Die Frauen von Tyringham Park / Tyringham Park Bd.1
Roman
WENN SIE DOWNTON ABBEY MÖGEN, WERDEN SIE DIESEN ROMAN LIEBEN!
Ganz im Süden Irlands befindet sich das prächtige Anwesen von Lord und Lady Blackshaw. Tyringham Park ist ein Ort voller Prunk und Privilegien. Doch ein...
Ganz im Süden Irlands befindet sich das prächtige Anwesen von Lord und Lady Blackshaw. Tyringham Park ist ein Ort voller Prunk und Privilegien. Doch ein...
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Produktinformationen zu „Die Frauen von Tyringham Park / Tyringham Park Bd.1 “
WENN SIE DOWNTON ABBEY MÖGEN, WERDEN SIE DIESEN ROMAN LIEBEN!
Ganz im Süden Irlands befindet sich das prächtige Anwesen von Lord und Lady Blackshaw. Tyringham Park ist ein Ort voller Prunk und Privilegien. Doch ein verhängnisvolles Ereignis im Jahr 1917 zerstört den Frieden des Hauses: Victoria, die jüngste Tochter der Familie, verschwindet spurlos. Wurde sie entführt? Oder gar ermordet? Nicht nur die Blackshaws sind tief getroffen, auch die Dienstboten trauern um das kleine Mädchen. Fortan liegt ein Schatten über Tyringham Park, der das Leben aller verändert, die Victoria gekannt haben. Nur mit der Wahrheit, die schließlich ans Licht kommt, hätte niemand gerechnet ...
"Große Gefühle und düstere Geheimnisse. Eine bis zum Schluss fesselnde Familiensaga."
Irish Independent
Ganz im Süden Irlands befindet sich das prächtige Anwesen von Lord und Lady Blackshaw. Tyringham Park ist ein Ort voller Prunk und Privilegien. Doch ein verhängnisvolles Ereignis im Jahr 1917 zerstört den Frieden des Hauses: Victoria, die jüngste Tochter der Familie, verschwindet spurlos. Wurde sie entführt? Oder gar ermordet? Nicht nur die Blackshaws sind tief getroffen, auch die Dienstboten trauern um das kleine Mädchen. Fortan liegt ein Schatten über Tyringham Park, der das Leben aller verändert, die Victoria gekannt haben. Nur mit der Wahrheit, die schließlich ans Licht kommt, hätte niemand gerechnet ...
"Große Gefühle und düstere Geheimnisse. Eine bis zum Schluss fesselnde Familiensaga."
Irish Independent
Klappentext zu „Die Frauen von Tyringham Park / Tyringham Park Bd.1 “
WENN SIE DOWNTON ABBEY MÖGEN, WERDEN SIE DIESEN ROMAN LIEBEN!Ganz im Süden Irlands befindet sich das prächtige Anwesen von Lord und Lady Blackshaw. Tyringham Park ist ein Ort voller Prunk und Privilegien. Doch ein verhängnisvolles Ereignis im Jahr 1917 zerstört den Frieden des Hauses: Victoria, die jüngste Tochter der Familie, verschwindet spurlos. Wurde sie entführt? Oder gar ermordet? Nicht nur die Blackshaws sind tief getroffen, auch die Dienstboten trauern um das kleine Mädchen. Fortan liegt ein Schatten über Tyringham Park, der das Leben aller verändert, die Victoria gekannt haben. Nur mit der Wahrheit, die schließlich ans Licht kommt, hätte niemand gerechnet ...
"Große Gefühle und düstere Geheimnisse. Eine bis zum Schluss fesselnde Familiensaga" Irish Independent
Lese-Probe zu „Die Frauen von Tyringham Park / Tyringham Park Bd.1 “
Die Frauen von Tyringham Park von Rosemary McLoughlin Erster Teil
Das Land
1
Tyringham Park 1917
Ihre Mutter verlor nicht die Fassung, und ihr Vater kehrte nicht aus London zurück, als Victoria Blackshaw, die Hübsche, im Alter von zweiundzwanzig Monaten verschwand.
Als Erste bemerkte die Mutter, Edwina Blackshaw, den leeren Kinderwagen, als Zweiter der Stallmeister des Gutes, der Manus hieß.
Ungläubig riss Edwina zuerst die Steppdecke mit dem Schottenmuster und dann die federgefüllte Matratze heraus, schüttelte beides und ließ es zu Boden fallen. Sie tastete in dem dunklen Kinderwagen nach Victorias rothaariger Puppe oder irgendeinem Hinweis, der das Fehlen ihres Kindes erklärte, doch ihre Finger fanden nur einen zerbröckelnden Biskuit und einen Beißring.
Manus stellte erleichtert fest, dass sämtliche Pferdeboxen und das Tor zur Koppel geschlossen waren, doch zu seinem Entsetzen war ein Türflügel am Eingang zum Stall unverriegelt und stand einen Spalt weit offen. Er zog das Tor ganz auf und suchte die Zufahrt ab, dann das Ufer des angeschwollenen Flusses dahinter, das Wehr und die Brücke, von der man stromabwärts blickte, ehe er um die Nebengebäude rannte, in ständiger Erwartung, hinter der nächsten Ecke eine kleine Gestalt ganz in Weiß zu entdecken.
Edwina prüfte als Erstes die Riegel der sieben besetzten Boxen, ratterte mit den unteren Türhälften, um sich zu vergewissern, dass sie wirklich verschlossen und nicht nur angelehnt waren. Jedes noch so gutmütige Pferd trat instinktiv nach hinten aus, wenn es plötzlich am Hinterlauf berührt wurde. Edwina graute davor, einen an der Wand zerschmetterten kleinen Körper zu finden.
... mehr
In einem Zustand intensiver Erwartung lief Manus zurück auf den Hof. Er hoffte, Edwina hätte Victoria inzwischen gefunden, und die Hoffnung war so stark, dass er ganz kurz den Umriss des Kindes zu sehen glaubte. Doch das Trugbild verflüchtigte sich rasch. Mit für ihn untypischer Grobheit zerrte er Mandrake aus der Box, und obwohl der Wallach wegen der panikgeladenen Stimmung scheute, hatte er das Tier in kürzester Zeit aufgezäumt und gesattelt.
»Ich reite den Fluss ab, falls sie reingefallen ist«, sagte er und stieg auf.
»Hol zuerst Hilfe, denn wir wollen doch hoffen, dass das nicht passiert ist.« Edwina stand mitten auf dem Hof und schwankte leicht. »Wir müssen die Suche auf der Stelle ausweiten. «
Manus ging mittlerweile davon aus, dass das kleine Mädchen in den Fluss gestürzt und davongetragen worden war, doch er wollte seiner Herrin nicht die Hoffnung rauben, indem er ihren Befehl missachtete. Im Stillen verwünschte er die Minuten, die er verlor, wenn er zum Haus hinaufritt, doch er gehorchte.
Edwina ertappte sich dabei, wie sie im Kreis ging, während sie mit sich rang, was sie nun tun sollte. Sie wusste so wenig über ihre Tochter. War sie schon zwei geworden? Beim Standesamt hatte sie ein falsches Geburtsdatum genannt, und nun konnte sie sich nicht erinnern, welchen Tag sie angegeben hatte und an welchem Victoria wirklich zur Welt gekommen war. Die Kleine musste mittlerweile doch zwei sein? Konnten Zweijährige ohne Hilfe aus dem Kinderwagen klettern, oder musste jemand sie herausheben? Konnte Victoria schon Treppen steigen? Eine weite Strecke laufen? Konnte sie es bis zum Haus schaffen?
Hätte Edwina diese Fragen beantworten können und auch nur ansatzweise gewusst, wie lange das Kind verschwunden war, so hätte sie wenigstens einen Anhaltspunkt besessen, was als Nächstes zutun war.
Später erklärte sie den Polizisten, dass sie den Kinderwagen auf die schattige Seite des Hofes gestellt habe. Sie sei sicher gewesen, dass Victoria, wie es ihre Gewohnheit war, eine Stunde lang schlafen würde (dass sie dies nicht aus eigener Erfahrung wusste, sondern vom Kindermädchen erfahren hatte, verschwieg sie den Beamten). In dieser Zeit habe sie Manus geholfen, bei einem nervösen Stutfohlen den Schienbeinverband zu wechseln. Die Wunde gehe bis auf den Knochen, und ein Fleischlappen hänge lose, ergänzte sie, um ihre Aussage durch realistische Elemente glaubhafter zu machen. Manus habe die Arbeit nicht allein ausführen können, ohne das Tier in Angst zu versetzen. Natürlich hätte er warten können, bis die Stallburschen zurückkehrten, doch da sie vor Ort war, wäre es unklug gewesen, ihre Sachkenntnis in solchen Dingen nicht zu nutzen. Daher sei Victoria für etwa zwanzig Minuten unbeaufsichtigt gewesen (tatsächlich waren es vierzig, doch Edwina drückte sich vage aus, damit sie diesen Umstand nicht eingestehen musste), und in dieser Zeit habe das Kind jederzeit verschwinden können.
