Sachbuch / Die Großstadt ist mein Revier
Eine Hauptkommissarin im Kampf gegen Unrecht und Gewalt
Seit 30 Jahren ist Birgit Reimann in Hamburg Polizistin mit Leib und Seele. Lebensnah erzählt sie von ihren Erfahrungen im Polizeieinsatz vom Streifendienst bis zum LKA Sexualdelikte. Es sind teils erschütternde Einblicke in dunkle Seiten unserer Gesellschaft ...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Sachbuch / Die Großstadt ist mein Revier “
Seit 30 Jahren ist Birgit Reimann in Hamburg Polizistin mit Leib und Seele. Lebensnah erzählt sie von ihren Erfahrungen im Polizeieinsatz vom Streifendienst bis zum LKA Sexualdelikte. Es sind teils erschütternde Einblicke in dunkle Seiten unserer Gesellschaft ...
Klappentext zu „Sachbuch / Die Großstadt ist mein Revier “
Vom brutalen Ehemann bis zum skrupellosen Kinderschänder - Eine erfahrene Polizistin im Kampf gegen Unrecht und Gewalt
»Er sagt, es wäre das einzige Mal gewesen. Ich glaube ihm nicht, nach allem, was ich auf dem Video gesehen habe. Als ich nach Dienstschluss nach Hause fahre, denke ich an das kommende Wochenende: Wenn ich es schaffe, bis Montag nicht an den Kindesmissbrauch zu denken, nicht an die Bilder, dann bleibe ich in der Dienststelle. Irgendjemand muss den Job ja machen.«
Kriminalhauptkommissarin Birgit Reimann erzählt lebensnah und empathisch aus 30 Jahren Polizeialltag vom Streifendienst bis zum LKA Sexualdelikte. Kritisch, ehrlich, persönlich!
Lese-Probe zu „Sachbuch / Die Großstadt ist mein Revier “
Die Großstadt ist mein Revier von Birgit ReimannEine muss den Job ja machen
2007
Es riecht noch immer neu und unbewohnt in den Fluren, obwohl das Gebäude schon ein paar Jahre genutzt wird. Ich höre meine Schritte dumpf auf dem grauen Linoleum. Durch manche Türen dringt ersticktes Gemurmel. Würde ich stehen bleiben, um zu lauschen, würde ich jedes Wort verstehen, denn die Wände sind dünn und die Türen dienen eher dem Sichtschutz. Karin kommt mir entgegen und nickt mir zu.
»Sie sind da drüben. Geh schon mal rein«, sagt sie und deutet auf eine der Türen.
Ich hospitiere heute im Bereich Kinderpornographie. Seit 25 Jahren bin ich nun schon bei der Polizei und ich habe in der Zeit einige Stationen durchlaufen. Trotzdem ist es wieder spannend, in einen für mich neuen Bereich der Polizei zu kommen.
Ich betrete ein helles, kleines Besprechungszimmer. Die Kollegen sind schon alle da.
»Ah Birgit! Komm rein. Karin müsste auch gleich hier sein«, winkt mich Susanne herein.
Ich reiche ihr die Hand, dann Klaus, Bärbel, Michael und Wilhelm.
»Willkommen in unserer kleinen, feinen Dienststelle«, sagt Klaus und schiebt mir einen Stuhl hin. Dann wendet er sich an die anderen: »Birgit wird uns heute über die Schulter gucken. Und wenn's ihr gefällt, bleibt sie bei der KiPo.«
Karin kommt mit Kaffeekanne und Tassen und schließt die Tür hinter sich. Ich stelle mich kurz vor, obwohl mich alle kennen. Dann sehe ich in die Runde und lächle. Ich sehe in offene, vertraute Gesichter und habe das angenehme Gefühl, dass ich mich auf diese Menschen verlassen kann. Es ist keine Aufregung dabei, und doch schlägt mein Herz etwas schneller.
... mehr
Nach einer kurzen, allgemeinen Besprechung steht Klaus auf und nickt mir zu: »Birgit, du kommst mit uns.«
Ich folge ihm, Michael und Bärbel in einen Raum, in dem an mehreren Tischen Bildschirme aufgebaut sind. Kalter Zigarettenrauch hängt in der Luft.
»Das ist der Auswerteraum, in dem wir die beschlagnahmten Datenträger sichten. Hier kann man viel, viel Zeit verbringen«, höre ich Klaus sagen. Bärbel knipst einen der Bildschirme an und schiebt eine CD in ein Laufwerk.
»Das hier haben wir bei einer Hausdurchsuchung gefunden«, sagt Klaus zu mir, während er die Jalousie herunterlässt, bis nur noch ein schmaler Streifen Tageslicht in den Raum fällt. »Wir haben Hinweise darauf, dass der Mann seinen achtjährigen Sohn missbraucht«, fährt er fort. »Er soll Filme von ihm und dem Jungen im Netz für andere zugänglich gemacht haben. Ich habe den Film auch noch nicht gesehen. Mach dich auf was gefasst.«
Ich suche tastend nach einem Stuhl und setze mich unbehaglich hin. Ich habe in meiner Zeit bei der Polizei schon viel erlebt, aber mit Kinderpornographie hatte ich bisher noch nichts zu tun gehabt.
Auf dem Bildschirm ist ein Bett zu sehen. Dann kommt der Junge ins Blickfeld: kurzes braunes Haar, schmale Schultern und Hüften. Er zieht sich das T-Shirt aus, die Hose und die Unterhose. Er tut das schnell und ohne aufzublicken. »Langsam!«, befiehlt eine Stimme. Das Bild wackelt etwas, offenbar wird die Kamera abgestellt und ein Mann kommt ins Bild, bereits ohne Unterhose, sein Glied halb erigiert. Ich spüre, wie ich mich verkrampfe. Jetzt würde ich eigentlich gerne weggucken, aber ich widerstehe diesem Impuls.
