen. »Einverstanden?«
Boris Karpow nickte militärisch knapp. »Einverstanden.«
Als der Oberst den Jazzkeller verließ, sah er Hallidays Lincoln und seine Bodyguards vom Secret Service, die wie Zinnsoldaten an der Rumfordstraße postiert waren. Er ging in die andere Richtung, bog um die Ecke, griff in seinen Mund und nahm die Kunststoffprothese heraus, die seine Kieferpartie verändert hatte. Er zog auch die Knollennase aus Gummi und das Weichplastik von seinem Gesicht und nahm die grauen Kontaktlinsen heraus. Er lachte, nachdem er nun wieder ganz er selbst war. Es gab tatsächlich einen Oberst namens Boris Karpow im FSB-2 - ja, Karpow und Bourne waren sogar befreundet, weshalb Leonid Danilowitsch Arkadin auch als Karpow aufgetreten war. Die Ironie gefiel ihm: Bournes Freund bot an, ihn zu beseitigen. Außerdem war Karpow ein Faden in dem Netz, das er im Begriff war zu spinnen.
Von dem amerikanischen Politiker drohte keine Gefahr. Arkadin wusste, dass Hallidays Leute keine Ahnung hatten, wie Karpow aussah. Seine Treadstone-Ausbildung hatte ihn zwar gelehrt, nichts dem Zufall zu überlassen und keine unnötigen Risiken einzugehen, doch er hatte seine Gründe, warum er sich als Boris Karpow ausgegeben hatte.
Unerkannt und anonym in der Menge der Fahrgäste, stieg er am Marienplatz in die U-Bahn ein. Drei Haltestellen und vier Blocks weiter sah er an der vereinbarten Stelle ein völlig unscheinbares Auto, das auf ihn wartete. Sobald er eingestiegen war, fuhr der Wagen los in Richtung Flughafen Franz Josef Strauß. Er hatte den Lufthansaflug um 1:20 Uhr nach Singapur gebucht, wo er um 9:35 Uhr nach Denpasar, Bali, weiterfliegen würde. Er hatte ohne Schwierigkeiten herausgefunden, wo sich Bourne aufhielt - die Leute von NextGen Energy Solutions, wo Moira Trevor arbeitete, wussten, wohin die beiden geflogen waren. Viel schwerer war es gewesen, Gustavo Morenos Laptop zu stehlen. Aber er hatte seine Leute in der Kazanskaja. Zum Glück war einer von ihnen in Morenos Haus, kurz bevor die Antidrogenoperation des FSB-2 begann. Er machte sich mit dem Beweismaterial aus dem Staub, das nun dafür sorgen würde, dass Abdulla Khoury ins Jenseits befördert wurde. Sobald Arkadin selbst Jason Bourne erledigt hatte.
Jason Bourne verspürte einen tiefen inneren Frieden. Er hatte seine lange Trauer um Marie überwunden und fühlte sich endlich auch frei von Schuldgefühlen. Er lag neben Moira auf einem Bale, einer großen Liege mit einem Strohdach, die auf vier geschnitzten Holzpfosten ruhte. Das Bale stand vor einer Steinmauer an einem Infinity-Pool über drei Ebenen mit Aussicht auf die Lombok-Straße, die Meerenge zwischen Bali und Lombok. Weil die Balinesen stets an alles dachten und nichts vergaßen, stand ihr Bale jeden Morgen für sie bereit, wenn sie vor dem Frühstück schwimmen gingen, und ihre Kellnerin brachte unaufgefordert das Getränk, das Moira am liebsten hatte: einen Bali Sunrise aus den Säften von Pomeranze, Mango und Maracuja.
»Hier ist Zeit etwas anderes als bei uns daheim - sie vergeht nicht, sie ist einfach«, sagte Moira verträumt. »Bitte übersetzen«, raunte Bourne.
»Weißt du, wie spät es ist?«
»Es ist mir egal.«
»Genau das meine ich«, sagte sie. »Wir sind jetzt zehn Tage hier - und es kommt mir vor wie zehn Monate.« Sie lachte. »Und das meine ich im besten Sinn.«
Mauersegler flogen von Baum zu Baum oder zogen über den Pool hinweg. Von unten drang das gedämpfte Rauschen der Brandung herauf. Vor wenigen Augenblicken hatten ihnen zwei kleine balinesische Mädchen eine Handvoll frischer Blüten in einer Schüssel aus Palmenblättern gebracht, die sie selbst geflochten hatten. Nun war die Luft von den exotischen Düften von Frangipani und Tuberose erfüllt.
Moira wandte sich ihm zu. »Es ist schon so, wie man es immer hört: Auf Bali steht die Zeit still, und in dieser zeitlosen Stille liegt eine ganze Ewigkeit.«
Bourne träumte mit halb geschlossenen Augen von einem anderen Leben - seinem Leben -, aber die Bilder waren dunkel und verschwommen, wie durch einen Projektor mit einer defekten Lampe betrachtet. Er war schon einmal hier gewesen, das wusste er. Er empfing gewisse Schwingungen vom Wind, vom ruhigen Meer, von den lächelnden Menschen und der Insel selbst - Schwingungen, die etwas in ihm zum Klingen brachten. Es war ein Déjà-vu-Erlebnis, sicher, aber auch mehr als das. Irgendetwas hatte ihn hierher zurückgerufen, hatte ihn angezogen wie ein Magnet, und jetzt, wo er hier war, konnte er es fast mit Händen greifen. Trotzdem wollte es ihm einfach nicht gelingen, sich zu erinnern.