Als die Beamten sie fragten, ob sie die Matratze berührt habe, um zu sehen, ob sie noch warm sei, musste sie zugeben, dass sie in ihrer Bestürzung nicht daran gedacht hatte, und als sie wissen wollten, ob die Flügeltür offen oder geschlossen gewesen sei, während sie bei dem Fohlen war, antwortete Edwina, sie müsse mit Sicherheit geschlossen gewesen sein - allein aus Gewohnheit hätte sie hinter sich die Tür zugezogen, nachdem sie Victoria in den Hof geschoben hatte.
Und wann sei Victoria geboren? Der Inspector blätterte die Seite in seinem Notizbuch um und wartete, den Federhalter angesetzt, auf die Antwort. Edwinas Kopf war völlig leer.
»Entschuldigen Sie mich einen Moment«, sagte sie, erhob sich von ihrem Stuhl und verließ den Raum, ohne es für nötig zu halten, den beiden Polizeibeamten einen Grund für ihren plötzlichen Aufbruch zu nennen.
Miss East, die Wirtschafterin, sollte nie vergessen, wie Manus zu Pferd den Hügel heraufpreschte, als wäre er der Bote der Apokalypse, und die schlechte Nachricht zum Haus brachte.
Als sie ihn rufen hörte, stürzte sie zur Vordertür hinaus.
»Victoria ist verschwunden. Rufen Sie alle zusammen!«, brüllte er ihr zu, ohne auch nur einen Versuch zu unternehmen, den sich drehenden und stampfenden Mandrake daran zu hindern, tiefe Furchen und Hufabdrücke in den gepflegten Rasen zu bohren.
Trotz ihrer Angst vor Pferden rannte Miss East auf den Rasen und direkt auf das Tier zu, um Genaueres zu erfahren. Mandrake ging auf die Hinterhand, als sie näher kam, und Manus zügelte ihn nicht.
»Ich suche den Fluss ab. Ich fürchte, sie ist ertrunken«, mehr antwortete er nicht auf ihren Frageschwall. Er riss Mandrake herum, und der Wallach galoppierte daraufhin mit solcher Geschwindigkeit los, dass Manus kaum noch Zeit hatte, »Zum Stall!« über die Schulter zu rufen, ehe er fort war und Miss East von Erdkrumen übersät stehenließ.
Von entsetzlicher Furcht getrieben, eilte die Wirtschafterin ums Haus zu dem ummauerten Garten hinter der Küche. Zu ihrer Erleichterung entdeckte sie dort eine ganze Anzahl von Dienstboten, die, jeder auf seine Weise, die Sonne genossen: Einige schliefen, andere unterhielten sich oder spielten Karten, und einer stocherte mit einem Stock in einer Ameisenstraße.
»Hört her! Alles herhören!«, rief sie, wie sie glaubte, und klatschte in die Hände, da niemand reagierte. Mit lauterer Stimme fuhr sie fort: »Victoria wird vermisst! Kommt schnell!« Diesmal hörten die Leute sie und erhoben sich, benommen und träge von der Sonne. Einige riefen ihr Erstaunen heraus, andere fluchten leise. »Zum Stall!« Sie wies in die Richtung, dann klatschte sie in die Hände, als scheuche sie Gänse. »Sofort. Schnell. Lauft!«
Sie waren bereits auf dem Weg.
Miss Evans folgte ihnen durch das Gartentor und rief dem jüngsten Diener zu: »Ned! Du hast die jüngeren Beine«, dann musste sie schon stehen bleiben und Atem holen, ehe sie hinzufügen konnte: »Renn so schnell du kannst. Sag Sid und dem Verwalter Bescheid. Sag ihnen, sie sollen in den Stall kommen. Sei so gut.«
Der Junge schien erfreut, dass er für die Aufgabe ausgesucht worden war. Augenblicklich änderte er die Richtung und eilte zum Häuschen des Kutschers, das ein Stück vom Haus entfernt hinter den Ebereschen stand.
Miss Easts Aufregung legte sich ein wenig. Die Diener würden in kürzester Zeit großräumig das Gelände absuchen, und der Verwalter und Sid würden das Kommando übernehmen. Sie wüssten, was zu tun war.
In Schwester Dixons Haut möchte ich nicht stecken, dachte Miss East bei sich, nicht für allen Tee in China. Bei all ihren Fehlern, und sie hat weiß Gott viele, ist ihr bislang doch noch nie ein Kind abhandengekommen.
Während sie den anderen hinterherrannte, wandten sich, eingedenk der in mittlerem Alter auftretenden Einschränkungen, zwei Hausmädchen zu ihr um, doch Miss East winkte sie weiter und sagte, sie komme zurecht, sie halte sie nur auf, sie sollten weiterlaufen. Als sie um die Hausecke bog, gaben ihre Beine nach und sie sank auf die Knie. Lieber Gott, betete sie, mach, dass die süße Kleine schon wieder gefunden wurde. Bitte, Herr, hab Mitleid, mach, dass ihr nichts zugestoßen ist.
2
Den Rücken dem Fenster zugewandt, lenkte Schwester Dixon mit einem Handspiegel Licht auf ihr Gesicht. Sie suchte rings um die Augen nach Lachfältchen und war erleichtert, als sie kein einziges entdeckte. Sie musste an ihre Freundin Teresa Kelly denken, der mit ihrem runzligen alten Gesicht keine andere Möglichkeit geblieben war, als im Alter von vierzig auf die andere Seite der Welt zu gehen und einen sechzigjährigen Fremden zu heiraten, nur weil sie unbedingt ein Kind und ein eigenes Haus haben wollte, ehe es zu spät war.
Mir passiert das auf keinen Fall, versicherte Schwester Dixon sich mit Nachdruck. Nicht dass das überhaupt drin wär, dazu bin ich zu jung und zu schön, und der göttliche Manus wird mir jetzt jeden Augenblick einen Antrag machen.
Sie neigte den Standspiegel und vergewisserte sich, dass Taille und Fesseln nach wie vor schlank waren. Mithilfe des Handspiegels überzeugte sie sich von ihrem Aussehen von hinten und von der Seite - gute Haltung, gute Neigung des Kopfes. Sie musste sich diese Pose merken - sie war besonders schmeichelhaft. Sie würde sie ausprobieren, wenn sie Manus das nächste Mal begegnete.
Die Wanduhr im Kinderzimmer schlug drei. Teresa Kelly würde nun Ballybrian verlassen, Lady Blackshaw würde bald Victoria zurückbringen, und dann begann der lange öde Nachmittag.
Dixon war froh, dass nun ein anderes Kindermädchen Jahre damit vergeuden würde, die einst so liebe Victoria, die Hübsche, die einen beunruhigenden Eigensinn an den Tag zu legen begann, zu erziehen, nur damit sie am Ende genauso wurde wie die reizlose Charlotte. Wie wunderbar wäre es, das Anwesen endlich zu verlassen, Manus zu heiraten und der zermürbenden Langeweile zu entkommen, die es bedeutete, zwei reiche Gören aufzuziehen! Ihre eigenen Kinder wären fleißig und vernünftig, und sie könnte stolz auf sie sein. Und natürlich wären sie hübsch. Wie könnten sie nicht hübsch sein, mit ihr und Manus als Eltern?
Sie setzte sich und massierte sich Zitronensaft in die Hände. Dabei ließ sie ihre Gedanken, wie sie es oft tat, zu den Ungerechtigkeiten des Lebens wandern. Wenn das Schicksal zu ihr freundlicher und Lady Blackshaw weniger gewogen gewesen wäre, könnten sie Schwestern sein: beide mit hellbraunem Haar und attraktiv, beide groß und kräftig, beide jung. Dixon hätte die gesellschaftliche Kluft zwischen ihnen gar nicht so sehr gestört, wenn Ihre Ladyschaft das Beste aus ihrer Stellung gemacht hätte, indem sie sich einem Leben des Luxus und der Mode hingab, doch Lady Edwina Blackshaw lief den ganzen Tag mit unordentlichen Haaren herum, die sie lediglich mit einem Kamm hochsteckte, der die widerspenstigen Strähnen überhaupt nicht bändigen konnte, und trug dazu auch noch eine Reithose für Männer voller Flecken vom Sattelfett und Pferdeschweiß. Wenn Seine Lordschaft nicht im Hause war, zog sie sich nicht einmal zum Essen um, und er war meistens fort. Dixon erinnerte sich an den Tag, an dem sie Lady Blackshaw in vollem Reithabit gesehen hatte - Zylinder, Schleier, tailliertem Jackett, seidenem Plastron, maßgeschneidertem Rock und feinen Handschuhen und Stiefeln aus Leder. Dixon war vor Bewunderung fast schwindlig geworden. Als sie dann hörte, dass ihre Herrin sich zum letzten Mal so kleiden würde, weil sie beabsichtigte, vom Damen-in den Herrensattel zu wechseln, auf dem sie als Mädchen gesessen hatte, damit sie sich ihren großen Wunsch erfüllen und reiten konnte wie ein Mann, hatte Dixon es schier nicht fassen können. »Wenn es für Johanna von Orleans und Marie Antoinette gut war, so zu reiten, dann ist es auch für mich gut«, sollte sie zu einer konservativen alten Nachbarin gesagt haben, die sie dafür rügte, dass sie einen unzüchtigen und undamenhaften Reitstil pflege. »Bedenken Sie nur, wie sie geendet sind«, hatte die alte Dame genüsslich erwidert. »Und das geschah ihnen recht.«
Als sich das Warten auf die Dienstboten in die Länge zog, eilte Edwina, die den gleichen Weg um den Stall abgegangen war wie schon zuvor Manus, die Treppe hoch und sah in der Kammer der Stallburschen auf dem Dachboden nach. Falls Victoria schon Treppen steigen konnte, hatten die Stufen sie vielleicht neugierig gemacht. Nur eine Tür stand offen - dahinter befand sich eine kleine Küche -, und es dauerte nur einen Moment, dann stand fest, dass niemand darin war. Die drei jungen Männer waren wie jeden Freitagnachmittag zur Dorfspelunke gezogen, wo verbotenerweise Alkohol ausgeschenkt wurde. Edwina kannte ihre Gewohnheiten und hatte nicht erwartet, einen von ihnen in seinem Quartier zu finden.
