Die Braut des Pelzhändlers
Roman. Originalausgabe
1430. Die junge Tochter Bilke des Lübecker Kaufmanns von Rantel soll gewinnbringend verheiratet werden. Von Rantel schickt Bilke mit einem Handelsschiff nach Riga. Dort soll sie den Pelzhändler Hartwych heiraten, der jedoch die arme Sängerin Ria liebt.
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Produktinformationen zu „Die Braut des Pelzhändlers “
1430. Die junge Tochter Bilke des Lübecker Kaufmanns von Rantel soll gewinnbringend verheiratet werden. Von Rantel schickt Bilke mit einem Handelsschiff nach Riga. Dort soll sie den Pelzhändler Hartwych heiraten, der jedoch die arme Sängerin Ria liebt.
Klappentext zu „Die Braut des Pelzhändlers “
1430. Der Lübecker Kaufmann von Ranteln handelt mit allerlei Waren, die er nach Riga bringt und dort gegen Pelze eintauscht. Da er nun seine Tochter Bilke gut und vor allem gewinnbringend verheiraten will, schickt er sie mit einem Handelsschiff nach Riga, wo der junge Pelzhändler Hartwych bereits auf sie wartet. Dessen Herz gehört der armen Sängerin Ria, die er jedoch niemals zu seiner Frau nehmen kann ...
Lese-Probe zu „Die Braut des Pelzhändlers “
Die Braut des Pelzhändlers von Lena JohannsonBilke
Am vierten Tag von Bilke von Rantelns Reise nach Riga
zogen schwere Wetter auf. Düstere Wolken türmten
sich vor einem gelblichen Himmel, der auf die Lübecker
Kaufmannstochter bedrohlich wirkte. Schon seit der Nacht
hatte der Wind beständig zugenommen und sich schließlich
zu einem gewaltigen Sturm entwickelt. Bilke wusste, dass sie
besser in ihrer Kabine geblieben wäre. Doch bei allem Komfort
und aller Behaglichkeit, die der kleine Raum in dem
Kastell bot, einem Aufbau am Heck der mächtigen Kogge,
wie man ihn seit geraumer Zeit baute, konnte er sie doch
nicht mit frischer Luft versorgen. Stickig war es und finster,
da es nicht einmal ein kleines Fenster gab. Sie hatte Sorge,
dass sie sich würde erbrechen müssen, und war an Deck gekommen.
Besser, an der Reling festgeklammert würgen, als
womöglich den Inhalt ihres Magens auf dem hölzernen Boden
ihrer Kabine wiederzufinden. Obwohl sie gute Vorräte an
Schollen und Rindfleisch mit sich führten, gab es an diesem
Tag nur Zwieback und Butter. Das Herdfeuer war gelöscht
worden, als der Sturm immer mehr an Kraft zugelegt hatte,
damit nicht womöglich ein Brand entstünde. Bilke war es gerade
recht. Appetit hatte sie ohnehin keinen. Schon der harte
Zwieback lag ihr schwer im Magen. Aber ihr Vater hatte ihr
vor ihrer ersten Seereise aufgetragen, auch dann zu essen,
wenn ihr nicht danach zumute war, weil es ihr dann bessergehen
würde, als wenn sie mit leerem Magen das Schwanken
und Rollen, das Heben, Senken und Kippen des Schiffes auszuhalten
versuchte.
... mehr
Sie dachte an ihren Vater, ihre liebste Schwester Bente, die ihr
glich wie eine Birke der anderen, und an Lübeck, wo sie mit
ihren weiteren drei Geschwistern aufgewachsen war. Wie lange
schien es her zu sein, dass sie an einem lausig kalten Apriltag
des Jahres 1430 an Bord dieses Handelsschiff es gegangen war,
um eine Reise anzutreten, die ihr ganzes Leben verändern
würde. Ihr war, als sei sie bereits Wochen auf diesem Schiff
unterwegs, dabei waren es erst einige Tage. Jede Minute floss
unendlich zäh dahin, so langsam wie eine alte Frau, die sich
schwerfällig aus einem Sessel erhob. Dabei wünschte sich Bilke
doch nichts sehnlicher, als endlich livländischen Boden zu
betreten. Der Grund ihrer Reise war ein äußerst glücklicher.
Zum ersten Mal würde sie Hartwych begegnen, dem Sohn des
Pelzhändlers Hans van Broke. An seiner Seite, so war es beschlossen,
würde sie ihr Leben verbringen. Sie wusste, dass er
ein weltgewandter und gebildeter Kaufmann aus den vornehmsten
Kreisen Rigas war. Wenn sie an ihn dachte, klopfte
ihr Herz einen Takt schneller. Wie mochte er wohl aussehen?
Wie klang sein Lachen? Sie konnte es kaum erwarten, die
Antworten auf all ihre Fragen zu bekommen.
Eine Welle war luvseits herangerollt und schlug jetzt hart gegen
den Schiff sleib. Die Kogge neigte sich gefährlich zur Seite.
Ein Bootsmann schrie Bilke gegen den tosenden Sturm
an, sie habe sich augenblicklich wieder in ihre Unterkunft zu
begeben. Sie zu begleiten, dazu fehlte ihm jedoch die Möglichkeit,
denn er war vollauf damit beschäftigt, sich festzuhalten,
um nicht zu stürzen. In der nächsten Sekunde musste
er schon wieder Matrosen kommandieren und Rücksprache
mit dem Kapitän halten. Bilke stand auf der dem Land abgewandten
Seite des Schiff es. Ihre Finger klammerten sich
um die Reling. Sie spürte das feuchte Holz und blickte auf
dunkelgraue schäumende Ostseewellen. Salzwasser klatschte
eisig gegen ihre Hände. Beinahe hätte sie losgelassen. Schon
war ihr Kleid feucht von der Gischt, die unablässig über die
Planken sprühte. Ihre Haare, von der Haube nur mäßig geschützt,
klebten ihr am Kopf. Sie fragte sich, wo all die anderen
Schiff e der Flotte waren. Auch kein einziges der Schutzboote
war mehr zu sehen, wie sie beklommen feststellte. Sie
waren vor drei Tagen im Verband von vier Handelsschiff en
und sechs kleinen Schutzbooten aus dem Hafen von Lübeck
ausgelaufen. Die Fracht an Bord war kostbar, und die dänischen
Piraten waren gefürchtet.
In der Ferne entdeckte sie dann doch ein Schiff . Wie es aussah,
hatte der Sturm die lübsche Flotte weit auseinandergetrieben.
Für einen kurzen Moment verschwand das ungute
Gefühl, das sich breitgemacht hatte, seit Bilke begriff en hatte,
dass die anderen Schiff e fort waren. Doch die Erleichterung
dauerte nicht lange an. Nein, dieser schlanke Dreimaster gehörte
gewiss nicht zu ihrem Verband. An ihn hätte sie sich
erinnern können. Sie war auf der Stelle in höchstem Maße
angespannt und gleichermaßen fasziniert. Elegant trotzte das
Schiff der schweren See und kam in erstaunlichem Tempo
auf sie zu. Die hellen Segel schienen vor den schwarzen Wolken
wie aus eigener Kraft zu strahlen. Bilke blickte angestrengt
in die Richtung des fremden Seglers. Immer wieder
musste sie einen Schritt bald zu dieser, bald zu jener Seite
machen, um nicht ihr Gleichgewicht zu verlieren.
»Gehen Sie in Ihre Unterkunft«, rief der Bootsmann wieder,
der soeben an ihrer Seite aufgetaucht war. Jetzt entdeckte
auch er das schlanke Schiff . »Die Sandeimer!«, schrie er im
nächsten Augenblick. Bilke erschrak. Herrschte eben schon
wegen des schlechten Wetters und der tobenden See Unruhe
unter der Mannschaft, steigerte sich diese jetzt zu nahezu
panischer Betriebsamkeit. Die Männer brüllten Kommandos,
schleppten Eimer heran und begannen, Sand auf die hölzernen
Planken der Kogge zu schütten. Hier und da schwappte
eine Welle über die stellenweise mannshohe Reling, so dass
die Seeleute die Eimer gleich wieder füllen und erneut auskippen
mussten. Sie wusste, was das bedeutet. Ihr Vater war
oft genug mit seiner Ware auf der Ostsee unterwegs gewesen
und hatte davon berichtet. Der Sand sollte verhindern, dass
das Schiff in Flammen aufging, wenn es zum Gefecht kam,
und er sollte den Männern mehr Halt auf dem nassen Holz
geben. Sie begriff schlagartig, dass der schnittige Dreimaster,
der direkt auf sie zuhielt, ein Piratenschiff sein musste. Ihr
stockte der Atem. Die Übelkeit, die sie vollkommen vergessen
hatte, kehrte unvermittelt zurück. Schon war das Schiff
heran. Bilke musste sich in ihrer Kammer verbergen. Als sie
es wagte, die Reling loszulassen, konnte sie die Männer an
Bord des feindlichen Seglers bereits erkennen. Einer von
ihnen hisste eine blutrote Flagge.
Bilke hastete auf die Treppe zu, die sie nach oben führen würde.
Einen kurzen Moment zögerte sie, überlegte, ob es nicht
klüger sei, sich zwischen Salz, Stockfisch und Hering zu verkriechen.
Im Bauch der Kogge wäre sie sicher, das wusste sie.
Oft genug hatte ihr Vater erzählt, dass Piraten niemals auf
den Rumpf unterhalb der Wasserlinie zielten, denn bei einem
solchen Treff er könnte das angegriffene Schiff leicht sinken.
Und damit gleichzeitig ihre Beute. Nein, so töricht waren
Piraten nicht. Sie kamen erst ganz nah heran und setzten
dann die verteidigungsbereite Mannschaft außer Gefecht.
Und dann machten sie sich über die Ladung her und würden
auch eine Frau entdecken, die sich dort verbarg. Sie schauderte.