Was war hier passiert? Etwas Wichtiges, etwas, an das er sich unbedingt erinnern musste. Er sank tiefer in seinen Traum von einem vergangenen Leben hinab. In seinem Traum durchstreifte er die Insel, bis er an die Küste des Indischen Ozeans kam. Dort erhob sich eine Feuersäule aus der Brandung. Sie stieg zum klaren blauen Himmel empor, bis die Spitze die Sonne berührte. Wie ein Schatten huschte er über den weichen Sand, um mit den Flammen zu verschmelzen.
Er erwachte und wollte Moira von seinem Traum erzählen, aber aus unerfindlichem Grund tat er es nicht.
Als sie an diesem Abend zu dem Strandklub am Fuße der Klippe hinuntergingen, auf der ihr Hotel stand, blieb Moira bei einem der vielen Schreine stehen, die es hier gab. Er war aus Stein und mit einem schwarz-weiß karierten Tuch geschmückt. Der obere Teil lag im Schatten eines kleinen gelben Schirms; darauf lagen Blumengaben in geflochtenen Palmenblättern. Das Tuch und der Schirm zeigten, dass der Geist des Ortes anwesend war. Das Muster des Tuches hatte eine bestimmte Bedeutung: Weiß und Schwarz standen für den Dualismus allen Seins, der sich in dem Gegenüber von Göttern und Dämonen, von Gut und Böse ausdrückte.
Moira streifte ihre Sandalen ab und trat auf den Stein vor dem Schrein. Sie legte die Handflächen in Stirnhöhe aneinander und senkte den Kopf.
»Ich hab gar nicht gewusst, dass du praktizierende Hindu bist«, sagte Bourne, als sie fertig war.
»Ich hab mich bei dem Geist für unsere Zeit hier bedankt, für die vielen Geschenke, die man von Bali bekommt«, erklärte sie ihm und sah ihn mit einem bitteren Lächeln an. »Und ich habe mich beim Geist des Ferkels bedankt, das wir gestern gegessen haben und das sich für uns hat opfern müssen.«
Sie hatten den Strandklub heute Abend für sich allein gebucht. Handtücher warteten ebenso auf sie wie zwei Gläser Mango-Lassi und Krüge mit tropischen Fruchtsäften und Eiswasser. Die Bediensteten hatten sich diskret in die fensterlose Küche zurückgezogen.
Sie verbrachten eine Stunde im Meer und schwammen die Küste auf und ab. Das Wasser war warm und fühlte sich samtweich auf der Haut an. An dem dunklen Strand krabbelten Einsiedlerkrebse mit ihren Schneckenhäusern über den Sand, und an einer Höhle am anderen Ende des Strandes sah man Fledermäuse ein- und ausfliegen.
Nach dem Schwimmen tranken sie ihre Mango-Lassis im Pool, bewacht von einem riesigen lächelnden Holzschwein mit einer Krone hinter den Ohren.
»Es lächelt«, sagte Moira, »weil ich unserem Spanferkel meine Ehrerbietung erwiesen habe.«
Sie schwammen ein paar Runden, dann trafen sie sich am Ende des Pools unter einem wundervollen Frangipani-Baum mit seinen weiß-gelben Blüten. Unter seinen Ästen hielten sie sich in den Armen und betrachteten den Mond, wie er hinter den Wolken verschwand und wieder auftauchte. Ein Windstoß schüttelte die Wedel der zehn Meter hohen Palmen, die die Strandseite des Pools säumten.
»Es ist fast vorüber, Jason.«
»Was?«
»Das hier.« Moira schlängelte ihre Hand durchs Wasser, als wäre sie ein Fisch. »Das alles. In ein paar Tagen werden wir weg sein.«
Er sah zu, wie der Mond langsam hinter den Wolken verschwand, und spürte die ersten dicken Tropfen auf seinem Gesicht. Im nächsten Augenblick fiel der Regen und überzog die Wasseroberfläche wie mit einer Gänsehaut.
Sie legte ihren Kopf an seine Schulter, und sie suchten Schutz unter den Zweigen des Frangipani-Baumes. »Und was wird aus uns?«
Er wusste, dass sie keine Antwort erwartete, sondern einfach nur laut nachdachte. Er spürte ihr Gewicht, ihre Wärme durch das Wasser hindurch an seinem Herz. Es fühlte sich gut an und machte ihn schläfrig.