Als sie auf dem Balkon stand und auf den von Mauern umgebenen Hof hinuntersah, beschlich sie das Gefühl, der Kinderwagen und die Schottendecke blickten sie von der gegenüberliegenden Wand her anklagend an.
Sie wollte sich nicht gestatten, sich ihre Tochter, den Fluss und die offene Tür in einem Bild vereint vor Augen zu führen.
Was Manus ihr berichtet hatte, kehrte wie ein halbvergessener Refrain zurück und versetzte sie in Verwunderung. Teresa Kelly, hatte er gesagt, sei Victoria völlig verfallen. Er könne kaum glauben, dass sie sich von dem Kind getrennt habe, und er habe bis zur letzten Minute erwartet, sie würde es sich anders überlegen und um der Kleinen willen Tyringham Park doch nicht verlassen. Aber er hatte sich geirrt. Sie war gegangen. Sie war schon fort.
Das Wort »fort« war Edwina aufgefallen, und dazu der Umstand, dass Manus, der nicht zu müßigem Geplauder neigte, den Weggang der Frau überhaupt für erwähnenswert erachtet hatte.
Zwanzig Minuten, nachdem er von Teresa Kelly gesprochen hatte, war Victoria ebenfalls verschwunden gewesen.
Sie wünschte, er wäre nicht so hastig fortgeritten, ehe sie noch die Zeit fand, ihn weiter zu befragen. Sieben Meilen von Tyringham Park entfernt mündete der Fluss ins Meer. Wenn er die ganze Strecke abreiten musste, vergingen Stunden, bis sie ihn wiedersah.
Erst als sich ihr der Kies in die Fußsohlen bohrte, fiel Miss East auf, dass sie ihre Hausschuhe trug, die jetzt nass waren und durch all den Schlamm, der an ihnen klebte, zwei Nummern größer aussahen. Unter normalen Umständen wäre Lady Blackshaw erzürnt, ihre Wirtschafterin mit unpassendem Schuhwerk zu sehen und mit Erde auf der sonst stets makellos sauberen Kleidung, doch in diesem Augenblick würde sie dergleichen wohl kaum bemerken. Fuhr dort Sid im Ponywagen die Allee zum Pförtnerhäuschen entlang? Wie hatte er so rasch anschirren können? Hatte sie ein falsches Gefühl für die Zeit, die sie vom Schmerz umnachtet verbracht hatte, nachdem die Hausmädchen weitergelaufen waren?
Ohne auf ihre Tränen und ihre Stellung im Haus Rücksicht zu nehmen, legte sie den restlichen Weg zum Stall im Laufschritt zurück.
3
Ohne es zu wissen, zählte Edwinas abwesender Ehemann, Lord Waldron Blackshaw, im Augenblick im Londoner Kriegsministerium tätig, zu den verhasstesten Männern in Irland. Ebenso wenig bekannt war dieser Umstand den meisten Bewohnern von Tyringham Park, die abgeschottet in ihrem eigenen, sich selbst genügenden Königreich lebten, von der örtlichen Gemeinschaft durch die weiten Flächen an Bauernhöfen, Ackerland, Parklandschaft, Gärten und Wäldern getrennt waren und Umgang nur mit ihresgleichen aus anderen ›Großen Häusern‹ im ganzen Land pflegten.
Den Grund für diesen besonderen Hass kannten nur drei Personen auf dem Anwesen: Manus, der Bereiter, Teresa Kelly, eine Näherin - die einzigen beiden Angestellten aus der Umgebung -, und der Verwalter, ein Mann aus Tyrone, der sich um die Angelegenheiten des Anwesens kümmerte und in Lord Waldrons Namen bei den Pächtern den Zins eintrieb.
Seit mehr als einem Jahr rechnete der Verwalter mit einer Vergeltung für das, was Waldron getan hatte, und als der Junge mit den Neuigkeiten über Victoria in sein Büro stürmte, war sein erster Gedanke, dass der Augenblick nun gekommen sei. Doch als der junge Diener hinzufügte: »Manus hat Angst, dass sie ersoffen ist, und er sucht den Fluss ab«, gestattete der Verwalter sich die Hoffnung, die Katastrophe, mit der er sich befassen musste, sei häuslicher und nicht politischer Natur.
Als der Verwalter in den Stallhof kam und Lady Blackshaw antraf, deren Haare offen herabhingen, fand er, dass sie aussah wie die zwanzigjährige unschuldige Braut, als die sie vor neun Jahren aus England eingetroffen war.
»Gut, dass Sie hier sind«, sagte sie. »Sie übernehmen. Ich muss mit Miss East und Schwester Dixon sprechen.«
Sie wandte sich um und schritt zum Tor der Stallung, wo sie beinahe mit Miss East zusammengestoßen wäre, die eilig hereinkommen wollte.
»Da sind Sie ja, Miss East. Was hat Sie so lange aufgehalten? «
Sie nahm die Wirtschafterin beim Ellbogen und drehte sie zum Haus, dann ging sie voran, voller Entschlossenheit nun, und zwang die ältere, kleine Frau, halb zu rennen und Schritte zu überspringen, damit sie nicht zurückblieb.
»Sie sind genau diejenige, die ich suchte. Sagen Sie mir, welche Dienstboten heute Nachmittag nicht im ummauerten Garten waren, und außerdem alles, was Sie über Teresa Kelly wissen. Und hören Sie auf zu heulen.«
Sid Cooper, der Kutscher, war von Lady Blackshaw ausgesandt worden, um die Allee abzusuchen, sollte das Kind in jene Richtung verschwunden sein. Hinter jeder von Bäumen verdeckten Wegbiegung hoffte er, Victoria zu entdecken, entweder allein oder in der Obhut eines beflissenen Dienstboten, der ihr zufällig begegnet war. Doch er entdeckte nichts. Statt zum Stall zurückzukehren und zu berichten, zeigte er Initiative und fuhr an dem unbesetzten Pförtnerhaus und den Steinsäulen vorbei auf die Landstraße, bog nach links und setzte seinen Weg eine Viertelmeile weiter bis zum Dorf Ballybrian fort. Am besten fragte er dort. Als er auf dem Dorfplatz erschien, fielen seine Hast und das Tempo seines aufgeregten Ponys sofort einigen Dörflern auf, und sie fragten ihn, was los sei. Das jüngste Mädchen vom Herrenhaus fehle und ob jemand es gesehen habe oder etwas Verdächtiges? Sie würden sofort herumfragen - und wäre es recht, wenn sie bei der Suche hülfen? Das sei es, und man wäre ihnen sehr dankbar, sagte er, womit er sich anmaßte, die Aufforderung auszusprechen - es war nicht der richtige Moment, um Gedanken an Formalitäten zu verschwenden. Ob sie sich als Erstes im Dorf umschauen könnten?
Zuletzt sah Sid am Bahnhof nach. Da der Stationsvorsteher nur zeitweise dort arbeitete und gerade nicht im Dienst war, sah er in alle unverschlossenen Räume und fand sie ausnahmslos leer vor.
Als er sich auf den Rückweg machte, waren die Dorfbewohner bereits in Bewegung. Einige hatten sich an der Hauptstraße verteilt, aber die meisten waren schon auf der eine Meile langen Zufahrt zum Haus. Einige größere Jungen fuhren mit dem Fahrrad voraus, die kleineren rannten nebenher, rempelten und stießen einander. Die strenge, kathedralenhafte Atmosphäre, die von den zweihundertjährigen Buchen ausging, die sich über die Zufahrt neigten, hob ihre Stimmung, statt sie zu dämpfen.
