Die Flecken des Leoparden
Oder Wer kann schon aus seiner Haut
Ein geistreiches Vexierspiel, ein großer Lesespaß und die Entdeckung eines fulminanten neuen Erzählers: Gebeutelt von künstlerischen und amourösen Versagensängsten macht sich der angehende Schriftsteller Walter Hartwright alias Pinkerton auf eine Reise um...
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Produktinformationen zu „Die Flecken des Leoparden “
Klappentext zu „Die Flecken des Leoparden “
Ein geistreiches Vexierspiel, ein großer Lesespaß und die Entdeckung eines fulminanten neuen Erzählers: Gebeutelt von künstlerischen und amourösen Versagensängsten macht sich der angehende Schriftsteller Walter Hartwright alias Pinkerton auf eine Reise um die Welt und zu sich selbst.Alles begann mit einer goldenen Armbanduhr ... Mit einem Augenzwinkern nimmt uns der Ich-Erzähler mit auf eine Reise um die Welt, die in seiner Kindheit beginnt in der Provinzstadt Raleigh (wo er in einem Wiener Kaffeehaus "Ludwig's Coffeeshop" jobbt) und über New York City schließlich nach, Ghana, Sri Lanka, Island und wieder zurück führt. Mit von der Partie: der beste Freund und Alter Ego des Erzählers, der sehr talentierte, aber von Selbstzweifeln geplagte Schriftsteller Julian McGann, und die schöne Schauspielerin Evelyn Demont, die Frau, die beide lieben ...In der selbstironischen Schilderung der Nöte des Autors, der Grenzen des Erzählens, der Eifersüchteleien unter Schriftstellern, des Größenwahns und der Versagensängste erinnert das Buch an die besten seiner Art.
Lese-Probe zu „Die Flecken des Leoparden “
Die Flecken des Leoparden von Kristopher JansmaIch habe jedes Buch verloren, das ich je geschrieben habe. Das erste habe ich hier in Terminal B verloren, wo ich vor achtundzwanzig Jahren Schriftsteller wurde, nachmittags nach der Schule oder in den Ferien, wenn ich darauf wartete, dass meine Mutter vom Austeilen honiggerösteter Erdnüsse in über fünftausend Meter Höhe zurückkehrte.
Ich saß immer ganz still, genau hier in Phils Kaffeebude, unter dem wachsamen Blick von Ms Barlow; an den Resopaltresen des W.-W.-Gould-Imbisses gequetscht mit Mrs De Santos; oder auf einem kleinen Hocker im engen Schmuckstand mit Mrs Nederhoffer. Heute gibt's diese Menschen alle nicht mehr, und ich bin so alt wie sie damals.
Es war eine wunderbare Zeit in meinem Leben - bevor ich Schriftsteller wurde. Für unerschöpfliche Büchervorräte sorgte Mr Humnor, der wohlbeleibte Geschäftsführer der Emerson-Buchhandlung, und ich verbrachte viele glückliche Stunden damit, heimlich Mr Bjorn zu beobachten, der die Mister-Minit-Uhrenreparatur betrieb.
Mr Bjorn war der Einzige in Terminal B, der jeden Tag einen Anzug trug, und zwar mit Fliege. Seine uralten Augen waren stets zusammengekniffen - vermutlich, weil er den ganzen Tag über winzige Armbanduhrwerke untersuchte. Wenn er keine Uhren reparierte, stand er kerzengerade da und las die große Zeitung von New York. Ich wollte eines Tages genauso sein wie er.
Das erste Mal sprachen wir miteinander am Tag nach meinem achten Geburtstag. Meine Mutter hatte mir eine goldene Uhr geschenkt, die auf einem ihrer Flüge liegen geblieben war, damit ich immer wusste, wann sie wieder nach Hause kam. Das Armband war dreimal zu weit für mein schmales Handgelenk - also mussten wir als Erstes von Mr Bjorn einige Kettenglieder entfernen lassen.
... mehr
Als ich ihm die Uhr aushändigte, stieß er einen flattrigen Pfiff aus und polierte sie respektvoll, um die kleinen, öligen Fingerabdrücke zu entfernen, die ich bereits darauf hinterlassen hatte.
»Ganz hübsche Uhr für einen Jungen deiner Größe«, sagte er zu mir. »Wie heißt du, mein Sohn?«
Ich traute mich kein Wort zu sagen. Meine Mutter strahlte Mr Bjorn mit ihrem breiten Lächeln an und schaute auf ihre Uhr, wie viel Zeit ihr bis zum nächsten Flug blieb. »Es gibt keine Uhren hier. Ist Ihnen das schon aufgefallen?«
Mr Bjorns tiefe Stimme erhob sich wohlklingend, als er mit meiner Mutter sprach. Sie hatte etwas, das Männer erröten und auf ihre Schuhspitzen schauen ließ.