»Jason, was wirst du tun, wenn wir zurück sind?«
»Ich weiß es nicht«, sagte er wahrheitsgemäß. »Ich habe noch nicht darüber nachgedacht.« Aber er fragte sich jetzt, ob er mit ihr zurückfliegen würde. Wie konnte er weggehen, wenn hier irgendetwas aus seiner Vergangenheit auf ihn wartete, so nah, dass er den Atem im Nacken spürte? Er sagte ihr nichts davon, weil es nach einer Erklärung verlangt hätte, und er hatte keine. Nur so ein Gefühl. Und wie oft hatte dieses Gefühl ihm nicht das Leben gerettet?
»Ich gehe nicht zu NextGen zurück«, sagte sie.
Seine Aufmerksamkeit kehrte ganz zu ihr zurück. »Wann bist du zu diesem Entschluss gekommen?«
»Irgendwann hier«, antwortete sie lächelnd. »Bali öffnet einem irgendwie einen Weg zu wichtigen Entscheidungen. Kurz bevor ich zu Black River ging, war ich ebenfalls hier. Es scheint eine Insel der Veränderung zu sein, zumindest für mich.«
»Was hast du vor?«
»Ich will meine eigene Sicherheitsfirma gründen.« »Nett.« Er lächelte. »In direkter Konkurrenz zu Black River.«
»Wenn du's so sehen willst.«
»Die anderen werden es so sehen.«
Es regnete jetzt stärker; die Palmwedel klatschten gegeneinander, und man konnte den Himmel nicht mehr sehen.
»Das könnte gefährlich sein«, fügte er hinzu.
»Das ganze Leben ist gefährlich, Jason, so wie alles, was vom Chaos beherrscht wird.«
»Da kann ich dir nicht widersprechen. Aber was ist mit deinem ehemaligen Chef, Noah Petersen?«
»Das ist nicht sein richtiger Name. In Wirklichkeit heißt er Perlis.«
Bourne blickte zu den weißen Blüten auf, die nun rings um sie wie Schnee herabfielen. Der süße Frangipaniduft mischte sich mit dem frischen Geruch des Regens.
»Perlis war nicht gerade zufrieden mit dir, als wir ihn vor zwei Wochen in München trafen.«
»Noah ist nie zufrieden.« Moira schmiegte sich tiefer in seine Arme. »Ich konnte es ihm nie recht machen. Schon ein halbes Jahr, bevor ich von Black River wegging, habe ich aufgehört, mich zu bemühen. Es war sowieso sinnlos.«
»Trotzdem ist es eine Tatsache, dass wir mit dem Terroranschlag auf das Flüssiggasterminal Recht hatten und er Unrecht. Ich wette, das hat er nicht vergessen. Wenn du jetzt in sein Territorium eindringst, dann hast du bestimmt einen Feind mehr.«
Sie lachte leise. »Das musst du gerade sagen.« »Arkadin ist tot«, erwiderte Bourne ernüchtert. »Er hat vor der Küste von Long Beach einen Kopfsprung von dem LNG-Tanker gemacht. Das hat er nicht überlebt; so etwas überlebt keiner.«
»Er war ein Produkt von Treadstone, nicht wahr? Hat dir das nicht Willard gesagt?«
»Willard meint, Arkadin sei Alex Conklins erster Erfolg gewesen - und gleichzeitig sein erster Misserfolg. Semjon Ikupow, einer der beiden Köpfe der Schwarzen Legion und der Östlichen Bruderschaft, hat Arkadin zu Conklin geschickt. Am Ende ist es Ikupow nicht gut bekommen; Arkadin hat ihn getötet, weil Ikupow seine Freundin erschossen hat.«
»Und sein heimlicher Partner Asher Sever, dein ehemaliger Mentor, liegt im Dauerkoma.«
»Jeder bekommt am Ende, was er verdient«, sagte Bourne bitter.
Moira kehrte zum Thema Treadstone zurück. »Laut Willard war es Conklins Ziel, einen unbesiegbaren Krieger zu erschaffen - die perfekte Kampfmaschine.«
»Das war Arkadin auch«, sagte Bourne, »aber er brach das Treadstone-Programm ab und kehrte nach Russland zurück. Seine Fähigkeiten stellte er in den Dienst verschiedener Mafiaclans in Moskau.«
»Und du warst sein Nachfolger - Conklins Erfolgsgeschichte.«
»Ich glaube, diverse Geheimdienstchefs werden das ein bisschen anders sehen«, erwiderte Bourne. »Sie würden mich wohl auf der Stelle erschießen, wenn sie mich sehen.«
»Vielleicht, aber das hat sie nicht davon abgehalten, dich anzuheuern, wenn sie dich gebraucht haben.«
»Das ist alles vorbei«, sagte Bourne.
...
Übersetzung: Norbert Jakober
Copyright © 2011 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag,
München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Robert Ludlum
Robert Ludlum erreichte mit seinen Romanen, die in mehr als 30 Sprachen übersetzt wurden, weltweit eine Auflage von über 300 Millionen Exemplaren. Robert Ludlum verstarb im März 2001. Sein Werk wird von handverlesenen Thriller-Autoren in seinem Geiste fortgeführt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Robert Ludlum
- 2012, Erstmals im TB, 574 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Norbert Jakober
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453435192
- ISBN-13: 9783453435193
- Erscheinungsdatum: 07.08.2012
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