Schwester Dixon blickte durch die vorderen Fenster der Kinderstube und sah die schöne Lady Blackshaw und die alte Hexe Miss East, wie sie rasch auf dem Kiesweg zum Vordereingang liefen. Von Victoria keine Spur. Ganz wie sie vorhergesehen hatte. Zweifelsohne mit einem Hausmädchen abgespeist, nachdem sie aufgewacht war und Aufmerksamkeit wollte. Dixon war klar, dass Lady Blackshaw bei ihrem Desinteresse an allem, was das Kinderzimmer betraf, nichts mit einer Tochter anzufangen wusste, die nicht schlief.
Als Dixon ans hintere Fenster ging, sah sie, dass sich niemand im von Mauern umgebenen Garten aufhielt, was für diese Stunde gewiss ungewöhnlich war. Jetzt, wo ihre einzige Freundin, Teresa Kelly, fort war, würde sie da je den Mut zusammenbekommen, in diesen Garten zu gehen und mit den anderen einen Nachmittag zu verbringen? Vermutlich nicht. Es lohnte sich kaum, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, denn sie wäre schon bald nicht mehr hier. Niemand mochte sie. So war es von Anfang an gewesen. Die alte Hexe Lily East hätte ihr eigentlich den Weg ebnen und sie in den etablierten Kreis aufnehmen sollen, denn schließlich stammten sie aus der gleichen Gemeinde im englischen Huddersfield, doch Lily hatte genau das Gegenteil getan. Mit den Geschichten von Miss Easts Erfolg aufzuwachsen und voll Ehrfurcht vor ihr hier anzukommen, nur um dann in die Kälte hinausgestoßen zu werden, war eine Enttäuschung, die Dixon nie vergessen wollte.
In der vergangenen Nacht hatte sie sehr schlecht geschlafen, weil sie wegen Teresas Weggang traurig und andauernd durch Victorias Unruhe und Charlottes Gerede im Schlaf gestört worden war. Ich brauche ein Nickerchen, ehe Victoria zurückgebracht wird, dachte sie und holte sich eine Daunendecke aus ihrem Zimmer. Wenn Charlotte hereinkommt, weiß sie, dass sie mich besser nicht weckt - ich habe sie oft genug gewarnt.
Der Verwalter plante, das Anwesen so gründlich abzusuchen, dass Lord Waldron bei seiner Rückkehr nach Kriegsende keine Fehleinschätzungen oder Unterlassungen entdecken und kritisieren könnte.
Das Gut von Tyringham Park, das beeindruckendste Anwesen in der Grafschaft Cork, bestand aus einem steinernen Herrenhaus mit zweiundfünfzig Zimmern, das wegen seines Turmes als Burg bezeichnet werden konnte, und neunzehntausend Morgen Land. Eine umfassende Suche zu organisieren war alles andere als einfach. Zunächst wollte er sich auf alles innerhalb der Mauern an der Grundstücksgrenze konzentrieren, denn an ihnen endete seine Verantwortung, und das Dorf und dessen Umgebung nur grob in Augenschein nehmen lassen.
Der Verwalter hatte immer angenommen, dass die einzige Menschenmenge, die er je auf Tyringham Park sähe, feindlich gestimmt wäre, und daher war er doppelt dankbar für die Scharen von Dorfbewohnern, die unverzüglich zu Hilfe kamen, und für die Hunderte von Menschen, welche, kaum dass sich die Nachricht verbreitete, noch am gleichen Tag aus den benachbarten Großen Häusern und umliegenden Ortschaften eintrafen.
Lady Blackshaw hatte in einem Anflug von Pikiertheit einige Jahre zuvor entschieden, niemanden anzustellen, der im Pförtnerhaus wohnte, die Tore öffnete und schloss und kontrollierte, wer das Anwesen betrat oder verließ. »Wozu, wenn uns nie jemand besucht?«, hatte sie gefragt und angedeutet, das liege an Lord Waldron; aufgrund seiner langen Abwesenheiten fände auf Tyringham Park kein gesellschaftliches Leben statt. Wieso jemanden dort sitzen lassen, der nichts zu tun hätte, lautete ihr Argument. Sollte der Mann sich lieber nützlich machen und Hafer anpflanzen.
Diese Anweisung musste sie nun bereuen.
Wie Manus war auch der Verwalter früh zu dem Schluss gekommen, Victoria müsse ertrunken sein, doch er hielt es für seine Pflicht, sollte das Kind doch noch leben, bei seinen Anweisungen auch alle anderen Möglichkeiten zu berücksichtigen.
Als Edwina sich gezwungen sah, nach Teresa Kelly zu fragen, ließ sie Miss East stehen und setzte sich weit genug von ihr entfernt hin, damit sie nicht den Kopf heben musste, um sie anzublicken. Wie ihr Ehemann Waldron die Wirtschafterin ständig über den grünen Klee lobte, sollte man meinen, dass sie die personifizierte Perfektion wäre, aber hörte man sie sprechen und beobachtete ihr Gebaren, so konnte man zu dem Schluss gelangen, sie halte sich eher für die Herrin des Hauses denn für die Hausangestellte, die sie war. Aus diesem Grund versäumte Edwina nur ungern eine Gelegenheit, sie zurechtzustutzen, und sei es unter Umständen wie den augenblicklichen.
Nachdem sie sich kurz die Dienstboten hatte nennen lassen, die im Garten gewesen waren, sagte Edwina: »Erzählen Sie mir alles, was Sie über Teresa Kelly wissen.« Sie erwähnte weder Manus' Bemerkung über Teresas Zuneigung zu Victoria noch seine Ansicht, dass sie das Gut deshalb nie verlassen würde. »Und reißen Sie sich zusammen. Ihr Gestammel ist höchst ungehörig. «
Miss East fiel es schwer, sich zu konzentrieren, da sie an nichts anderes als an eine hilflos umherirrende und verängstigte Victoria denken konnte, doch sie rang sich eine Antwort ab.
Teresa Kelly stammte aus dem Dorf und hatte zu Hause Unannehmlichkeiten mit einer schwierigen Schwägerin. Miss East, die seit Jahren mit ihr befreundet gewesen war, hatte ihr nach Victorias Geburt eine Stellung mit Kost und Logis auf Tyringham Park verschafft und sie angewiesen, ihre Zeit zwischen dem Nähen und der Unterstützung Schwester Dixons in der Kinderstube aufzuteilen.
»Zwei erwachsene Frauen, die sich um zwei Kinder kümmern? «, unterbrach Edwina sie. »Das grenzt an Verschwendung, könnte man meinen.« Sie konnte schlecht fragen, wieso sie nicht um Zustimmung gebeten worden sei, da sie von Anfang an klargestellt hatte, nichts mit den häuslichen Angelegenheiten zu tun haben zu wollen, und Miss East von Waldron entsprechend instruiert worden war. Dennoch störte es sie, dass Miss East solche Autorität ausüben durfte. Und es störte sie auch, dass Waldron darauf bestand, die Frau sei als Miss East anzusprechen und nicht nur als East, was, wie Edwina fand, der Tradition eher entsprochen hätte.
»Der Dorfpfarrer hat Teresa eine Passage nach Neusüdwales verschafft«, fuhr Miss East fort, »wo sie einen Farmer heiraten und sich um seine gebrechliche Mutter kümmern soll. Eine Freundin von ihr lebt dort.«
»Hatte sie eine besonders enge Bindung an Victoria?«
»Sie hatte beide Mädchen sehr gern. Sie war eine liebevolle, großherzige Frau.«
Lady Blackshaw hob die Brauen. »Ach, wie bewundernswert. «
»Ja, sie war bewundernswert.« Miss East gab vor, den Sarkasmus nicht zu bemerken. »In der Zeit, die sie bei uns war, hat sie so großen Eindruck gemacht, dass es war, als hätte sie schon ihr ganzes Leben hier verbracht.«
»Wie reizend. Sehr erhellend. Danke, Miss East. Das wäre alles. Nun suchen Sie Dixon und schicken sie zu mir, und sorgen Sie dafür, dass Sie sich gesäubert und die Schuhe gewechselt haben, wenn ich Sie das nächste Mal sehe.«
Sie wollte Dixon außer Sichtweite von Miss Easts voreingenommenem Blick zu Teresa Kelly befragen, die fast zwei Jahre lang auf dem Anwesen gelebt hatte und für Edwina dennoch genauso gut unsichtbar hätte sein können.
Auf ihrem Weg in den dritten Stock hörte Miss East eine erhobene Stimme, als sie im Erdgeschoss des Westflügels an einem offenen Fenster vorüberging. Als sie hinausblickte, sah sie die achtjährige Charlotte, Kleid und Schuhe schmutzig, neben einer kleinen Brücke auf dem Boden knien, die sie über einer Wasserpfütze errichtet hatte, welche von modrigen Blättern daran gehindert wurde, in den Abfluss zu strömen.