Der Mann gibt dem Jungen immer wieder Instruktionen: »Dreh dich mal um!«, und so weiter. Er sagt das in ganz sachlichem Tonfall. Der Junge sagt nichts. Er weint nicht mal. Ich sehe, was der Mann in dem Film mit dem Jungen macht, und es kommt mir vor, als würde der Raum kleiner werden. Die Luft ist furchtbar schlecht. Am liebsten würde ich aufstehen und rausgehen.
»Alles okay?«, fragt mich Bärbel, die sich während des Films Notizen macht. »Sollen wir eine Pause machen?«
Ich schüttle den Kopf und atme tief durch: »Ne, geht schon.«
Michael geht zum Fenster und öffnet es. Durch den Spalt, den die Jalousie noch frei gelassen hat, strömt warme Septemberluft in den Raum. »Danke!«, sage ich erleichtert.
Der Film dauert etwa sieben Minuten. Als er zu Ende ist, lässt Michael die Jalousie wieder ein wenig hochfahren. Bärbel betrachtet ihre Notizen.
»Das ist eindeutig dokumentierter sexueller Missbrauch von einem Kind«, sagt sie ernst. »Das dürfte reichen, um den Mann zu überführen.« Die anderen nicken stumm.
»Wilhelm und Susanne werden gleich mit der Vernehmung fertig sein. Wir treffen uns wieder im Besprechungszimmer«, erklärt Klaus. Er sieht von Bärbel zu mir und verlässt mit Michael den Raum.
»Rauchen?«, Bärbel hält mir ihre Schachtel hin.
Dankbar greife ich zu. Ich inhaliere tief und sehe zu, wie sich der Rauch im Zimmer verteilt, bevor er langsam Richtung Fenster kriecht. Es ist ein schöner Tag, Anfang September, die Sonne hat noch Kraft, einer der letzten warmen Tage, bevor sich der Herbst endgültig einnistet. Bärbel und ich rauchen, ohne ein Wort zu sagen, dann folgen wir den anderen.
Auf dem Weg begegnen wir Wilhelm und einem anderen Mann. Wilhelm grüßt knapp, der Mann sagt nichts und sieht zu Boden. Erst als die beiden neben uns sind, erkenne ich ihn. Ich spüre, wie mir das Blut ins Gesicht steigt und mir warm wird. Er ist kleiner, als ich vermutet hätte, Mitte vierzig, braunes Haar, sehr hohe Stirn. Keine ungepflegte Erscheinung. Ich muss mich zusammenreißen, um ihn nicht anzustarren.
Als er vorbei ist, sehe ich Bärbel fragend an. Sie nickt. Es ist der Mann aus dem Film.
»Das war der Vater des Jungen«, raunt sie mir zu.
»Er hat gesagt, es wäre das einzige Mal gewesen«, sagt Susanne später im Besprechungszimmer. Es hört sich nicht so an, als ob sie ihm glauben würde. Ich glaube es, nach dem, was ich gesehen habe, auch nicht.
Es ist Freitag. Als ich nach Dienstschluss zum Auto gehe, um nach Hause zu fahren, denke ich an das bevorstehende Wochenende: Wenn ich es schaffe, bis Montag nicht an den Fall zu denken, wenn mich die Bilder nicht verfolgen, dann bleibe ich in dieser Dienststelle. Irgendjemand muss den Job im Bereich Kinderpornographie ja machen.
Das Wochenende vergeht, und ich denke kein einziges Mal daran, obwohl ich mir die Bilder aus dem Film noch jederzeit aus dem Gedächtnis abrufen kann. Am Montag gehe ich zu Klaus und sage: »Gut, ich bleibe.« Vielleicht hätte ich mich anders entschieden, wenn ich geahnt hätte, was da noch auf mich zukommt.
Ich muss als Polizistin vieles sehen, was nicht schön ist. Das meiste verschwindet nach einer Weile wieder aus meinem Kopf, aber manche Erlebnisse brennen sich ein. Welche Erlebnisse, Bilder, Wahrnehmungen oder Emotionen noch verarbeitet oder verdrängt werden können, dafür hat jeder seine eigene Grenze. Wenn diese Grenze jedoch überschritten wird, muss etwas verändert werden. Das erste Mal habe ich solch eine Grenze in meinem Praktikum gespürt, als ich mit Leichen zu tun hatte. Es ist gar nicht einmal der Anblick eines Toten, vor dem es mich graust. Das kann ich noch aushalten, selbst dann, wenn der Leichnam schon beginnt, sich in seine Bestandteile aufzulösen. Schlimmer ist der Geruch. Deshalb musste ich mir irgendwann eingestehen, dass die Mordkommission nichts für mich ist. Mancher Kollege von der Mordkommission hat hingegen Schwierigkeiten, sich mit Kinderpornographie auseinanderzusetzen. Ich kann das verstehen. Nicht jeder ist für die Arbeit bei der KiPo geeignet. Meiner Ansicht nach gehört unter anderem auch eine gewisse Lebenserfahrung dazu und natürlich Erfahrung im Beruf. Wenn ich daran denke, was ich mir unter der Arbeit einer Polizistin vorstellte, bevor ich mit der Ausbildung angefangen habe, muss ich heute lächeln. Es ist alles ganz anders gekommen, als ich es erwartet habe.