»Ja, Ma'am. Die Passagiere sollen sich nicht über Verspätungen ärgern. Drüben in Terminal A hängen zehn Uhren in einer Reihe. Aber keine zeigt die hiesige Zeit.«
Ich hörte aufmerksam zu, denn ich war nie in Terminal A gewesen. Meine Mutter flog nicht international und kannte niemanden, der dort hätte auf mich aufpassen können. Ich hatte oft von Terminal A geträumt und stellte ihn mir vor wie Terminal B, nur umgekehrt - spiegelverkehrt, sodass alle alles rückwärts taten. Oder (da er ja A war und wir B) vielleicht war er das Original, und wir waren die Kopie. Womöglich war ich nur die Umkehrversion eines Jungen, dessen Leben andersherum verlief.
Meine Mutter tadelte Mr Bjorn für sein »Ma'am«, und er schob mir das frisch verkürzte Armband übers Handgelenk. Dann gab er mir die entfernten Glieder in einem kleinen Plastikbeutel. »Die bewahrst du auf, mein Sohn. Wenn du mit einer solchen Uhr pfleglich umgehst, lebt sie länger als ich und sogar als du.«
Mein Spiegelbild war ganz klein auf ihrem schimmernden Rund. »Okay«, sagte ich.
Danach kehrte ich etwa wöchentlich zu Mr Bjorns Laden zurück, und wenn er nicht zu beschäftigt war, öffnete er die Uhr für mich und inspizierte das winzige Getriebe.
»Das hier ist das Tourbillon und das die Haarfeder. Und hier ist die Unruh.« Er wies auf ein ankerförmiges Ärmchen, das wie ein Pendel schwang und stets klickte, wenn sich darunter das winzige Zahnrad drehte. »Die erzeugt das Ticken.« Das kleine Rad kämpfte gegen den Anker. Nach einer Sekunde hatte es genug Kraft gesammelt, einen Klick weiterzurücken und das Pendel dabei einmal schwingen zu lassen; dann stoppte es wieder. Es kämpfte, rückte weiter und stoppte.
»Mit jedem Vorrücken vergeht eine Sekunde.«
»Wohin?«, fragte ich, während das Pendel wieder schwang. Und wieder.
Er zwinkerte mir zu. »Sie flieht. Wie ein schreckhaftes Geschöpf. Daher vielleicht die Bezeichnung Unruh.«
Ich blinzelte kaum, während das Pendel hin und her schwang. Ich dachte wohl, wenn ich nur genau genug hinsähe, könnte ich herausfinden, wohin die Sekunden flohen.
Manchmal saß ich nur da und lauschte der Uhr. Jedes Ticken war eine Sekunde weniger bis zur Rückkehr meiner Mutter. Jedes Ticken war eine Sekunde, die ich älter wurde. Jedes Ticken war ein Wort mehr, das ich in die vielen Notizbücher kritzelte, die Mr Humnor mir gab.
Ich war kein Schriftsteller - natürlich nicht -, doch ich schrieb. Noch bevor meine Füße bis zum Linoleumboden unter meinem Sitz reichten, hatte ich ein paar kleine Sachen zu Papier gebracht über diese ständige seltsame Prozession durch Terminal B: Passagiere, Piloten und das Publikum, das ihnen zuwinkte. Ursprünglich tat ich das, um meiner Mutter zu erzählen, was sie in ihrer Abwesenheit verpasste. Jeden Tag sah ich so viele neue Leute durch den Terminal hetzen, während ich still dasaß. Trotz all der Stunden, die ich in Terminal B verbrachte, war ich nie geflogen, kein einziges Mal. Ich überlegte, wohin diese Leute nur immerfort flohen - ähnlich wie die kleinen Sekunden in meiner Uhr. Doch zwischen all den Ankünften und Abflügen begann ich mich zu langweilen und erfand manchmal Menschen. Ich wollte gucken, ob meine Mutter die falsche Frau im rosa Blazer mit dem Hamster im Handgepäck herausfand und von den echten Reisenden in Terminal B unterscheiden konnte.
