Die Braut im Schnee / Kommissar Marthaler Bd.2
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Eine junge Zahnärztin ist ermordet worden. Der Täter hat die Leiche auf widerwärtige Weise zur Schau gestellt. Der Frankfurter Kommissar Marthaler ist von dem Anblick zutiefst erschüttert. Er ahnt, dass sich der Mörder mit diesem einen Opfer nicht zufrieden geben wird.
Und er soll Recht behalten ...
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Die Braut im Schneevon Jan Seghers
LESEPROBE
Als die Zahnärztin Gabriele Hasleram Nachmittag des 11. November hörte, wie ihre Sprechstundenhilfe die Praxistürhinter sich ins Schloss zog, wurde sie, wie schon mehrfach in den vergangenenTagen, von einer unerklärlichen Unruhe erfasst. Im Vorbeigehen schaute sie kurzin den Spiegel und fand, wie so oft in letzter Zeit, dass sie zu alt aussah fürihre gerade noch neunundzwanzig Jahre. «Was ist nur mit mir geschehen?», dachtesie und war zugleich bemüht, sich diese Frage nicht zu beantworten.
Obwohl ihre Sprechstunde für diesen Tag bereits beendet war,wartete sie noch auf einen älteren Patienten, der kurzfristig um einen spätenTermin gebeten hatte. Da es sich lediglich um ein Beratungsgespräch handelte,hatte sie beschlossen, ihre Zahnarzthelferin nach Hause zu schicken und so dasGeld für die Überstunde zu sparen. Um die Zeit zu überbrücken, setzte sie sichan ihren Schreibtisch und begann, ein paar Unterlagen zu ordnen, doch merktesie schon bald, dass es ihr an der nötigen Konzentration fehlte. Immer wiederschaute sie auf die Uhr, ging in die Teeküche, um sich ein Glas Wasser einzuschenken,oder versuchte sich auf andere Weise abzulenken.
Gabriele Hasler wusste zu gutBescheid, um sich Illusionen über ihren Beruf zu machen. Sie hatte sich ihrenStart als selbständige Zahnärztin nicht einfach vorgestellt. Dass es allerdingsso schwierig werden würde, hatte sie nicht erwartet. Schon, um ihr Studium zuEnde zu bringen, hatte sie einen Kredit aufnehmen müssen, und als sie begann,die bescheidene Praxis am Kleinen Friedberger Platz einzurichten, waren dieSchulden ins Unermessliche gewachsen. Bislang hatte sie es abgelehnt, das Hausihrer Eltern in Oberrad zu verkaufen, bald würde ihr keine andere Wahl mehrbleiben. Sie hatte dieses Haus jahrelang nicht betreten. Erst nachdem Vaterund Mutter vor zwei Jahren im Abstand weniger Wochen gestorben waren, war siedort eingezogen. Nun war das Haus das Einzige, was ihr von ihren Elterngeblieben war.
Sie saß auf dem Schreibtischstuhl in der Rezeption, starrteauf die Eingangstür und lauschte. Obwohl sie wusste, dass es keine vernünftigeErklärung dafür gab, hatte sie das Gefühl, nicht allein in der Praxis zu sein.Um sich zu beruhigen, ging sie ins Sprechzimmer, schloss das gekippte Fensterund zog die Vorhänge zu. Dann schaltete sie das Radio ein und dachte: Fehltbloß noch, dass ich anfange zu pfeifen, um mir Mut zu machen. Als um kurz nachfünf endlich die Türglocke läutete, reagierte sie mit Erleichterung. Aber auchwährend des Gesprächs mit dem Patienten merkte sie, wie ihre Gedanken immerwieder abschweiften. Schließlich bat sie den Mann, so lange zu warten, bis sieihre Sachen gepackt, die Alarmanlage eingeschaltet und die Räume abgeschlossenhatte. Dann verließen sie gemeinsam das Haus. Auf der Straße verabschiedetensie sich. Gabriele Hasler schaute dem Mann nach, derin eine der Nebenstraßen ging, wo er seinen Wagen geparkt hatte. Kurz bevor erhinter einer Hausecke verschwand, drehte er sich noch einmal um und winkte ihrzu.
Sie war müde, sie freute sich auf ein Bad, und sie hatteHunger. Da ihr Kühlschrank leer war und sie weder Lust zum Einkaufen noch zumKochen hatte, beschloss sie, vor ihrer Heimfahrt noch rasch zu der nur wenigeSchritte entfernten Holzhütte zu gehen. Dort hatte sie in den letzten Monatenhäufig ihr Abendessen eingenommen. Es handelte sich um einen Imbiss, der voneinem Afrikaner betrieben wurde und nach einem ehemaligen Fußballspieler derKameruner Nationalmannschaft «Roger Millas Grill» hieß. Der Inhaber war groß,korpulent, von dunkelbrauner, fast schwarzer Hautfarbe und trug zu ihrerÜberraschung den deutschen Vornamen Rudolf, was er damit erklärte, dass er einNachfahre des legendären Häuptlings Rudolf MangaBell sei, der als Kind an einer Schule in Ulm unterrichtet worden war, bevor ersein Volk in den Widerstand gegen die deutschen Kolonialherren führte unddafür schließlich hingerichtet wurde. Weil ihr die Geschichte gefiel, war esder Zahnärztin egal, ob sie auch stimmte.
In der Dunkelheit seines Verschlags sah man von Rudolf demJüngeren fast nichts, außer seinen Augäpfeln und den Zähnen. Auf dem Regal überdem Herd stand ein fettverspritzter Kassettenrecorder, aus dem immer dieselbeMusik kam: die Aufnahme eines Livekonzerts der Tetes Brulees. Gabriele Hasler hatte die Band einmal als Studentin in Paris gehört,und deshalb weckte die Musik angenehme Erinnerungen. Rudolf begrüßte sie soüberschwänglich, wie Wirte es häufig tun, stellte ihr unaufgefordert eine DoseCola light auf den Tresen und empfahl ihr das Tagesmenü: Hähnchenschenkel mitErdnusssoße und gegrillten Lauchzwiebeln. Gabriele Haslermerkte, wie ihre Anspannung nachließ. Während sie sich hungrig über die kleineMahlzeit hermachte, hörte sie dem gut gelaunten Geplauder des Imbissbetreiberszu und überlegte, ob sie für die Fahrt nach Oberrad wie üblich die Straßenbahnnehmen oder sich heute ausnahmsweise ein Taxi gönnen sollte. Sie entschied sichfür das Taxi. Wie jedes Mal, wenn sie bei ihm aß, lobte sie Rudolfs Kochkünste,während er ihr Komplimente wegen ihres Aussehens machte, was sie sich heutebesonders gern gefallen ließ. (...)
© Rowohlt Verlag
- Autor: Jan Seghers
- 2015, 12. Aufl., 480 Seiten, Maße: 11,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499242818
- ISBN-13: 9783499242816
- Erscheinungsdatum: 02.01.2007