Eine Gänsehaut kroch über ihren Nacken und breitete
sich aus. Und das lag gewiss nicht allein an der Kälte. Nur
wenige Schritte noch. Bilke konzentrierte sich darauf, schnell
voranzukommen, ohne zu fallen. Ihr von der Gischt inzwischen
vollkommen durchnässtes Kleid war ihr dabei hinderlich,
denn es legte sich schwer um ihre Beine. Sie versuchte,
den üppigen roten Stoff zu raff en, als eine Welle die Kogge
anhob und gleich darauf in ein tiefes Tal stürzen ließ. Bilke
machte rasch einen Schritt zur Seite, um sich abzufangen,
und stieß mit dem Knie gegen das Geländer der kleinen
Treppe, die zu ihrer Kabine führte. Sie kümmerte sich nicht
um das schmerzhafte Pochen, sprang eilig die vier Stufen
hin auf und schlug gleich darauf ihre Tür hinter sich zu.
Wenn nur ihr Vater da wäre! Seit vor fünf Jahren, im Jahr des
Herrn 1425, Bilkes Mutter bei der Geburt des Jüngsten, Knud,
gestorben war, sorgte Heimo von Ranteln allein für seine Kinder.
Obwohl er ein Geschäft zu führen hatte und es für einen
Mann gänzlich ungewöhnlich war, sich um seine Kinder zu
kümmern, tat er dies mit einiger Hingabe und war stets für
Bilke und ihre Geschwister da. Gewiss, die Kinderfrau war
ihm stets zur Hand gegangen, doch blieben ihm noch immer
genug Arbeit und Sorgen, die er nicht auf fremde Schultern
abwälzen konnte. Nie würde Bilke den Tag kurz nach ihrem
vierzehnten Geburtstag vergessen, an dem sie, wie schon bei
ihren anderen Geschwistern, voller Spannung darauf gewartet
hatte, in die Kammer der Eltern schleichen und das Neugeborene
betrachten zu dürfen. Nur war diesmal alles anders. Schon
erklang das für einen Säugling gewiss kräftig zu nennende
Schreien des Kindes, das gedämpft durch die schweren Holztüren
nur schwach an Bilkes Ohren drang. Und im nächsten
Moment erfüllte ein Schrei das ganze Haus, der so laut und
schauderhaft war, dass sie ihn ihr ganzes Leben nicht würde
vergessen können. Es klang wie das Kreischen und Ächzen
eines wilden Tieres, doch es war Bilkes Vater, der den Tod seiner
Frau beklagte. Einige Tage bekamen Bilke und Bente und
die Brüder Holger und Hauke ihren Vater nicht zu Gesicht.
Sie trösteten sich mit dem winzigen Knud - die Mutter war
sich sehr früh sicher gewesen, dass es ein Junge werden würde,
und hatte diesen Namen gewählt - und waren mit ihrem eigenen
Kummer beschäftigt. Bilke, als die Älteste, gab sich alle
Mühe, Bente und die Jungen zu trösten. Gern hätte sie auch
ihrem Vater Trost gespendet, wenn sie ihn manchmal nachts
vor Kummer stöhnen hörte. Meist waren zuvor Schritte zu hören
gewesen. Wahrscheinlich war er ruhelos herumgelaufen,
oder eine Magd hatte ihm noch etwas zu essen oder zu trinken
gebracht oder ihm eine Wärmflasche gerichtet. Nach dem Begräbnis
seiner Frau ging Heimo wieder seinen Geschäften
nach, dem Handel mit Gewürzen, Salz und vor allem Hering
und Stockfisch. Er achtete überraschenderweise noch mehr
als zuvor auf seine Kleidung, seine Haarpracht und seinen
stattlichen Bart. Bilke fi el auf, dass die Kinderfrau seit dem
Tod von Frau von Ranteln beschwingter wirkte und mit einem
Mal zu geröteten Wangen neigte. Sie fragte sich, ob die Bedienstete
womöglich ihren Kummer und die Mehrbelastung
mit dem einen oder anderen Gläschen zu betäuben suchte.
Von solchen Fällen hatte man schon gehört.
Ein Donner ertönte, gleich darauf ein Krachen und das alles
durchdringende Geräusch von berstendem Holz. Bilke zuck-
te zusammen. Sie stellte fest, dass sie noch immer wie angewurzelt
in ihrer Kabine stand. Es musste doch irgendetwas
geben, das sie tun konnte. Nun gab es keinen Zweifel mehr,
dass es sich um Piraten handelte, die sich anschickten, die
lübsche Kogge zu entern. Hilfe von den Schutzbooten war
offenkundig nicht zu erwarten. Sie strich das nasse Kleid glatt
und richtete notdürftig die Haare und die Haube. Sie würde
einem Kapitän, selbst wenn es sich um den eines Piratenschiff
es handelte, so gegenübertreten, wie es sich für die
Tochter eines angesehenen Rigafahrers gehörte. Bilke lauschte
auf die Geräusche, deren Vielfalt mit jeder Sekunde zu
wachsen schien, als würden unterschiedliche Instrumente
sich nach und nach zu einem mehrstimmigen Orchester zusammenfinden.
Zu dem Glucksen der Wellen, die an den
Schiffsleib schlugen, kamen die Rufe der Männer, die zur
Mannschaft gehörten, und längst auch die Schreie der Angreifer.
Zudem war ein unregelmäßiges Trommeln wie von
schweren Hagelkörnern auf einem Holzdach zu hören, das
immer wieder von Schmerzenslauten durchbrochen wurde.
Mit einem Mal gab es einen dumpfen Schlag, als ob ein
schwerer eiserner Gegenstand gegen die Bordwand krachte.
Bilke fi el ein, wie ihr Vater ihren Brüdern einmal erzählt
hatte, dass Piraten Wurfanker aus Eisen verwendeten, um
ihr Boot längsseits an ihre Beute heranzuziehen und dann
entern zu können. Während sie daran dachte, wie sie, auf
ihrer Fidel übend, damals über die Geschichte gelächelt hatte,
spürte sie einen kräftigen Ruck, hörte gleich darauf einen
lauten Schlag, verlor die Balance und stürzte auf die schlichte
Pritsche, die ihr an Bord als Nachtlager diente. Also war
die Geschichte mit dem durch die Luft sausenden Anker
doch kein Ammenmärchen gewesen. Dann fielen die ersten
Schüsse. Sie richtete sich kerzengerade auf, wartete und starrte
auf die niedrige Holztür. Sie hätte nicht annähernd raten
können, wie lange sie so saß, auf die grauenhaften Töne
lauschend, die von berstendem Holz - oder waren es gar
Knochen? - verursacht wurden oder die aus den Kehlen der
gepeinigten Männer kamen. Plötzlich hörte sie ihren Namen,
ausgesprochen mit einer tiefen Stimme, die zwar Bilkes
Sprache benutzte, mit ihr aber offenbar nicht völlig vertraut
war.
»Ich weiß, dass sie an Bord ist«, sagte die Stimme mit großer
Überzeugung. Schritte kamen näher.
Bilke bemerkte, dass sie zitterte. Sosehr sie sich auch bemühte,
sie konnte es nicht abstellen. Seeräuber für dumm zu halten
wäre ihr nicht eingefallen. Dafür hatte sie schon zu viel
von ihnen gehört. Dass sie aber die Personen mit Namen zu
nennen wussten, die auf einem Handelsschiff reisten, erstaunte
sie doch. Woher nur konnten sie derartige Kenntnisse haben?
Sie stand auf, straffte sich, strich fahrig über das noch
immer nasse Kleid und blickte so stolz und ruhig, wie es ihr
nur möglich war, zu der Tür, hinter der die Schritte immer
lauter wurden.
»Nein, Sie können nicht ...«, hörte sie den Kapitän ganz nah
bei ihrer Kabine. Dann gab er ein ersticktes Gurgeln von sich
und schwieg. Sie schluckte. Die Tür wurde geöffnet. Bilke
konzentrierte sich auf den Schlag ihres Herzens, den sie wild,
beinahe schmerzhaft in der Brust spürte und der, wie ihr
scheinen wollte, den gleichen Takt hatte wie das Pochen in
ihrem Knie. Ein Mann stand in der offenen Tür. Er war groß
und trug eine Hose, die einige Risse aufwies, ein ebensolches
Hemd und eine Lederweste darüber.
»Da ist sie also«, sagte er mit dieser Aussprache, die ihn auf
der Stelle als Dänen entlarvte. Jedes S zischte, und die Worte
wurden zwischen engen Kieferknochen zermahlen.
Bilke sah ihm in die Augen, die grau und kalt waren wie das
Meer.
»Kommen Sie schon raus aus Ihrem Versteck, oder soll ich
zu Ihnen hineinkommen?« Bilke konnte sich des Eindrucks
nicht erwehren, seine eigene Zunge sei ihm andauernd im
Weg. Unter anderen Umständen hätte sie darüber gelacht.
Doch in dieser Situation war ihr keineswegs nach Heiterkeit
zumute. Ohne ein Wort trat sie auf ihn zu, bückte sich unter
dem niedrigen Türrahmen hindurch und stand ganz dicht vor
ihm. Er war fast einen Kopf größer als sie. Trotzdem blickte
sie ihm auch jetzt fest in die Augen.
»Bilke von Ranteln, habe ich recht?«
Sie nickte.
»Können Sie nicht sprechen, Bilke von Ranteln?« Es klang
nicht böse oder aggressiv, wie er fragte, eher abwartend, fast
ein wenig verständnisvoll.
»Lassen Sie sie in Frieden, ich fl ehe Sie an.« Kapitän von
Holstein machte einen Schritt nach vorn, wurde aber von
einem Mann festgehalten, der lange schwarze Haare und eine
unübersehbare Narbe quer über der Nase hatte. Bilke bemerkte,
dass von Holstein an der rechten Schläfe blutete.
»Wir ergeben uns«, fuhr er unbeirrt fort. »Das habe ich Ihnen
doch bereits zugesichert. Wir laden unsere Fracht auf Ihr
Schiff um und ziehen dann unseres Weges. Fräulein von Ranteln
kann wohl kaum von Nutzen für Sie sein, also lassen Sie
sie mit uns nach Hause segeln.«
Der Piratenkapitän, dessen rotblondes, ungestüm gelocktes
Haar sein kantiges Gesicht einrahmte, drehte sich langsam
zu von Holstein um.