Nicht lange nachdem ich die goldene Uhr bekommen hatte, schrieb ich mein allererstes Buch, einen Krimi, den ich Die Rotpäckchendiebe nannte und der inklusive Illustrationen zweiundzwanzig Seiten umfasste. Es ging um einen namenlosen jungen Detektiv, den der Chef der Flughafenpolizei beauftragt, herauszufinden, wer ständig die roten Süßstoffpäckchen aus den Restaurants des Terminals stiehlt. Der Junge versteckt sich clever in einem Mülleimer und erwartet geduldig das Auftauchen des Meisterverbrechers. Den ganzen Tag lang erträgt er es, dass die Reisenden ihm unwissentlich Müll auf den Kopf häufen. Er ist unbeirrbar, und tatsächlich zahlt das lange Warten sich aus. Im Licht des Vollmonds sieht der kleine Detektiv zwei verdächtige Gestalten herumschleichen. Er stellt die Schatten zur Rede und findet heraus, dass es sich um Xavier und Yvette D'Argent handelt, Bruder und Schwester, die neu in der Stadt sind und zugeben, den Süßstoff zu stehlen, um ihrer schrecklichen Sucht nachzugeben, die sie während ihrer nichtsnutzigen Jugend in Paris entwickelt haben (ich hatte Mrs De Santos einiges abgelauscht, wenn sie über ihre Söhne sprach). Am Ende ist der junge Detektiv von ihrer Geschichte gerührt und willigt ein, ihr Geheimnis zu wahren, sofern sie den Süßstoff zurückgeben, versprechen, es sei mit den Diebstählen vorbei, und geloben, die Eltern nach Therapiemöglichkeiten zu fragen. Just als die Geschichte zu einem erbaulichen Schluss zu kommen scheint, erinnert der junge Detektiv sich jedoch seiner Leidenszeit im Mülleimer. Auf der nächsten Seite sieht man ihn dann dem Chef der Flughafenpolizei erzählen, er habe die Täter nicht ausfindig machen können, und er zieht von dannen, den schwarzen Koffer voll gestohlenem Süßstoff. Ein kurzer Epilog enthüllt, dass der Junge die Rotpäckchen auf dem Schwarzmarkt verkauft und sich für immer zur Ruhe setzt und die frisch therapierten Xavier und Yvette nun, da er so reich ist wie sie, seine besten Freunde werden.
Die Rotpäckchendiebe wurde von den Frauen im Terminal allseits bewundert, und einige Tage lang verspürte ich einen Vorgeschmack von Schriftstellerruhm. Ein echter Autor war ich deshalb jedoch noch lange nicht. Schon damals nicht. Mr Humnor sagte, wenn wir Kopien zögen und in seinem Laden zum Verkauf auslegten, könnten wir den Gewinn teilen. Ein, zwei Abende lang träumte ich von den Hunderten von Dollar, die ich bestimmt verdienen würde - vielleicht sogar genug, damit meine Mutter sich zur Ruhe setzen und wir zusammen ein bisschen herumfliegen könnten.
Einem allerdings hatte ich das Buch noch nicht gezeigt, und das war Mr Bjorn. Von niemandem in der Flughafenhalle wünschte ich mir so, ihm möge das Buch gefallen. Tagelang beobachtete ich ihn und wartete den richtigen Moment ab, und schließlich ging ich an einem sommerlich trägen Dienstagnachmittag hinüber, um Mr Bjorn meine Geschichte anzubieten. Auf seinem hohen Stuhl erschien er mir noch furchterregender als sonst.
»Hast du zugelegt? Willst du ein Kettenglied eingesetzt bekommen?«
»Ich hab ein Buch geschrieben«, sagte ich kleinlaut und hielt es vor ihn hin.
»In der Tat.« Mit zusammengekniffenen Augen richtete er kurz den Blick darauf. Seine Hände zitterten, und er räusperte sich immerfort.
»Sie könnten es lesen«, erklärte ich und schob es zu ihm hinüber.
Er nahm es auf, tat kurz so, als würde er Titel und Umschlagentwurf bewundern, und stieß sein vertrautes Flatterpfeifen aus. »Ich schau es mir an, sobald ich mit meiner Zeitung fertig bin. In einer Stunde, mein Sohn. Abgemacht?«
Froh, ihn lächeln zu sehen, stimmte ich zu.
»Ein Buch«, lachte er und legte es hin. »Klingt, als wollte da jemand unsterblich werden.«
Ich wusste nicht, was er damit meinte, doch das war mir egal. Aufgekratzt stürmte ich durch die Flughafenhalle und hörte nicht auf zu rennen, bis ich die Emerson-Buchhandlung erreichte und mir drei Schokoriegel schnappte, während Mr Humnor tat, als bemerke er es nicht. Ich verkrümelte mich unters Drehregal mit den Liebesromanen und beobachtete, wie die kleinen Zeiger meiner Armbanduhr langsam im Kreis liefen, während das Ticken der Unruh immer lauter zu werden schien.
Kaum war die Stunde endlich um, hetzte ich aus dem Laden und folgte dem dichten Passagierstrom ans andere Ende der Halle. Dort sah ich zu meinem Erstaunen eine Menge um Mr Bjorns Stand versammelt - Ms Barlow und Mrs De San- tos und Mrs Nederhoffer waren alle da, nicht aber Mr Bjorn. Sein Klappstuhl lag umgekippt am Boden. Und daneben ein Haufen Papier: seine Zeitung.