In der rechten Hand hielt sie einen Stein, und sie hatte das Gesicht zu Schwester Dixon gehoben, die sie überragte und anfauchte: »Na? Na? Sag was. Na los, sag was.« Als Charlotte keine Antwort gab, hob sie die Hand hoch über den Kopf. Charlotte schloss die Augen, krampfte das Gesicht zusammen und wappnete sich für den Hieb, der ihr, als er kam, den Kopf herumriss.
Danach packte Schwester Dixon sie beim Arm und zerrte sie auf die Füße.
»Wie schade, dass die Zigeuner anstatt der lieben kleinen Victoria nicht dich gestohlen haben«, sagte sie. »Deine hässliche Visage würde keiner hier vermissen.«
Miss East merkte, wie sie mit unziemlicher Hast den Korridor entlangrannte, zur Seitentür hinaus, über Blumenbeete und einen gepflasterten Hof, bis sie, atemlos und wie durch Zufall, vor dem ringenden Paar stand.
Schwester Dixon lief rot an, setzte aber sofort eine trotzige Miene auf. »Was wollen Sie?«, herrschte sie die Wirtschafterin an, ohne den festen Griff um Charlottes Oberarm zu lockern.
Charlottes Gesicht war ohne jede Farbe. Sie sah aus, als würde sie gleich das Bewusstsein verlieren.
»Lady Blackshaw möchte Sie auf der Stelle sehen.«
»Sie sind schon der Dritte, der mir das sagt.« Sie öffnete die Hand, und Charlotte fiel zu Boden. »Ich weiß nicht, was sie von mir will, denn schließlich war sie es, die Victoria verloren hat, nicht ich. Ich wette, Sie haben gedacht, mir wär das passiert. «
»Ich habe gar nichts gedacht. Ich kümmere mich um Charlotte, während Sie fort sind.« Miss East streckte die Hand vor.
»Nein, das werden Sie nicht, Lily.« Dixon ließ den Namen klingen wie ein Schimpfwort. »Charlotte kommt mit mir. Na los, Charlotte, steh auf. Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.«
Charlotte rührte sich nicht.
»Steh auf, hab ich gesagt, sonst hole ich den Polizisten. Du weißt, was das bedeutet.«
Charlotte erhob sich langsam und reichte Schwester Dixon, die Miss East triumphierend anblickte, die Hand.
»Also los, gehen wir.« Als sie an der Wirtschafterin vorbeiging, rempelte Dixon sie absichtlich an, sodass diese für einen Moment das Gleichgewicht verlor. Dixon feixte. »'tschuldigung «, sagte sie.
© 2014 by Bastei Lübbe AG, Köln
In einem Zustand intensiver Erwartung lief Manus zurück auf den Hof. Er hoffte, Edwina hätte Victoria inzwischen gefunden, und die Hoffnung war so stark, dass er ganz kurz den Umriss des Kindes zu sehen glaubte. Doch das Trugbild verflüchtigte sich rasch. Mit für ihn untypischer Grobheit zerrte er Mandrake aus der Box, und obwohl der Wallach wegen der panikgeladenen Stimmung scheute, hatte er das Tier in kürzester Zeit aufgezäumt und gesattelt.
»Ich reite den Fluss ab, falls sie reingefallen ist«, sagte er und stieg auf.
»Hol zuerst Hilfe, denn wir wollen doch hoffen, dass das nicht passiert ist.« Edwina stand mitten auf dem Hof und schwankte leicht. »Wir müssen die Suche auf der Stelle ausweiten. «
Manus ging mittlerweile davon aus, dass das kleine Mädchen in den Fluss gestürzt und davongetragen worden war, doch er wollte seiner Herrin nicht die Hoffnung rauben, indem er ihren Befehl missachtete. Im Stillen verwünschte er die Minuten, die er verlor, wenn er zum Haus hinaufritt, doch er gehorchte.
Edwina ertappte sich dabei, wie sie im Kreis ging, während sie mit sich rang, was sie nun tun sollte. Sie wusste so wenig über ihre Tochter. War sie schon zwei geworden? Beim Standesamt hatte sie ein falsches Geburtsdatum genannt, und nun konnte sie sich nicht erinnern, welchen Tag sie angegeben hatte und an welchem Victoria wirklich zur Welt gekommen war. Die Kleine musste mittlerweile doch zwei sein? Konnten Zweijährige ohne Hilfe aus dem Kinderwagen klettern, oder musste jemand sie herausheben? Konnte Victoria schon Treppen steigen? Eine weite Strecke laufen? Konnte sie es bis zum Haus schaffen?
Hätte Edwina diese Fragen beantworten können und auch nur ansatzweise gewusst, wie lange das Kind verschwunden war, so hätte sie wenigstens einen Anhaltspunkt besessen, was als Nächstes zutun war.
Später erklärte sie den Polizisten, dass sie den Kinderwagen auf die schattige Seite des Hofes gestellt habe. Sie sei sicher gewesen, dass Victoria, wie es ihre Gewohnheit war, eine Stunde lang schlafen würde (dass sie dies nicht aus eigener Erfahrung wusste, sondern vom Kindermädchen erfahren hatte, verschwieg sie den Beamten). In dieser Zeit habe sie Manus geholfen, bei einem nervösen Stutfohlen den Schienbeinverband zu wechseln. Die Wunde gehe bis auf den Knochen, und ein Fleischlappen hänge lose, ergänzte sie, um ihre Aussage durch realistische Elemente glaubhafter zu machen. Manus habe die Arbeit nicht allein ausführen können, ohne das Tier in Angst zu versetzen. Natürlich hätte er warten können, bis die Stallburschen zurückkehrten, doch da sie vor Ort war, wäre es unklug gewesen, ihre Sachkenntnis in solchen Dingen nicht zu nutzen. Daher sei Victoria für etwa zwanzig Minuten unbeaufsichtigt gewesen (tatsächlich waren es vierzig, doch Edwina drückte sich vage aus, damit sie diesen Umstand nicht eingestehen musste), und in dieser Zeit habe das Kind jederzeit verschwinden können.
Als die Beamten sie fragten, ob sie die Matratze berührt habe, um zu sehen, ob sie noch warm sei, musste sie zugeben, dass sie in ihrer Bestürzung nicht daran gedacht hatte, und als sie wissen wollten, ob die Flügeltür offen oder geschlossen gewesen sei, während sie bei dem Fohlen war, antwortete Edwina, sie müsse mit Sicherheit geschlossen gewesen sein - allein aus Gewohnheit hätte sie hinter sich die Tür zugezogen, nachdem sie Victoria in den Hof geschoben hatte.
Und wann sei Victoria geboren? Der Inspector blätterte die Seite in seinem Notizbuch um und wartete, den Federhalter angesetzt, auf die Antwort. Edwinas Kopf war völlig leer.
»Entschuldigen Sie mich einen Moment«, sagte sie, erhob sich von ihrem Stuhl und verließ den Raum, ohne es für nötig zu halten, den beiden Polizeibeamten einen Grund für ihren plötzlichen Aufbruch zu nennen.
Miss East, die Wirtschafterin, sollte nie vergessen, wie Manus zu Pferd den Hügel heraufpreschte, als wäre er der Bote der Apokalypse, und die schlechte Nachricht zum Haus brachte.
Als sie ihn rufen hörte, stürzte sie zur Vordertür hinaus.
»Victoria ist verschwunden. Rufen Sie alle zusammen!«, brüllte er ihr zu, ohne auch nur einen Versuch zu unternehmen, den sich drehenden und stampfenden Mandrake daran zu hindern, tiefe Furchen und Hufabdrücke in den gepflegten Rasen zu bohren.
Trotz ihrer Angst vor Pferden rannte Miss East auf den Rasen und direkt auf das Tier zu, um Genaueres zu erfahren. Mandrake ging auf die Hinterhand, als sie näher kam, und Manus zügelte ihn nicht.
»Ich suche den Fluss ab. Ich fürchte, sie ist ertrunken«, mehr antwortete er nicht auf ihren Frageschwall. Er riss Mandrake herum, und der Wallach galoppierte daraufhin mit solcher Geschwindigkeit los, dass Manus kaum noch Zeit hatte, »Zum Stall!« über die Schulter zu rufen, ehe er fort war und Miss East von Erdkrumen übersät stehenließ.
Von entsetzlicher Furcht getrieben, eilte die Wirtschafterin ums Haus zu dem ummauerten Garten hinter der Küche. Zu ihrer Erleichterung entdeckte sie dort eine ganze Anzahl von Dienstboten, die, jeder auf seine Weise, die Sonne genossen: Einige schliefen, andere unterhielten sich oder spielten Karten, und einer stocherte mit einem Stock in einer Ameisenstraße.
»Hört her! Alles herhören!«, rief sie, wie sie glaubte, und klatschte in die Hände, da niemand reagierte. Mit lauterer Stimme fuhr sie fort: »Victoria wird vermisst! Kommt schnell!« Diesmal hörten die Leute sie und erhoben sich, benommen und träge von der Sonne. Einige riefen ihr Erstaunen heraus, andere fluchten leise. »Zum Stall!« Sie wies in die Richtung, dann klatschte sie in die Hände, als scheuche sie Gänse. »Sofort. Schnell. Lauft!«
Sie waren bereits auf dem Weg.