»Ihr ergebt euch?« Er machte eine Pause und begann dann
dröhnend zu lachen. Seine Männer, die überall an Deck verteilt
waren, stimmten ein.
Erst jetzt wagte Bilke, sich genauer umzusehen. Was sie sah,
war grauenvoll. Die Segel der Kogge hingen in Fetzen, der
Mast war so schwer getroffen worden, dass er in zwei Stücke
geborsten war. Das Deck war von nassem Sand bedeckt,
der an einigen Stellen durch das Kampfgetümmel zu einem
Haufen zusammengeschoben, an anderen Stellen von Blut
getränkt war. Einige Seeleute lagen reglos auf den Planken.
Stoff war zerfetzt, die Haut, die darunter zum Vorschein
kam, war es ebenfalls. Was wie Hagelkörner geklungen hatte,
musste Schrot gewesen sein. Überall ragten Holzsplitter in
die Luft, waren Löcher geschlagen, Seile und Taue in tausend
Stücke gerissen. Auch einige der Toten waren auf die gefährliche
Waff e zurückzuführen, die wegen ihrer Streuwirkung,
durch die Menschen schwer verletzt wurden und Material
zerstört wurde, gefürchtet war. Wer von der Mannschaft der
Kogge noch auf seinen zwei Beinen stehen konnte, wurde
von Piraten bewacht und hielt die Hände zum Zeichen der
Unterwerfung über den Kopf. Welch ein Gegensatz, kam es
Bilke in den Sinn: die lachenden Angreifer, die kaum Verluste
zu beklagen hatten, und die Besiegten, die verängstigt und
verzweifelt dreinblickten. Anscheinend hatte dieser Verbrecher,
der ihr gegenüberstand, allen Grund, zu lachen. Viel
Gegenwehr war von den lübschen Seeleuten nicht mehr zu
erwarten. Sie hatten wohl kaum eine andere Wahl, als sich zu
ergeben.
Ganz langsam drehte sich der Blonde nun wieder zu Bilke
um. Obwohl seine Antwort im Grunde von Holstein galt, sah
er sie an, während er sprach: »Irrtum, mein Bester, ich bin
davon überzeugt, dass sie mir und meinen Männern noch von
großem Nutzen sein kann.«
Zwar stand er mit dem Rücken zu seinen Leuten, doch er
sprach laut genug, um gehört zu werden. Schmutziges Gelächter
und Pfiff e waren die Antwort. Bilke musste wieder
schlucken und hoffte inständig, dass er nicht sah, wie sehr sie
erschauderte.
»Leider muss ich Sie auch enttäuschen, was Ihre Pläne für Ihre
Heimreise betriff t. Wir werden umladen, was wir gebrauchen
können. Danach machen wir mit diesem Kahn ein Feuerchen.
« Nun drehte er sich zu von Holstein um und trat einen
Schritt von Bilke weg. »Verstehen Sie mich nicht falsch, mein
Bester, ich bin ein Ehrenmann. Ich werde Sie und Ihre Männer
am Leben lassen, wenn Sie sich entschließen können, in
Zukunft unter meinem Kommando auf meiner prächtigen
Karacke zu fahren. Das Schiff kann ich Ihnen nicht lassen. Ich
weiß, wie schnell Sie damit zurück in Lübeck wären. Und ich
weiß auch, was Sie dort auf der Stelle tun würden.«
Kein Zweifel, dass der Mann recht hatte. Natürlich würde von
Holstein, kaum dass die Übeltäter außer Sicht wären, seine
Leute anhalten, notdürftig Segel, Taue und Mast in Ordnung
zu bringen, und dann, ohne eine weitere Minute zu verlieren,
gen Lübeck aufbrechen, um dafür zu sorgen, dass man den Piraten
nachstellte. Noch immer sagte Bilke kein Wort. Was
hätte es geholfen? Die Kogge, die den Namen Marie trug, würde
brennen. Es gab nichts, was das verhindern konnte.
Der Blonde wendete sich ihr erneut zu: »Wie ich sagte, ich bin
ein Mann mit Ehrgefühl und Moral. Ich weiß, was sich gegenüber
einer Dame gehört.« Er neigte ein wenig den Kopf. Die
Geste allein hätte womöglich Ehrerbietung ausdrücken können,
doch sein Lächeln, voller Ironie und Verachtung, sprach
eine andere Sprache. »Svendsson«, stellte er sich ihr vor. »Von
nun an Ihr Kapitän. Gestatten Sie, dass ich Sie auf Ihr Schiff
bringe?« Was wie eine Frage klang, war in Wahrheit ein Befehl.
Er trat einen Schritt zur Seite und bedeutete ihr mit der
ausgestreckten Hand, an ihm vorbeizugehen.
Sie hob den Saum ihres Kleides an, damit er nicht beschmutzt
wurde, und stolzierte aufrecht und mit erhobenem Kopf an
dem Piratenkapitän vorüber. Um keinen Preis würde sie die
Fassung verlieren oder sich ungehörig benehmen. Nachdem
sie die Stufen von dem Kastell auf das Deck hinabgestie-
gen war, fiel ihr etwas ein, und sie blieb unvermittelt stehen.
Svendsson, der ihr die Stufen hinab gefolgt war, prallte gegen
ihren Rücken.
»Vorwärts«, kommandierte er.
Bilke machte einen Schritt zur Seite, um ein wenig Abstand
zwischen sich und den Mann zu bringen. Dann drehte sie
sich um.
»Darf ich meine Fidel mitnehmen, bitte?«, fragte sie.
Svendsson zog die Augenbrauen hoch. Ihren Namen mochte
er kennen, aber offenbar wusste er nicht viel über sie.
»Sie spielen die Fidel?«, fragte er zurück.
»Gewiss«, sagte sie in einem ganz natürlichen Ton, als würde
sie sich jeden Tag mit einem Freibeuter unterhalten. »Mein
Vater hat sie mir aus Spanien mitgebracht. Ich meine, ich verstehe
mich recht gut auf den Umgang mit dem Instrument.«
»Ein bisschen Unterhaltung kann bestimmt nicht schaden«,
entschied Svendsson nach kurzem Zögern. Sie nahm wahr,
wie zwei Männer der gegnerischen Mannschaft miteinander
tuschelten und lachten, doch sie gab sich alle Mühe, nicht auf
sie zu achten.
»Beeilen Sie sich!«
Bilke ging wieder an ihm vorbei und die Stufen hinauf. Mochte
ein Beobachter sie auch für die Ruhe in Person halten, so
geschickt spielte sie ihre Rolle, sah es in ihrem Inneren doch
ganz anders aus. Sie hätte nicht zu sagen vermocht, warum sie
den Mann gerade um diese Gefälligkeit gebeten hatte. Sie
wollte nicht als Gefangene auf dieses Räuberschiff gehen.
Warum hatte sie nicht versucht zu verhandeln? Wohin würde
ihr Stolz sie noch bringen? Sie wollte ihrem Vater keine
Schande machen, wollte beweisen, dass sie die gesellschaftlichen
Regeln kannte und sich danach zu benehmen wusste.
Doch galten diese Regeln unter diesen Umständen überhaupt
noch? Sie bezweifelte nicht, dass die Kerle, in deren Hände sie
sich zu begeben im Begriff war, ihre eigenen Regeln hatten,
von denen Bilke nicht den Hauch einer Ahnung besaß.
Während sie in ihrer kleinen Kabine nach dem Koffer griff , in
dem das kostbare spanische Streichinstrument aufbewahrt
war, suchten ihre Augen die Kammer nach einem Gegenstand
ab, den sie dem Widerling über den Schädel ziehen
oder den sie in sein Fleisch bohren konnte. Wenn der Kapitän
außer Gefecht war, würden die anderen Seeräuber sich
mit etwas Glück zurückziehen. Oder die lübsche Mannschaft
würde die Gelegenheit nutzen, um einen letzten Versuch der
Gegenwehr zu wagen.
»Also?« Svendsson wurde ungeduldig. »Wo ist nun die Fidel?«
»Ich habe sie«, rief Bilke zurück. Hier gab es nichts, womit sie
hätte angreifen können. Fast war sie ein wenig erleichtert.
denn ihr war klar, dass sie niemals den Mut dafür aufgebracht
hätte. Sie zog den ledernen Koffer zwischen der großen hölzernen
Truhe, in der sie ihre Kleider untergebracht hatte, und
dem Bett hervor. Sie überlegte kurz, ob sie darum bitten sollte,
auch ihre Kleider mitnehmen zu dürfen. Doch sie verwarf
den Gedanken rasch wieder, denn sie konnte sich ausmalen,
wie die Antwort lauten würde. Die Schmach wollte sie sich
lieber ersparen und nahm im Geiste Abschied von Brokat
und Seide, von Spitze und feinsten englischen Tuchen. Aus
dem Augenwinkel entdeckte sie ihre Schmucknadel, ein Erbstück
von ihrer Mutter. Die Kogge schwankte, neigte sich zur
Seite. Bilke tat so, als ob sie sich kurz an dem Brettchen, das
an der Wand befestigt war und als Ablage diente, festhalten
musste, griff nach der Nadel und ließ sie in den Ärmel ihres
Kleides verschwinden. Dann trat sie mit dem Instrumentenkoffer
durch die Tür.
»Da ist sie«, sagte sie und schritt würdevoll erneut die Stufen
hinab, die Fidel in der einen Hand, den üppigen Spitzenbesatz
des Ärmels an der anderen Hand fest umklammert.
Die Männer schwiegen, als sie, dem Rollen des Schiff es trotzend,
mit festen Schritten zu dem Teil der Bordwand ging,
die mit dem gegnerischen Schiff durch Wurfanker und Taue
verbunden war.
»Darf ich ihr helfen, Kapitän?«, wandte sich der Bootsmann,
der Bilke noch vor nicht allzu langer Zeit aufgrund des
Sturms in ihre Kabine verwiesen hatte, an Svendsson.
Der zog, überrascht von der förmlichen Anrede, die er sonst
nur von seinen eigenen Leuten erwarten durfte, die Augenbrauen
hoch.