»Sein Uhrwerk ist einfach stehen geblieben«, hörte ich eine raue Stimme. Sie gehörte einem Polizisten - einem blauen Medizinball mit Bürstenhaarschnitt -, und er hielt mein Buch in der Hand. Und lachte. Nicht wie Mr Humnor. Sondern wie über etwas, was er schrecklich fand. Und alle meine Tagesmütter standen nur da und ließen ihn lachen.
»Hat das dem Alten gehört?«, fragte der Polizist und hatte noch immer das schreckliche Lächeln im Gesicht.
»Nein«, sagte Mrs Nederhoffer. »Das gehört nur diesem kleinen Jungen. Seine Mutter ist Flugbegleiterin und lässt ihn tagsüber hier, als wäre das eine Kindertagesstätte.«
»Wir kümmern uns alle ein bisschen um ihn«, pflichtete Mrs De Santos ihr bei. »Offen gestanden fürchte ich jeden Tag, dass ein Verrückter mit ihm durchbrennt.«
Ms Barlow erklärte lauthals, sollte das passieren, wäre es nicht ihre Schuld.
Der Polizist stieß ein bellendes Stakkatolachen aus. »Kein Vater?«
Diesmal lachten die Damen hoch und aufgeregt, als gäbe es nichts, worüber sie lieber lachten. Alle redeten sie durcheinander, und ich hörte sie Böses sagen, ehe ich mir die Uhr ans Ohr halten konnte. Bald vernahm ich nur noch das Ticken. Ich stand in einem dunklen Wald fremder Knie und lauschte, wie Sekunde für Sekunde entfloh. Dann warf der Polizist mein Buch achtlos in den nächsten Mülleimer. Keine der Damen bemerkte es auch nur.
Ich rannte weg, zurück durch die Flughafenhalle. Erst wollte ich mich in Mr Humnors Laden verkriechen, doch als ich ankam, war es noch nicht weit genug. Während ich die Rolltreppen hinabsprang, wurde die Halle ringsum immer größer, und unten transportierten riesige, schlangengleiche Förderbänder langsam Gepäck zu wartenden Menschentrauben. Ich rannte weiter, am großen orangefarbenen Mietwagenschild vorbei und durch die Drehtür aus Glas. Ich rannte den Gehweg entlang, vorbei an den wartenden Taxis und den Gepäckträgern mit ihren roten Kappen. Ich wusste nicht, wohin ich lief oder wohin ich wollte. Ich wollte dahin, wo meine Mutter war. Oder wo Mr Bjorn hingegangen war. Ich wollte dahin, wohin alle Sekunden verschwanden.
Ich blieb stehen, als ein Schild wieder ins Gebäude wies. »TERMINAL A« stand darauf. Scheu trat ich ein und fuhr ein paar Rolltreppen hinauf bis zur Flughafenhalle. Endlich würde ich es sehen. Terminal A. Und vielleicht würde ich Mr Bjorn entdecken, wie er mit dem gleichen ernsten Lächeln alle Uhren rückwärts stellte. Die kleinen runden Tische waren gleich. Der Linoleumboden auch. Und die Oberlichter hoch über mir. Doch es gab keine Emerson-Buchhandlung. Und auch nicht Phils Kaffeebude. Keinen W.-W.-Gould-Imbiss und keine Mister-Minit-Uhrenreparatur. Es gab keinen Mr Bjorn.
Schließlich setzte ich mich unter einer langen Reihe Uhren auf den Boden. Es waren zehn - und alle ganz gleich, bis auf das kleine Schild mit dem Namen einer Stadt. Von einigen hatte ich gelesen, von Paris zum Beispiel, woher Yvette und Xavier gekommen waren. Und von anderen hatte ich gehört, von Mexico City etwa, woher Mrs De San- tos stammte. Ich wusste, dass diese Städte sehr weit weg waren. Und in allen galt eine andere Zeit als auf meiner Uhr. In Mexico City war es eine Stunde früher. Wäre ich dort, überlegte ich, und es wäre eine Stunde eher, dann würde Mr Bjorn noch leben.
Ich hockte da und lauschte dem leisen Ticken der Uhren. In allen saßen kleine Getriebe wie in meiner und kämpften und drehten sich. Ich hörte dem Fliehen der Sekunden zu. Und wusste plötzlich, dass jede Sekunde nur zu einer anderen Uhr floh, irgendwo noch weiter weg, und dass sie einfach immer weiter so flohen, für alle Zeit.
