Die Farbe von Kristall
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Die Farbe von Kristall von Nikola Hahn
LESEPROBE
Victoria Biddlingdrehte sich vor dem Spiegel, prüfte den Sitz ihres Hutes und zupfte sich eineLocke in die Stirn. Ihre Zofe Louise half ihr beim Anziehen des pelzbesetzten Mantels.»Welchen Schirm soll ich Ihnen bringen?«
»Den dunkelbraunen.«
Die Tür flog auf, und ein jungesMädchen stürmte herein. »Kommst du, Mama? Der Kutscher wartet schon!«
Victoria bemühte sich um einenstrengen Gesichtsausdruck. »Sei nicht so ungeduldig!«
Flora Henriette Biddlingstellte sich neben ihre Mutter und lachte ihr Spiegelbild an. »Ich bin ja sogespannt, was Papa heute abend sagt, wenn er meinHündchen sieht!«
»Dein Hut sitzt schief«, sagteVictoria tadelnd.
»Das ist mir gleich!« Flora raffte ihren Rock hoch und drehte sich im Kreis, daß ihre blonden Locken tanzten. »Ich bekomme ein Hündchen,ein klitzekleines Hündchen, ganz für mich allein!«
Victoria verzog das Gesicht. DieIdee ihrer Schwester Maria, Flora zum Geburtstag einen Hund zu schenken, fandsie genauso unmöglich wie ihr Getue um diesen Hundezüchter.
Wenn du ihn erst kennengelernthast, wirst du mir zustimmen, liebste Schwester: Karl Hopf ist einfaszinierender Mensch - und Mann. Dabei lächelte sie in einer Art, die Victoria nicht ausstehenkonnte. Aber weil sie ihrer Tochter die Freude nicht verderben wollte, enthieltsie sich jeden Kommentars. Louise reichte ihr den Regenschirm und einen zurFarbe des Kleides passenden Beutel. Flora lief zur Tür und stieß beinahe mit ihrerSchwester Victoria Therese zusammen.
»Langsam, Florchen«, sagte sielächelnd. »Du kommst schon noch früh genug nach Niederhöchstadt.«
Flora küßtesie auf die Wange. »Ich freu' mich ja so, Vicki! Schade, daßPapa nicht mitfahren kann.«
»Bist du fertig?«fragte Victoria.
Die Einundzwanzigjährige nickte. Sietrug ein enggeschnürtes rotes Schneiderkostüm, einenbestickten Tuchmantel und einen Hut aus grünem Velours, der gut zu ihremschwarzen Haar paßte.
»Sie sehen wunderschön aus«, sagteLouise. »Ach was«, entgegnete Vicki verlegen.
Victoria lachte. »Die liebe Louisewill nur kundtun, daß sie es bedauert, mich beimAnkleiden nicht mehr quälen zu dürfen.«
»Wenn Sie bitte erlauben: Ich findediese neumodischen Kleidersäcke nicht besonders hübsch.«
»Aber es zwickt nichts, und manfällt beim Fahrradfahren nicht so schnell in Ohnmacht«, sagte Flora.
»Lieber Himmel!«rief Louise. »Diese schrecklichen Geräte sind doch nichts für sittsame jungeMädchen!«
»Mama hat versprochen, daß ich eins bekomme, wenn ich fleißig Französisch lerne.«
Louise wandte sich kopfschüttelnd abund legte Victorias Garderobe zusammen.
»Bitte kümmere dich darum, daß David und Vater zur gewohnten Zeit denNachmittagskaffee erhalten«, sagte Victoria. Ja, gnädige Frau.«
«Laß dichvon Großvater nicht ärgern«, flüsterte Vicki ihr zu, und über das Gesicht deralten Zofe huschte plötzlich ein Lächeln.
Als Victoria mit ihren Töchtern undeinem Dienstmädchen in den vor dem Haus stehenden Landauer stieg, war es kurzvor ein Uhr. Ein kalter Wind blähte ihre Kleider, und es nieselte. Victoriaseufzte. Statt in einer zugigen Kutsche kilometerweit durch die Gegend zufahren, würde sie lieber am Kamin in ihrer Bibliothek sitzen und die Bücheranschauen, die gestern geliefert worden waren. Flora kümmerte das schlechteWetter nicht. Sie plapperte unaufhörlich, während ihre Schwester Vickigedankenverloren in den Regen hinaussah.
»Tessa! Was meinst du, wie meinHündchen heißen soll?«
»Struppi«,schlug das Dienstmädchen vor.
»So ein dummer Name!«
»Was fragst du dann überhaupt?«
»Es ist langweilig hier drin. Wirhätten mit der Eisenbahn fahren sollen.«
»Dich Zappelphilipp hätte derSchaffner spätestens am Bockenheimer Bahnhof an dieLuft gesetzt«, neckte Vicki. Flora streckte ihr die Zunge heraus.