»Darf ich annehmen, dass ich einen neuen Mann an Bord der
Schwarzen Rose begrüßen darf?«
Der Bootsmann verbeugte sich. »Jawohl, Kapitän, wenn Sie
erlauben.«
Svendsson nickte gefällig und machte eine Handbewegung,
woraufhin der Bewacher des Bootsmannes sich entspannte,
während der Bootsmann selbst zur Bordwand eilte, einen
Eimer und eine Kiste heranschleppte, die er zu einem treppenähnlichen
Gebilde zusammensetzte. Als er damit fertig
war und die Stabilität seiner Konstruktion geprüft hatte,
reichte er Bilke die Hand.
»Hinrichs, Sie elender Verräter!«, rief von Holstein in diesem
Moment. Sein ohnehin stets rot geädertes Gesicht schien zu
glühen, die Wangen leuchteten dunkelrot. Er spuckte voller
Abscheu vor seinem abtrünnigen Bootsmann aus.
Der warf ihm einen Blick zu, aus dem für Bilke nicht erkennbar
war, was in ihm vorging. Als Hinrichs sie ansah und ihre
Hand nahm, um ihr auf die Kiste zu helfen, war sie jedoch
froh, dass er sie nicht auf dem Piratenschiff allein lassen würde.
»Nun?«, fragte Svendsson gedehnt. »Wer schließt sich an?
Auf meinem Schiff ist noch Platz für tüchtige Seeleute.«
Bilke drehte sich noch einmal um und sah, wie er die Reihen
der Lübecker abschritt, vor jeden hintrat und in das verängstigte
Gesicht schaute. »Ich werde niemanden zwingen«,
sprach er weiter. »Es ist eure freie Entscheidung. Wer es vorzieht,
darf hier zurückbleiben.«
»Um zu verbrennen und mit der Marie unterzugehen«, rief
von Holstein aufgebracht.
Svendsson ging langsam auf ihn zu. Bilke hielt die Luft an.
Sie presste den Lederkoff er fest an sich und hielt sich mit der
anderen Hand, die Schmucknadel kalt an ihrem Unterarm,
an der Bordwand fest. Svendsson bewegte sich an Bord, als
läge die Marie ruhig und fest vertäut im Hafen. Dabei wand
sie sich noch immer wie ein Tier, zerrte an den Leinen und
rieb sich kratzend an der Außenhaut der Schwarzen Rose, mit
der sie anscheinend nicht länger verbunden sein mochte.
»Ich denke doch, Sie und Ihre Männer können schwimmen?«
Wieder diese Ironie. Der Kerl war sich seiner Sache sehr sicher.
Seine Leute lachten.
Ihr böses Gelächter nahm Bilke alle Hoffnung. Auch wenn
sie sich nur schwer vorstellen konnte, dass jemand in den hohen
Wellen und dem kalten Wasser der Ostsee weit kam, so
erschien es ihr doch möglich, das rettende Ufer zu erreichen.
Die Küste war stets zu sehen, damit sich die Seeleute orientieren
konnten und nicht vom Kurs abkamen. Sie hätte sich
so sehr gewünscht, dass wenigstens einige der braven Matrosen
ihr Leben retten konnten. Doch es wurde immer schwerer
für sie, daran zu glauben.
Schon nickte der eine oder andere und gesellte sich zu Hinrichs.
»Tut das nicht!«, forderte von Holstein sie lautstark auf. »Das
Seerecht verlangt, dass ihr eurer Schiff bis zum letzten Atemzug
verteidigt. Das wisst ihr. Wer glaubt, sein jämmerliches
Leben retten zu können, irrt.« Er holte tief Luft. »Der wird
nicht einen Deut besser behandelt als ein gewöhnlicher Pirat.
Auf ihn wartet der Tod.«
»Er spricht die Wahrheit«, bestätigte Svendsson den Kapitän.
»Unsere Köpfe werden alle rollen.« Er machte eine Pause und
sah in die Runde. »Nur müssen sie uns dafür erst mal kriegen!
« Seine Stimme war angeschwollen wie der Sturm. Wieder
dieses dröhnende Lachen.
»Gehen Sie, schnell!«, murmelte Hinrichs und half Bilke, den
Schritt über die Bordwand zu machen.
An Deck des fremden Dreimasters nahm sie ein alter Mann
in Empfang. Er hatte, wohl des Kämpfens müde, mit einer
Handvoll anderer an Bord die Stellung gehalten. Seine Wangen
waren eingefallen, seine Haut ledrig gelblich. Das weiße
Haar war schütter und ließ die Kopfhaut hier und da durch-
blitzen. Das Kinn zierte ein silbriges Bärtchen, das Bilke an
einen Ziegenbock erinnerte, den sie einmal vor den Toren
Lübecks gesehen hatte. Die grauen Augen waren glanzlos,
sein Griff war leicht. Selbst durch den Stoff von Bilkes Ärmel
fühlte sich seine Hand, die schwach in ihrer Ellenbeuge lag,
kalt an. Es wäre ein Leichtes, diesem vermeintlichen Bewacher
zu entfliehen. Allerdings gab es keinen Ort, wo sie sich
in Sicherheit bringen konnte. Einen Moment dachte sie darüber
nach, einfach loszulaufen und sich über die Reling in die
Wogen der Ostsee zu stürzen. Zwar hatte der April schon ein
oder zwei milde Tage gebracht, doch das Meer war noch bitterkalt.
Und Bilke konnte nicht schwimmen. Lange würde es
nicht dauern, bis der Tod sie holte. Das wäre gewiss besser, als
allein als einzige Frau unter diesen schrecklichen Gesetzlosen
auf einem Schiff auszuharren. Wenn sie sich auch nicht ausmalen
mochte, was diese Ungeheuer mit ihr anstellen würden,
so ahnte sie es doch. Sie dachte an ihre Familie zu Hause
in Lübeck, und sie dachte an Hartwych van Broke, dem sie
womöglich niemals begegnen würde. Tränen traten in ihre
Augen, doch sie blinzelte sie weg. Man konnte sie dem Wind
zuschreiben, der ganz allmählich abzuflauen schien. Ohne
den Kopf auch nur ein einziges Mal zu senken, stand sie frierend
da und sah zu, wie ein Teil der Ladung von einem Schiff
auf das andere gebracht wurde. Sie hatten weder Tuche noch
Brokatstoff e, weder Samt noch Seide mit sich geführt, und
auch keine Goldmünzen oder kostbare Messingwaren aus
Dinant. In erster Linie waren es Viktualien, die sie im Bauch
der Marie transportierten. Nicht, dass diese nicht kostbar wären,
doch es stand zu befürchten, dass die Piraten sich mehr
erhoff t hatten. Emsig schleppten die Männer die Säcke und
Fässer, die von den Lübecker Gefangenen aus den Fracht-
räumen geholt und an Deck geschafft wurden, herüber auf
ihr eigenes Schiff und verstauten sie dort in Windeseile. Es
war leicht, zu erkennen, dass die Mannschaft dies nicht zum
ersten Mal machte. Entern, die Ladung übernehmen und
rasch mit der Beute verschwinden, das war ihr Leben und
zugleich ihre Lebensversicherung.
Bilke beobachtete eine Auseinandersetzung zwischen Svendsson
und von Holstein. Sie endete damit, dass Svendsson zwei
seiner Männer in den Bauch der Kogge hinabschickte. Diese
erschienen wenig später wieder, machten ihrem Kapitän
Meldung, woraufhin man begann, eine Vorrichtung an dem
zerbrochenen Mast zu befestigen, mit der schließlich eine
Kiste aus dem Rumpf gezogen wurde, die groß genug war,
um gut und gerne drei, wenn nicht gar vier erwachsene Menschen
darin verbergen zu können. Sie fragte sich, welcher Art
die Waren sein mochten, die in einer solchen Kiste lagerten.
Als Bilke in Lübeck an Bord des Schiff es gegangen war, war
das Laden bereits beendet gewesen. Zwar wusste sie, welche
Handelsgüter ihr Vater nach Riga lieferte, jedenfalls glaubte
sie bis zu diesem Moment, es zu wissen, doch dieses augenscheinlich
schwere Holzbehältnis gab ihr Rätsel auf. So wie
Svendsson ihren Namen gekannt hatte, wusste er offenbar
auch von dieser geheimnisvollen Fracht. Die Piraten sprangen
behende von einem Schiff zum anderen, holten Rundhölzer
hervor, auf denen sie die gewichtige Beute voranrollen
konnten. Bilke konnte sich nicht dagegen wehren, fasziniert
zu sein von der Geschicklichkeit, mit der sie die gewaltige
Kiste auf ihr Schiff luden.
Dann war es so weit. Svendsson und seine Männer sowie eine
Handvoll Matrosen der Lübecker Mannschaft standen auf
dem Dreimaster und sahen zu, wie Svendsson einen Pfeil
entzündete, seinen Bogen anlegte und auf das Kastell am
Heck der Kogge zielte. Der brennende Pfeil flog in großem
Bogen zischend durch die Luft. Er blieb in dem hölzernen
Aufbau, in dem Bilke die letzten Tage verbracht hatte, stecken
und entzündete augenblicklich ein Feuer. Weitere lodernde
Pfeile folgten. Von Holstein stand mit steinernem
Gesichtsausdruck vor dem Rest seiner Besatzung. An immer
mehr Stellen fi ng die alte Marie Feuer. Die Männer rissen die
Augen in wachsender Panik auf. Schon schrie der erste auf,
rannte zur Reling und stürzte sich in die See.
Bilke hielt es nicht länger aus. »Sie sind ein Ungeheuer!«,
schrie sie Svendsson an. Der reagierte nicht auf sie, sondern
vollendete ungerührt sein Werk.