In der Ausbildung - Bitte keine Leichen
Von Anfang an
Als ich den Entschluss fasste, den Einstellungstest bei der Polizei zu machen, wollte ich eigentlich Verkehrspolizistin werden. So wie Herr Vollmer, der Verkehrserzieher, der uns damals in der Grundschule besuchte, in damals noch blauer Uniform und mit der Magnettafel, auf der er Autos, Verkehrsschilder und Fahrräder hin und her schob. Er hatte so eine ruhige, sichere Art. Jeden von uns sah er aufmerksam an, wenn er etwas erklärte. Ich mochte Herrn Vollmer und ich hatte Respekt vor ihm. So wie Herr Vollmer sahen für mich die Guten aus, die für Recht und Ordnung sorgten.
Etwa zehn Jahre später, kurz vor dem Abitur, als meine Freundin Sabine erzählte, sie würde den Eignungstest bei der Polizei machen, fiel mir Herr Vollmer wieder ein. Und bei der Vorstellung, in Uniform in die Schulen und Kindergärten zu gehen, machte sich ein angenehmes Gefühl in mir breit. Aber dann kam es doch anders. Der Eignungstest fiel genau in die Zeit, in der ich nach dem Abitur eine Reise in die USA geplant hatte. Die Tickets waren bereits gekauft, die Route war festgelegt. Ich wollte darauf nicht verzichten und beschloss, den Test im nächsten Jahr zu versuchen. In der Zwischenzeit begann ich, Ägyptologie zu studieren, ein zugegebenermaßen exotisches Fach mit sehr schlechten Berufsaussichten, doch so spannend, dass ich ohne zu zögern damit weitergemacht hätte, wenn es mit der Polizei nichts geworden wäre. Ich habe das große Wörterbuch »Hieroglyphen - Englisch« noch immer zu Hause stehen.
Ich bestand den »verspäteten« Eignungstest im ersten Anlauf und entging damit dem Schicksal, Putzfrau im Museum zu werden, das dann viele meiner damaligen Kommilitoninnen ereilte.
1983
Es ist noch dunkel, als ich aufstehe, um Kaffee zu kochen. Das Frühstück nehme ich in Form einer Zigarette zu mir. Meine Mutter, noch im Nachthemd, steckt den Kopf in die Küche und rümpft die Nase.
»Soll ich dir Brote schmieren?«
»Quatsch«, sage ich schnell und greife selbst in den Brotkasten. Es passt nicht in mein Selbstbild, einerseits für Recht und Ordnung zu sorgen, aber nicht einmal mein Pausenbrot selbst zu schmieren. Meine Mutter lächelt, als hätte sie meine Gedanken gelesen.
Als ich aufbreche, gibt sie mir wortlos einen Kuss auf die Stirn. Ich lasse es über mich ergehen und suche dann etwas hektisch meine Sachen zusammen, obwohl ich eigentlich noch ein bisschen Zeit habe. Nach einem Jahr Theorie werde ich nun endlich in die Praxis entlassen. Ein halbes Jahr soll ich eine Wache unterstützen. Mein erstes Praktikum.
Ein letzter prüfender Blick in den Spiegel: Das beigefarbene Hemd ist etwas unförmig, eine Männergröße. Es ist zu lang, und die Schultern stehen zu weit auseinander. Ich versuche noch einmal, es so in den Hosenbund zu stopfen, dass man es nicht sieht. Das Modell für Damen gibt es in meiner Größe nicht. Auf eine 1,81 Meter große Frau ist man einfach nicht eingerichtet. Die Hose sitzt, dank des Gürtels, einigermaßen. Aber die grüne Tuchjacke, die ich in der Polizeischule bekommen habe, sieht an mir so unförmig aus, dass eine Dozentin mich fragte, ob ich mich nicht sorgfältiger kleiden könne. Eine wirkliche Alternative konnte sie mir dann aber auch nicht anbieten. Und trotzdem: Obwohl mir die Uniform nicht perfekt passt, fühlt es sich gut an, sie zu tragen. Ich finde mich darin nicht besonders attraktiv, aber ich sehe aus wie eine richtige Polizistin, seriös und ein bisschen respekteinflößend. Ein letztes Mal prüfe ich, ob ich auch nichts vergessen habe, dann ziehe ich noch einmal tief Luft durch die Nase ein und verlasse das Haus.
Ich nehme den Wagen, obwohl die Wache nicht weit entfernt ist. Über Nacht ist es mit einem Mal kalt geworden. Es nieselt, die Bäume haben schon die ersten Blätter verloren. Sie kleben auf den Straßen und Gehwegen. Ich parke im Hof hinter der Wache und sehe auf die Uhr: genau fünf Minuten vor sieben. Das ist gut. Ich will auf keinen Fall zu spät sein und auch nicht viel zu früh, weil ich nicht dumm herumstehen und warten will. Als ich aussteige, ist das Erste, was mir auffällt, das Dröhnen der Autobahn. Sie muss unmittelbar in der Nähe sein. Noch ein paar Schritte, dann stehe ich vor der Eingangspforte. Ich ziehe die Schultern nach hinten und drücke die Klingel.
»Birgit Reimann. Ich soll mich beim Wachhabenden melden.«
Der Mann am Tresen nickt und greift zum Telefon.
»Gang runter, dann links. Zimmer 0.43. Hans weiß Bescheid.«
Ich kenne den Wachhabenden nicht persönlich. Ich weiß bloß, wie er heißt und dass er Polizeihauptmeister ist.
Bevor ich klopfe, wische ich rasch meine feuchten Handflächen an der Hose ab. Ich will nicht, dass die Kollegen beim ersten Händeschütteln gleich merken, dass ich nervös bin.