»Wenn du nicht sofort Ruhe gibst,kehren wir um!« sagte Victoria. Flora lag eineErwiderung auf der Zunge, aber der Gesichtsausdruck ihrer Mutter ließ keinenZweifel an der Ernsthaftigkeit der Drohung. Sie verschränkte die Arme vor der Brustund schmollte.
Der Wagen bog in die Rödelheimer Landstraße ein und fuhr an Feldern und Wiesenvorbei, über denen grauer Dunst lag. Ab und zu sahen sie einen Reiter oder einFuhrwerk, ansonsten war die Straße leer. Das gleichmäßige Rumpeln der Räder machtemüde. Victoria schloß die Augen. Sie hatte gehofft,Richard heute morgen sprechen zu können, aber als sieaufwachte, war er schon fort. Auch ihr Vater hatte es vorgezogen, ihr aus demWeg zu gehen und sich Frühstück und Mittagessen aufs Zimmer bringen lassen. Under tat gut daran. Er hatte kein Recht gehabt, seinen Schwiegersohn wie einendummen Jungen zu disziplinieren, nur weil er nicht rechtzeitig zu Floras Geburtstagsessenheimgekommen war. Andererseits hatte Rudolf Könitz erkennbar einige Gläser Rießler zuviel genossen, und es wäre für Richard einLeichtes gewesen, die Situation durch eine humorvolle Bemerkung zu entschärfen.Statt dessen hatte er Öl ins Feuer gegossen.
»Wenn ich dem nächsten Dieb den Wegzu deiner wohlgehüteten Geldschatulle weise, stattihn zu verhaften, werde ich meinen Dienst sicherlich zeitiger beenden können, verehrtester Schwiegervater.«
»Das würde ich mir überlegen, meinLieber«, entgegnete Rudolf Könitz lächelnd. »Denn ohne meine wohlgehütete Schatulle müßtestdu mit deiner Familie ziemlich bald ins Ostend ziehen.«
Die Gespräche am Tisch verstummten.Richard stand auf und ging.
»Bleib sitzen!«sagte Victoria, als Flora ihrem Vater folgen wollte. »Tessa! Bitte tragen Siedas Dessert auf.« Jawohl, gnädige Frau.«
Victoria tupfte sich mit derServiette den Mund ab. »Ihr entschuldigt mich für einen Moment?«
Sie fand Richard in seinemSchlafzimmer. Er sah auf die Straße und den nächtlichen Main hinaus. Victoriaging zu ihm. »Vater ist betrunken. Er weiß nicht, was er sagt.«
»Er weiß es nur zu gut.«
»Flora wartet seit Stunden auf dich.«
Richard drehte sich zu ihr um. SeinGesicht war angespannt und blaß. »Ich lasse mich vorGästen nicht derart beleidigen!« Sie berührte seinenArm. »Es ist doch nur die Familie da.« »Du meinst, dasmacht es besser?«
»Vater ist ein alter Mann. Er ... «
»Das ist keine Entschuldigung.«
»Warum kommst du auch so spät?«
»Das Gesindel in dieser Stadt kümmertes herzlich wenig, ob meine Tochter heute Geburtstag hat.«
»Du tust, als wärst du der einzigePolizeibeamte in ganz Frankfurt!« erwiderte Victoriaverärgert.
Er ging an ihr vorbei und läutetenach einem Dienstmädchen. Louise kam herein.
»Bringen Sie mir bitte meinen Mantel.«
Louise nickte.
»Was hast du vor?«fragte Victoria.
»Ich gehe aus.«
»Am Geburtstag deiner Tochter? Dasist nicht dein Ernst.« »Ich hatte dich gebeten, imkleinen Kreis zu feiern.«
»Marias Familie, David und Vater -noch kleiner geht es ja wohl kaum! Floras Freundinnen...«
»Wenn du Bankette liebst, hättest dukeinen Beamten heiraten dürfen.«
Victoria schossen Tränen in dieAugen. »Du bist gemein - und ungerecht dazu!«
Louise kam mit dem Mantel. Richardnahm ihn ihr aus der Hand. »Der größte Fehler, den ich in meinem Leben begangenhabe, war, in dieses Haus zu ziehen«, sagte er und ging.
»Wollen Sie sich ein wenig frischmachen?« fragte Louise.
Victoria wischte sich die Tränen ausdem Gesicht. »Ich glaube, es könnte nichts schaden, oder?«
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© Ullstein Buchverlage
- Autor: Nikola Hahn
- 2004, 8. Aufl., 816 Seiten, mit Abbildungen, Maße: 12 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3453873734
- ISBN-13: 9783453873735
- Erscheinungsdatum: 03.12.2003
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