»Nicht, Fräulein von Ranteln«, mahnte Hinrichs, der nicht
weit von ihr stand, leise. »Wenn Sie so ruhig bleiben wie bisher,
geschieht Ihnen mit ein bisschen Glück nicht viel. Vergessen
Sie nicht, als lebende Geisel haben Sie einigen Wert.«
Sie bebte am ganzen Leib und hatte große Mühe, ein
Schluchzen zu unterdrücken. Hinrichs Worte trugen nicht
viel dazu bei, sie zu trösten, doch sie brachten sie immerhin so
weit wieder zur Vernunft, dass sie es nicht auf einen Streit mit
diesem Svendsson ankommen ließ. Sie atmete schwer und
schloss die Augen, in der Hoffnung, dieser Alptraum möge
bald vorüber sein. Noch eine geraume Weile hörte sie die
Schreie der Männer, das Klatschen, wenn sie sich in ihr nasses
Grab stürzten. Noch lange sah sie von Holstein vor sich,
wie er auf den Planken seines Schiffes stand, während um ihn
die Flammenhölle immer heller loderte, lauter knisterte und
krachte und den Himmel über der Ostsee für eine kurze Zeit
zum Leuchten brachte.
Knaur Taschenbuch Verlag
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Originalausgabe März 2011
Copyright © 2010 by Knaur Taschenbuch.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th . Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise - nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Redaktion: Ilse Wagner
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Umschlagabbildung: Th e Lovers (oil on panel), Max Gaisser (1857-1922) /
Private Collection / Photo © Bonhams, London, UK /
Th e Bridgeman Art Library
Satz: Daniela Schulz, Stockdorf
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 978-3-426-50520-5
2 4 5 3 1
Sie dachte an ihren Vater, ihre liebste Schwester Bente, die ihr
glich wie eine Birke der anderen, und an Lübeck, wo sie mit
ihren weiteren drei Geschwistern aufgewachsen war. Wie lange
schien es her zu sein, dass sie an einem lausig kalten Apriltag
des Jahres 1430 an Bord dieses Handelsschiff es gegangen war,
um eine Reise anzutreten, die ihr ganzes Leben verändern
würde. Ihr war, als sei sie bereits Wochen auf diesem Schiff
unterwegs, dabei waren es erst einige Tage. Jede Minute floss
unendlich zäh dahin, so langsam wie eine alte Frau, die sich
schwerfällig aus einem Sessel erhob. Dabei wünschte sich Bilke
doch nichts sehnlicher, als endlich livländischen Boden zu
betreten. Der Grund ihrer Reise war ein äußerst glücklicher.
Zum ersten Mal würde sie Hartwych begegnen, dem Sohn des
Pelzhändlers Hans van Broke. An seiner Seite, so war es beschlossen,
würde sie ihr Leben verbringen. Sie wusste, dass er
ein weltgewandter und gebildeter Kaufmann aus den vornehmsten
Kreisen Rigas war. Wenn sie an ihn dachte, klopfte
ihr Herz einen Takt schneller. Wie mochte er wohl aussehen?
Wie klang sein Lachen? Sie konnte es kaum erwarten, die
Antworten auf all ihre Fragen zu bekommen.
Eine Welle war luvseits herangerollt und schlug jetzt hart gegen
den Schiff sleib. Die Kogge neigte sich gefährlich zur Seite.
Ein Bootsmann schrie Bilke gegen den tosenden Sturm
an, sie habe sich augenblicklich wieder in ihre Unterkunft zu
begeben. Sie zu begleiten, dazu fehlte ihm jedoch die Möglichkeit,
denn er war vollauf damit beschäftigt, sich festzuhalten,
um nicht zu stürzen. In der nächsten Sekunde musste
er schon wieder Matrosen kommandieren und Rücksprache
mit dem Kapitän halten. Bilke stand auf der dem Land abgewandten
Seite des Schiff es. Ihre Finger klammerten sich
um die Reling. Sie spürte das feuchte Holz und blickte auf
dunkelgraue schäumende Ostseewellen. Salzwasser klatschte
eisig gegen ihre Hände. Beinahe hätte sie losgelassen. Schon
war ihr Kleid feucht von der Gischt, die unablässig über die
Planken sprühte. Ihre Haare, von der Haube nur mäßig geschützt,
klebten ihr am Kopf. Sie fragte sich, wo all die anderen
Schiff e der Flotte waren. Auch kein einziges der Schutzboote
war mehr zu sehen, wie sie beklommen feststellte. Sie
waren vor drei Tagen im Verband von vier Handelsschiff en
und sechs kleinen Schutzbooten aus dem Hafen von Lübeck
ausgelaufen. Die Fracht an Bord war kostbar, und die dänischen
Piraten waren gefürchtet.
In der Ferne entdeckte sie dann doch ein Schiff . Wie es aussah,
hatte der Sturm die lübsche Flotte weit auseinandergetrieben.
Für einen kurzen Moment verschwand das ungute
Gefühl, das sich breitgemacht hatte, seit Bilke begriff en hatte,
dass die anderen Schiff e fort waren. Doch die Erleichterung
dauerte nicht lange an. Nein, dieser schlanke Dreimaster gehörte
gewiss nicht zu ihrem Verband. An ihn hätte sie sich
erinnern können. Sie war auf der Stelle in höchstem Maße
angespannt und gleichermaßen fasziniert. Elegant trotzte das
Schiff der schweren See und kam in erstaunlichem Tempo
auf sie zu. Die hellen Segel schienen vor den schwarzen Wolken
wie aus eigener Kraft zu strahlen. Bilke blickte angestrengt
in die Richtung des fremden Seglers. Immer wieder
musste sie einen Schritt bald zu dieser, bald zu jener Seite
machen, um nicht ihr Gleichgewicht zu verlieren.
»Gehen Sie in Ihre Unterkunft«, rief der Bootsmann wieder,
der soeben an ihrer Seite aufgetaucht war. Jetzt entdeckte
auch er das schlanke Schiff . »Die Sandeimer!«, schrie er im
nächsten Augenblick. Bilke erschrak. Herrschte eben schon
wegen des schlechten Wetters und der tobenden See Unruhe
unter der Mannschaft, steigerte sich diese jetzt zu nahezu
panischer Betriebsamkeit. Die Männer brüllten Kommandos,
schleppten Eimer heran und begannen, Sand auf die hölzernen
Planken der Kogge zu schütten. Hier und da schwappte
eine Welle über die stellenweise mannshohe Reling, so dass
die Seeleute die Eimer gleich wieder füllen und erneut auskippen
mussten. Sie wusste, was das bedeutet. Ihr Vater war
oft genug mit seiner Ware auf der Ostsee unterwegs gewesen
und hatte davon berichtet. Der Sand sollte verhindern, dass
das Schiff in Flammen aufging, wenn es zum Gefecht kam,
und er sollte den Männern mehr Halt auf dem nassen Holz
geben. Sie begriff schlagartig, dass der schnittige Dreimaster,
der direkt auf sie zuhielt, ein Piratenschiff sein musste. Ihr
stockte der Atem. Die Übelkeit, die sie vollkommen vergessen
hatte, kehrte unvermittelt zurück. Schon war das Schiff
heran. Bilke musste sich in ihrer Kammer verbergen. Als sie
es wagte, die Reling loszulassen, konnte sie die Männer an
Bord des feindlichen Seglers bereits erkennen. Einer von
ihnen hisste eine blutrote Flagge.
Bilke hastete auf die Treppe zu, die sie nach oben führen würde.
Einen kurzen Moment zögerte sie, überlegte, ob es nicht
klüger sei, sich zwischen Salz, Stockfisch und Hering zu verkriechen.
Im Bauch der Kogge wäre sie sicher, das wusste sie.
Oft genug hatte ihr Vater erzählt, dass Piraten niemals auf
den Rumpf unterhalb der Wasserlinie zielten, denn bei einem
solchen Treff er könnte das angegriffene Schiff leicht sinken.
Und damit gleichzeitig ihre Beute. Nein, so töricht waren
Piraten nicht. Sie kamen erst ganz nah heran und setzten
dann die verteidigungsbereite Mannschaft außer Gefecht.
Und dann machten sie sich über die Ladung her und würden
auch eine Frau entdecken, die sich dort verbarg. Sie schauderte.
Eine Gänsehaut kroch über ihren Nacken und breitete
sich aus. Und das lag gewiss nicht allein an der Kälte. Nur
wenige Schritte noch. Bilke konzentrierte sich darauf, schnell
voranzukommen, ohne zu fallen. Ihr von der Gischt inzwischen
vollkommen durchnässtes Kleid war ihr dabei hinderlich,
denn es legte sich schwer um ihre Beine. Sie versuchte,
den üppigen roten Stoff zu raff en, als eine Welle die Kogge
anhob und gleich darauf in ein tiefes Tal stürzen ließ. Bilke
machte rasch einen Schritt zur Seite, um sich abzufangen,
und stieß mit dem Knie gegen das Geländer der kleinen
Treppe, die zu ihrer Kabine führte. Sie kümmerte sich nicht
um das schmerzhafte Pochen, sprang eilig die vier Stufen
hin auf und schlug gleich darauf ihre Tür hinter sich zu.
Wenn nur ihr Vater da wäre! Seit vor fünf Jahren, im Jahr des
Herrn 1425, Bilkes Mutter bei der Geburt des Jüngsten, Knud,
gestorben war, sorgte Heimo von Ranteln allein für seine Kinder.
Obwohl er ein Geschäft zu führen hatte und es für einen
Mann gänzlich ungewöhnlich war, sich um seine Kinder zu
kümmern, tat er dies mit einiger Hingabe und war stets für
Bilke und ihre Geschwister da. Gewiss, die Kinderfrau war
ihm stets zur Hand gegangen, doch blieben ihm noch immer
genug Arbeit und Sorgen, die er nicht auf fremde Schultern
abwälzen konnte. Nie würde Bilke den Tag kurz nach ihrem
vierzehnten Geburtstag vergessen, an dem sie, wie schon bei
ihren anderen Geschwistern, voller Spannung darauf gewartet
hatte, in die Kammer der Eltern schleichen und das Neugeborene
betrachten zu dürfen. Nur war diesmal alles anders. Schon
erklang das für einen Säugling gewiss kräftig zu nennende
Schreien des Kindes, das gedämpft durch die schweren Holztüren
nur schwach an Bilkes Ohren drang. Und im nächsten
Moment erfüllte ein Schrei das ganze Haus, der so laut und
schauderhaft war, dass sie ihn ihr ganzes Leben nicht würde
vergessen können. Es klang wie das Kreischen und Ächzen
eines wilden Tieres, doch es war Bilkes Vater, der den Tod seiner
Frau beklagte. Einige Tage bekamen Bilke und Bente und
die Brüder Holger und Hauke ihren Vater nicht zu Gesicht.