Die Tür wird aufgerissen und ein Mann steht vor mir, mit Schnauzbart und vollem, braunem Haar, in dem schon einige graue Strähnen zu sehen sind. Er ist etwa so groß wie ich. Eine Sekunde wirkt er irritiert, dann lächelt er. Verlegen lächle ich zurück. Manche Männer reagieren so, wenn sie mich zum ersten Mal sehen. Sie sind einfach nicht daran gewöhnt, dass Frauen so groß sind wie sie.
Nachdem wir uns vorgestellt haben, macht Hans eine einladende Geste in das Zimmer hinein. Ich betrete den Wachraum, der nichts weiter ist als ein sehr großes Büro.
»Das sind Paul, Walter, Harald, Torsten, Edgar ...« Hans stellt mir alle zwölf Kollegen vor. Die Namen vergesse ich im gleichen Moment, in dem er sie sagt. Ich bin zu aufgeregt. Einige der Männer sitzen auf den Bürostühlen, andere lehnen lässig an einem Schreibtisch. Plötzlich fühle ich mich, als wäre ich gerade neu in eine Schulklasse gekommen, in der sich schon alle kennen. Ich bemühe mich, mit möglichst fester Stimme meinen Namen zu sagen, und gebe allen die Hand. Die abschätzenden Blicke versuche ich zu ignorieren. Ich bin die einzige Frau im Raum.
»Du hältst dich an Eddi, also Edgar. Der ist hier dein Bärenführer. Alles klar?«
Ich nicke. Einer der Männer hebt lässig die Hand, als wolle er mir zu verstehen geben, dass er gemeint sei. Ich schätze ihn auf Ende vierzig. Ein dichter Bart bedeckt fast sein ganzes Gesicht, er ist ein massiger Mann mit einem beachtlichen Bauch. Ich probiere ein Lächeln, aber ich bin mir nicht sicher, ob meine Gesichtsmuskeln mir richtig gehorchen.
Hans geht unterdessen zur Tagesordnung über: »Heute liegt das Übliche an. Letzte Nacht wurden in der Gegend um die Bremer Straße ein paar Autos geknackt. Fahrt mal vorbei, nehmt den Schaden auf.«
Ich gebe mir Mühe, genau zuzuhören. Das ist gar nicht so einfach, denn gleichzeitig versuche ich, alles um mich herum in mir aufzunehmen. Als der Wachhabende geendet hat, laufen alle Kollegen auseinander. Ich stehe noch eine Weile unschlüssig herum, dann fällt mein Blick auf Eddi, der schon in der Tür steht und mir ein Zeichen macht, ihm zu folgen.
»Hier können wir zwischendurch mal Kaffee trinken und Pause machen«, erklärt Eddi. Die Tür zum Aufenthaltsraum steht offen. Es riecht nach Zigarettenrauch, Kaffee und Pizza. Ich sehe einen großen Tisch, ein paar Stühle und ein nicht mehr ganz neu aussehendes, schwarzes Ledersofa. Zwei Kollegen sitzen darauf, denen ich schon im Wachraum begegnet bin. Sie heben ihre Tassen grüßend in unsere Richtung.
»Komm, ich zeige dir, wo du deine Sachen lassen kannst.«
Ich gehe weiter hinter Eddi her, durch einen langen Flur, durch eine Feuerschutztür, eine Treppe hinauf, wieder durch eine Feuerschutztür und einen Flur entlang.
»Hier kannst du dich umziehen«, sagt Eddi und tickt mit dem Zeigefinger auf eine Tür. Ich öffne sie und betrete einen kleinen, weißgekachelten Raum: drei Spinde an der Wand, ein Waschbecken und ein Stuhl. Ein WC und eine Dusche sind durch graue Plastiktrennwände abgeteilt. Das Fenster ist mit Milchglasfolie beklebt, die an den Ecken schon etwas abblättert. Es riecht nach Essigreiniger und Desinfektionsmittel.
Nur einer der Spinde ist abgeschlossen, in einem steht lediglich ein Duschgel. Ich stelle meine Tasche mit ein paar Klamotten zum Wechseln und Waschzeug in den dritten. Dann begutachte ich das Fenster und frage mich, ob die Milchglasfolie tatsächlich neugierige Blicke abhalten kann. In dem Moment fliegt die Tür auf, eine Kollegin kommt herein und stutzt, als habe sie erwartet, alleine hier zu sein. Dann streckt sie mir die Hand hin.
»Hallo, ich bin Inge. Die andere Frau hier.«
Sie ist etwa zwanzig Jahre älter als ich und hat einen energischen Händedruck. Sie stellt sich vor ihren Schrank und knöpft mit raschen Bewegungen ihre Jacke auf. »Wir werden uns wahrscheinlich nur zum Schichtwechsel begegnen«, fährt sie fort. »Es wird darauf geachtet, dass in jeder Schicht eine Frau ist. Deshalb werden wir wohl in unterschiedliche Schichten eingeteilt.«
»Schade«, sage ich. »Gibt es sonst keine andere Frau hier?«
»Manchmal kriegen wir Unterstützung von der Weiblichen Polizei. Die kommt aber eigentlich nur, wenn gerade keine andere Polizistin auf der Wache ist.«
Inge steht inzwischen am Waschbecken und wäscht sich die Hände. Danach reibt sie ihre Hände lange mit einem Desinfektionsmittel ein, das in einer Plastikflasche auf dem Waschbeckenrand steht.