Miss Evans folgte ihnen durch das Gartentor und rief dem jüngsten Diener zu: »Ned! Du hast die jüngeren Beine«, dann musste sie schon stehen bleiben und Atem holen, ehe sie hinzufügen konnte: »Renn so schnell du kannst. Sag Sid und dem Verwalter Bescheid. Sag ihnen, sie sollen in den Stall kommen. Sei so gut.«
Der Junge schien erfreut, dass er für die Aufgabe ausgesucht worden war. Augenblicklich änderte er die Richtung und eilte zum Häuschen des Kutschers, das ein Stück vom Haus entfernt hinter den Ebereschen stand.
Miss Easts Aufregung legte sich ein wenig. Die Diener würden in kürzester Zeit großräumig das Gelände absuchen, und der Verwalter und Sid würden das Kommando übernehmen. Sie wüssten, was zu tun war.
In Schwester Dixons Haut möchte ich nicht stecken, dachte Miss East bei sich, nicht für allen Tee in China. Bei all ihren Fehlern, und sie hat weiß Gott viele, ist ihr bislang doch noch nie ein Kind abhandengekommen.
Während sie den anderen hinterherrannte, wandten sich, eingedenk der in mittlerem Alter auftretenden Einschränkungen, zwei Hausmädchen zu ihr um, doch Miss East winkte sie weiter und sagte, sie komme zurecht, sie halte sie nur auf, sie sollten weiterlaufen. Als sie um die Hausecke bog, gaben ihre Beine nach und sie sank auf die Knie. Lieber Gott, betete sie, mach, dass die süße Kleine schon wieder gefunden wurde. Bitte, Herr, hab Mitleid, mach, dass ihr nichts zugestoßen ist.
2
Den Rücken dem Fenster zugewandt, lenkte Schwester Dixon mit einem Handspiegel Licht auf ihr Gesicht. Sie suchte rings um die Augen nach Lachfältchen und war erleichtert, als sie kein einziges entdeckte. Sie musste an ihre Freundin Teresa Kelly denken, der mit ihrem runzligen alten Gesicht keine andere Möglichkeit geblieben war, als im Alter von vierzig auf die andere Seite der Welt zu gehen und einen sechzigjährigen Fremden zu heiraten, nur weil sie unbedingt ein Kind und ein eigenes Haus haben wollte, ehe es zu spät war.
Mir passiert das auf keinen Fall, versicherte Schwester Dixon sich mit Nachdruck. Nicht dass das überhaupt drin wär, dazu bin ich zu jung und zu schön, und der göttliche Manus wird mir jetzt jeden Augenblick einen Antrag machen.
Sie neigte den Standspiegel und vergewisserte sich, dass Taille und Fesseln nach wie vor schlank waren. Mithilfe des Handspiegels überzeugte sie sich von ihrem Aussehen von hinten und von der Seite - gute Haltung, gute Neigung des Kopfes. Sie musste sich diese Pose merken - sie war besonders schmeichelhaft. Sie würde sie ausprobieren, wenn sie Manus das nächste Mal begegnete.
Die Wanduhr im Kinderzimmer schlug drei. Teresa Kelly würde nun Ballybrian verlassen, Lady Blackshaw würde bald Victoria zurückbringen, und dann begann der lange öde Nachmittag.
Dixon war froh, dass nun ein anderes Kindermädchen Jahre damit vergeuden würde, die einst so liebe Victoria, die Hübsche, die einen beunruhigenden Eigensinn an den Tag zu legen begann, zu erziehen, nur damit sie am Ende genauso wurde wie die reizlose Charlotte. Wie wunderbar wäre es, das Anwesen endlich zu verlassen, Manus zu heiraten und der zermürbenden Langeweile zu entkommen, die es bedeutete, zwei reiche Gören aufzuziehen! Ihre eigenen Kinder wären fleißig und vernünftig, und sie könnte stolz auf sie sein. Und natürlich wären sie hübsch. Wie könnten sie nicht hübsch sein, mit ihr und Manus als Eltern?
Sie setzte sich und massierte sich Zitronensaft in die Hände. Dabei ließ sie ihre Gedanken, wie sie es oft tat, zu den Ungerechtigkeiten des Lebens wandern. Wenn das Schicksal zu ihr freundlicher und Lady Blackshaw weniger gewogen gewesen wäre, könnten sie Schwestern sein: beide mit hellbraunem Haar und attraktiv, beide groß und kräftig, beide jung. Dixon hätte die gesellschaftliche Kluft zwischen ihnen gar nicht so sehr gestört, wenn Ihre Ladyschaft das Beste aus ihrer Stellung gemacht hätte, indem sie sich einem Leben des Luxus und der Mode hingab, doch Lady Edwina Blackshaw lief den ganzen Tag mit unordentlichen Haaren herum, die sie lediglich mit einem Kamm hochsteckte, der die widerspenstigen Strähnen überhaupt nicht bändigen konnte, und trug dazu auch noch eine Reithose für Männer voller Flecken vom Sattelfett und Pferdeschweiß. Wenn Seine Lordschaft nicht im Hause war, zog sie sich nicht einmal zum Essen um, und er war meistens fort. Dixon erinnerte sich an den Tag, an dem sie Lady Blackshaw in vollem Reithabit gesehen hatte - Zylinder, Schleier, tailliertem Jackett, seidenem Plastron, maßgeschneidertem Rock und feinen Handschuhen und Stiefeln aus Leder. Dixon war vor Bewunderung fast schwindlig geworden. Als sie dann hörte, dass ihre Herrin sich zum letzten Mal so kleiden würde, weil sie beabsichtigte, vom Damen-in den Herrensattel zu wechseln, auf dem sie als Mädchen gesessen hatte, damit sie sich ihren großen Wunsch erfüllen und reiten konnte wie ein Mann, hatte Dixon es schier nicht fassen können. »Wenn es für Johanna von Orleans und Marie Antoinette gut war, so zu reiten, dann ist es auch für mich gut«, sollte sie zu einer konservativen alten Nachbarin gesagt haben, die sie dafür rügte, dass sie einen unzüchtigen und undamenhaften Reitstil pflege. »Bedenken Sie nur, wie sie geendet sind«, hatte die alte Dame genüsslich erwidert. »Und das geschah ihnen recht.«
Als sich das Warten auf die Dienstboten in die Länge zog, eilte Edwina, die den gleichen Weg um den Stall abgegangen war wie schon zuvor Manus, die Treppe hoch und sah in der Kammer der Stallburschen auf dem Dachboden nach. Falls Victoria schon Treppen steigen konnte, hatten die Stufen sie vielleicht neugierig gemacht. Nur eine Tür stand offen - dahinter befand sich eine kleine Küche -, und es dauerte nur einen Moment, dann stand fest, dass niemand darin war. Die drei jungen Männer waren wie jeden Freitagnachmittag zur Dorfspelunke gezogen, wo verbotenerweise Alkohol ausgeschenkt wurde. Edwina kannte ihre Gewohnheiten und hatte nicht erwartet, einen von ihnen in seinem Quartier zu finden.
Als sie auf dem Balkon stand und auf den von Mauern umgebenen Hof hinuntersah, beschlich sie das Gefühl, der Kinderwagen und die Schottendecke blickten sie von der gegenüberliegenden Wand her anklagend an.
Sie wollte sich nicht gestatten, sich ihre Tochter, den Fluss und die offene Tür in einem Bild vereint vor Augen zu führen.
Was Manus ihr berichtet hatte, kehrte wie ein halbvergessener Refrain zurück und versetzte sie in Verwunderung. Teresa Kelly, hatte er gesagt, sei Victoria völlig verfallen. Er könne kaum glauben, dass sie sich von dem Kind getrennt habe, und er habe bis zur letzten Minute erwartet, sie würde es sich anders überlegen und um der Kleinen willen Tyringham Park doch nicht verlassen. Aber er hatte sich geirrt. Sie war gegangen. Sie war schon fort.
Das Wort »fort« war Edwina aufgefallen, und dazu der Umstand, dass Manus, der nicht zu müßigem Geplauder neigte, den Weggang der Frau überhaupt für erwähnenswert erachtet hatte.
Zwanzig Minuten, nachdem er von Teresa Kelly gesprochen hatte, war Victoria ebenfalls verschwunden gewesen.
Sie wünschte, er wäre nicht so hastig fortgeritten, ehe sie noch die Zeit fand, ihn weiter zu befragen. Sieben Meilen von Tyringham Park entfernt mündete der Fluss ins Meer. Wenn er die ganze Strecke abreiten musste, vergingen Stunden, bis sie ihn wiedersah.