Sie trösteten sich mit dem winzigen Knud - die Mutter war
sich sehr früh sicher gewesen, dass es ein Junge werden würde,
und hatte diesen Namen gewählt - und waren mit ihrem eigenen
Kummer beschäftigt. Bilke, als die Älteste, gab sich alle
Mühe, Bente und die Jungen zu trösten. Gern hätte sie auch
ihrem Vater Trost gespendet, wenn sie ihn manchmal nachts
vor Kummer stöhnen hörte. Meist waren zuvor Schritte zu hören
gewesen. Wahrscheinlich war er ruhelos herumgelaufen,
oder eine Magd hatte ihm noch etwas zu essen oder zu trinken
gebracht oder ihm eine Wärmflasche gerichtet. Nach dem Begräbnis
seiner Frau ging Heimo wieder seinen Geschäften
nach, dem Handel mit Gewürzen, Salz und vor allem Hering
und Stockfisch. Er achtete überraschenderweise noch mehr
als zuvor auf seine Kleidung, seine Haarpracht und seinen
stattlichen Bart. Bilke fi el auf, dass die Kinderfrau seit dem
Tod von Frau von Ranteln beschwingter wirkte und mit einem
Mal zu geröteten Wangen neigte. Sie fragte sich, ob die Bedienstete
womöglich ihren Kummer und die Mehrbelastung
mit dem einen oder anderen Gläschen zu betäuben suchte.
Von solchen Fällen hatte man schon gehört.
Ein Donner ertönte, gleich darauf ein Krachen und das alles
durchdringende Geräusch von berstendem Holz. Bilke zuck-
te zusammen. Sie stellte fest, dass sie noch immer wie angewurzelt
in ihrer Kabine stand. Es musste doch irgendetwas
geben, das sie tun konnte. Nun gab es keinen Zweifel mehr,
dass es sich um Piraten handelte, die sich anschickten, die
lübsche Kogge zu entern. Hilfe von den Schutzbooten war
offenkundig nicht zu erwarten. Sie strich das nasse Kleid glatt
und richtete notdürftig die Haare und die Haube. Sie würde
einem Kapitän, selbst wenn es sich um den eines Piratenschiff
es handelte, so gegenübertreten, wie es sich für die
Tochter eines angesehenen Rigafahrers gehörte. Bilke lauschte
auf die Geräusche, deren Vielfalt mit jeder Sekunde zu
wachsen schien, als würden unterschiedliche Instrumente
sich nach und nach zu einem mehrstimmigen Orchester zusammenfinden.
Zu dem Glucksen der Wellen, die an den
Schiffsleib schlugen, kamen die Rufe der Männer, die zur
Mannschaft gehörten, und längst auch die Schreie der Angreifer.
Zudem war ein unregelmäßiges Trommeln wie von
schweren Hagelkörnern auf einem Holzdach zu hören, das
immer wieder von Schmerzenslauten durchbrochen wurde.
Mit einem Mal gab es einen dumpfen Schlag, als ob ein
schwerer eiserner Gegenstand gegen die Bordwand krachte.
Bilke fi el ein, wie ihr Vater ihren Brüdern einmal erzählt
hatte, dass Piraten Wurfanker aus Eisen verwendeten, um
ihr Boot längsseits an ihre Beute heranzuziehen und dann
entern zu können. Während sie daran dachte, wie sie, auf
ihrer Fidel übend, damals über die Geschichte gelächelt hatte,
spürte sie einen kräftigen Ruck, hörte gleich darauf einen
lauten Schlag, verlor die Balance und stürzte auf die schlichte
Pritsche, die ihr an Bord als Nachtlager diente. Also war
die Geschichte mit dem durch die Luft sausenden Anker
doch kein Ammenmärchen gewesen. Dann fielen die ersten
Schüsse. Sie richtete sich kerzengerade auf, wartete und starrte
auf die niedrige Holztür. Sie hätte nicht annähernd raten
können, wie lange sie so saß, auf die grauenhaften Töne
lauschend, die von berstendem Holz - oder waren es gar
Knochen? - verursacht wurden oder die aus den Kehlen der
gepeinigten Männer kamen. Plötzlich hörte sie ihren Namen,
ausgesprochen mit einer tiefen Stimme, die zwar Bilkes
Sprache benutzte, mit ihr aber offenbar nicht völlig vertraut
war.
»Ich weiß, dass sie an Bord ist«, sagte die Stimme mit großer
Überzeugung. Schritte kamen näher.
Bilke bemerkte, dass sie zitterte. Sosehr sie sich auch bemühte,
sie konnte es nicht abstellen. Seeräuber für dumm zu halten
wäre ihr nicht eingefallen. Dafür hatte sie schon zu viel
von ihnen gehört. Dass sie aber die Personen mit Namen zu
nennen wussten, die auf einem Handelsschiff reisten, erstaunte
sie doch. Woher nur konnten sie derartige Kenntnisse haben?
Sie stand auf, straffte sich, strich fahrig über das noch
immer nasse Kleid und blickte so stolz und ruhig, wie es ihr
nur möglich war, zu der Tür, hinter der die Schritte immer
lauter wurden.
»Nein, Sie können nicht ...«, hörte sie den Kapitän ganz nah
bei ihrer Kabine. Dann gab er ein ersticktes Gurgeln von sich
und schwieg. Sie schluckte. Die Tür wurde geöffnet. Bilke
konzentrierte sich auf den Schlag ihres Herzens, den sie wild,
beinahe schmerzhaft in der Brust spürte und der, wie ihr
scheinen wollte, den gleichen Takt hatte wie das Pochen in
ihrem Knie. Ein Mann stand in der offenen Tür. Er war groß
und trug eine Hose, die einige Risse aufwies, ein ebensolches
Hemd und eine Lederweste darüber.
»Da ist sie also«, sagte er mit dieser Aussprache, die ihn auf
der Stelle als Dänen entlarvte. Jedes S zischte, und die Worte
wurden zwischen engen Kieferknochen zermahlen.
Bilke sah ihm in die Augen, die grau und kalt waren wie das
Meer.
»Kommen Sie schon raus aus Ihrem Versteck, oder soll ich
zu Ihnen hineinkommen?« Bilke konnte sich des Eindrucks
nicht erwehren, seine eigene Zunge sei ihm andauernd im
Weg. Unter anderen Umständen hätte sie darüber gelacht.
Doch in dieser Situation war ihr keineswegs nach Heiterkeit
zumute. Ohne ein Wort trat sie auf ihn zu, bückte sich unter
dem niedrigen Türrahmen hindurch und stand ganz dicht vor
ihm. Er war fast einen Kopf größer als sie. Trotzdem blickte
sie ihm auch jetzt fest in die Augen.
»Bilke von Ranteln, habe ich recht?«
Sie nickte.
»Können Sie nicht sprechen, Bilke von Ranteln?« Es klang
nicht böse oder aggressiv, wie er fragte, eher abwartend, fast
ein wenig verständnisvoll.
»Lassen Sie sie in Frieden, ich fl ehe Sie an.« Kapitän von
Holstein machte einen Schritt nach vorn, wurde aber von
einem Mann festgehalten, der lange schwarze Haare und eine
unübersehbare Narbe quer über der Nase hatte. Bilke bemerkte,
dass von Holstein an der rechten Schläfe blutete.
»Wir ergeben uns«, fuhr er unbeirrt fort. »Das habe ich Ihnen
doch bereits zugesichert. Wir laden unsere Fracht auf Ihr
Schiff um und ziehen dann unseres Weges. Fräulein von Ranteln
kann wohl kaum von Nutzen für Sie sein, also lassen Sie
sie mit uns nach Hause segeln.«
Der Piratenkapitän, dessen rotblondes, ungestüm gelocktes
Haar sein kantiges Gesicht einrahmte, drehte sich langsam
zu von Holstein um.
»Ihr ergebt euch?« Er machte eine Pause und begann dann
dröhnend zu lachen. Seine Männer, die überall an Deck verteilt
waren, stimmten ein.
Erst jetzt wagte Bilke, sich genauer umzusehen. Was sie sah,
war grauenvoll. Die Segel der Kogge hingen in Fetzen, der
Mast war so schwer getroffen worden, dass er in zwei Stücke
geborsten war. Das Deck war von nassem Sand bedeckt,
der an einigen Stellen durch das Kampfgetümmel zu einem
Haufen zusammengeschoben, an anderen Stellen von Blut
getränkt war. Einige Seeleute lagen reglos auf den Planken.
Stoff war zerfetzt, die Haut, die darunter zum Vorschein
kam, war es ebenfalls. Was wie Hagelkörner geklungen hatte,
musste Schrot gewesen sein. Überall ragten Holzsplitter in
die Luft, waren Löcher geschlagen, Seile und Taue in tausend
Stücke gerissen. Auch einige der Toten waren auf die gefährliche
Waff e zurückzuführen, die wegen ihrer Streuwirkung,
durch die Menschen schwer verletzt wurden und Material
zerstört wurde, gefürchtet war. Wer von der Mannschaft der
Kogge noch auf seinen zwei Beinen stehen konnte, wurde
von Piraten bewacht und hielt die Hände zum Zeichen der
Unterwerfung über den Kopf. Welch ein Gegensatz, kam es
Bilke in den Sinn: die lachenden Angreifer, die kaum Verluste
zu beklagen hatten, und die Besiegten, die verängstigt und
verzweifelt dreinblickten. Anscheinend hatte dieser Verbrecher,
der ihr gegenüberstand, allen Grund, zu lachen. Viel
Gegenwehr war von den lübschen Seeleuten nicht mehr zu
erwarten. Sie hatten wohl kaum eine andere Wahl, als sich zu
ergeben.