»Das kannst du auch gerne mitbenutzen«, sagt sie, als sie merkt, dass ich ihr zusehe. »Wir können uns ja nicht immer aussuchen, wen oder was wir anfassen.«
Eddi hat natürlich nicht vor der Tür auf mich gewartet. Irgendwie finde ich den Weg vom Umkleideraum zurück in den Wachraum, wo er an einem Schreibtisch sitzt. Als er mich sieht, winkt er mich gleich zu sich.
»Komm, du brauchst noch deine Waffe«, sagt er und ist auch schon aufgestanden und geht voraus. Wieder geht es zum Aufenthaltsraum. Die beiden Kollegen, die schon hier waren, stellen gerade ihre Tassen weg. Sie nicken uns zu und verlassen den Raum.
Eddi geht zu einem Schrank mit mehreren abschließbaren Fächern.
»Das Ding hier wurde im Knast gebaut«, sagt er und tippt dagegen. Dann öffnet er mit einem Schlüssel eines der Fächer und reicht mir meine Dienstwaffe, eine P6 der Firma SIG Sauer.
»Bitte hier unterzeichnen!«, brummt Eddi und hält mir ein Formular hin, während ich noch dabei bin, die Waffe vorschriftsmäßig im Holster am Gürtel zu befestigen. Als ich meine Unterschrift gegeben habe, hält er mir den Schlüssel für das Waffenfach hin.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Nach einer kurzen, allgemeinen Besprechung steht Klaus auf und nickt mir zu: »Birgit, du kommst mit uns.«
Ich folge ihm, Michael und Bärbel in einen Raum, in dem an mehreren Tischen Bildschirme aufgebaut sind. Kalter Zigarettenrauch hängt in der Luft.
»Das ist der Auswerteraum, in dem wir die beschlagnahmten Datenträger sichten. Hier kann man viel, viel Zeit verbringen«, höre ich Klaus sagen. Bärbel knipst einen der Bildschirme an und schiebt eine CD in ein Laufwerk.
»Das hier haben wir bei einer Hausdurchsuchung gefunden«, sagt Klaus zu mir, während er die Jalousie herunterlässt, bis nur noch ein schmaler Streifen Tageslicht in den Raum fällt. »Wir haben Hinweise darauf, dass der Mann seinen achtjährigen Sohn missbraucht«, fährt er fort. »Er soll Filme von ihm und dem Jungen im Netz für andere zugänglich gemacht haben. Ich habe den Film auch noch nicht gesehen. Mach dich auf was gefasst.«
Ich suche tastend nach einem Stuhl und setze mich unbehaglich hin. Ich habe in meiner Zeit bei der Polizei schon viel erlebt, aber mit Kinderpornographie hatte ich bisher noch nichts zu tun gehabt.
Auf dem Bildschirm ist ein Bett zu sehen. Dann kommt der Junge ins Blickfeld: kurzes braunes Haar, schmale Schultern und Hüften. Er zieht sich das T-Shirt aus, die Hose und die Unterhose. Er tut das schnell und ohne aufzublicken. »Langsam!«, befiehlt eine Stimme. Das Bild wackelt etwas, offenbar wird die Kamera abgestellt und ein Mann kommt ins Bild, bereits ohne Unterhose, sein Glied halb erigiert. Ich spüre, wie ich mich verkrampfe. Jetzt würde ich eigentlich gerne weggucken, aber ich widerstehe diesem Impuls.
Der Mann gibt dem Jungen immer wieder Instruktionen: »Dreh dich mal um!«, und so weiter. Er sagt das in ganz sachlichem Tonfall. Der Junge sagt nichts. Er weint nicht mal. Ich sehe, was der Mann in dem Film mit dem Jungen macht, und es kommt mir vor, als würde der Raum kleiner werden. Die Luft ist furchtbar schlecht. Am liebsten würde ich aufstehen und rausgehen.
»Alles okay?«, fragt mich Bärbel, die sich während des Films Notizen macht. »Sollen wir eine Pause machen?«
Ich schüttle den Kopf und atme tief durch: »Ne, geht schon.«
Michael geht zum Fenster und öffnet es. Durch den Spalt, den die Jalousie noch frei gelassen hat, strömt warme Septemberluft in den Raum. »Danke!«, sage ich erleichtert.
Der Film dauert etwa sieben Minuten. Als er zu Ende ist, lässt Michael die Jalousie wieder ein wenig hochfahren. Bärbel betrachtet ihre Notizen.
»Das ist eindeutig dokumentierter sexueller Missbrauch von einem Kind«, sagt sie ernst. »Das dürfte reichen, um den Mann zu überführen.« Die anderen nicken stumm.
»Wilhelm und Susanne werden gleich mit der Vernehmung fertig sein. Wir treffen uns wieder im Besprechungszimmer«, erklärt Klaus. Er sieht von Bärbel zu mir und verlässt mit Michael den Raum.
»Rauchen?«, Bärbel hält mir ihre Schachtel hin.
Dankbar greife ich zu. Ich inhaliere tief und sehe zu, wie sich der Rauch im Zimmer verteilt, bevor er langsam Richtung Fenster kriecht. Es ist ein schöner Tag, Anfang September, die Sonne hat noch Kraft, einer der letzten warmen Tage, bevor sich der Herbst endgültig einnistet. Bärbel und ich rauchen, ohne ein Wort zu sagen, dann folgen wir den anderen.
Auf dem Weg begegnen wir Wilhelm und einem anderen Mann. Wilhelm grüßt knapp, der Mann sagt nichts und sieht zu Boden. Erst als die beiden neben uns sind, erkenne ich ihn. Ich spüre, wie mir das Blut ins Gesicht steigt und mir warm wird. Er ist kleiner, als ich vermutet hätte, Mitte vierzig, braunes Haar, sehr hohe Stirn. Keine ungepflegte Erscheinung. Ich muss mich zusammenreißen, um ihn nicht anzustarren.