***
So. Das ist die Geschichte, wie ich mein allererstes Buch verlor. Seitdem habe ich drei weitere verloren: einen Roman, eine Novelle und eine Biografie. Das erste Buch zerfällt auf dem Grund eines schwarzen Sees. Das zweite Buch befindet sich in den Händen einer Frau, die ich liebe und nie wiedersehen werde. Das dritte Buch liegt auf einer staubigen Mülldeponie in Afrika, eingewickelt in die blutigen Fetzen meiner Tweedjacke, in deren Tasche noch meine goldene Uhr steckt.
Nur Bruchstücke bleiben, die ich um die Welt und wieder hierher geschleppt habe. Ich sitze in Terminal B und lege sie nebeneinander, um sie zu etwas Wahrem zu verbinden. Ich starre auf die Ränder zwischen ihnen: nur eine Daumenbreite auf beiden Seiten, doch die Entfernung könnte auch der Grand Canyon sein. Dennoch bin ich überzeugt: Irgendwo in diesem leeren Raum zwischen meinen Lügen und Erfindungen ist die Wahrheit.
Nun, da ich zum Schluss dieses Textes komme, fällt mir auf, dass diese erhalten gebliebenen Passagen sich womöglich gar nicht sehr von den Uhren in Terminal A unterscheiden. Auf jeder ist zu sehen, wie spät es ist, nur anderswo. Durch den Vergleich all der Uhren kann, wer will, ermitteln, wie spät es hier ist.
© Graf Verlag
Als ich ihm die Uhr aushändigte, stieß er einen flattrigen Pfiff aus und polierte sie respektvoll, um die kleinen, öligen Fingerabdrücke zu entfernen, die ich bereits darauf hinterlassen hatte.
»Ganz hübsche Uhr für einen Jungen deiner Größe«, sagte er zu mir. »Wie heißt du, mein Sohn?«
Ich traute mich kein Wort zu sagen. Meine Mutter strahlte Mr Bjorn mit ihrem breiten Lächeln an und schaute auf ihre Uhr, wie viel Zeit ihr bis zum nächsten Flug blieb. »Es gibt keine Uhren hier. Ist Ihnen das schon aufgefallen?«
Mr Bjorns tiefe Stimme erhob sich wohlklingend, als er mit meiner Mutter sprach. Sie hatte etwas, das Männer erröten und auf ihre Schuhspitzen schauen ließ.
»Ja, Ma'am. Die Passagiere sollen sich nicht über Verspätungen ärgern. Drüben in Terminal A hängen zehn Uhren in einer Reihe. Aber keine zeigt die hiesige Zeit.«
Ich hörte aufmerksam zu, denn ich war nie in Terminal A gewesen. Meine Mutter flog nicht international und kannte niemanden, der dort hätte auf mich aufpassen können. Ich hatte oft von Terminal A geträumt und stellte ihn mir vor wie Terminal B, nur umgekehrt - spiegelverkehrt, sodass alle alles rückwärts taten. Oder (da er ja A war und wir B) vielleicht war er das Original, und wir waren die Kopie. Womöglich war ich nur die Umkehrversion eines Jungen, dessen Leben andersherum verlief.
Meine Mutter tadelte Mr Bjorn für sein »Ma'am«, und er schob mir das frisch verkürzte Armband übers Handgelenk. Dann gab er mir die entfernten Glieder in einem kleinen Plastikbeutel. »Die bewahrst du auf, mein Sohn. Wenn du mit einer solchen Uhr pfleglich umgehst, lebt sie länger als ich und sogar als du.«
Mein Spiegelbild war ganz klein auf ihrem schimmernden Rund. »Okay«, sagte ich.
Danach kehrte ich etwa wöchentlich zu Mr Bjorns Laden zurück, und wenn er nicht zu beschäftigt war, öffnete er die Uhr für mich und inspizierte das winzige Getriebe.
»Das hier ist das Tourbillon und das die Haarfeder. Und hier ist die Unruh.« Er wies auf ein ankerförmiges Ärmchen, das wie ein Pendel schwang und stets klickte, wenn sich darunter das winzige Zahnrad drehte. »Die erzeugt das Ticken.« Das kleine Rad kämpfte gegen den Anker. Nach einer Sekunde hatte es genug Kraft gesammelt, einen Klick weiterzurücken und das Pendel dabei einmal schwingen zu lassen; dann stoppte es wieder. Es kämpfte, rückte weiter und stoppte.
»Mit jedem Vorrücken vergeht eine Sekunde.«
»Wohin?«, fragte ich, während das Pendel wieder schwang. Und wieder.
Er zwinkerte mir zu. »Sie flieht. Wie ein schreckhaftes Geschöpf. Daher vielleicht die Bezeichnung Unruh.«
Ich blinzelte kaum, während das Pendel hin und her schwang. Ich dachte wohl, wenn ich nur genau genug hinsähe, könnte ich herausfinden, wohin die Sekunden flohen.