Ganz langsam drehte sich der Blonde nun wieder zu Bilke
um. Obwohl seine Antwort im Grunde von Holstein galt, sah
er sie an, während er sprach: »Irrtum, mein Bester, ich bin
davon überzeugt, dass sie mir und meinen Männern noch von
großem Nutzen sein kann.«
Zwar stand er mit dem Rücken zu seinen Leuten, doch er
sprach laut genug, um gehört zu werden. Schmutziges Gelächter
und Pfiff e waren die Antwort. Bilke musste wieder
schlucken und hoffte inständig, dass er nicht sah, wie sehr sie
erschauderte.
»Leider muss ich Sie auch enttäuschen, was Ihre Pläne für Ihre
Heimreise betriff t. Wir werden umladen, was wir gebrauchen
können. Danach machen wir mit diesem Kahn ein Feuerchen.
« Nun drehte er sich zu von Holstein um und trat einen
Schritt von Bilke weg. »Verstehen Sie mich nicht falsch, mein
Bester, ich bin ein Ehrenmann. Ich werde Sie und Ihre Männer
am Leben lassen, wenn Sie sich entschließen können, in
Zukunft unter meinem Kommando auf meiner prächtigen
Karacke zu fahren. Das Schiff kann ich Ihnen nicht lassen. Ich
weiß, wie schnell Sie damit zurück in Lübeck wären. Und ich
weiß auch, was Sie dort auf der Stelle tun würden.«
Kein Zweifel, dass der Mann recht hatte. Natürlich würde von
Holstein, kaum dass die Übeltäter außer Sicht wären, seine
Leute anhalten, notdürftig Segel, Taue und Mast in Ordnung
zu bringen, und dann, ohne eine weitere Minute zu verlieren,
gen Lübeck aufbrechen, um dafür zu sorgen, dass man den Piraten
nachstellte. Noch immer sagte Bilke kein Wort. Was
hätte es geholfen? Die Kogge, die den Namen Marie trug, würde
brennen. Es gab nichts, was das verhindern konnte.
Der Blonde wendete sich ihr erneut zu: »Wie ich sagte, ich bin
ein Mann mit Ehrgefühl und Moral. Ich weiß, was sich gegenüber
einer Dame gehört.« Er neigte ein wenig den Kopf. Die
Geste allein hätte womöglich Ehrerbietung ausdrücken können,
doch sein Lächeln, voller Ironie und Verachtung, sprach
eine andere Sprache. »Svendsson«, stellte er sich ihr vor. »Von
nun an Ihr Kapitän. Gestatten Sie, dass ich Sie auf Ihr Schiff
bringe?« Was wie eine Frage klang, war in Wahrheit ein Befehl.
Er trat einen Schritt zur Seite und bedeutete ihr mit der
ausgestreckten Hand, an ihm vorbeizugehen.
Sie hob den Saum ihres Kleides an, damit er nicht beschmutzt
wurde, und stolzierte aufrecht und mit erhobenem Kopf an
dem Piratenkapitän vorüber. Um keinen Preis würde sie die
Fassung verlieren oder sich ungehörig benehmen. Nachdem
sie die Stufen von dem Kastell auf das Deck hinabgestie-
gen war, fiel ihr etwas ein, und sie blieb unvermittelt stehen.
Svendsson, der ihr die Stufen hinab gefolgt war, prallte gegen
ihren Rücken.
»Vorwärts«, kommandierte er.
Bilke machte einen Schritt zur Seite, um ein wenig Abstand
zwischen sich und den Mann zu bringen. Dann drehte sie
sich um.
»Darf ich meine Fidel mitnehmen, bitte?«, fragte sie.
Svendsson zog die Augenbrauen hoch. Ihren Namen mochte
er kennen, aber offenbar wusste er nicht viel über sie.
»Sie spielen die Fidel?«, fragte er zurück.
»Gewiss«, sagte sie in einem ganz natürlichen Ton, als würde
sie sich jeden Tag mit einem Freibeuter unterhalten. »Mein
Vater hat sie mir aus Spanien mitgebracht. Ich meine, ich verstehe
mich recht gut auf den Umgang mit dem Instrument.«
»Ein bisschen Unterhaltung kann bestimmt nicht schaden«,
entschied Svendsson nach kurzem Zögern. Sie nahm wahr,
wie zwei Männer der gegnerischen Mannschaft miteinander
tuschelten und lachten, doch sie gab sich alle Mühe, nicht auf
sie zu achten.
»Beeilen Sie sich!«
Bilke ging wieder an ihm vorbei und die Stufen hinauf. Mochte
ein Beobachter sie auch für die Ruhe in Person halten, so
geschickt spielte sie ihre Rolle, sah es in ihrem Inneren doch
ganz anders aus. Sie hätte nicht zu sagen vermocht, warum sie
den Mann gerade um diese Gefälligkeit gebeten hatte. Sie
wollte nicht als Gefangene auf dieses Räuberschiff gehen.
Warum hatte sie nicht versucht zu verhandeln? Wohin würde
ihr Stolz sie noch bringen? Sie wollte ihrem Vater keine
Schande machen, wollte beweisen, dass sie die gesellschaftlichen
Regeln kannte und sich danach zu benehmen wusste.
Doch galten diese Regeln unter diesen Umständen überhaupt
noch? Sie bezweifelte nicht, dass die Kerle, in deren Hände sie
sich zu begeben im Begriff war, ihre eigenen Regeln hatten,
von denen Bilke nicht den Hauch einer Ahnung besaß.
Während sie in ihrer kleinen Kabine nach dem Koffer griff , in
dem das kostbare spanische Streichinstrument aufbewahrt
war, suchten ihre Augen die Kammer nach einem Gegenstand
ab, den sie dem Widerling über den Schädel ziehen
oder den sie in sein Fleisch bohren konnte. Wenn der Kapitän
außer Gefecht war, würden die anderen Seeräuber sich
mit etwas Glück zurückziehen. Oder die lübsche Mannschaft
würde die Gelegenheit nutzen, um einen letzten Versuch der
Gegenwehr zu wagen.
»Also?« Svendsson wurde ungeduldig. »Wo ist nun die Fidel?«
»Ich habe sie«, rief Bilke zurück. Hier gab es nichts, womit sie
hätte angreifen können. Fast war sie ein wenig erleichtert.
denn ihr war klar, dass sie niemals den Mut dafür aufgebracht
hätte. Sie zog den ledernen Koffer zwischen der großen hölzernen
Truhe, in der sie ihre Kleider untergebracht hatte, und
dem Bett hervor. Sie überlegte kurz, ob sie darum bitten sollte,
auch ihre Kleider mitnehmen zu dürfen. Doch sie verwarf
den Gedanken rasch wieder, denn sie konnte sich ausmalen,
wie die Antwort lauten würde. Die Schmach wollte sie sich
lieber ersparen und nahm im Geiste Abschied von Brokat
und Seide, von Spitze und feinsten englischen Tuchen. Aus
dem Augenwinkel entdeckte sie ihre Schmucknadel, ein Erbstück
von ihrer Mutter. Die Kogge schwankte, neigte sich zur
Seite. Bilke tat so, als ob sie sich kurz an dem Brettchen, das
an der Wand befestigt war und als Ablage diente, festhalten
musste, griff nach der Nadel und ließ sie in den Ärmel ihres
Kleides verschwinden. Dann trat sie mit dem Instrumentenkoffer
durch die Tür.
»Da ist sie«, sagte sie und schritt würdevoll erneut die Stufen
hinab, die Fidel in der einen Hand, den üppigen Spitzenbesatz
des Ärmels an der anderen Hand fest umklammert.
Die Männer schwiegen, als sie, dem Rollen des Schiff es trotzend,
mit festen Schritten zu dem Teil der Bordwand ging,
die mit dem gegnerischen Schiff durch Wurfanker und Taue
verbunden war.
»Darf ich ihr helfen, Kapitän?«, wandte sich der Bootsmann,
der Bilke noch vor nicht allzu langer Zeit aufgrund des
Sturms in ihre Kabine verwiesen hatte, an Svendsson.
Der zog, überrascht von der förmlichen Anrede, die er sonst
nur von seinen eigenen Leuten erwarten durfte, die Augenbrauen
hoch.
»Darf ich annehmen, dass ich einen neuen Mann an Bord der
Schwarzen Rose begrüßen darf?«
Der Bootsmann verbeugte sich. »Jawohl, Kapitän, wenn Sie
erlauben.«
Svendsson nickte gefällig und machte eine Handbewegung,
woraufhin der Bewacher des Bootsmannes sich entspannte,
während der Bootsmann selbst zur Bordwand eilte, einen
Eimer und eine Kiste heranschleppte, die er zu einem treppenähnlichen
Gebilde zusammensetzte. Als er damit fertig
war und die Stabilität seiner Konstruktion geprüft hatte,
reichte er Bilke die Hand.
»Hinrichs, Sie elender Verräter!«, rief von Holstein in diesem
Moment. Sein ohnehin stets rot geädertes Gesicht schien zu
glühen, die Wangen leuchteten dunkelrot. Er spuckte voller
Abscheu vor seinem abtrünnigen Bootsmann aus.
Der warf ihm einen Blick zu, aus dem für Bilke nicht erkennbar
war, was in ihm vorging. Als Hinrichs sie ansah und ihre
Hand nahm, um ihr auf die Kiste zu helfen, war sie jedoch
froh, dass er sie nicht auf dem Piratenschiff allein lassen würde.
»Nun?«, fragte Svendsson gedehnt. »Wer schließt sich an?
Auf meinem Schiff ist noch Platz für tüchtige Seeleute.«
Bilke drehte sich noch einmal um und sah, wie er die Reihen
der Lübecker abschritt, vor jeden hintrat und in das verängstigte
Gesicht schaute. »Ich werde niemanden zwingen«,
sprach er weiter. »Es ist eure freie Entscheidung. Wer es vorzieht,
darf hier zurückbleiben.«
»Um zu verbrennen und mit der Marie unterzugehen«, rief
von Holstein aufgebracht.
Svendsson ging langsam auf ihn zu. Bilke hielt die Luft an.