Erst als sich ihr der Kies in die Fußsohlen bohrte, fiel Miss East auf, dass sie ihre Hausschuhe trug, die jetzt nass waren und durch all den Schlamm, der an ihnen klebte, zwei Nummern größer aussahen. Unter normalen Umständen wäre Lady Blackshaw erzürnt, ihre Wirtschafterin mit unpassendem Schuhwerk zu sehen und mit Erde auf der sonst stets makellos sauberen Kleidung, doch in diesem Augenblick würde sie dergleichen wohl kaum bemerken. Fuhr dort Sid im Ponywagen die Allee zum Pförtnerhäuschen entlang? Wie hatte er so rasch anschirren können? Hatte sie ein falsches Gefühl für die Zeit, die sie vom Schmerz umnachtet verbracht hatte, nachdem die Hausmädchen weitergelaufen waren?
Ohne auf ihre Tränen und ihre Stellung im Haus Rücksicht zu nehmen, legte sie den restlichen Weg zum Stall im Laufschritt zurück.
3
Ohne es zu wissen, zählte Edwinas abwesender Ehemann, Lord Waldron Blackshaw, im Augenblick im Londoner Kriegsministerium tätig, zu den verhasstesten Männern in Irland. Ebenso wenig bekannt war dieser Umstand den meisten Bewohnern von Tyringham Park, die abgeschottet in ihrem eigenen, sich selbst genügenden Königreich lebten, von der örtlichen Gemeinschaft durch die weiten Flächen an Bauernhöfen, Ackerland, Parklandschaft, Gärten und Wäldern getrennt waren und Umgang nur mit ihresgleichen aus anderen ›Großen Häusern‹ im ganzen Land pflegten.
Den Grund für diesen besonderen Hass kannten nur drei Personen auf dem Anwesen: Manus, der Bereiter, Teresa Kelly, eine Näherin - die einzigen beiden Angestellten aus der Umgebung -, und der Verwalter, ein Mann aus Tyrone, der sich um die Angelegenheiten des Anwesens kümmerte und in Lord Waldrons Namen bei den Pächtern den Zins eintrieb.
Seit mehr als einem Jahr rechnete der Verwalter mit einer Vergeltung für das, was Waldron getan hatte, und als der Junge mit den Neuigkeiten über Victoria in sein Büro stürmte, war sein erster Gedanke, dass der Augenblick nun gekommen sei. Doch als der junge Diener hinzufügte: »Manus hat Angst, dass sie ersoffen ist, und er sucht den Fluss ab«, gestattete der Verwalter sich die Hoffnung, die Katastrophe, mit der er sich befassen musste, sei häuslicher und nicht politischer Natur.
Als der Verwalter in den Stallhof kam und Lady Blackshaw antraf, deren Haare offen herabhingen, fand er, dass sie aussah wie die zwanzigjährige unschuldige Braut, als die sie vor neun Jahren aus England eingetroffen war.
»Gut, dass Sie hier sind«, sagte sie. »Sie übernehmen. Ich muss mit Miss East und Schwester Dixon sprechen.«
Sie wandte sich um und schritt zum Tor der Stallung, wo sie beinahe mit Miss East zusammengestoßen wäre, die eilig hereinkommen wollte.
»Da sind Sie ja, Miss East. Was hat Sie so lange aufgehalten? «
Sie nahm die Wirtschafterin beim Ellbogen und drehte sie zum Haus, dann ging sie voran, voller Entschlossenheit nun, und zwang die ältere, kleine Frau, halb zu rennen und Schritte zu überspringen, damit sie nicht zurückblieb.
»Sie sind genau diejenige, die ich suchte. Sagen Sie mir, welche Dienstboten heute Nachmittag nicht im ummauerten Garten waren, und außerdem alles, was Sie über Teresa Kelly wissen. Und hören Sie auf zu heulen.«
Sid Cooper, der Kutscher, war von Lady Blackshaw ausgesandt worden, um die Allee abzusuchen, sollte das Kind in jene Richtung verschwunden sein. Hinter jeder von Bäumen verdeckten Wegbiegung hoffte er, Victoria zu entdecken, entweder allein oder in der Obhut eines beflissenen Dienstboten, der ihr zufällig begegnet war. Doch er entdeckte nichts. Statt zum Stall zurückzukehren und zu berichten, zeigte er Initiative und fuhr an dem unbesetzten Pförtnerhaus und den Steinsäulen vorbei auf die Landstraße, bog nach links und setzte seinen Weg eine Viertelmeile weiter bis zum Dorf Ballybrian fort. Am besten fragte er dort. Als er auf dem Dorfplatz erschien, fielen seine Hast und das Tempo seines aufgeregten Ponys sofort einigen Dörflern auf, und sie fragten ihn, was los sei. Das jüngste Mädchen vom Herrenhaus fehle und ob jemand es gesehen habe oder etwas Verdächtiges? Sie würden sofort herumfragen - und wäre es recht, wenn sie bei der Suche hülfen? Das sei es, und man wäre ihnen sehr dankbar, sagte er, womit er sich anmaßte, die Aufforderung auszusprechen - es war nicht der richtige Moment, um Gedanken an Formalitäten zu verschwenden. Ob sie sich als Erstes im Dorf umschauen könnten?
Zuletzt sah Sid am Bahnhof nach. Da der Stationsvorsteher nur zeitweise dort arbeitete und gerade nicht im Dienst war, sah er in alle unverschlossenen Räume und fand sie ausnahmslos leer vor.
Als er sich auf den Rückweg machte, waren die Dorfbewohner bereits in Bewegung. Einige hatten sich an der Hauptstraße verteilt, aber die meisten waren schon auf der eine Meile langen Zufahrt zum Haus. Einige größere Jungen fuhren mit dem Fahrrad voraus, die kleineren rannten nebenher, rempelten und stießen einander. Die strenge, kathedralenhafte Atmosphäre, die von den zweihundertjährigen Buchen ausging, die sich über die Zufahrt neigten, hob ihre Stimmung, statt sie zu dämpfen.
Schwester Dixon blickte durch die vorderen Fenster der Kinderstube und sah die schöne Lady Blackshaw und die alte Hexe Miss East, wie sie rasch auf dem Kiesweg zum Vordereingang liefen. Von Victoria keine Spur. Ganz wie sie vorhergesehen hatte. Zweifelsohne mit einem Hausmädchen abgespeist, nachdem sie aufgewacht war und Aufmerksamkeit wollte. Dixon war klar, dass Lady Blackshaw bei ihrem Desinteresse an allem, was das Kinderzimmer betraf, nichts mit einer Tochter anzufangen wusste, die nicht schlief.
Als Dixon ans hintere Fenster ging, sah sie, dass sich niemand im von Mauern umgebenen Garten aufhielt, was für diese Stunde gewiss ungewöhnlich war. Jetzt, wo ihre einzige Freundin, Teresa Kelly, fort war, würde sie da je den Mut zusammenbekommen, in diesen Garten zu gehen und mit den anderen einen Nachmittag zu verbringen? Vermutlich nicht. Es lohnte sich kaum, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, denn sie wäre schon bald nicht mehr hier. Niemand mochte sie. So war es von Anfang an gewesen. Die alte Hexe Lily East hätte ihr eigentlich den Weg ebnen und sie in den etablierten Kreis aufnehmen sollen, denn schließlich stammten sie aus der gleichen Gemeinde im englischen Huddersfield, doch Lily hatte genau das Gegenteil getan. Mit den Geschichten von Miss Easts Erfolg aufzuwachsen und voll Ehrfurcht vor ihr hier anzukommen, nur um dann in die Kälte hinausgestoßen zu werden, war eine Enttäuschung, die Dixon nie vergessen wollte.
In der vergangenen Nacht hatte sie sehr schlecht geschlafen, weil sie wegen Teresas Weggang traurig und andauernd durch Victorias Unruhe und Charlottes Gerede im Schlaf gestört worden war. Ich brauche ein Nickerchen, ehe Victoria zurückgebracht wird, dachte sie und holte sich eine Daunendecke aus ihrem Zimmer. Wenn Charlotte hereinkommt, weiß sie, dass sie mich besser nicht weckt - ich habe sie oft genug gewarnt.
Der Verwalter plante, das Anwesen so gründlich abzusuchen, dass Lord Waldron bei seiner Rückkehr nach Kriegsende keine Fehleinschätzungen oder Unterlassungen entdecken und kritisieren könnte.
Das Gut von Tyringham Park, das beeindruckendste Anwesen in der Grafschaft Cork, bestand aus einem steinernen Herrenhaus mit zweiundfünfzig Zimmern, das wegen seines Turmes als Burg bezeichnet werden konnte, und neunzehntausend Morgen Land. Eine umfassende Suche zu organisieren war alles andere als einfach. Zunächst wollte er sich auf alles innerhalb der Mauern an der Grundstücksgrenze konzentrieren, denn an ihnen endete seine Verantwortung, und das Dorf und dessen Umgebung nur grob in Augenschein nehmen lassen.