Als er vorbei ist, sehe ich Bärbel fragend an. Sie nickt. Es ist der Mann aus dem Film.
»Das war der Vater des Jungen«, raunt sie mir zu.
»Er hat gesagt, es wäre das einzige Mal gewesen«, sagt Susanne später im Besprechungszimmer. Es hört sich nicht so an, als ob sie ihm glauben würde. Ich glaube es, nach dem, was ich gesehen habe, auch nicht.
Es ist Freitag. Als ich nach Dienstschluss zum Auto gehe, um nach Hause zu fahren, denke ich an das bevorstehende Wochenende: Wenn ich es schaffe, bis Montag nicht an den Fall zu denken, wenn mich die Bilder nicht verfolgen, dann bleibe ich in dieser Dienststelle. Irgendjemand muss den Job im Bereich Kinderpornographie ja machen.
Das Wochenende vergeht, und ich denke kein einziges Mal daran, obwohl ich mir die Bilder aus dem Film noch jederzeit aus dem Gedächtnis abrufen kann. Am Montag gehe ich zu Klaus und sage: »Gut, ich bleibe.« Vielleicht hätte ich mich anders entschieden, wenn ich geahnt hätte, was da noch auf mich zukommt.
Ich muss als Polizistin vieles sehen, was nicht schön ist. Das meiste verschwindet nach einer Weile wieder aus meinem Kopf, aber manche Erlebnisse brennen sich ein. Welche Erlebnisse, Bilder, Wahrnehmungen oder Emotionen noch verarbeitet oder verdrängt werden können, dafür hat jeder seine eigene Grenze. Wenn diese Grenze jedoch überschritten wird, muss etwas verändert werden. Das erste Mal habe ich solch eine Grenze in meinem Praktikum gespürt, als ich mit Leichen zu tun hatte. Es ist gar nicht einmal der Anblick eines Toten, vor dem es mich graust. Das kann ich noch aushalten, selbst dann, wenn der Leichnam schon beginnt, sich in seine Bestandteile aufzulösen. Schlimmer ist der Geruch. Deshalb musste ich mir irgendwann eingestehen, dass die Mordkommission nichts für mich ist. Mancher Kollege von der Mordkommission hat hingegen Schwierigkeiten, sich mit Kinderpornographie auseinanderzusetzen. Ich kann das verstehen. Nicht jeder ist für die Arbeit bei der KiPo geeignet. Meiner Ansicht nach gehört unter anderem auch eine gewisse Lebenserfahrung dazu und natürlich Erfahrung im Beruf. Wenn ich daran denke, was ich mir unter der Arbeit einer Polizistin vorstellte, bevor ich mit der Ausbildung angefangen habe, muss ich heute lächeln. Es ist alles ganz anders gekommen, als ich es erwartet habe.
In der Ausbildung - Bitte keine Leichen
Von Anfang an
Als ich den Entschluss fasste, den Einstellungstest bei der Polizei zu machen, wollte ich eigentlich Verkehrspolizistin werden. So wie Herr Vollmer, der Verkehrserzieher, der uns damals in der Grundschule besuchte, in damals noch blauer Uniform und mit der Magnettafel, auf der er Autos, Verkehrsschilder und Fahrräder hin und her schob. Er hatte so eine ruhige, sichere Art. Jeden von uns sah er aufmerksam an, wenn er etwas erklärte. Ich mochte Herrn Vollmer und ich hatte Respekt vor ihm. So wie Herr Vollmer sahen für mich die Guten aus, die für Recht und Ordnung sorgten.
Etwa zehn Jahre später, kurz vor dem Abitur, als meine Freundin Sabine erzählte, sie würde den Eignungstest bei der Polizei machen, fiel mir Herr Vollmer wieder ein. Und bei der Vorstellung, in Uniform in die Schulen und Kindergärten zu gehen, machte sich ein angenehmes Gefühl in mir breit. Aber dann kam es doch anders. Der Eignungstest fiel genau in die Zeit, in der ich nach dem Abitur eine Reise in die USA geplant hatte. Die Tickets waren bereits gekauft, die Route war festgelegt. Ich wollte darauf nicht verzichten und beschloss, den Test im nächsten Jahr zu versuchen. In der Zwischenzeit begann ich, Ägyptologie zu studieren, ein zugegebenermaßen exotisches Fach mit sehr schlechten Berufsaussichten, doch so spannend, dass ich ohne zu zögern damit weitergemacht hätte, wenn es mit der Polizei nichts geworden wäre. Ich habe das große Wörterbuch »Hieroglyphen - Englisch« noch immer zu Hause stehen.
Ich bestand den »verspäteten« Eignungstest im ersten Anlauf und entging damit dem Schicksal, Putzfrau im Museum zu werden, das dann viele meiner damaligen Kommilitoninnen ereilte.
1983
Es ist noch dunkel, als ich aufstehe, um Kaffee zu kochen. Das Frühstück nehme ich in Form einer Zigarette zu mir. Meine Mutter, noch im Nachthemd, steckt den Kopf in die Küche und rümpft die Nase.
»Soll ich dir Brote schmieren?«
»Quatsch«, sage ich schnell und greife selbst in den Brotkasten. Es passt nicht in mein Selbstbild, einerseits für Recht und Ordnung zu sorgen, aber nicht einmal mein Pausenbrot selbst zu schmieren. Meine Mutter lächelt, als hätte sie meine Gedanken gelesen.