Sie presste den Lederkoff er fest an sich und hielt sich mit der
anderen Hand, die Schmucknadel kalt an ihrem Unterarm,
an der Bordwand fest. Svendsson bewegte sich an Bord, als
läge die Marie ruhig und fest vertäut im Hafen. Dabei wand
sie sich noch immer wie ein Tier, zerrte an den Leinen und
rieb sich kratzend an der Außenhaut der Schwarzen Rose, mit
der sie anscheinend nicht länger verbunden sein mochte.
»Ich denke doch, Sie und Ihre Männer können schwimmen?«
Wieder diese Ironie. Der Kerl war sich seiner Sache sehr sicher.
Seine Leute lachten.
Ihr böses Gelächter nahm Bilke alle Hoffnung. Auch wenn
sie sich nur schwer vorstellen konnte, dass jemand in den hohen
Wellen und dem kalten Wasser der Ostsee weit kam, so
erschien es ihr doch möglich, das rettende Ufer zu erreichen.
Die Küste war stets zu sehen, damit sich die Seeleute orientieren
konnten und nicht vom Kurs abkamen. Sie hätte sich
so sehr gewünscht, dass wenigstens einige der braven Matrosen
ihr Leben retten konnten. Doch es wurde immer schwerer
für sie, daran zu glauben.
Schon nickte der eine oder andere und gesellte sich zu Hinrichs.
»Tut das nicht!«, forderte von Holstein sie lautstark auf. »Das
Seerecht verlangt, dass ihr eurer Schiff bis zum letzten Atemzug
verteidigt. Das wisst ihr. Wer glaubt, sein jämmerliches
Leben retten zu können, irrt.« Er holte tief Luft. »Der wird
nicht einen Deut besser behandelt als ein gewöhnlicher Pirat.
Auf ihn wartet der Tod.«
»Er spricht die Wahrheit«, bestätigte Svendsson den Kapitän.
»Unsere Köpfe werden alle rollen.« Er machte eine Pause und
sah in die Runde. »Nur müssen sie uns dafür erst mal kriegen!
« Seine Stimme war angeschwollen wie der Sturm. Wieder
dieses dröhnende Lachen.
»Gehen Sie, schnell!«, murmelte Hinrichs und half Bilke, den
Schritt über die Bordwand zu machen.
An Deck des fremden Dreimasters nahm sie ein alter Mann
in Empfang. Er hatte, wohl des Kämpfens müde, mit einer
Handvoll anderer an Bord die Stellung gehalten. Seine Wangen
waren eingefallen, seine Haut ledrig gelblich. Das weiße
Haar war schütter und ließ die Kopfhaut hier und da durch-
blitzen. Das Kinn zierte ein silbriges Bärtchen, das Bilke an
einen Ziegenbock erinnerte, den sie einmal vor den Toren
Lübecks gesehen hatte. Die grauen Augen waren glanzlos,
sein Griff war leicht. Selbst durch den Stoff von Bilkes Ärmel
fühlte sich seine Hand, die schwach in ihrer Ellenbeuge lag,
kalt an. Es wäre ein Leichtes, diesem vermeintlichen Bewacher
zu entfliehen. Allerdings gab es keinen Ort, wo sie sich
in Sicherheit bringen konnte. Einen Moment dachte sie darüber
nach, einfach loszulaufen und sich über die Reling in die
Wogen der Ostsee zu stürzen. Zwar hatte der April schon ein
oder zwei milde Tage gebracht, doch das Meer war noch bitterkalt.
Und Bilke konnte nicht schwimmen. Lange würde es
nicht dauern, bis der Tod sie holte. Das wäre gewiss besser, als
allein als einzige Frau unter diesen schrecklichen Gesetzlosen
auf einem Schiff auszuharren. Wenn sie sich auch nicht ausmalen
mochte, was diese Ungeheuer mit ihr anstellen würden,
so ahnte sie es doch. Sie dachte an ihre Familie zu Hause
in Lübeck, und sie dachte an Hartwych van Broke, dem sie
womöglich niemals begegnen würde. Tränen traten in ihre
Augen, doch sie blinzelte sie weg. Man konnte sie dem Wind
zuschreiben, der ganz allmählich abzuflauen schien. Ohne
den Kopf auch nur ein einziges Mal zu senken, stand sie frierend
da und sah zu, wie ein Teil der Ladung von einem Schiff
auf das andere gebracht wurde. Sie hatten weder Tuche noch
Brokatstoff e, weder Samt noch Seide mit sich geführt, und
auch keine Goldmünzen oder kostbare Messingwaren aus
Dinant. In erster Linie waren es Viktualien, die sie im Bauch
der Marie transportierten. Nicht, dass diese nicht kostbar wären,
doch es stand zu befürchten, dass die Piraten sich mehr
erhoff t hatten. Emsig schleppten die Männer die Säcke und
Fässer, die von den Lübecker Gefangenen aus den Fracht-
räumen geholt und an Deck geschafft wurden, herüber auf
ihr eigenes Schiff und verstauten sie dort in Windeseile. Es
war leicht, zu erkennen, dass die Mannschaft dies nicht zum
ersten Mal machte. Entern, die Ladung übernehmen und
rasch mit der Beute verschwinden, das war ihr Leben und
zugleich ihre Lebensversicherung.
Bilke beobachtete eine Auseinandersetzung zwischen Svendsson
und von Holstein. Sie endete damit, dass Svendsson zwei
seiner Männer in den Bauch der Kogge hinabschickte. Diese
erschienen wenig später wieder, machten ihrem Kapitän
Meldung, woraufhin man begann, eine Vorrichtung an dem
zerbrochenen Mast zu befestigen, mit der schließlich eine
Kiste aus dem Rumpf gezogen wurde, die groß genug war,
um gut und gerne drei, wenn nicht gar vier erwachsene Menschen
darin verbergen zu können. Sie fragte sich, welcher Art
die Waren sein mochten, die in einer solchen Kiste lagerten.
Als Bilke in Lübeck an Bord des Schiff es gegangen war, war
das Laden bereits beendet gewesen. Zwar wusste sie, welche
Handelsgüter ihr Vater nach Riga lieferte, jedenfalls glaubte
sie bis zu diesem Moment, es zu wissen, doch dieses augenscheinlich
schwere Holzbehältnis gab ihr Rätsel auf. So wie
Svendsson ihren Namen gekannt hatte, wusste er offenbar
auch von dieser geheimnisvollen Fracht. Die Piraten sprangen
behende von einem Schiff zum anderen, holten Rundhölzer
hervor, auf denen sie die gewichtige Beute voranrollen
konnten. Bilke konnte sich nicht dagegen wehren, fasziniert
zu sein von der Geschicklichkeit, mit der sie die gewaltige
Kiste auf ihr Schiff luden.
Dann war es so weit. Svendsson und seine Männer sowie eine
Handvoll Matrosen der Lübecker Mannschaft standen auf
dem Dreimaster und sahen zu, wie Svendsson einen Pfeil
entzündete, seinen Bogen anlegte und auf das Kastell am
Heck der Kogge zielte. Der brennende Pfeil flog in großem
Bogen zischend durch die Luft. Er blieb in dem hölzernen
Aufbau, in dem Bilke die letzten Tage verbracht hatte, stecken
und entzündete augenblicklich ein Feuer. Weitere lodernde
Pfeile folgten. Von Holstein stand mit steinernem
Gesichtsausdruck vor dem Rest seiner Besatzung. An immer
mehr Stellen fi ng die alte Marie Feuer. Die Männer rissen die
Augen in wachsender Panik auf. Schon schrie der erste auf,
rannte zur Reling und stürzte sich in die See.
Bilke hielt es nicht länger aus. »Sie sind ein Ungeheuer!«,
schrie sie Svendsson an. Der reagierte nicht auf sie, sondern
vollendete ungerührt sein Werk.
»Nicht, Fräulein von Ranteln«, mahnte Hinrichs, der nicht
weit von ihr stand, leise. »Wenn Sie so ruhig bleiben wie bisher,
geschieht Ihnen mit ein bisschen Glück nicht viel. Vergessen
Sie nicht, als lebende Geisel haben Sie einigen Wert.«
Sie bebte am ganzen Leib und hatte große Mühe, ein
Schluchzen zu unterdrücken. Hinrichs Worte trugen nicht
viel dazu bei, sie zu trösten, doch sie brachten sie immerhin so
weit wieder zur Vernunft, dass sie es nicht auf einen Streit mit
diesem Svendsson ankommen ließ. Sie atmete schwer und
schloss die Augen, in der Hoffnung, dieser Alptraum möge
bald vorüber sein. Noch eine geraume Weile hörte sie die
Schreie der Männer, das Klatschen, wenn sie sich in ihr nasses
Grab stürzten. Noch lange sah sie von Holstein vor sich,
wie er auf den Planken seines Schiffes stand, während um ihn
die Flammenhölle immer heller loderte, lauter knisterte und
krachte und den Himmel über der Ostsee für eine kurze Zeit
zum Leuchten brachte.
Knaur Taschenbuch Verlag
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Originalausgabe März 2011
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Redaktion: Ilse Wagner
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Umschlagabbildung: Th e Lovers (oil on panel), Max Gaisser (1857-1922) /
Private Collection / Photo © Bonhams, London, UK /
Th e Bridgeman Art Library
Satz: Daniela Schulz, Stockdorf
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 978-3-426-50520-5
2 4 5 3 1
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Autoren-Porträt von Lena Johannson
Lena Johannson wurde 1967 in Reinbek bei Hamburg geboren. Nach der Schulzeit auf dem Gymnasium machte sie zunächst eine Ausbildung zur Buchhändlerin, bevor sie sich der Tourismusbranche zuwandte. Ihre beiden Leidenschaften Schreiben und Reisen konnte sie später in ihrem Beruf als Reisejournalistin miteinander verbinden. Vor einiger Zeit erfüllte sich Lena Johannson einen Traum und zog an die Ostsee.»Die Bernsteinsammlerin« ist nach »Das Marzipanmädchen« ihr zweiter Roman.
Bibliographische Angaben
- Autor: Lena Johannson
- 2011, 511 Seiten, Maße: 11,5 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426505207
- ISBN-13: 9783426505205
- Erscheinungsdatum: 28.02.2011
Kommentar zu "Die Braut des Pelzhändlers"
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