Der Verwalter hatte immer angenommen, dass die einzige Menschenmenge, die er je auf Tyringham Park sähe, feindlich gestimmt wäre, und daher war er doppelt dankbar für die Scharen von Dorfbewohnern, die unverzüglich zu Hilfe kamen, und für die Hunderte von Menschen, welche, kaum dass sich die Nachricht verbreitete, noch am gleichen Tag aus den benachbarten Großen Häusern und umliegenden Ortschaften eintrafen.
Lady Blackshaw hatte in einem Anflug von Pikiertheit einige Jahre zuvor entschieden, niemanden anzustellen, der im Pförtnerhaus wohnte, die Tore öffnete und schloss und kontrollierte, wer das Anwesen betrat oder verließ. »Wozu, wenn uns nie jemand besucht?«, hatte sie gefragt und angedeutet, das liege an Lord Waldron; aufgrund seiner langen Abwesenheiten fände auf Tyringham Park kein gesellschaftliches Leben statt. Wieso jemanden dort sitzen lassen, der nichts zu tun hätte, lautete ihr Argument. Sollte der Mann sich lieber nützlich machen und Hafer anpflanzen.
Diese Anweisung musste sie nun bereuen.
Wie Manus war auch der Verwalter früh zu dem Schluss gekommen, Victoria müsse ertrunken sein, doch er hielt es für seine Pflicht, sollte das Kind doch noch leben, bei seinen Anweisungen auch alle anderen Möglichkeiten zu berücksichtigen.
Als Edwina sich gezwungen sah, nach Teresa Kelly zu fragen, ließ sie Miss East stehen und setzte sich weit genug von ihr entfernt hin, damit sie nicht den Kopf heben musste, um sie anzublicken. Wie ihr Ehemann Waldron die Wirtschafterin ständig über den grünen Klee lobte, sollte man meinen, dass sie die personifizierte Perfektion wäre, aber hörte man sie sprechen und beobachtete ihr Gebaren, so konnte man zu dem Schluss gelangen, sie halte sich eher für die Herrin des Hauses denn für die Hausangestellte, die sie war. Aus diesem Grund versäumte Edwina nur ungern eine Gelegenheit, sie zurechtzustutzen, und sei es unter Umständen wie den augenblicklichen.
Nachdem sie sich kurz die Dienstboten hatte nennen lassen, die im Garten gewesen waren, sagte Edwina: »Erzählen Sie mir alles, was Sie über Teresa Kelly wissen.« Sie erwähnte weder Manus' Bemerkung über Teresas Zuneigung zu Victoria noch seine Ansicht, dass sie das Gut deshalb nie verlassen würde. »Und reißen Sie sich zusammen. Ihr Gestammel ist höchst ungehörig. «
Miss East fiel es schwer, sich zu konzentrieren, da sie an nichts anderes als an eine hilflos umherirrende und verängstigte Victoria denken konnte, doch sie rang sich eine Antwort ab.
Teresa Kelly stammte aus dem Dorf und hatte zu Hause Unannehmlichkeiten mit einer schwierigen Schwägerin. Miss East, die seit Jahren mit ihr befreundet gewesen war, hatte ihr nach Victorias Geburt eine Stellung mit Kost und Logis auf Tyringham Park verschafft und sie angewiesen, ihre Zeit zwischen dem Nähen und der Unterstützung Schwester Dixons in der Kinderstube aufzuteilen.
»Zwei erwachsene Frauen, die sich um zwei Kinder kümmern? «, unterbrach Edwina sie. »Das grenzt an Verschwendung, könnte man meinen.« Sie konnte schlecht fragen, wieso sie nicht um Zustimmung gebeten worden sei, da sie von Anfang an klargestellt hatte, nichts mit den häuslichen Angelegenheiten zu tun haben zu wollen, und Miss East von Waldron entsprechend instruiert worden war. Dennoch störte es sie, dass Miss East solche Autorität ausüben durfte. Und es störte sie auch, dass Waldron darauf bestand, die Frau sei als Miss East anzusprechen und nicht nur als East, was, wie Edwina fand, der Tradition eher entsprochen hätte.
»Der Dorfpfarrer hat Teresa eine Passage nach Neusüdwales verschafft«, fuhr Miss East fort, »wo sie einen Farmer heiraten und sich um seine gebrechliche Mutter kümmern soll. Eine Freundin von ihr lebt dort.«
»Hatte sie eine besonders enge Bindung an Victoria?«
»Sie hatte beide Mädchen sehr gern. Sie war eine liebevolle, großherzige Frau.«
Lady Blackshaw hob die Brauen. »Ach, wie bewundernswert. «
»Ja, sie war bewundernswert.« Miss East gab vor, den Sarkasmus nicht zu bemerken. »In der Zeit, die sie bei uns war, hat sie so großen Eindruck gemacht, dass es war, als hätte sie schon ihr ganzes Leben hier verbracht.«
»Wie reizend. Sehr erhellend. Danke, Miss East. Das wäre alles. Nun suchen Sie Dixon und schicken sie zu mir, und sorgen Sie dafür, dass Sie sich gesäubert und die Schuhe gewechselt haben, wenn ich Sie das nächste Mal sehe.«
Sie wollte Dixon außer Sichtweite von Miss Easts voreingenommenem Blick zu Teresa Kelly befragen, die fast zwei Jahre lang auf dem Anwesen gelebt hatte und für Edwina dennoch genauso gut unsichtbar hätte sein können.
Auf ihrem Weg in den dritten Stock hörte Miss East eine erhobene Stimme, als sie im Erdgeschoss des Westflügels an einem offenen Fenster vorüberging. Als sie hinausblickte, sah sie die achtjährige Charlotte, Kleid und Schuhe schmutzig, neben einer kleinen Brücke auf dem Boden knien, die sie über einer Wasserpfütze errichtet hatte, welche von modrigen Blättern daran gehindert wurde, in den Abfluss zu strömen.
In der rechten Hand hielt sie einen Stein, und sie hatte das Gesicht zu Schwester Dixon gehoben, die sie überragte und anfauchte: »Na? Na? Sag was. Na los, sag was.« Als Charlotte keine Antwort gab, hob sie die Hand hoch über den Kopf. Charlotte schloss die Augen, krampfte das Gesicht zusammen und wappnete sich für den Hieb, der ihr, als er kam, den Kopf herumriss.
Danach packte Schwester Dixon sie beim Arm und zerrte sie auf die Füße.
»Wie schade, dass die Zigeuner anstatt der lieben kleinen Victoria nicht dich gestohlen haben«, sagte sie. »Deine hässliche Visage würde keiner hier vermissen.«
Miss East merkte, wie sie mit unziemlicher Hast den Korridor entlangrannte, zur Seitentür hinaus, über Blumenbeete und einen gepflasterten Hof, bis sie, atemlos und wie durch Zufall, vor dem ringenden Paar stand.
Schwester Dixon lief rot an, setzte aber sofort eine trotzige Miene auf. »Was wollen Sie?«, herrschte sie die Wirtschafterin an, ohne den festen Griff um Charlottes Oberarm zu lockern.
Charlottes Gesicht war ohne jede Farbe. Sie sah aus, als würde sie gleich das Bewusstsein verlieren.
»Lady Blackshaw möchte Sie auf der Stelle sehen.«
»Sie sind schon der Dritte, der mir das sagt.« Sie öffnete die Hand, und Charlotte fiel zu Boden. »Ich weiß nicht, was sie von mir will, denn schließlich war sie es, die Victoria verloren hat, nicht ich. Ich wette, Sie haben gedacht, mir wär das passiert. «
»Ich habe gar nichts gedacht. Ich kümmere mich um Charlotte, während Sie fort sind.« Miss East streckte die Hand vor.
»Nein, das werden Sie nicht, Lily.« Dixon ließ den Namen klingen wie ein Schimpfwort. »Charlotte kommt mit mir. Na los, Charlotte, steh auf. Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.«
Charlotte rührte sich nicht.
»Steh auf, hab ich gesagt, sonst hole ich den Polizisten. Du weißt, was das bedeutet.«
Charlotte erhob sich langsam und reichte Schwester Dixon, die Miss East triumphierend anblickte, die Hand.
»Also los, gehen wir.« Als sie an der Wirtschafterin vorbeiging, rempelte Dixon sie absichtlich an, sodass diese für einen Moment das Gleichgewicht verlor. Dixon feixte. »'tschuldigung «, sagte sie.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Rosemary McLoughlin
- 2014, 2. Aufl., 557 Seiten, Maße: 12,5 x 18,6 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Schmidt, Dietmar
- Übersetzer: Dietmar Schmidt
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404169301
- ISBN-13: 9783404169306
- Erscheinungsdatum: 13.03.2014
Rezension zu „Die Frauen von Tyringham Park / Tyringham Park Bd.1 “
"Große Gefühle und düstere Geheimnisse. Eine bis zum Schluss fesselnde Familiensaga." Irish Independent
Kommentar zu "Die Frauen von Tyringham Park / Tyringham Park Bd.1"
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