Als ich aufbreche, gibt sie mir wortlos einen Kuss auf die Stirn. Ich lasse es über mich ergehen und suche dann etwas hektisch meine Sachen zusammen, obwohl ich eigentlich noch ein bisschen Zeit habe. Nach einem Jahr Theorie werde ich nun endlich in die Praxis entlassen. Ein halbes Jahr soll ich eine Wache unterstützen. Mein erstes Praktikum.
Ein letzter prüfender Blick in den Spiegel: Das beigefarbene Hemd ist etwas unförmig, eine Männergröße. Es ist zu lang, und die Schultern stehen zu weit auseinander. Ich versuche noch einmal, es so in den Hosenbund zu stopfen, dass man es nicht sieht. Das Modell für Damen gibt es in meiner Größe nicht. Auf eine 1,81 Meter große Frau ist man einfach nicht eingerichtet. Die Hose sitzt, dank des Gürtels, einigermaßen. Aber die grüne Tuchjacke, die ich in der Polizeischule bekommen habe, sieht an mir so unförmig aus, dass eine Dozentin mich fragte, ob ich mich nicht sorgfältiger kleiden könne. Eine wirkliche Alternative konnte sie mir dann aber auch nicht anbieten. Und trotzdem: Obwohl mir die Uniform nicht perfekt passt, fühlt es sich gut an, sie zu tragen. Ich finde mich darin nicht besonders attraktiv, aber ich sehe aus wie eine richtige Polizistin, seriös und ein bisschen respekteinflößend. Ein letztes Mal prüfe ich, ob ich auch nichts vergessen habe, dann ziehe ich noch einmal tief Luft durch die Nase ein und verlasse das Haus.
Ich nehme den Wagen, obwohl die Wache nicht weit entfernt ist. Über Nacht ist es mit einem Mal kalt geworden. Es nieselt, die Bäume haben schon die ersten Blätter verloren. Sie kleben auf den Straßen und Gehwegen. Ich parke im Hof hinter der Wache und sehe auf die Uhr: genau fünf Minuten vor sieben. Das ist gut. Ich will auf keinen Fall zu spät sein und auch nicht viel zu früh, weil ich nicht dumm herumstehen und warten will. Als ich aussteige, ist das Erste, was mir auffällt, das Dröhnen der Autobahn. Sie muss unmittelbar in der Nähe sein. Noch ein paar Schritte, dann stehe ich vor der Eingangspforte. Ich ziehe die Schultern nach hinten und drücke die Klingel.
»Birgit Reimann. Ich soll mich beim Wachhabenden melden.«
Der Mann am Tresen nickt und greift zum Telefon.
»Gang runter, dann links. Zimmer 0.43. Hans weiß Bescheid.«
Ich kenne den Wachhabenden nicht persönlich. Ich weiß bloß, wie er heißt und dass er Polizeihauptmeister ist.
Bevor ich klopfe, wische ich rasch meine feuchten Handflächen an der Hose ab. Ich will nicht, dass die Kollegen beim ersten Händeschütteln gleich merken, dass ich nervös bin.
Die Tür wird aufgerissen und ein Mann steht vor mir, mit Schnauzbart und vollem, braunem Haar, in dem schon einige graue Strähnen zu sehen sind. Er ist etwa so groß wie ich. Eine Sekunde wirkt er irritiert, dann lächelt er. Verlegen lächle ich zurück. Manche Männer reagieren so, wenn sie mich zum ersten Mal sehen. Sie sind einfach nicht daran gewöhnt, dass Frauen so groß sind wie sie.
Nachdem wir uns vorgestellt haben, macht Hans eine einladende Geste in das Zimmer hinein. Ich betrete den Wachraum, der nichts weiter ist als ein sehr großes Büro.
»Das sind Paul, Walter, Harald, Torsten, Edgar ...« Hans stellt mir alle zwölf Kollegen vor. Die Namen vergesse ich im gleichen Moment, in dem er sie sagt. Ich bin zu aufgeregt. Einige der Männer sitzen auf den Bürostühlen, andere lehnen lässig an einem Schreibtisch. Plötzlich fühle ich mich, als wäre ich gerade neu in eine Schulklasse gekommen, in der sich schon alle kennen. Ich bemühe mich, mit möglichst fester Stimme meinen Namen zu sagen, und gebe allen die Hand. Die abschätzenden Blicke versuche ich zu ignorieren. Ich bin die einzige Frau im Raum.
»Du hältst dich an Eddi, also Edgar. Der ist hier dein Bärenführer. Alles klar?«
Ich nicke. Einer der Männer hebt lässig die Hand, als wolle er mir zu verstehen geben, dass er gemeint sei. Ich schätze ihn auf Ende vierzig. Ein dichter Bart bedeckt fast sein ganzes Gesicht, er ist ein massiger Mann mit einem beachtlichen Bauch. Ich probiere ein Lächeln, aber ich bin mir nicht sicher, ob meine Gesichtsmuskeln mir richtig gehorchen.
Hans geht unterdessen zur Tagesordnung über: »Heute liegt das Übliche an. Letzte Nacht wurden in der Gegend um die Bremer Straße ein paar Autos geknackt. Fahrt mal vorbei, nehmt den Schaden auf.«
Ich gebe mir Mühe, genau zuzuhören. Das ist gar nicht so einfach, denn gleichzeitig versuche ich, alles um mich herum in mir aufzunehmen. Als der Wachhabende geendet hat, laufen alle Kollegen auseinander. Ich stehe noch eine Weile unschlüssig herum, dann fällt mein Blick auf Eddi, der schon in der Tür steht und mir ein Zeichen macht, ihm zu folgen.