Manchmal saß ich nur da und lauschte der Uhr. Jedes Ticken war eine Sekunde weniger bis zur Rückkehr meiner Mutter. Jedes Ticken war eine Sekunde, die ich älter wurde. Jedes Ticken war ein Wort mehr, das ich in die vielen Notizbücher kritzelte, die Mr Humnor mir gab.
Ich war kein Schriftsteller - natürlich nicht -, doch ich schrieb. Noch bevor meine Füße bis zum Linoleumboden unter meinem Sitz reichten, hatte ich ein paar kleine Sachen zu Papier gebracht über diese ständige seltsame Prozession durch Terminal B: Passagiere, Piloten und das Publikum, das ihnen zuwinkte. Ursprünglich tat ich das, um meiner Mutter zu erzählen, was sie in ihrer Abwesenheit verpasste. Jeden Tag sah ich so viele neue Leute durch den Terminal hetzen, während ich still dasaß. Trotz all der Stunden, die ich in Terminal B verbrachte, war ich nie geflogen, kein einziges Mal. Ich überlegte, wohin diese Leute nur immerfort flohen - ähnlich wie die kleinen Sekunden in meiner Uhr. Doch zwischen all den Ankünften und Abflügen begann ich mich zu langweilen und erfand manchmal Menschen. Ich wollte gucken, ob meine Mutter die falsche Frau im rosa Blazer mit dem Hamster im Handgepäck herausfand und von den echten Reisenden in Terminal B unterscheiden konnte.
Nicht lange nachdem ich die goldene Uhr bekommen hatte, schrieb ich mein allererstes Buch, einen Krimi, den ich Die Rotpäckchendiebe nannte und der inklusive Illustrationen zweiundzwanzig Seiten umfasste. Es ging um einen namenlosen jungen Detektiv, den der Chef der Flughafenpolizei beauftragt, herauszufinden, wer ständig die roten Süßstoffpäckchen aus den Restaurants des Terminals stiehlt. Der Junge versteckt sich clever in einem Mülleimer und erwartet geduldig das Auftauchen des Meisterverbrechers. Den ganzen Tag lang erträgt er es, dass die Reisenden ihm unwissentlich Müll auf den Kopf häufen. Er ist unbeirrbar, und tatsächlich zahlt das lange Warten sich aus. Im Licht des Vollmonds sieht der kleine Detektiv zwei verdächtige Gestalten herumschleichen. Er stellt die Schatten zur Rede und findet heraus, dass es sich um Xavier und Yvette D'Argent handelt, Bruder und Schwester, die neu in der Stadt sind und zugeben, den Süßstoff zu stehlen, um ihrer schrecklichen Sucht nachzugeben, die sie während ihrer nichtsnutzigen Jugend in Paris entwickelt haben (ich hatte Mrs De Santos einiges abgelauscht, wenn sie über ihre Söhne sprach). Am Ende ist der junge Detektiv von ihrer Geschichte gerührt und willigt ein, ihr Geheimnis zu wahren, sofern sie den Süßstoff zurückgeben, versprechen, es sei mit den Diebstählen vorbei, und geloben, die Eltern nach Therapiemöglichkeiten zu fragen. Just als die Geschichte zu einem erbaulichen Schluss zu kommen scheint, erinnert der junge Detektiv sich jedoch seiner Leidenszeit im Mülleimer. Auf der nächsten Seite sieht man ihn dann dem Chef der Flughafenpolizei erzählen, er habe die Täter nicht ausfindig machen können, und er zieht von dannen, den schwarzen Koffer voll gestohlenem Süßstoff. Ein kurzer Epilog enthüllt, dass der Junge die Rotpäckchen auf dem Schwarzmarkt verkauft und sich für immer zur Ruhe setzt und die frisch therapierten Xavier und Yvette nun, da er so reich ist wie sie, seine besten Freunde werden.
Die Rotpäckchendiebe wurde von den Frauen im Terminal allseits bewundert, und einige Tage lang verspürte ich einen Vorgeschmack von Schriftstellerruhm. Ein echter Autor war ich deshalb jedoch noch lange nicht. Schon damals nicht. Mr Humnor sagte, wenn wir Kopien zögen und in seinem Laden zum Verkauf auslegten, könnten wir den Gewinn teilen. Ein, zwei Abende lang träumte ich von den Hunderten von Dollar, die ich bestimmt verdienen würde - vielleicht sogar genug, damit meine Mutter sich zur Ruhe setzen und wir zusammen ein bisschen herumfliegen könnten.