»Hier können wir zwischendurch mal Kaffee trinken und Pause machen«, erklärt Eddi. Die Tür zum Aufenthaltsraum steht offen. Es riecht nach Zigarettenrauch, Kaffee und Pizza. Ich sehe einen großen Tisch, ein paar Stühle und ein nicht mehr ganz neu aussehendes, schwarzes Ledersofa. Zwei Kollegen sitzen darauf, denen ich schon im Wachraum begegnet bin. Sie heben ihre Tassen grüßend in unsere Richtung.
»Komm, ich zeige dir, wo du deine Sachen lassen kannst.«
Ich gehe weiter hinter Eddi her, durch einen langen Flur, durch eine Feuerschutztür, eine Treppe hinauf, wieder durch eine Feuerschutztür und einen Flur entlang.
»Hier kannst du dich umziehen«, sagt Eddi und tickt mit dem Zeigefinger auf eine Tür. Ich öffne sie und betrete einen kleinen, weißgekachelten Raum: drei Spinde an der Wand, ein Waschbecken und ein Stuhl. Ein WC und eine Dusche sind durch graue Plastiktrennwände abgeteilt. Das Fenster ist mit Milchglasfolie beklebt, die an den Ecken schon etwas abblättert. Es riecht nach Essigreiniger und Desinfektionsmittel.
Nur einer der Spinde ist abgeschlossen, in einem steht lediglich ein Duschgel. Ich stelle meine Tasche mit ein paar Klamotten zum Wechseln und Waschzeug in den dritten. Dann begutachte ich das Fenster und frage mich, ob die Milchglasfolie tatsächlich neugierige Blicke abhalten kann. In dem Moment fliegt die Tür auf, eine Kollegin kommt herein und stutzt, als habe sie erwartet, alleine hier zu sein. Dann streckt sie mir die Hand hin.
»Hallo, ich bin Inge. Die andere Frau hier.«
Sie ist etwa zwanzig Jahre älter als ich und hat einen energischen Händedruck. Sie stellt sich vor ihren Schrank und knöpft mit raschen Bewegungen ihre Jacke auf. »Wir werden uns wahrscheinlich nur zum Schichtwechsel begegnen«, fährt sie fort. »Es wird darauf geachtet, dass in jeder Schicht eine Frau ist. Deshalb werden wir wohl in unterschiedliche Schichten eingeteilt.«
»Schade«, sage ich. »Gibt es sonst keine andere Frau hier?«
»Manchmal kriegen wir Unterstützung von der Weiblichen Polizei. Die kommt aber eigentlich nur, wenn gerade keine andere Polizistin auf der Wache ist.«
Inge steht inzwischen am Waschbecken und wäscht sich die Hände. Danach reibt sie ihre Hände lange mit einem Desinfektionsmittel ein, das in einer Plastikflasche auf dem Waschbeckenrand steht.
»Das kannst du auch gerne mitbenutzen«, sagt sie, als sie merkt, dass ich ihr zusehe. »Wir können uns ja nicht immer aussuchen, wen oder was wir anfassen.«
Eddi hat natürlich nicht vor der Tür auf mich gewartet. Irgendwie finde ich den Weg vom Umkleideraum zurück in den Wachraum, wo er an einem Schreibtisch sitzt. Als er mich sieht, winkt er mich gleich zu sich.
»Komm, du brauchst noch deine Waffe«, sagt er und ist auch schon aufgestanden und geht voraus. Wieder geht es zum Aufenthaltsraum. Die beiden Kollegen, die schon hier waren, stellen gerade ihre Tassen weg. Sie nicken uns zu und verlassen den Raum.
Eddi geht zu einem Schrank mit mehreren abschließbaren Fächern.
»Das Ding hier wurde im Knast gebaut«, sagt er und tippt dagegen. Dann öffnet er mit einem Schlüssel eines der Fächer und reicht mir meine Dienstwaffe, eine P6 der Firma SIG Sauer.
»Bitte hier unterzeichnen!«, brummt Eddi und hält mir ein Formular hin, während ich noch dabei bin, die Waffe vorschriftsmäßig im Holster am Gürtel zu befestigen. Als ich meine Unterschrift gegeben habe, hält er mir den Schlüssel für das Waffenfach hin.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Birgit Reimann, Henriette Dyckerhoff
Birgit Reimanns Karriere bei der Hamburger Polizei begann im Streifendienst 1982. Nach ihrem Hochschulstudium arbeitete sie für die Kriminalpolizei, wechselte dann zum Kriminaldauerdienst, um sich der Gewaltprävention und dem Opferschutz zu widmen. Für einige Jahre war sie im 'Landeskriminalamt Kinderpornografie' tätig. Zusätzlich engagierte sie sich in der Gewerkschaft und im Kriseninterventionsteam des DRK. Heute arbeitet sie bei der Hamburger Polizei im gehobenen Dienst. Dyckerhoff, HenrietteHenriette Dyckerhoff studierte Philosophie und Soziologie in Oldenburg. Sie arbeitet seit 2008 als freie Autorin und Lektorin.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Birgit Reimann , Henriette Dyckerhoff
- 2013, 2. Aufl., 288 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: FISCHER Krüger
- ISBN-10: 3810516317
- ISBN-13: 9783810516312
- Erscheinungsdatum: 24.04.2013
Rezension zu „Sachbuch / Die Großstadt ist mein Revier “
Lebensnah, ehrlich und sehr persönlich. Das liest sich stellenweise eher wie ein echter Krimi. Hörzu 20130517
Pressezitat
Lebensnah, ehrlich und sehr persönlich. Das liest sich stellenweise eher wie ein echter Krimi. Hörzu 20130517
Kommentar zu "Sachbuch / Die Großstadt ist mein Revier"
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