Einem allerdings hatte ich das Buch noch nicht gezeigt, und das war Mr Bjorn. Von niemandem in der Flughafenhalle wünschte ich mir so, ihm möge das Buch gefallen. Tagelang beobachtete ich ihn und wartete den richtigen Moment ab, und schließlich ging ich an einem sommerlich trägen Dienstagnachmittag hinüber, um Mr Bjorn meine Geschichte anzubieten. Auf seinem hohen Stuhl erschien er mir noch furchterregender als sonst.
»Hast du zugelegt? Willst du ein Kettenglied eingesetzt bekommen?«
»Ich hab ein Buch geschrieben«, sagte ich kleinlaut und hielt es vor ihn hin.
»In der Tat.« Mit zusammengekniffenen Augen richtete er kurz den Blick darauf. Seine Hände zitterten, und er räusperte sich immerfort.
»Sie könnten es lesen«, erklärte ich und schob es zu ihm hinüber.
Er nahm es auf, tat kurz so, als würde er Titel und Umschlagentwurf bewundern, und stieß sein vertrautes Flatterpfeifen aus. »Ich schau es mir an, sobald ich mit meiner Zeitung fertig bin. In einer Stunde, mein Sohn. Abgemacht?«
Froh, ihn lächeln zu sehen, stimmte ich zu.
»Ein Buch«, lachte er und legte es hin. »Klingt, als wollte da jemand unsterblich werden.«
Ich wusste nicht, was er damit meinte, doch das war mir egal. Aufgekratzt stürmte ich durch die Flughafenhalle und hörte nicht auf zu rennen, bis ich die Emerson-Buchhandlung erreichte und mir drei Schokoriegel schnappte, während Mr Humnor tat, als bemerke er es nicht. Ich verkrümelte mich unters Drehregal mit den Liebesromanen und beobachtete, wie die kleinen Zeiger meiner Armbanduhr langsam im Kreis liefen, während das Ticken der Unruh immer lauter zu werden schien.
Kaum war die Stunde endlich um, hetzte ich aus dem Laden und folgte dem dichten Passagierstrom ans andere Ende der Halle. Dort sah ich zu meinem Erstaunen eine Menge um Mr Bjorns Stand versammelt - Ms Barlow und Mrs De San- tos und Mrs Nederhoffer waren alle da, nicht aber Mr Bjorn. Sein Klappstuhl lag umgekippt am Boden. Und daneben ein Haufen Papier: seine Zeitung.
»Sein Uhrwerk ist einfach stehen geblieben«, hörte ich eine raue Stimme. Sie gehörte einem Polizisten - einem blauen Medizinball mit Bürstenhaarschnitt -, und er hielt mein Buch in der Hand. Und lachte. Nicht wie Mr Humnor. Sondern wie über etwas, was er schrecklich fand. Und alle meine Tagesmütter standen nur da und ließen ihn lachen.
»Hat das dem Alten gehört?«, fragte der Polizist und hatte noch immer das schreckliche Lächeln im Gesicht.
»Nein«, sagte Mrs Nederhoffer. »Das gehört nur diesem kleinen Jungen. Seine Mutter ist Flugbegleiterin und lässt ihn tagsüber hier, als wäre das eine Kindertagesstätte.«
»Wir kümmern uns alle ein bisschen um ihn«, pflichtete Mrs De Santos ihr bei. »Offen gestanden fürchte ich jeden Tag, dass ein Verrückter mit ihm durchbrennt.«
Ms Barlow erklärte lauthals, sollte das passieren, wäre es nicht ihre Schuld.
Der Polizist stieß ein bellendes Stakkatolachen aus. »Kein Vater?«
Diesmal lachten die Damen hoch und aufgeregt, als gäbe es nichts, worüber sie lieber lachten. Alle redeten sie durcheinander, und ich hörte sie Böses sagen, ehe ich mir die Uhr ans Ohr halten konnte. Bald vernahm ich nur noch das Ticken. Ich stand in einem dunklen Wald fremder Knie und lauschte, wie Sekunde für Sekunde entfloh. Dann warf der Polizist mein Buch achtlos in den nächsten Mülleimer. Keine der Damen bemerkte es auch nur.
Ich rannte weg, zurück durch die Flughafenhalle. Erst wollte ich mich in Mr Humnors Laden verkriechen, doch als ich ankam, war es noch nicht weit genug. Während ich die Rolltreppen hinabsprang, wurde die Halle ringsum immer größer, und unten transportierten riesige, schlangengleiche Förderbänder langsam Gepäck zu wartenden Menschentrauben. Ich rannte weiter, am großen orangefarbenen Mietwagenschild vorbei und durch die Drehtür aus Glas. Ich rannte den Gehweg entlang, vorbei an den wartenden Taxis und den Gepäckträgern mit ihren roten Kappen. Ich wusste nicht, wohin ich lief oder wohin ich wollte. Ich wollte dahin, wo meine Mutter war. Oder wo Mr Bjorn hingegangen war. Ich wollte dahin, wohin alle Sekunden verschwanden.
Ich blieb stehen, als ein Schild wieder ins Gebäude wies. »TERMINAL A« stand darauf. Scheu trat ich ein und fuhr ein paar Rolltreppen hinauf bis zur Flughafenhalle. Endlich würde ich es sehen. Terminal A. Und vielleicht würde ich Mr Bjorn entdecken, wie er mit dem gleichen ernsten Lächeln alle Uhren rückwärts stellte. Die kleinen runden Tische waren gleich. Der Linoleumboden auch. Und die Oberlichter hoch über mir. Doch es gab keine Emerson-Buchhandlung. Und auch nicht Phils Kaffeebude. Keinen W.-W.-Gould-Imbiss und keine Mister-Minit-Uhrenreparatur. Es gab keinen Mr Bjorn.
Schließlich setzte ich mich unter einer langen Reihe Uhren auf den Boden. Es waren zehn - und alle ganz gleich, bis auf das kleine Schild mit dem Namen einer Stadt. Von einigen hatte ich gelesen, von Paris zum Beispiel, woher Yvette und Xavier gekommen waren. Und von anderen hatte ich gehört, von Mexico City etwa, woher Mrs De San- tos stammte. Ich wusste, dass diese Städte sehr weit weg waren. Und in allen galt eine andere Zeit als auf meiner Uhr. In Mexico City war es eine Stunde früher. Wäre ich dort, überlegte ich, und es wäre eine Stunde eher, dann würde Mr Bjorn noch leben.
Ich hockte da und lauschte dem leisen Ticken der Uhren. In allen saßen kleine Getriebe wie in meiner und kämpften und drehten sich. Ich hörte dem Fliehen der Sekunden zu. Und wusste plötzlich, dass jede Sekunde nur zu einer anderen Uhr floh, irgendwo noch weiter weg, und dass sie einfach immer weiter so flohen, für alle Zeit.
***
So. Das ist die Geschichte, wie ich mein allererstes Buch verlor. Seitdem habe ich drei weitere verloren: einen Roman, eine Novelle und eine Biografie. Das erste Buch zerfällt auf dem Grund eines schwarzen Sees. Das zweite Buch befindet sich in den Händen einer Frau, die ich liebe und nie wiedersehen werde. Das dritte Buch liegt auf einer staubigen Mülldeponie in Afrika, eingewickelt in die blutigen Fetzen meiner Tweedjacke, in deren Tasche noch meine goldene Uhr steckt.
Nur Bruchstücke bleiben, die ich um die Welt und wieder hierher geschleppt habe. Ich sitze in Terminal B und lege sie nebeneinander, um sie zu etwas Wahrem zu verbinden. Ich starre auf die Ränder zwischen ihnen: nur eine Daumenbreite auf beiden Seiten, doch die Entfernung könnte auch der Grand Canyon sein. Dennoch bin ich überzeugt: Irgendwo in diesem leeren Raum zwischen meinen Lügen und Erfindungen ist die Wahrheit.
Nun, da ich zum Schluss dieses Textes komme, fällt mir auf, dass diese erhalten gebliebenen Passagen sich womöglich gar nicht sehr von den Uhren in Terminal A unterscheiden. Auf jeder ist zu sehen, wie spät es ist, nur anderswo. Durch den Vergleich all der Uhren kann, wer will, ermitteln, wie spät es hier ist.
© Graf Verlag
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Autoren-Porträt von Kristopher Jansma
Kristopher Jansma, Jahrgang 1982, studierte an der Johns Hopkins University und an der Columbia University. Ein literarisches Wunderkind, unterrichtet er nun selbstam Manhattanville College in New York. Jansma veröffentlichte Short Storys in literarischen Zeitschriften und als Blog.Andreas Heckmann, geboren 1962 in Oldenburg, studierte in Marburg und Freiburg und lebt in München als literarischer Übersetzer aus dem Englischen. Er ist Mitredakteur der Zeitschrift Am Erker und verfasst dort seit 1997 Kurzprosa, Rezensionen, Essays und Autoreninterviews.
Bibliographische Angaben
- Autor: Kristopher Jansma
- 2013, 329 Seiten, Maße: 14,6 x 22,3 cm, Geb. mit Su., Deutsch
- Übersetzer: Andreas Heckmann
- Verlag: Graf Verlag
- ISBN-10: 3862200280
- ISBN-13: 9783862200283
- Erscheinungsdatum: 13.09.2013
Rezension zu „Die Flecken des Leoparden “
"Eine freche Satire auf die Jagd nach Geld, Ruhm und Liebe", Dresdner Morgenpost, 21.10.2013
Kommentar zu "Die Flecken des Leoparden"
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